Die Verwandten von Jesus

Markus 3, 31-35

 

Predigt Andreas Symank

Freie Evangelische Gemeinde Zürich-Helvetiaplatz

15.02.2009

 

Ich weiß nicht, ob Sie ab und an die Website unserer Gemeinde besuchen. Wenn Sie’s diese Woche getan haben, dann wissen Sie bereits, worüber ich heute predige: über die Verwandten von Jesus.

Moment mal, denkt jetzt vielleicht der eine oder die andere: Hatte Jesus überhaupt Verwandte? War er nicht direkt vom Himmel gekommen? Ist nicht Gott höchstpersönlich sein Vater? Stimmt. Stimmt alles. Aber es stimmt eben auch, dass Jesus zu uns auf die Erde kam, als Baby von einer menschlichen Mutter geboren, von Maria. Und Maria hatte einen Ehemann, Josef. Der war zwar nicht Jesu leiblicher Vater, aber immerhin war er sozusagen sein Ziehvater. Und Josef und Maria hatten zusammen weitere Kinder, die Geschwister von Jesus. (Halbgeschwister, müsste man exakterweise sagen: Jesus teilte die Mutter mit ihnen, aber nicht den Vater. Ihr Vater war Josef, sein Vater war Gott.) Auf jeden Fall: Jesus wuchs in einer ganz normalen irdischen Familie auf.  

Am Sabbat lehrte Jesus in der Synagoge vor vielen Zuhörern. Erstaunt fragten sie: „Woher hat der Mensch das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm da gegeben ist, und wie kommt es, dass solche Wunder durch ihn geschehen? Ist er denn nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht auch seine Schwestern hier unter uns?“ So kam es, dass Jesus bei ihnen auf Ablehnung stieß. (Markus 6, 2-3)

Hier haben wir die engsten Verwandten von Jesus aufgelistet – seine Mutter, seine Brüder (Halbbrüder!), seine Schwestern (Halbschwestern!). Ziemlich große Familie, nicht? Ich weiß nicht, wie viele Geschwister Sie haben. Heutzutage sind es bei den meisten nur noch ein oder zwei; ich habe 5 (wir sind 3 Brüder und 3 Schwestern). Und Jesus? Wie viele Geschwister hatte Jesus? Sechs, mindestens sechs! 4 Brüder und mindestens 2 Schwestern (Mehrzahl). Vielleicht waren es auch 4 oder 5 Schwestern (erstens sind die Mädchen sowieso meist in der Überzahl, und zweitens heißt es im Parallelbericht im Matthäus-Evangelium: „alle seine Schwestern“ – das klingt entschieden nach mehr als nur zwei). Dann waren es insgesamt an die 10 Geschwister. Kann gut sein. Eine große Kinderzahl war der ganze Stolz der Eltern. Und es war ihre Altersversicherung. Das ist im Orient und in Afrika heute noch so. Auf jeden Fall ist Jesus in einer richtig großen Familie aufgewachsen!

Übrigens: Diese Liste hat eine markante Leerstelle. Einer fällt auf, weil er ausfällt: der Vater. Josef wird mit keinem Wort erwähnt. Das hat jetzt bestimmt nichts damit zu tun, dass Gott der wahre Vater von Jesus ist. Hier reden ja die Leute von Nazaret, und für sie war Jesus ganz selbstverständlich der Sohn Josefs. Nein, Josef scheint schlichtweg von der Bildfläche verschwunden zu sein. Die einfachste Erklärung ist die, dass er damals bereits gestorben war. Das letzte Mal taucht er im Neuen Testament auf, als Jesus zwölf Jahre alt ist und zum ersten Mal nach Jerusalem mitreisen darf. Und was tut der kleine Junge dort? Er setzt sich von seinen Eltern ab und setzt sich im Tempel zu den Gesetzeslehrern, um mit ihnen zu diskutieren. Josef und Maria suchen ihn 3 Tage lang, ehe sie ihn aufstöbern. Bald darauf scheint Josef gestorben zu sein, denn danach begegnen wir immer nur noch der Mutter und den Geschwistern.

***

So, jetzt kennen wir die Verwandten von Jesus. Kennen wir sie wirklich? Ich will Ihnen noch einen zweiten Abschnitt aus dem Markus-Evangelium vorlesen, Markus 3, 31-35.

Inzwischen waren Jesu Mutter und seine Geschwister gekommen. Sie blieben vor dem Haus stehen und schickten jemand zu ihm, um ihn zu rufen. Die Menschen saßen dicht gedrängt um Jesus herum, als man ihm ausrichtete: „Deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draußen und wollen dich sprechen.“ – „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“, erwiderte Jesus. Er sah die an, die rings um ihn herum saßen, und fuhr fort: „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister! Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“

„Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Eine unglaubliche Aussage!

-         Unglaublich überraschend. Damit hat niemand gerechnet. Jesus ist immer für eine Überraschung gut.

-         Unglaublich ermutigend – für die, die um Jesus herum saßen und ihm zuhörten. Jeder von ihnen kann ein Verwandter von Jesus werden. Jeder von uns kann ein Verwandter von Jesus werden.

-         Aber irgendwie auch unglaublich krass – gegenüber seinen Angehörigen, die draußen vor der Tür stehen.

Darf man das – seine eigene Familie so brüskieren? In aller Öffentlichkeit? Geht die Familie nicht über alles? Da stehen die Mutter und die Geschwister vor dem Haus und lassen ihren Sohn und Bruder rufen. Ich glaube, jeder einzelne Zuhörer wäre einverstanden gewesen, wenn Jesus seine Predigt unterbrochen hätte und nach draußen gegangen wäre. Jeder hätte das erwartet. Die Familienbande sind schließlich heilig. Und alle kennen das 5. Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“ Kennt Jesus es nicht? Befolgt er es nicht? Statt seiner Mutter vor allen anderen den angemessenen Respekt zu erzeigen, sieht er sich in dem Raum um und sagt: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Geschwister?“ Fast so, als wollte er sagen: Ich kenne sie nicht! Den Leuten stockt der Atem. Geht er da nicht zu weit? Rebelliert er jetzt womöglich nicht nur gegen das religiöse Establishment – die Priester, die Schriftgelehrten, die Pharisäer –, sondern sogar gegen die eigene Familie?

Sie können beruhigt sein: Jesus hat das 5. Gebot nicht gebrochen. Er hat nichts gegen die Institution Familie, nichts gegen die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, nichts gegen die Achtung und Ehrerbietung der Kinder gegenüber ihren Eltern. Im Gegenteil, immer wieder hat er betont, wie wichtig es ist, gerade diese elementaren Beziehungen zu pflegen. Und er hat es selber praktiziert: Als seine Mutter Maria weinend und hilflos unter dem Kreuz steht, an dem er in seinen Todesqualen hängt, bringt er noch die Kraft und die Konzentration auf, sich voller Liebe um sie zu kümmern; er sorgt dafür, dass sein Jünger Johannes sie bei sich aufnimmt (Johannes 19, 25-27).  Dass er hier scheinbar so ganz anders reagiert, so abweisend, so schroff, hat einen ganz bestimmten Grund, einen guten Grund.

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Gehen wir nochmal an den Anfang unseres Bibelabschnitts zurück. „Inzwischen waren Jesu Mutter und seine Geschwister gekommen.“ So beginnt keine völlig neue Episode. Da muss was vorausgegangen sein. Und tatsächlich – wir müssen nicht weit zurückblättern, um fündig zu werden, nur bis zum Vers 20. Dort heißt es:

Jesus ging nach Hause, und wieder versammelte sich eine Menschenmenge bei ihm, sodass er und seine Jünger nicht einmal Zeit zum Essen fanden. Als seine Angehörigen das erfuhren, machten sie sich auf, um ihn mit Gewalt zurückzuholen. Sie waren überzeugt, dass er den Verstand verloren hatte. (Markus 3, 20-21)

Warum standen die Verwandten vor der Tür? Um ihrem Sohn und Bruder Beifall zu klatschen für all seine Wundertaten und all seine wunderbaren Worte? Oder um ihn in einer Familienangelegenheit um Hilfe zu bitten? Schön wär’s. „Sie machten sich auf, um ihn mit Gewalt zurückzuholen.“ Hier steht im Originaltext genau das gleiche Wort wie später bei Jesu Leidensgeschichte, als er von der jüdischen Tempelwache festgenommen wird. Festnehmen wollten ihn seine Brüder. Natürlich nicht in böser Absicht wie später die Führer des Volkes. Sie wollten ihn vor sich selbst bewahren, ihn quasi aus dem Verkehr ziehen. In Schutzhaft nehmen sozusagen. All diese Menschenmassen, die ihn ständig umlagern! Da bleibt nicht mal mehr Zeit für nen Imbiss und für ne Mütze voll Schlaf! Jesus ruiniert seine Gesundheit, er setzt sein Leben aufs Spiel.

Wahrscheinlich kam bei den Brüdern auch Angst hinzu. Am Anfang von Markus 3 steht: „Die Pharisäer fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Plan, Jesus zu beseitigen.“ (Vers 6) Gut möglich, dass die Familie davon Wind bekommen hat. Und da fuhr ihnen der Schreck in die Glieder. Sein Leben ist bedroht, sein Leben und womöglich auch unseres! Unser Bruder treibt’s einfach zu weit, er kennt keine Grenzen mehr. Sich mit der frommen Oberschicht anzulegen, mit den Mächtigen des Volkes! Muss das sein? Weiß er, dass er dabei Kopf und Kragen riskiert? Weiß er überhaupt noch, was er tut? Am Ende ist er gar nicht mehr sein eigener Herr. Überspannt. Unzurechnungsfähig. „Er hat den Verstand verloren.“ Wir müssen einschreiten, müssen sein Handeln überwachen und so das Schlimmste verhindern.

Gut gemeint – aber für Jesus wäre das Ergebnis eine Katastrophe gewesen. Stellen Sie sich vor, Jesus hätte gesagt: Meine Mutter möchte mich sprechen? Aber natürlich; meine Mutter ist mir immer willkommen. Und zu seinen Zuhörern gewandt: Nur einen Augenblick, bin gleich wieder da! Und er wäre hinausgegangen, und seine Brüder hätten ihn umringt und in die Zange genommen und abgeführt. (Dass die nicht direkt zu ihm ins Haus gingen, lag ja nicht daran, dass sie sich keinen Weg durch die Menge hätten bahnen können. Sie wollten einfach kein Aufsehen erregen. Wenn sie Jesus vor all seinen Zuhörern Handschellen angelegt hätten (ich übertreib jetzt mal ein bisschen), hätte das vermutlich einen kleinen Tumult gegeben (ich untertreib jetzt mal ein bisschen), und das wollten sie sich dann doch lieber ersparen.) So oder so: Aus. Schluss. Keine wunderbaren Worte mehr. Keine Wundertaten. Denn seine Familie war entschlossen, dafür zu sorgen, dass er nicht mehr öffentlich auftreten konnte. Das war es, was auf dem Spiel stand: Jesu Auftrag. Nicht die Ehrerbietung gegenüber seiner Mutter. Die Ehrerbietung gegenüber seinem Vater! Der Auftrag, den ihm sein Vater ihm Himmel gegeben hatte. Der Auftrag, für dessen Erfüllung er auf die Erde gekommen war. Jesus sollte das Kommen von Gottes Reich ankündigen. Seine Familie wollte ihm das Wort verbieten. Jesus sollte uns durch seinen Tod von unserer Schuld befreien. Seine Familie wollte sein Leiden und Sterben verhindern. Und deswegen konnte es an dieser Stelle keinen Kompromiss geben. Jesus musste seinen Brüdern deutlich machen, dass er einer anderen, einer höheren Macht unterstand. Nicht seine Familie durfte über ihn verfügen – Gott verfügte über ihn, sein Vater im Himmel.

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Das hatte Jesus seinen Verwandten schon mehrfach beizubringen versucht, vor allem seiner Mutter. Zum Beispiel damals im Tempel, als seine Eltern nach dem 12jährigen Jungen suchten.

„Kind“, sagte seine Mutter zu ihm, „wie konntest du uns das antun? Dein Vater und deine Mutter haben dich verzweifelt gesucht.“ Jesus erwiderte: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss? [Man könnte ebenso gut übersetzen: „Wusstet ihr nicht, dass ich in den Angelegenheiten meines Vaters tätig sein muss?]“ Doch sie verstanden nicht, was er damit meinte. (Lukas 2, 48-50)

Maria verstand noch nicht wirklich, dass Jesus Gott zum Vater hatte und dass seine letzte, seine tiefste Loyalität nicht ihr gehörte, sondern seinem Vater im Himmel. Oder dort in Kana, als bei der Hochzeitsfeier plötzlich der Wein alle war. Wieder meinte Maria, sie müsse Jesus auf die Sprünge helfen, sie könne ihn herumdirigieren. Und wie reagierte Jesus?

„Ist es deine Sache, liebe Frau, mir zu sagen, was ich zu tun habe? Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“ (Johannes 2, 4)

Meinen Zeitplan bestimmst nicht du. Ich warte auf die Anweisung meines Vaters im Himmel, nicht auf deine Anweisung, liebe Frau. „Liebe Mutter“, müsste er doch eigentlich sagen. Aber er sagt: „Liebe Frau“. Das ist keine unfreundliche Anrede. Aber es ist eine Anrede, mit der Jesus einen klaren Schnitt vollzieht: Ich bin nicht von dieser Welt. Mein Vaterhaus ist im Himmel. Ich bin in keiner Weise von Dir abhängig. Offensichtlich fiel sogar bei Maria der Groschen nicht von jetzt auf nachher. Offensichtlich dachte sie immer und immer wieder, in ihrer Rolle als Mutter hätte sie ein besonderes Anrecht auf ihn.

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Zurück zu unserer Begebenheit: Es geht also nicht darum, ob man seine Familie achten soll oder nicht. Natürlich soll man sie achten. Aber es geht darum, ob Jesus wirklich der Sohn Gottes ist, das Opferlamm, der Messias. Jesus hätte seinen Auftrag und seinen Vater verraten, wenn er hier klein beigegeben hätte.

Vielleicht ist Ihnen vorhin, als wir die Verse aus Markus Kapitel 3 lasen, etwas aufgefallen. Wir haben Vers 21 gelesen, wo berichtet wird, wie die Brüder von Jesus sich auf den Weg machen, um ihn mit Gewalt zurückzuholen. Und wir haben Vers 31 gelesen, wo berichtet wird, wie sie vor dem Haus ankamen. Aufgebrochen sind sie von Nazaret, dem Wohnort der Familie, und ihr Weg führte sie nach Kafarnaum, wohin Jesus mit seinen Jüngern umgezogen war; eine Strecke von etwa 40 km. Was geschah denn, während sie unterwegs waren? Was geschah zwischen Vers 21 und Vers 31?

In dieser Zeitspanne kommen einige Schriftgelehrte von Jerusalem und behaupten, Jesus würde im Bund mit dem Teufel stehen. Jesus sei von Dämonen besessen, sagen sie; er habe einen bösen Geist. Also schon wieder eine Attacke gegen Jesus, eine noch schlimmere. Jesus habe nicht nur den Verstand verloren, nein: Der Gesandte Gottes sei in Wirklichkeit ein Gesandter des Teufels. Jesus wehrt sich entschieden gegen diese Unterstellung, er widerlegt sie unwiderleglich. Aber eins wird dabei klar: Immer wieder wird sein Auftrag in Frage gestellt, immer wieder versucht jemand ihn mundtot zu machen. Eine Angriffswelle nach der anderen rollt auf Jesus zu.

Und indem Markus das so unmittelbar nacheinander erzählt, geradezu miteinander verflicht (erst die Familie – dann die fromme Oberschicht – dann nochmals die Familie), macht er deutlich: Das alles liegt auf derselben Linie. Die Familie solidarisiert sich sozusagen mit den größten Skeptikern, den schlimmsten Gegnern. Sie kommt nicht, um Jesus zu unterstützen, sondern um ihn zu blockieren. Sie stellt sich nicht hinter ihn, sie stellt sich gegen ihn. Seine Mutter und seine Brüder als Gegenspieler von Jesus!

Wer ist denn der eigentliche Gegenspieler von Jesus? Der Teufel natürlich – der Feind Gottes und der Feind aller Menschen. Ganz am Anfang seines Dienstes zog sích Jesus in die Wüste zurück, und dort wurde er offen vom Teufel attackiert. „Wenn Du Gottes Sohn bist, dann befiehl, dass diese Steine hier zu Brot werden!“ – „Wenn du Gottes Sohn bist, dann stürz dich vom Tempeldach hinunter!“ – „Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest, will ich dich zum Herrscher über alle Reiche der Welt machen!“ Dreimal hat der Satan Jesus attackiert, dreimal hat Jesus seinen Angriff abgeschmettert: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten; ihm allein sollst du dienen.“ Der Teufel war gescheitert; es war ihm nicht gelungen, Jesus von seinem Auftrag abzubringen. Hat der Teufel deswegen kapituliert? Hat er aufgehört, Jesus herauszufordern? Absolut nicht. Der Teufel wäre nicht der Teufel, wenn er so mir nichts, dir nichts die Waffen strecken würde. Am Ende der Versuchungsgeschichte steht etwas Überraschendes:

Nachdem der Teufel alles versucht hatte, um Jesus zu Fall zu bringen, ließ er ihn für einige Zeit in Ruhe. (Lukas 4, 13)

Für einige Zeit – also nicht : für immer. Der Teufel würde wiederkommen. „Für einige Zeit“ – das könnte man auch so übersetzen: „bis sich ihm eine günstige Gelegenheit bot“. Der Teufel zog sich zurück, aber nur, um einen geeigneten Zeitpunkt abzuwarten und um es mit einer anderen Methode zu versuchen. Mit der offenen Konfrontation war er gescheitert. Hier, in Markus 3, versteckt er sich hinter den Gesetzeslehrern, hinter denen, die es wissen müssen. „Er hat einen bösen Geist!“ Vielleicht bringt er Jesus damit zu Fall? Als auch das nicht klappt, setzt er sich die Maske der Familienangehörigen auf. Erst die Peitsche, jetzt das Zuckerbrot. Auf seine Brüder wird er doch hören; seiner Mutter kann er doch keine Bitte abschlagen! Noch später spricht er sogar mit der Stimme des engsten Vertrauten von Jesus, der Stimme von Petrus, dem Anführer des Jüngerkreises. Jesus hat den Zwölf zum ersten Mal angekündigt, dass er demnächst vieles erleiden müsse und getötet würde. Leiden und Sterben gehörte zu seinem Auftrag, dazu war er auf die Erde gekommen! Und wie reagierte Petrus?

Petrus nahm ihn beiseite und versuchte mit aller Macht, ihn davon abzubringen. „Niemals, Herr!“, sagte er. „Auf keinen Fall darf so etwas mit dir geschehen!“ Aber Jesus wandte sich um und sagte zu Petrus: „Geh weg von mir, Satan! Du willst mich zu Fall bringen. Was du denkst, kommt nicht von Gott, sondern ist menschlich!“ (Matthäus 16, 22-23)

Gut gemeint von Petrus. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Petrus hat sich – ohne es zu wissen und zu wollen – dazu hergegeben, Sprachrohr des Teufels zu sein. Er wollte Jesus daran hindern, den Weg weiterzugehen, den ihm sein Vater aufgetragen hatte. Jesus durchschaut das lockende Angebot. Er schaut durch Petrus hindurch und sieht den Teufel hinter ihm stehen: „Geh weg von mir, Satan!“ Du meinst, jetzt hättest du eine besonders günstige Gelegenheit erwischt, mich von meinem Ziel abzubringen. Wer will schon gern leiden und sterben? Und wer würde nicht auf seinen besten Freund hören? Aber auch diesmal scheitert der Teufel. Jesus weiß, wer hinter der Maske steckt. Er sieht hinter die Kulissen. Zum Glück für uns!

Auf dieser Linie müssen wir die Geschichte von Markus 3 verstehen, die Abweisung der eigenen Familie. Wie auch immer der Teufel Jesus begegnete – ob in eigener Person oder im Gewand der Frommen oder des Freundes oder der Familie: Es waren Versuche, Jesus zu Fall zu bringen. Hätte Jesus auf das Urteil der Frommen gehört, auf den Rat des Freundes, auf die Bitte der Familie – er wäre gescheitert. Er wäre nicht der Messias geblieben, er wäre nicht das Opferlamm geworden. Und für uns gäbe es keine Befreiung von Schuld, keine Runderneuerung unseres Lebens, keine Perspektive für die Zukunft. Ja, es war gut und es war richtig, dass Jesus so reagiert hat, wie er reagiert hat.

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Aber nun gehört zu seiner Reaktion ja noch etwas anderes, etwas durch und durch Positives. Jesus weist nicht nur seine Angehörigen ab, indem er sagt: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“ Er sieht der Reihe nach die an, die um ihn herum sitzen, und sagt: „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister! Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“

Eine fantastische Aussage! Wissen Sie, was Jesus hier tut? Er gründet eine Familie! Er schafft sich seine eigenen Angehörigen. Hier spricht Jesus zum allerersten Mal von der Gemeinde (oder genauer: von dem, was später im Neuen Testament Gemeinde genannt wird). Er erklärt Menschen, die nicht im leisesten mit ihm verwandt sind, zu seinen engsten Angehörigen! Und er fügt auch gleich hinzu, wie man zu seinem Bruder wird, zu seiner Schwester, zu seiner Mutter: „Indem man den Willen Gottes tut.“

„Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das bedeutet: In dieser Familie zählen Blutsbande nichts.  Sie kennen ja die Redensart: „Blut ist dicker als Wasser.“ Mit anderen Worten: Die leiblichen Familienglieder stehen einem näher als alle noch so lieben Freunde und Bekannten. Nein, sagt Jesus, in meiner neuen Familien spielt es überhaupt keine Rolle, ob jemand seinem Stammbaum nach mit mir verwandt ist oder nicht. Wenn Du den Willen Gottes tust, stehst Du mir ganz genauso nah wie meine leiblichen Brüder – vorausgesetzt, sie tun den Willen Gottes!

„Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das bedeutet: Jeder kann zu dieser Familie gehören. Damals war es die kleine Schar der Jünger. „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister“, hat Jesus gesagt und auf sie gezeigt. Aber dann hat er die Sache ganz bewusst ausgeweitet: „Wer auch immer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter.“ Um den Willen Gottes zu tun, muss man nicht zum Stamm Juda gehören oder zum israelitischen Volk. Auch ein Indianer kann Gottes Willen tun. Auch ein Philippino. Auch ein Massai. Auch ein Deutscher. auch ein Schweizer. Auch ein Zürcher.

Später wird Jesus seine Zwölf, die ersten dieser neuen Familie, in alle Welt schicken:

„Geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Matthäus 28, 19-20)

 „Macht die Menschen zu meinen Jüngern“ – anders gesagt: Zeigt ihnen, wie sie sich meiner Familie anschließen können. „Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ – anders gesagt: Lehrt sie, den Willen Gottes zu tun!

Und noch später wird aus dieser miniwinzigen Zwergenfamilie damals in Kafarnaum im Haus von Petrus und Andreas eine gigantische Riesenfamilie werden:

Danach sah ich eine riesige Menschenmenge aus allen Stämmen und Völkern, Menschen aller Sprachen und Kulturen; es waren so viele, dass niemand sie zählen konnte. In weiße Gewänder gehüllt, standen sie vor dem Thron und vor dem Lamm, hielten Palmzweige in den Händen und riefen mit lauter Stimme: „Das Heil kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm!“ (Offenbarung 7, 9-10)

Ich glaube, Jesus hat das schon vor seinem inneren Auge gesehen, als er die Blutsbande kappte und statt dessen eine Familie gründete, die durch das Band des Glaubens zusammengehalten wird. „Blut ist dicker als Wasser“ – mag sein. Aber dann stimmt erst recht: Glaube ist dicker als Blut. Das Band des Glaubens ist stärker als alle Familienbande.

Kennen Sie das auch: die Freude, wenn man irgendwo in der Welt einen Gottesdienst besucht oder auch nur einen einzelnen Christen trifft? Das kann in Europa passieren, in Amerika, in Afrika, in Asien, und jedesmal ist es einfach wunderbar. Es ist die Freude, Verwandte anzutreffen, Familienmitglieder. Es ist tausendmal schöner, als wenn man ein leibliches Familienmitglied trifft, das nichts von Jesus wissen will. Das, was geistliche Geschwister verbindet, ist viel umfassender und geht viel tiefer als das, was leibliche Geschwister verbindet. Christen haben so vieles gemeinsam, haben so viele gleiche Erlebnisse gemacht: Sie haben ihr Leben Jesus anvertraut, sie haben Vergebung erfahren, sie interessieren sich brennend für die Bibel, sie bemühen sich, ihre Gebote zu befolgen, sie lieben ihre Mitchristen, sie packen Aufgaben an, die Gott ihnen gibt, sie haben dieselbe Hoffnung und dasselbe Ziel. Wildfremde Menschen verstehen sich auf Anhieb – wenn sie Christen sind. Kein Wunder – sie haben tausend Dinge gemeinsam. Einfach klasse. Glaube ist dicker als Blut.

„Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das bedeutet auch: Als Christ bin ich nie allein. Vielleicht sind Sie allein – ohne Ehepartner oder verwitwet, kommen sich einsam und verloren vor. Gerade dafür ist die Familie von Jesus gut. Vielleicht werden Sie in ihrer Familie nicht verstanden, weil sie an Jesus glauben; vielleicht werden Sie sogar angefeindet und verstoßen. Gerade dafür ist die Familie von Jesus gut. Jesus kennt solche Spannungen, solche Feindschaft; er hat sie in der eigenen Familie erlebt. Und gerade deshalb formt er eine neue Familie, schenkt uns neue Brüder und Schwestern. Ist das nicht tröstlich? Ist das nicht ermutigend?

„Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Das bedeutet auch: Zu dieser Familie kommt man freiwillig. In eine irdische Familie wird man hineingeboren. Als ich zum ersten Mal begriff, dass es mich gibt, da musste ich im gleichen Atemzug auch begreifen, dass ich ein Symank bin. Ein Symank war ich ja schon, bevor ich es begriff! Ob mir das passte? Danach hat mich nie jemand gefragt. Hätte ja eh nichts geändert. Aber Christ ist niemand automatisch, quasi von Geburt an. Und niemand wird automatisch Christ, indem er sich einem christlichen Einfluss aussetzt oder irgendetwas tut, was er oder irgendwelche Leute für christlich halten. Nein, Jesus sagt es so klar und so einfach wie möglich: „Zu meiner Familie gehört, wer den Willen Gottes tut.“ Den Willen Gottes tun – das kann man tun, oder man kann es lassen. Eine ganz und gar freiwillige Angelegenheit. Du bist kein Christ, nur weil Deine Mutter Christ war (es gibt kein Second-Hand-Christentum). Oder weil Dein Großvater der Gemeinde ein großes Legat hinterlassen hat. Oder weil Du Sonntag für Sonntag brav die Kirchenbank drückst (obwohl ich das super finde). Oder weil Du Dich Kapitel für Kapitel durch die Bibel liest (obwohl ich das noch viel superer finde). Du bist Christ, wenn Du den Willen Gottes tust.

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 „Wer den Willen Gottes tut“, sagt Jesus. Da könnte man ja schon ins Grübeln kommen und ins Schwitzen, auch als Christ. Tu ich denn Gottes Willen? Immer und überall? Und wenn nicht – bin ich dann überhaupt ein Bruder von Jesus? Hab ich dann überhaupt das Recht, mich zu seiner Familie zu zählen?

Wissen Sie, was mir an der Stelle weiterhilft? Der Blick auf die zwölf Jünger, die da um Jesus herum saßen. Taten die Zwölf denn immer Gottes Willen? Befolgten sie ständig alle Gebote? Natürlich nicht. Leider nicht. Das wusste Jesus, und das wussten sie selbst. Und doch erklärt er, dass sie seine Brüder sind, weil sie Gottes Willen tun! Was war denn bei ihnen anders als bei den anderen? Ganz einfach: Sie gingen bei Jesus in die Schule, in die Lebensschule. Sie waren bereit und entschlossen, zu tun, was er ihnen sagte. Sie hatten sich entschieden, ihm zu folgen, koste es, was es wolle.

Sehen Sie: „Gottes Willen tun“ hat immer mit Jesus zu tun. Im Johannes-Evangelium (Johannes 6, 28-29) wird einmal berichtet, wie die Leute Jesus fragten: „Was für Dinge müssen wir denn tun, um Gottes Willen zu erfüllen?“ Und wissen sie, was Jesus geantwortet hat? „Gottes Wille wird dadurch erfüllt, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“ Mit anderen Worten: dass ihr an mich glaubt, an Jesus Christus, den Sohn Gottes.

„Gottes Willen tun“ heißt also: an Jesus glauben. Und an Jesus glauben heißt: Jesus vertrauen. Und Jesus vertrauen heißt: Auf Jesus hören. Eine Beziehung zu Jesus aufbauen. Sich von ihm Sünde und Schuld vergeben zu lassen. Sein Leben mit Jesus teilen. Seine Zukunft von Jesus gestalten lassen.

„Gottes Willen tun“ ist also nicht eine Liste von Geboten, die wir abhaken. Es ist eine Grundhaltung, es ist die einzig angemessene Grundausrichtung unseres Lebens: die Ausrichtung auf Jesus. Das war bei den Zwölf der Fall – trotz all ihrer Schwächen und Fehler. Und das kann auch bei uns der Fall sein – trotz all unserer Schwächen und Fehler. Und wenn das der Fall ist, dann dürfen wir uns zu Recht zur Familie Gottes zählen, dann sind wir Brüder und Schwestern von Jesus. Ich glaube, als Jesus das vor allen anderen zu seinen Jüngern sagte: „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister“, da sind sie vor Freude und Stolz fast geplatzt, vor Stolz auf ihren Herrn und vor Freude, dass sie ihm so nah sein dürfen. Gott ehrt die, die sich seinem Sohn anschließen.

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Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die Verwandten von Jesus zurückkommen, die leiblichen Verwandten. Damals hatten sie noch nicht begriffen, wer ihr Bruder wirklich war. In Johannes 7, 5 heißt es frank und frei: „Nicht einmal seine eigenen Brüder glaubten an ihn.“

Damals hat Jesus ihnen freundlich, aber unmissverständlich klar gemacht, dass sie kein größeres Anrecht auf seine Zuwendung haben als irgendjemand sonst. Damals hat Jesus sie – mehr indirekt als direkt – zur Buße gerufen: Ihr handelt eigenmächtig. Ihr tut nicht Gottes Willen. Er hat sie zum Umdenken aufgefordert: Tut den Willen Gottes! Und er hat ihnen ein Angebot gemacht: Dann seid ihr wirklich meine Brüder. Ihr wollt die sein, die mir am nächsten stehen? Dann tut Gottes Willen. Und freut euch, dass mit euch noch viele andere mir am nächsten stehen!

Wissen wir irgendetwas darüber, ob die Verwandten von Jesus ihre Lektion gelernt haben? Ob sie den Schritt von der leiblichen Familie in die geistliche Familie vollzogen, die Blutsbande gegen die Glaubensbande eingetauscht haben? O ja, wir wissen es.

Nachdem Jesus auferstanden und in den Himmel zurückgegangen war, trafen sich die Zwölf jeden Tag in Jerusalem in einem großen Raum und beteten inständig um den Heiligen Geist, den Jesus ihnen versprochen hatte. Das wird uns im ersten Kapitel der Apostelgeschichte berichtet. Und dann heißt es dort in Vers 11:

Auch eine Gruppe von Frauen war dabei, unter ihnen Maria, die Mutter von Jesus; Jesu Brüder gehörten ebenfalls dazu.

Und dann kommt der Pfingsttag, und sie alle werden mit dem Heiligen Geist erfüllt, auch Maria, auch die Brüder von Jesus. Ist das nicht einfach toll? Was muss es Jesus geschmerzt haben, dass seine Brüder sich zu seinen Lebzeiten gegen ihn stellten, dass sie einfach nicht nachvollziehen konnten, was sein Auftrag war. Und was muss es Jesus gefreut haben, nach seiner Auferstehung feststellen zu dürfen, dass es bei ihnen klick gemacht hat, dass sie in ihrem Bruder ihren Retter erkannten, dass sie sich ihm anschlossen!

Erinnern Sie sich noch an die Namen der Brüder von Jesus? „Jakobus, Joses, Judas und Simon.“ (Markus 6, 3)

Kommt Ihnen der eine oder andere Name womöglich bekannt vor? Genau – es gibt doch einen Jakobusbrief (ziemlich weit hinten im NT und so kurz, dass man ihn gern überblättert). Den hat dieser Jakobus hier geschrieben, der leibliche Bruder von Jesus! Und es gibt einen Judasbrief (noch ein bisschen weiter hinten im NT und noch ein Stück kürzer, gerade mal ein Kapitel lang). Den hat dieser Judas hier geschrieben, der leibliche Bruder von Jesus! Jakobus und Judas sind zu führenden Gestalten in der frühen Christenheit geworden. Jakobus galt sogar (zusammen mit Petrus und Johannes) als eine Säule der Gemeinde von Jerusalem (Galater 2, 9).

Und jetzt sehen Sie mal, wie die beiden sich in ihren Briefen vorstellen. Jakobus beginnt seinen Brief so: „Jakobus, Diener Gottes und des Herrn Jesus Christus …“ Merken Sie was? Jakobus hat seine Lektion gelernt. Nicht: „Jakobus, Bruder von Jesus Christus“. Stimmen würde das ja, aber es wäre die falsche Ebene, das verkehrte Signal. Jakobus könnte versucht sein, damit zu punkten: He Leute, falls Ihr’s nicht wisst: Ich bin sein leiblicher Bruder! Ich steh ihm noch ein klitzekleines bisschen näher als Ihr. Er könnte Druck damit machen: Mein Brief ist besonders wichtig. Meine Anweisungen müsst ihr ganz besonders befolgen. Nichts davon. „Jakobus, Diener Gottes und des Herrn Jesus Christus.“ Auf der Ebene, auf die es ankommt, in der Familie, die allein zählt, ist Jesus sein Herr und er ist sein Diener. Nicht mehr und nicht weniger. Das war das einzige, was ihn dazu legitimierte, seinen Brief zu schreiben, die einzige Quelle seiner Autorität.

Und Judas beginnt seinen Brief so: „Judas, Diener Jesu Christi und Bruder des Jakobus …“ Klingt fast noch bescheidener: „Bruder des Jakobus“. Warum nicht auch: „Bruder von Jesus Christus“? Weil bei Jesus nicht mehr die Familienbande zählen, sondern das Band des Glaubens. Judas hat seine Lektion ebenfalls gelernt.

Menschlich gesprochen, wird ihnen das nicht leicht gefallen sein, so ganz auf jeden Hinweis zu verzichten, dass sie mit Jesus groß geworden sind, dass sie Gemeinsamkeiten mit Jesus haben, die die anderen Christen nicht vorweisen können. Menschlich gesprochen, wird es ihnen nicht leicht gefallen sein, ihren Bruder als ihren Herrn zu bezeichnen und sich als Diener ihres Bruders. Aber sie tun es, und sie tun es von Herzen, aus voller Überzeugung. Denn sie sind Christen geworden, sie haben ihr Leben dem anvertraut, der auch für sie sein Leben gelassen hat, und sie sind bereit, die neue, geistliche Familie für wichtiger anzusehen als die alte, leibliche. Aus den leiblichen Verwandten von Jesus sind seine wahren Verwandten geworden. Und Sie und ich sind eingeladen, uns ebenfalls dieser Familie anzuschließen.

***

Ich möchte mit zwei Bildern schließen. Das eine Bild ist eigentlich eine Definition, die ich mal vor langer Zeit gelesen habe:

Eine Familie ist eine Gruppe von Menschen, die am selben Tisch sitzen und dort Suppe und Vertrauen schöpfen und dadurch groß und stark werden.

Ich mag diese Definition – nicht nur, weil ich ein Suppenfan bin; ich mag das ganze warmherzige Bild, und ich finde, es lässt sich auch auf die neue Familie anwenden, mit der wir uns jetzt beschäftigt haben. Nur leben wir im Haus Gottes nicht von Suppe, sondern von Gottes Wort (Matthäus 4, 4) und vom Befolgen von Gottes Wort (Johannes 4, 34). Also: Die neue Familie, die Familie von Jesus ist eine Gruppe von Menschen, die am selben Tisch sitzen (an einem runden Tisch – keiner sitzt weiter oben, keiner sitzt weiter unten, alle stehen im selben vertrauten Verhältnis zu ihrem Herrn) und die dort Gottes Wort essen und Vertrauen zu Gott schöpfen und dadurch groß und stark werden.

Und das zweite, das letzte Bild liefert uns genau die Begebenheit, mit der wir uns jetzt so lange befasst haben: das Haus, in dem Jesus lehrt. Wer ist im Haus, bei Jesus? Seine neue Familie – die, die Gottes Willen tun. Und wer ist draußen? Seine eigene, seine leibliche Familie – die, die meinen, sie würden Jesus besonders nahe stehen, aber es versäumen, sich an seinem Willen auszurichten. Wenn man an die drinnen denkt, ist es ein wunderbares Bild. Wenn man an die draußen denkt, ist es ein dramatisches, ein herausforderndes Bild. Eine Herausforderung auch für uns: Wo stehen wir? Und wohin gehen wir?

 

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 „Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ Daraus folgt noch etwas: Es bringt nichts, zu Maria zu beten. Oder zu irgendeinem Heiligen. Es gibt ja fromme Menschen, die das tun und sich davon einen besonderen Segen versprechen. Es gibt sogar ganze Kirchen, die das praktizieren. Aber überlegen Sie mal: Was hätte denn Maria irgendeiner anderen gläubigen Frau voraus? Dass sie die leibliche Mutter von Jesus war? Schön, aber steht sie Jesus deswegen näher? Jesus sagt nein. Wer den Willen Gottes tut, der ist meine Mutter. Wenn Claudia oder Franziska den Willen Gottes tun, stehen sie Jesus genauso nah wie Maria. Dann könnte ich also mit dem gleichen Recht zu Claudia oder Franziska beten! Es ist sinnlos, zu irgendjemand anders zu beten als unmittelbar zu Jesus. Sinnvoll wäre das höchstens, wenn es Christen gäbe, die Jesus näher stehen als andere. Dann könnte man sie gleichsam bitten, sich bei Jesus für uns einzusetzen. Aber genau das ist nicht der Fall. Wer Jesus gehört, steht Jesus so nah, wie es nur möglich ist. Es gibt keinen Verwandtschaftsgrad, der noch dichter an Jesus dran wäre. Und deshalb ist es sinnlos, zu Maria zu beten. Es ist nicht nur sinnlos, es ist verkehrt. Es wäre ein Zeichen dafür, dass man diese entscheidende Lektion noch nicht recht begriffen hat: In der neuen Familie Gottes zählen nicht Blutsbande, sondern Glaubensbande, Gehorsamsbande. In der neuen Familie Gottes zählt nicht die Geburt, sondern die Wiedergeburt.