Charles Haddon Spurgeon

Guter Rat für allerlei Leute

Reden hinterm Pflug

 

In Not geratene Leute

 

Nicht eher ist eines Menschen Schicksal vollkommen bekannt, als bis er gestorben ist. Ein immerwährender Wechsel des Glücks ist nun einmal unser Los auf Erden. Wer heute im Wagen fährt, muss ihn vielleicht morgen waschen. Brettschneider wechseln ihre Plätze, und wer hoch oben steht, kann an die Reihe kommen, unten in der Grube zu stehen. In weniger als tausend Jahren werden wir alle eine Glatze haben. Wer weiß, was uns noch vor der Zeit widerfahren mag? Auch wir könnten einmal unter einem Fenster stehen, darum sollten wir beim Ausgießen unseres schmutzigen Wassers Vorsicht walten lassen. Mit welchem Maß wir messen, werden auch wir wieder gemessen werden, darum lasst uns darauf achten, dass wir die Unglücklichen behandeln, wie es recht ist.

Nichts nimmt mich mehr gegen die menschliche Natur ein, als wenn ich die Art und Weise beobachte, wie die Menschen andere behandeln, wenn sie von der Leiter des Glücks herunterfallen. „Geschieht ihm recht“, schreien sie dann, „er hat nie etwas getaugt.“ Ein Hund frisst den anderen nicht auf, aber die Menschen verzehren einander wie Kannibalen und rühmen sich dabei noch ihrer Taten. Es gibt Tausende in dieser Welt, die, sobald ein Kaufmann oder ein Händler in Schwierigkeiten kommt, wie die Geier herbeifliegen, um an ihm zu nagen.

„Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Geier.“ Anstatt ihm ein wenig Hilfe zu leisten, sind sie hart gegen ihn und schreien: „Selber schuld!“ Alle Welt schlägt auf einen Menschen los, der Unglück hat. Trifft ihn ein Schicksalsschlag, so fangen alle Menschen an, mit der Peitsche zu knallen. Der Baum ist gefallen, und jedermann läuft und holt sein Beil. Das Haus brennt, und die Nachbarn wärmen sich daran. Der Mann macht schlechte Geschäfte, und schon behandeln ihn seine Freunde schlecht. Einer ist nach unten geraten, schon schreit die Selbstsucht: „Lasst uns dafür sorgen, dass er unten bleibt, so ist desto mehr Platz für die, die oben sind.“ Besonders traurig ist das Los aber, wenn die, die jemand hinuntergestoßen haben, ihm noch zusätzlich solche Stöße versetzen, dass er nicht wieder aufsteht! Es ist nicht sehr angenehm, hören zu müssen, was für ein großer Narr man gewesen sei und dass es mindestens fünfzig Mittel gegeben habe, um aus der Schwierigkeit herauszukommen – man habe aber nicht den Verstand besessen, es zu bemerken. „Hätte er, dann hätte er nicht ...“ „Er hätte die Stalltür verschließen sollen“; jedermann kann das einsehen, aber niemand bietet sich an, dir einen neuen Gaul statt des verlorenen zu schenken. „Wie schade, dass er sich so weit aufs Eis vorgewagt hat!“ Das ist vollkommen richtig, wird aber dem Ertrinkenden nicht das Leben retten. Es ist leicht, in einen fadenscheinigen Rock ein Loch zu machen. Gute Ratschläge sind für eine hungrige Familie schlechte Nahrung.

Leihe mir jetzt ein Stück Bindfaden, um die Stränge wieder zusammenzubinden, und tadele das alte Geschirr, wenn ich wieder zu Hause bin. Gib meinem alten Gaul ein wenig Hafer, und heiße ihn dann getrost schneller laufen. Fühle Mitleid mit mir, und ich will dir sehr dankbar dafür sein, aber lass deine Tasche auch Mitleid fühlen, oder du kannst mir mit all deinen Gefühlen gestohlen bleiben.

Menschen, die bergab gehen müssen, treffen mit Judas zusammen, ehe sie den Fuß des Berges erreicht haben. Diejenigen, denen sie in ihren besseren Tagen geholfen haben, vergessen meistens ihre Schuld oder zahlen sie mit Undank zurück. Der junge Schössling stiehlt dem alten Stamm den Saft. Das junge Füllen saugt seiner Mutter die Milch ab und schlägt dann mit dem Huf nach ihr aus. Wie oft wird das Sprichwort wahr: „Ich habe dich schwimmen gelehrt, und nun willst du mich ducken.“ Der Hund wedelt mit dem Schwanz, bis er den Knochen bekommt, und dann schnappt und beißt er nach dem Mann, der ihn ihm gegeben hat. Gegessen – vergessen, und die Hand, die das Brot gab, wird verachtet. Die Kerze gibt anderen Licht und verzehrt sich selbst dabei. Nichts ist meistens schneller im Gedächtnis ausgelöscht als ein guter Dienst, den man einem anderen geleistet hat. Jeder ist sich selbst der Nächste, das ist die goldene Regel der Welt, und wir wissen alle, wer den letzten Platz bekommt. Der Fuchs sorgt für seine eigene Haut und ist durchaus nicht bereit, aus Dankbarkeit seinem Freund gegenüber seinen Schwanz zu verlieren.

Ein edler Charakter ergreift für den Schwächeren Partei, aber edle Charaktere reiten nicht oft unsere Straße entlang. Sie sind so selten wie Adler; Elstern und Krähen kann man dutzendweise haben, edlere Vögel aber bekommt man nicht oft in seinem Leben zu Gesicht. Hat man je gesehen, dass die Krähen einem toten Schaf, ehe sie es aufgefressen haben, die Grabrede halten? „Wie traurig, wie ist es nur zugegangen? Welch ein Unglück!“ schreien die Nachbarn; und dann fallen sie darüber her und versuchen einen Anteil an der Beute zu bekommen. Die meisten Menschen bieten denen ihre Hilfe an, die keine Hilfe brauchen. Alle Köche verstehen es, ein fettes Schwein zu rösten, aber das magere lassen sie anbrennen.

Wenn der Wind günstig ist, so helfen alle. Solange der Topf kocht, blüht auch die Freundschaft. Aber die Schmeichler finden sich nicht in den Hütten des Elends, und die verblühte Rose hat keinen Freier. Alle Nachbarn sind des reichen Mannes Vettern, aber den Armen kennt sein eigener Bruder nicht. Der Gutsherr wird eine halbe Meile weit verstanden, wenn er auch nur lispelt; aber die Witwe Bedürftig kann man nicht einmal diesseits der Parkmauer verstehen, wenn sie auch noch so laut schreit. Die Menschen gießen gern Wasser in ein volles Fass und geben Feste denen, die nicht hungrig sind, weil sie ebenso gute oder noch bessere dafür mitfeiern zu dürfen hoffen. Hast du erst eine Gans, so kriegst du noch eine Gans. Hast du ein eigenes Pferd, so kannst du dir eines borgen. Gerste zu leihen, wo die Scheune voll Weizen ist, ist sicher; aber wer leiht oder gibt, wo nichts ist? Ja, wer? Außer etwa einer altmodischen guten Seele, die an die Bibel glaubt und ihren Herrn liebt und dem Worte gemäß handelt: „Wohl dem, der barmherzig ist und gerne leiht und das Seine tut, wie es recht ist!“ (Psalm 112,5).

Gewisse vornehme Leute stellen sich äußerst freundschaftlich einem in Schwierigkeiten geratenen Geschäftsmann gegenüber, weil es noch etwas von seinen Knochen abzunagen gibt. Der Advokat und der Geldverleiher bedecken den armen Schlucker mit ihren Flügeln und picken dann mit den Schnäbeln an ihm herum, bis nichts mehr übrig ist. Wenn diese Leute sehr höflich und teilnehmend sind, so ist es Zeit für arme Leute, auf der Hut zu sein. Es war kein gutes Zeichen, als der Fuchs in den Hühnerstall mit den Worten hineinspazierte: „Schönen guten Morgen, meine inniggeliebten Freundinnen!“

Leute, die ganz unten sind, müssen aber auch nicht verzweifeln, denn der alte Gott lebt noch und ist ein Freund der Freundlosen. Ist auch kein anderer zu finden, der den Gefallenen seine Hand entgegenstreckt, so wird doch der Herr nimmermehr versäumen, denen Hilfe zu bringen, die auf ihn trauen. Ein gottseliger Mensch kann wohl ins Feuer kommen, kann aber nicht verbrennen. Seine Hoffnung kann überflutet werden, kann aber nicht ertrinken. Er fasst stets neuen Mut. Ist der Hügel steil, so ist doch sein Herz stark, und damit kommt er über Schwierigkeiten hinweg, wo sich andere niederlegen und sterben. Solange man noch Leben hat, kann man auch Hoffnung haben. Bist du aber vom Rücken des Glücks heruntergefallen, so bleibe nicht im Graben liegen, sondern stehe wieder auf, lieber Freund – lässt dir der Pflüger Hans sagen – und versuch es noch einmal! Jona geriet bis auf den Meeresgrund, aber er kam wieder ans Ufer zurück und hatte keine Nachteile von seiner Wasserfahrt.

 

Ist der Vogel auch gefangen,

kann er Freiheit noch erlangen;

lieg ich jetzt auch tief im Staube,

hält sich doch an Gott mein Glaube.

Hoffnung will ich zu ihm fassen,

alles still ihm überlassen;

denn er wird gewiss erscheinen –

und zu Ende ist mein Weinen!