Konrad Eißler

Die Sicht nach vorne

"Siehe, ich mache alles neu." (Offenbarung 21, 5)

1997 IDEA SPEKTRUM THEOLOGIE/KIRCHE & MEDIEN 25

Endstation Patmos. Wer vor dem Kaiser keine Prise Weihrauch verbrannte, verbrannte sich nicht nur die Finger. Wegen Gehorsamsverweigerung wurde er verhaftet und auf die Gefangeneninsel verfrachtet. Und dort gab es keine Entlassungspapiere, sondern nur Totenscheine. Deshalb sah Johannes, dieser prominente Regimekritiker unter den zahllosen Häftlingen, nur Totenfelder und Bestattungsorte: die alte Erde als großer Friedhof, besetzt mit Grabsteinen gestorbener Hoffnungen. Sehen wir mehr? Unser grüner Planet ist doch auch nur

eine Toteninsel, die keinem einen ewigen Aufenthalt gewährt. „Nur Frist und Zeitgewinn ist unser Leben“ (Shakespeare). Den Totenschein, auf dem einzig das Datum fehlt, haben wir alle in der Tasche. Deshalb sehen wir auch nur die alte Erde,  die vielen Grabsteine, den großen Friedhof – aber Johannes sah mehr. An einem Sonntagmorgen fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er sah die neue Welt. Keine Träne, kein Schrei, kein Schmerz mehr. „Siehe, ich mache alles neu.“ Menschen legen sich nicht mehr zum Sterben. Särge werden nicht mehr gezimmert. Friedhöfe werden endgültig abgeschafft. Der Sieg Jesu, am Ostermorgen nach  unheimlicher Schlacht erkämpft, ist zum Endsieg geworden. Wer nur den Grabstein sieht, ist kurzsichtig. Wer nur die dunkle Erde sieht, ist nachtblind. Wer nur den Schnitter Tod sieht, hat schlechte Augen. „Gib uns Augen, die was taugen“ – so müssen wir bitten, damit auch uns die neue Welt in den Blick kommt, die wir nicht schaffen können und auch nicht zu schaffen brauchen, weil Gott sie in einem neuen Schöpfungsakt schaffen wird. Der Brite Arnold Toynbee (1889-1975), der letzte große Universalhistoriker, schrieb:

„Ohne diese Sicht nach vorne ist die Geschichte nicht mehr auszuhalten.“