Medikamente aus christlicher Sicht

 

Moral hilft heilen

 

Rheinischer Merkur, Nr. 51/52 v. 22.12.2005, "Wissenschaft und Praxis", S. 35

 

Die Pharmabranche ist ein hartes Geschäft, ohne Platz für Nächstenliebe. Unser Autor, ein Pharmazeut, hält dagegen: Die Forschung führt nur zum Ziel, wenn das Gewinnstreben die Barmherzigkeit nicht völlig verdrängt

 

Prof. Dr. Peter Imming

 

 

Medikamente sind zwar im Gegensatz zu Ärzten nur Dinge. Trotzdem

werden auch sie "persönlich genommen", und ihre Einnahme ist von Befürchtungen und Hoffnungen begleitet Diese Emotionen beruhen vor allem auf dem Gefühl von Schwäche und Unsicherheit, das uns bei jeder Krankheit beschleicht. "Werde ich wieder heil werden? Was ist, wenn nicht?"

Über Heilung und Heil will ich hier aus der Sicht eines Pharmazeuten nachdenken, auch anhand einiger Stellen aus dem Neuen Testament. Im Kern geht es um dies: Gibt es so etwas wie eine Moral der Medikamente?

Wer für die Arzneien anderer bezahlt, könnte in Versuchung kommen, gegen sie ein unterschwelliges Misstrauen zu nähren. Das würde den großen gesundheitlichen Nutzen herabsetzen, den wir den Präparaten des 20. Jahrhunderts verdanken. Welcher Kostenträger ist nicht froh über wirksame Mittel gegen Infektionsleiden, die teure stationäre Aufenthalte stark verkürzen? Wer möchte heute noch wie im Wildwestfilm unter Brandy als Anästhetikum operiert werden? Welcher Migränepatient, dem neue Serotonin-Antagonisten helfen, ist dafür nicht dankbar - und hat weniger Krankheitsfehltage? Die Liste der Beispiele lässt sich beliebig verlängern.

Trotzdem wird gefragt: Nehmen wir nicht insgesamt zu viele Medikamente? Pro Jahr nimmt jeder Bürger Deutschlands durchschnittlich etwa zwanzig Packungen Arzneimittel. Mit der Interpretation von Durchschnittswerten muss man vorsichtig sein, doch ist sicher, dass die Aufwendungen für die Gesundheit nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich gestiegen sind. Das Wachstum wird von drei Trends getragen:

- die als Folge des medizinischen Fortschritts immens gewachsenen Möglichkeiten in Therapie und Diagnostik, ob durch Arzneien oder andere Behandlungen,

- die gestiegene Lebenserwartung, die im Alter mehr Beschwerden erleben lässt,

- ebenso aber auch die gestiegene Erwartung an das Leben: Für jeden soll die ganze Bandbreite des medizinisch Machbaren verfügbar sein.

Letzteres ist verständlich und dennoch seltsam. Auf keinem anderen Gebiet körperbezogener Lebensmöglichkeiten wird nämlich die Forderung "Alles für alle" erhoben. Jedenfalls scheint es nicht durchsetzbar, für jeden etwa ein Eigenheim mit Swimmingpool und Butler zu ermöglichen. Ist das Gesundheitswesen also so etwas wie die erste Bastion des Kommunismus oder die letzte der christlichen Nächstenliebe, mit Anteilen des humanistischen Individualismus unseres Abendlandes? Schaut man darauf mit etwas Abstand, sieht man den Anspruch einer Elite; denn der Maximalmedizin der reichen Länder steht die Minimalversorgung der armen gegenüber. Wobei die armen oft geneigt scheinen, sich lieber helfen zu lassen, als die Dinge selbst zu organisieren . . .

Qualität und Quantität der medizinischen Versorgung wird vom zentralen Begriff der Nächstenliebe her handhabbar, die nicht nur in der Bergpredigt einen wichtigen Platz einnimmt. "Heute habt ihr so viel; dass ihr ihnen helfen könnt", heißt es im 2. Korintherbrief (Kapitel 8, Vers 14). Und im 1. Johannesbrief (Kapitel 3, Vers 17) lesen wir: "Wie kann Gottes Liebe in einem Menschen bleiben, dem die Not seines Bruders gleichgültig ist, obwohl er selbst alles im Überfluss besitzt?"

 

Gefragte Lifestyle-Mittel

Das spricht uns an, denn, in unserem Teil der Welt versuchen Menschen mit Lifestyle-Medikamenten wie Viagra noch mehr Lust aus einem Leben herauszuholen, das meist ohnehin viel Lustgewinn hatte. Anderswo handeln sich Menschen mit oder ohne eigene Schuld unheilbare Geschlechtskrankheiten ein. In unserem Teil der Welt nehmen Menschen Arzneien wie Xenical. Er bewirkt, dass das Fett, das sie zu viel gegessen haben, unverändert wieder ausgeschieden wird. Anderswo sind Menschen froh, wenn sie überhaupt ein bisschen Fett zu verdauen haben.

Weil Viagra und Xenical nicht gegen Aids und Hunger helfen, darf man fragen, ob der Ersten Welt ihre Krankheiten, Wehwehchen und Neurosen immer wichtiger werden als die Nöte der Dritten. Und ist komplementär und als eine Folge der massive Anstieg bei den Verschreibungen an Antidepressiva und Antipsychotika in der Ersten Welt vielleicht durch Egomanie erklärbar? "Gesundheit ist die Fähigkeit, mit Krankheit, Behinderungen und Schädigungen leben zu können. Wenn man nur für die Gesundheit lebt, ist man sehr

krank", sagte die schweizerische Philosophin Jeanne Hersch (1910-2000).

Krankheit ist im Kern ein Teil des Sterblichkeitsproblems. Menschen sterben nach christlicher Auffassung, weil sie von Gott, der Lebensquelle, durch Sündhaftigkeit getrennt sind. Das Wort Gottes zeigt uns den von Gott geschaffenen Rettungsweg. Christliche Mission ohne Hilfsbereitschaft ist deshalb Heuchelei (Jakobusbrief, Kapitel 2), christliche Medizin ohne Heilsbotschaft therapiert nur Symptome. Unterdrückt man sie um jeden Preis, können sie ihre Funktion als Warnsignal - etwa die Warnung vor dem Tod - nicht erfüllen.

Bei der Frage, wie wichtig wir unsere Medikamente nehmen, lässt sich diese Unterscheidung treffen:

- Es gibt direkt lebensrettende Arzneien für alle, also Mittel gegen schwere Infektionen, Schutzimpfungen, Notfallmedikamente und Ähnliches,

- Mittel gegen Krankheiten, die viele Menschen haben; vor allem Infektionen mit tropischen Einzellern und Würmern,

- Medikamente gegen Krankheiten, bei denen es keine andere Therapie gibt,

- und die Mittel, die nach Verkaufs- und Verordnungszahlen etwa in Deutschland am wichtigsten sind.

Arzneimittelforschung wird heute fast nur noch für Massenkrankheiten industrialisierter Länder betrieben, also für Herz-Kreislauf-, Rheuma- und Krebsleiden. Dazu kommen Lifestyle-Medikamente. Dieser Schwerpunkt ist damit zu erklären, dass die Entwicklungskosten für ein Mittel rund 500 Millionen Euro betragen. Sie müssen sich natürlich bezahlt machen.

Nun ist es nicht unmoralisch, sondern richtig und lebensnotwendig, dass eine Pharmafirma, eine Apotheke, ein Arzt am Heilen verdient. Aber kann Heilen als bloßes Geschäft existieren? Wäre es nicht ein Widerspruch in sich, wenn die Triebfeder zum Helfen der reine Eigennutz ist? Der Ursprung und die Garantie für die Dauerhaftigkeit medizinischer Bemühungen ist wiederum in der Nächstenliebe zu suchen. Nächstenliebe wird von Barmherzigkeit in Gang gesetzt. "Als der barmherzige Samariter den Verletzten sah, hatte er Mitleid mit ihm", schreibt der Arzt und Jesus-Biograf Lukas (Kapitel 10, Vers 33).

Barmherzigkeit und Nächstenliebe lernen wir nicht aus der Natur, sondern wir empfinden sie, weil wir im Bild des liebenden und barmherzigen Gottes geschaffen sind, und wir betätigen sie, weil er es uns gebietet. Das heißt für uns heute: Arzneimittelforschung hat Bestand und führt zum Ziel, wenn das notwendige Gewinnstreben nicht komplett an die Stelle der Barmherzigkeit tritt.

Alle Medikamente sind eigentlich Stoffe, die in relativ kleiner Menge dem Körper zugeführt werden und Stoffwechselvorgänge beeinflussen können: bremsen, wo der Körper zu viel Gas gibt; stimulieren, wo physiologische Vorgänge schlappgemacht haben; töten, aber nicht den Patienten, sondern Krankheitserreger oder entartete Zellen, Die meisten Arzneistoffe

sind Inhibitoren (Hemmstoffe), nur wenige fungieren als Prothesen (Ersatzstoffe).

 

Was hat Gott versprochen?

Das entspricht der Grundregel der Conditio humana: Zerstören und stören ist leichter als (auf‑)bauen und (wieder-)gutmachen. Warum? Weil physiologische Vorgänge dynamisch und feinreguliert sind, also kaum durch die mehrmals tägliche Überschwemmung des Körpers mit einem Arzneistoff völlig in Ordnung gebracht werden können. Und weil vielen Leiden irreversible Schäden zugrunde liegen.

Das hat Folgen für einen christlichen Patienten: Er ist jemand, der Arzneimitteln nicht mehr zutraut, als ihm sein Gott ganz allgemein für diese Welt versprochen hat. Gesundheit und Arzneimittel müssen für ihn nicht zum Grundthema des Lebens werden, das verhindert, dass "durch uns alle Menschen Gottes Herrlichkeit erkennen, die in Jesus Christus sichtbar wird. Diesen kostbaren Schatz tragen wir allerdings in einem zerbrechlichen Gefäß" (2. Korintherbrief, Kapitel 4, Vers 6-7).

Wer glaubt, dass er nur ein endliches Stück organisierter Materie ist, wird freilich anders denken. Für ihn ist der Arzneistoff das hoffentlich helfende Komplement für sein Ein und Alles, den jetzigen Körper. Wer dagegen weiß, dass das Ende dieses Leibes nicht sein persönliches Ende ist, für den wird das Gewicht der Herrlichkeit schwerer wiegen. Davon handelt der 2. Korintherbrief in Kapitel 4, Vers 17.

Fazit: Wir nehmen Medikamente dankbar an und ein. Moralische Medikamente helfen, aber nicht nur den Reichen. Sie halten, was sie versprechen. Sie versprechen nicht, was ein Stückchen Materie nicht halten kann. Wir wollen uns von ihnen nicht versprechen, was nur Gott versprechen kann. Göttliches Heil und persönliche Heiligung sind wichtiger und dauerhafter als Heilmittel und Heilung.

 

 

 

 

 

 

 

Der Autor und seine Stationen

Peter Imming studierte Pharmazie und Chemie und wurde 1982 als Apotheker approbiert. Das Diplom in Chemie folgte 1985, die Promotion zwei Jahre später. Forschungsaufenthalt in Oxford 1988/89, Gastprofessur in China im Herbst 2001, Habilitation für Pharmazeutische Chemie 1995. Seit April 2004 hat Imming eine Professur für Pharmazeutische Chemie an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.