Vom unfreien Willen

Ein Aufsatz von Siegfried Kettling

 

Einleitung

„Vom unfreien Willen", das ist der Titel einer Streitschrift Martin Luthers. Welchen Rang hat dieses Buch von 1525 in den über 100 Bänden der großen Weimarer Werkausgabe (WA), welcher Stellenwert gebührt ihm?

Als die Freunde Capito und Butzer 1527 „Luthers gesammelte Werke" herausgeben wollten, da zeigte sich der Reformator sehr kritisch. Sein Wunsch war, die Bibel solle studiert werden, seine Furcht (Luther war zweifellos der Bestseller-Autor seiner Zeit!), man könne stattdessen Luther lesen.

Er antwortete:

„Ich wünschte, dass sie (meine Schriften) alle verschlungen würden. Denn ich erkenne keins als mein rechtes Werk an, außer etwa das „Vom unfreien Willen" und den Katechismus" (LD X, 262).

Warum gerade diese beiden? Der Katechismus bietet die Position, das Ja, der „unfreie Wille" die Negation, das notwendige nein. Beide entsprechen sich wie ein Gussstück und seine Hohlform oder wie ein Foto und sein Negativ: Was beim Foto leuchtend hell erscheint, ist beim Negativ tief schwarz. Die Gnade ins Licht rücken, das heißt, den „freien Willen" ins Dunkel zu bannen. Beides ist untrennbar, beides bedingt sich. So geht es beim „unfreien Willen" um den Kern der Sache im Unterschied zu all den Fragen über das Papsttum, das Fegefeuer, den Ablass..., die mehr „Lappalien, als wirkliche Probleme sind" (LD 332/CI 292). Wohlgemerkt: Wo es um die Grundfrage der Reformation geht--nämlich um die Rechtfertigung des Sünders vor Gott -, da sind Ablass oder Papsttum nichts als „Lappalien", „unnützes Zeug" ( 248); die Frage nach dem unfreien Willen dagegen ist der Angelpunkt! Hier ist das Zentrum, alles andere bloß Peripherie.

Hans Joachim Iwand formulierte zugespitzt so: „Wer diese Schrift nicht aus der Hand legt mit der Erkenntnis, dass die evangelische Theologie mit dieser (!) Lehre vom unfreien Willen steht und fällt, der hat sie umsonst gelesen." ( 253). Und ein jüngerer Lutherforscher, K. Schwarzwäller sagt: „Keine Schrift davor oder danach hat das Evangelium in solcher Konzentration und mit derart unausweichlichem Nachdruck zur Geltung gebracht... Denn Luther stellt hier in unüberbietbarer Schärfe die theologische Wahrheitsfrage".

 

Das ABC des Glaubens

Hat gerade diese Frage einen so alles entscheidenden Rang, dann kann es sich hier nicht (wie Luthers Gegner Erasmus meinte) um eine esoterische Speziallehre für Spezialisten handeln. Nein, hier geht es nicht um „theologische Glossolalie", sondern um das ABC des Glaubens. Gott selbst hat gewollt, dass das unters Volk kommt. Warum? Luther antwortet:

„Darauf sind wir aus, dass wir untersuchen, was der freie Wille vermag..., wie er sich zur Gnade Gottes verhält. Wenn wir das nicht wissen, wissen wir rein gar nichts von den Angelegenheiten der Christen und werden schlimmer sein als alle Heiden... Denn wenn ich nicht weiß, was, wieweit und wie viel ich in Bezug auf Gott kann und zu tun vermag, so wird es mir ebenso ungewiss und unbekannt sein, was, wieweit und wie viel Gott in Bezug auf mich vermag, da Gott doch alles in allem wirkt. Wenn ich aber die Werke und die Wirkungsmacht Gottes nicht kenne, so kenne ich Gott selbst nicht. Kenne ich Gott nicht, so kann ich ihn auch nicht verehren, preisen, ihm Dank sagen und ihm dienen..." (LD 169/ 22).

Geht es tatsächlich um so elementare Dinge, so müsste das doch Stoff für jeden Konfirmanden sein. Und in der Tat: Bei Luthers Erklärungen zu den drei Glaubensartikeln im kleinen Katechismus steht das Wissen um den unfreien Willen beständig im Hintergrund.

 

Rumor muss sein

Erasmus hat Sorge: Diese Lehre könnte Unruhe unters Volk bringen, da sei es klüger zu schweigen. Luther aber denkt wie Paulus: „Ich glaube, darum rede ich" (2. Korinther 4, 13). „Friedhofsfriede" ist nicht des Christen Ziel. Im Gegenteil: Das „ist das immerwährende Los des Wortes Gottes, dass seinetwegen die Welt in Unruhe versetzt wird." (LD 183/ 34). Ja „Rumor" und „Tumultus" (CI 117) sind gerade Echtheitszeichen für die Wirkung dieses Wortes.

„Die Welt und ihr Gott können weder noch wollen sie das Wort des wahren Gottes ertragen. Der wahre Gott kann weder noch will er dazu schweigen... Und wenn ich nicht diese Unruhe sähe, würde ich sagen, das Wort Gottes sei nicht in der Welt" (LD 184/ 35). „Deshalb sage ich dir (Erasmus) und bitte dich, dir das ganz fest ins Herz zu schreiben, dass es mir in dieser Frage um eine ernsthafte, notwendige und ewige Sache geht, so groß und so wichtig, dass sie auch unter Dahingabe des Lebens behauptet und verteidigt werden muss, und wenn die ganze Welt darob nicht nur in Unfriede und Aufruhr versetzt, sondern auch ganz in ein einziges Chaos zusammengestürzt und vernichtet werden sollte" (LD 182/ 33).

Dieses Thema muss behandelt werden, und zwar um jeden Preis, weil es hier um die Wahrheit geht!

 

Sind wir evangelisch?

Rumor gehört also zur Sache! Darum will ich es provozierend sagen: Keiner von uns ist gezwungen, evangelisch zu sein, auch kein Pietist und Gemeinschaftsmann muss evangelisch sein (im 19. Jhdt. Behauptete man ohnehin, der Pietismus sei kein Kind der Reformation, sondern ein Bastard der katholischen Mystik); wer aber evangelisch ist, der kann nicht anders evangelisch sein als mit dem frohen und dankbaren Ja zum unfreien Willen! Wer hier nein sagt, der sagt nein zur Reformation, und-- was mehr ist-- nein zum Evangelium, der sagt nein zur Gnade, nein zum Glauben, nein zur Schrift und in dem allen letztlich nein zu Jesus Christus!

Luthers Schrift ist-- von der Sache her!-- ein so harter Brocken, dass jeder sich hier die Zähne ausbeißt Iwand sagt: „Der Leser wird immer wieder an Stellen kommen, wo er „nicht mitkann" ( 253). Beim Lesen-- das ist meine Erfahrung—geht’s einem immer wieder so: Man ist zuerst fasziniert, dann provoziert, später irritiert und auch frustriert-- am Ende aber neu überwunden und mit der Einsicht in den unfreien Willen unendlich befreit. Fertig wird man jedoch nie, und das Folgende kann nur der Versuch sein, einige Grundlinien auszuziehen.

 

I) Luther und Erasmus - das Entweder - Oder

Martin Luther und Erasmus von Rotterdam, Reformation und Humanismus stehen sich gegenüber, wenn es um den Willen des Menschen, den unfreien oder freien geht. Luthers schon im Ton sieghaft triumphierende Streitschrift „ De servo arbitrio", „Vom unfreien Willen" (1525) ist ja Antwort auf des Erasmus Abhandlung „De libero arbitrio", „Über den freien Willen" (1524).

Zuerst hatte es geschienen, als ob beide Bewegungen in dieselbe Richtung unterwegs sind. Dankbar hatte Luther die Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, die Erasmus (getreu der humanistischen Losung: Zurück zu den Quellen!) herausgegeben hatte, bei seiner Übersetzung „ Das Neue Testament Deutsch" zugrunde gelegt. Und Erasmus erhoffte sich von Luther eine geistige und moralische Erneuerung, eine weitreichende Reform. Aber nun wird der unüberwindbare Graben sichtbar und markiert ein Entweder - Oder bis zum heutigen Tag

 

Christus allein?!

Erasmus ist Humanist, d.h. es geht ihm um den Menschen und seine Würde; gewiss um den gefährdeten, den von inneren Trieben und äußeren Strukturen bedrohten, ja deformierten Menschen, aber doch eben um den im Kern guten, deshalb durch Erziehung und Moral zu befreienden Menschen. Dass der Mensch wahrhaft Mensch werde, darum geht es dem großen Menschenfreund. Entwicklungshelfer möchte er sein bei der Selbstfindung, der Emanzipation des Menschen. Erasmus-- der Humanist!

Luther ist Theologe, d.h. ein (wie sein Doktoreid es ihm auferlegte) ganz und gar Gott und seinem Wort Verpflichteter. Um Gott geht es ihm, um die Ehre dessen, der in Jesus „mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat". Dass Gott bei den Menschen zu seinem Recht komme, dass Gott für den Menschen wahrhaft Gott werde, darum geht es Luther.

Für Erasmus ist der Mensch wohl schwer erkrankt; er liegt am Boden, aber in seiner Substanz ist er doch so robust und vital, dass man ihm mit Hilfe guter Ärzte (zu denen sicher auch Jesus Christus gehört) und starker Medizin (wobei gewiss das Bibelwort nicht fehlen darf) wieder zu seinem aufrechten Gang, dem Zeichen seiner Würde verhelfen kann.

Für Luther ist der Mensch „tot in Sünden", keine Zelle ist mehr zu reanimieren; da hilft nur noch Totenauferweckung, eben Christus allein! Solus Christus!

 

Die Gnade allein?!

Für Erasmus ist die Burg - Mensch genannt - wohl weitgehend vom Feind erobert, aber im Bergfried, im innersten Refugium, brennt noch das Lämplein der Freiheit. Wird von dort innen der Ausbruch gewagt und kommen von außen Hilfstruppen dazu, dann ist die Rettung gewiss. Dieser noch glühende Funke im Personenkern, - eben das ist der freie Wille; die Hilfstruppen wären die hinzukommende göttliche Gnade. Für Luther ist gerade das innerste Zentrum (Herz, Gewissen) längst vom Feind erobert, ja zur Kommandozentrale des Satans umfunktionier. Gerade in seiner Personenmitte ist der Mensch versklavt, vom „arg bösen Feind" geradezu besessen" eben dies meint das Stichwort unfreier Wille!

Erasmus lehrt mit der mittelalterlichen Theologie das „Facere quod in se": Der Mensch soll tun, was in seiner Kraft steht, er soll sein Möglichstes geben, dann wird die Gnade das Defizit schon begleichen, das Fehlende ergänzen. Hier verbindet sich mit dem Denken der Mittelalterlichen Scholastik der Geist der Moderne: die Aufklärung, der Idealismus melden sich. Das ist doch Goethes Weise: „Wer immer strebend sich bemüht" (sich eben damit als würdig erweist!), „ den können wir erlösen." Menschliche Leistung und Gottes Hilfe kooperieren hier, mein Bemühen und seine Gnade!

Luther nennt diese Koalition, diese „Mischfinanzierung", eine teuflische Irrlehre. Wenn der Mensch wirklich das Seine tut, also das aktiviert, was in seinem Innersten wohnt, dann produziert er nichts als „Totsünde".

Davon kann also keine Rede sein, dass der Mensch sich für die Gnade präpariert und qualifiziert. Könnte der Mensch sich der Gnade würdig erweisen, dann wäre sie eben keine Gnade mehr. Gnade und Verdienst, Gnade und Rechtsanspruch scheiden sich wie Feuer und Wasser.

In Wahrheit ist der Mensch nichts als Finsternis, Tohuwabohu, aber darüber geht „ohn all mein Verdienst und Würdigkeit" die Sonne des göttlichen Erbarmens auf. Darum: Die Gnade allein! „Sola gratia!" Und weil wir ganz und gar unwürdig diese uns nie erarbeiten, sondern nur gratis, als Geschenk empfangen können, heißt das in einem Atemzug: „ Sola fide!" „Aus Glauben allein!"

 

Die Schrift allein

Luthers Hand liegt auf der geöffneten Bibel. Die Schrift sagt mit ganz eindeutigen Worten, wie es um den Menschen steht und was er zu seinem Heil braucht. Die Schrift ist völlig klar; nur unsere verfinsterten Augen erkennen’s nicht! Wem der Heilige Geist aber die Augen öffnet, der wird durchs Wort seiner Verlorenheit inne und seiner Rettung froh. Nun ist er zu eindeutigen Bekenntnisaussagen fähig, kann sagen: So ist es! So und nicht anders! Im Wort Gottes „gefangen" (auch das ist eine Variation des unfreien Willens), kann der Christ vor Papst und Kaiser treten: „ Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Weil der Heilige Geist kein „Skeptikus" ist, ist der Christ ein Mensch der Gewissheit. Dies alles schenkt die geöffnete Bibel. Darum: Sola scriptura! Die Schrift allein!

Erasmus aber, der Skeptiker, hält die Schrift für dunkel und rätselhaft, für in sich selbst widersprüchlich, für aus sich selbst unverständlich. Über Gott und Menschen kann man nichts genaues wissen, kann allenfalls Argumente, Meinungen, Vermutungen aufstellen. Da wäre es doch höchst unklug, alles auf eine Karte zu setzen. Der Weise lehrt: Die Schrift und die Auslegung der Väter, die Schrift und die bewährte Tradition, die Schrift und das päpstliche Lehramt, die Schrift und die Philosophie, die Schrift und der gesunde Menschenverstand!

Luther sieht hinter all dem zurecht die innere Distanz, in der Erasmus zum Evangelium steht: „Du leugnest, dass die Schrift klar sei, der du aber für Christi Lehre vielleicht nicht die Tränen vergossen, nicht einen Seufzer getan hast"

 

Allein oder „Jein"?

Das also ist der Unterschied zwischen dem gewissen Christuszeugen und dem skeptischen Denker, dem Gottesmann (Theologen) und dem „Menschenfreund" (Humanisten). Der Eine glaubt an Christus allein, der Andere an das Gute im Menschen dazu! Der Christ sagt:: „Christus allein, und deshalb allein die Gnade, der Glaube, die Schrift!

„Ja, aber" bemerkt der Humanist: Christus gewiss, aber doch auch der strebende Mensch; die Gnade sicher, aber doch auch unser Verdienst; der Glaube freilich, aber doch auch mein Bemühen; die Schrift natürlich, aber doch nicht so, dass wir einfach „unter der Schrift" stehen, sondern doch auch ein wenig kritisch „neben" ihr; die Schrift, aber doch auch die Vernunft. Das viermalige „Allein" ist Luthers strahlend deutliches Trompetensignal; „Ja, aber", „sowohl als auch", „einerseits und andererseits", so klingt die chromatisch gleitende, nirgends fassbare Weise des Erasmus.

Mit all dem haben wir immer schon vom „freien", bzw. „unfreien Willen" gesprochen. Jetzt aber ist es nötig, auf diese Begriffe und die mit ihnen gemeinte Wirklichkeit selbst zuzugehen.

 

II) Unfreier Wille

Auf Cranchas Bild zeigt Luther beharrlich auf den Gekreuzigten. Diese Blickrichtung haben wir bei jeder Überlegung streng einzuhalten. Denn hier und so offenbart sich Gott; nur hier und so können wir deshalb „theologische Schüsselerkenntnisse" gewinnen. Was also „Wille" und „Freiheit", bzw. „Unfreiheit" bedeuten, das haben wir nicht aus dem alltäglichen Sprachgebrauch abzuleiten, das haben wir auch nicht von den Fachleuten auf der menschlichen Ebene, von Philosophen, Psychologen, Pädagogen, Juristen zu erfragen. Diese anthropologischen Urworte wollen vielmehr unter das Kreuz Jesu gebracht und dort neu gefüllt werden. Luthers Begriffe sind streng theologisch, christozentrisch definiert. Diese strenge Offenbarungsbezogenheit im Ansatz hat weit reichende Konsequenzen.

Kein Determinismus (= Auffassung, der Wille des Menschen sei völlig (vorher) bestimmt)

Das Wort „unfreier Wille" ist von vielen Missverständnissen überwachsen. Deshalb muss zunächst eine Schneise geschlagen werden. Luther diskutiert nicht im Sinne der Philosophen über das unerschöpfliche Reizthema: Ja oder nein zur Willensfreiheit, Determinismus oder Indeterminismus, Kausalgesetz und sittliche Selbstbestimmung.

Falls etwa Theologiestudenten ihre griechischen Vokabeln nicht beherrschen und sich dann darauf berufen, als echt Evangelische fehle ihnen die bekanntlich Willensfreiheit, sie seien also zum Lernen unfähig gewesen und damit völlig unschuldig an ihrer Ignoranz, dann würde Luther gleich nach Ruten rufen und jenen „Schwärmern" die Faulheit aus- und die Vokabeln einbläuen. Luther ist keineswegs ein Determinist oder Fatalist (Schicksalsgläubiger). Für den Deterministen ist alle Freiheit nur Einbildung, jede Entscheidungsfähigkeit nur subjektive (= von der eigenen Person her urteilend) Illusion. Da wird mit der Freiheit der Wille selbst für nichtig erklärt: Alles ist längst vorprogrammiert durch Erbmasse, Umwelt, Erziehung oder ein anonymes Schicksal; der Mensch ist nur eine Marionette, die wohl Bewegungen macht, die wie willentliche und bewusste Äußerungen erscheinen, in Wirklichkeit aber an Fäden hängen, rein mechanisch ferngesteuert wird.

Eine solche Ansicht hat Luther nie vertreten. Er unterscheidet - auch hier von der Gottesbeziehung her - zwei Bereiche: Da sind die Dinge, die niedriger sind als wir, über die wir verfügen können. In diesem Gelände, wo es um Geld und Besitz, Essen und trinken, Fleiß und Faulheit, Berufswahl, Modefragen, Urlaubsziele geht, hat der Mensch durchaus Ermessens -und Handlungsspielraum, kann durchaus wählen zwischen einem gelben und einem lila Sommerkleid. Luther aber interessieren aber die Superiora, das, was wesenhaft höher ist als wir, nämlich die Frage nach unserem Gottesverhältnis, nach Seligkeit und Verdammnis, da gilt streng: „Unfreier Wille!"

Im Übrigen hat er gegenüber Gott oder in den Dingen, welche Seligkeit oder Verdammnis angehen, keinen freien Willen, sondern ist gefangen, unterworfen, verknechtet--entweder dem Willen Gottes oder dem Willen Satans.

 

Nicht Herkules am Scheideweg

Luther denkt stets streng theologisch, also von Gott her. Er fragt deshalb, was im Licht der Offenbarung (nicht der menschlichen Vernunft) Freiheit überhaupt heißen kann.

Die griechische Philosophie - mit ihr auch Erasmus - versteht Freiheit nach dem berühmten Modell „Herkules am Scheideweg". Der Jüngling wird an einer Weggabelung von zwei attraktiven Frauen angesprochen. Jede ruft: :"Folge mir!" ; die eine verspricht Luxus und Lust, die andere unsterblichen Ruhm für harte Strapazen. Indem Herkules den Weg der Unsterblichkeit einschlägt,, hat er sich in freier Entscheidung selbst gebunden. Zuvor aber stand er im „Niemandsland", im neutralen Bereich. Besser: Zuvor gehörte er allein sich selbst, hatte volle Verfügung über sich, konnte sich nach Belieben hinwenden oder abwenden. Zuvor hatte er das „absolutum velle", den ganz ungebundenen Willen.

Von der biblischen Offenbarung her ist diese Herkulessituation und Herkulesfreiheit ganz unmöglich. Und zwar nicht erst wegen der Sünde des gefallenen Menschen, sondern schon vom ersten Glaubensartikel her, weil der Mensch nämlich Geschöpf Gottes ist. Er hat sich ja selbst nicht aus dem Nichts hervorgezaubert, ist vielmehr mit seinem ganzen Wesen, mit jedem Blutstropfen und jeder Zelle ein Geschaffener, und zwar zum „Ebenbild „ Gottes, als sein Bundespartner. Er kann also wesenhaft nur eine geschöpfliche, eine endliche, eine ihm verliehene Freiheit besitzen. Das bedeutet: Weil er ursprunghaft, wesenhaft zu Gott gehört, ist er frei nur in der Bindung an Gott (so wie ein Fisch nur innerhalb seines Lebenselementes Wasser frei sein kann). Wer diesem Menschen dagegen ein „absolutum velle", eine völlig unbegrenzte Wahlfreiheit und autonome Selbstbestimmung zuschreiben wollte, der müsste dabei seine Geschöpflichkeit bestreiten. (So tut es konsequent Karl Marx, der im Namen der Menschlichen Freiheit behauptet, der Mensch habe sich durch seine Arbeit selbst über das Tier emporgeschaffen; ein Schöpfergott dagegen sei eine bloße Illusion).

Von daher ist deutlich: Frei im absoluten Sinn ist einzig Gott, der Schöpfer und Herr aller Dinge. Deshalb will Luther der Ehrentitel „freier Wille" am liebsten für Gott reservieren, entsprechend der Allmacht, der Allwissenheit, der Ewigkeit Gottes! „Deshalb hätten sich die Theologen dieses Wortes enthalten, wenn sie vom menschlichen Vermögen sprechen wollten, und es allein Gott überlassen sollen". Dies alles lehrt jeden Einfältigen der 1. Glaubensartikel, der von Gott dem „Allmächtigen" spricht. „Allmacht" darf man biblisch ja nicht als bloße Möglichkeit verstehen, sondern als Allwirksamkeit: „Als Allmacht Gottes aber bezeichne ich nicht jene Macht, durch die er vieles nicht tut, was er wohl könnte, sondern jene handelnde Kraft, durch die er machtvoll alles in allem wirkt" Gott ist kein müßiger, schlafender, schnarchender Gott. Er ist beständig in allen Kreaturen schaffend und reagierend am Werk. Auch die Bösen (Pharao wie Kaiphas, Judas wie Pilatus, ja selbst der Satan) müssen - wenn auch schnaubend - seinen Zielen dienen. „Was er sich vorgenommen und was er haben will, das muss doch endlich kommen zu seinem Zweck und Ziel." Auch was Menschen auf dem „inferioren" Gebiet (=die Dinge, die niedriger sind als wir, über die wir verfügen können.) wollen, planen, tun, ist umgriffen ist umgriffen und gesteuert von Gottes ständigem Schaffen und Lenken. Es gilt zu sehen, „wie unaufhörlich bewegend Gott in allen seinen Geschöpfen wirkt und keines untätig sein lässt." Dieses Umfaßtsein allen menschlichen Tuns durch die Allwirksamkeit Gottes, diese unentwegte Betätigung der souveränen (= unabhängigen, überlegenen) göttlichen Freiheit, ist für uns unendlich tröstlich: Was immer mir widerfährt, „es kann mir nichts geschehen , als was Gott hat ersehen..." In seinem alles durchwirkenden Handeln bin ich geborgen; das schreckliche Wort „Zufall ist für mich tot!

 

Der stets gerittene Mensch

Der Mensch kann als Geschöpf nur endliche Freiheit haben, und diese kann er recht betätigen nur in der Gottesgemeinschaft, also im Einklang mit Gottes Wollen und wirken. Der gefallene Mensch, der Sünder, ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, dass er „wie Gott sein „ wollte, also das „absolutum velle", die Autonomie, die Selbst-herr-lichkeit für sich beanspruchte. Bei diesem wahnsinnigen Unternehmen ist er freilich gefallen, d.h. aus der guten Herrschaft Gottes hinabgestürzt in die Tyrannei des Satans. Jetzt ist menschliche Willensfreiheit in der Tat nichts als ein leeres Wort, ist pure Lüge, ja geradezu Gotteslästerung. Der Mensch ist stets in eine Herrschaft eingefügt, ist so oder so immer schon qualifiziert; eine neutrale Zone, ein Niemandsland ist nirgends. Luther gebraucht dafür ein drastisches Bild:

„So ist der menschliche Wille... wie ein Lasttier; wenn Gott darauf sitzt, will er und geht er, wohin er will... Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht er, wohin Satan will. Und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von den beiden Reitern zu laufen und ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn festzuhalten und ihn in Besitz zu nehmen."

„Geritten" wird der Mensch also stets, mit seinem freien Willen ist es nichts. Freilich unterscheidet sich der Reitstil des einen Herrn von des anderen wie der Himmel von der Hölle: Gott führt sein „Lasttier" zur grünen Au und zum frischen Wasser, der Satan jedoch reitet es zuschanden!

 

Nicht - Wollen - Können, dass Gott GOTT sei

Bedeutet dieses „Geritten-werden", der „unfreie Wille", dasselbe wie Zwang? Hier muss man unterscheiden und die Begriffe sorgfältig benutzen lernen. Unter Zwang verstehen wir eine Vergewaltigung von außen her. Zwang bezieht sich nicht auf den Willen, sondern auf das Tun. Wer gezwungen wird, der wird durch äußere Gewalt genötigt, etwas zu tun, was er gerade nicht will, oder etwas zu unterlassen, was er heiß begehrt. Wird ein Bankdirektor von einem Gangster mit vorgehaltener Pistole gezwungen, den Safe zu öffnen, so wird er zwar zähneknirschend folgen, in seinem Innern, mit seinem Willen aber beständig nein sagen. Zwang setzt also - das steckt in der Logik des Begriffs - immer einen entgegengesetzt ausgerichteten Willen voraus; Zwang geschieht stets „wider Willen". Gott zwingt nicht, er überwindet und überzeugt uns durch seinen Heiligen Geist von innen her. Er zwingt nicht, er zieht. Auch der Satan zwingt nicht mit äußerer Gewalt; der Vater der Lüge überredet, manipuliert, belügt den Menschen in seinem Inneren.

Wenn Luther also von dem „unfreien Willen" spricht,, so meint er nie Zwang von außen; er redet von der immutabilitas" des Willens, das heißt der Mensch kann die Richtung, die innere Bestimmtheit, die Zielstrebigkeit seines Willens von sich aus nicht ändern. Wie ein Fluss mit all seinem Brausen und toben, bei all seiner verheerenden Gewalt niemals sein Gefälle (die Richtung von oben nach unten) umkehren kann, so vermag der gefallene Mensch zwar in der vitalen Leidenschaft seines Wollens mächtig zu schäumen, aber sein Kurs wird immer heißen: Los von Gott! Das ist ja gerade das innerste Engagement (=persönlicher Einsatz), die ganze Leidenschaft des Sünders: Er will keinen Herrn über sich. „Wir wollen nicht, dass dieser über uns Herrsche!", das ist der beständige Cantus firmus (=die Hauptmelodie) in allem menschlichen Wollen. Das fanatische Nein zu Gott ist das herrschende Pathos (=leidenschaftlich bewegter Ausdruck) . Und diese gottfeindliche Willensrichtung kann der Mensch von sich aus niemals korrigieren. Es steht nicht in seiner Macht, sich zu bekehren. Diese Unfähigkeit zur Kurskorrektur, diese „immutabilitas" , ist eben der unfreie Wille. Der Sünder kann nichts anderes wollen als sich selbst, nichts anderes begehren als den Platz Gottes: „Mein, mein sei das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit!" Der junge Luther hat das so zusammengefasst: „Der Mensch kann von Hause aus nicht wollen, dass Gott GOTT sei; im Gegenteil, er will lieber, dass er selbst Gott sei und dass Gott nicht sei."

Sein und Wollen

Der Mensch, der ein Sünder ist, kann Gottes Ehre nicht wollen. Wir fragen genauer: Wie verhält sich das Sein des Menschen (sein Charakter) zu seinem Wollen? Antwort: Nicht die Früchte machen den Baum, sondern der Baum bringt die Früchte hervor. Nicht das Wollen prägt, formt, schafft den Menschen, sondern im Wollen kommt heraus, wer der Mensch ist: Das Sein äußert sich im Wollen. Die Frage nach dem Wollen des Menschen vertieft sich also zur Frage nach seinem Sein Wer ist der gefallene Mensch? Er ist nichts als Rebell gegen Gott, nichts als leidenschaftlicher Gotthasser. Aus seinem Pervertiert-Sein (=abartig), seinem „In sich selbst eingekrümmt sein" entspringt all sein Wollen, resultiert (=daraus folgend) die wilde Jagt nach Autonomie (=Selbstständig die eigenen Verhältnisse klärend), die Gier nach dem „Sein wie Gott".

Frage ich nun: Wie kann der Mensch ein neues Wollen, eine neue Ausrichtung bekommen, wie kann er dazu gelangen zu beten: „Dein ist das Reich"?, dann lautet die Frage in Wahrheit: Wie kommt der Mensch zu einem „neuen Sein", zu einem „neuen Herzen", und „neuen Geist"? Ein neues Wollen erfordert also nicht weniger als eine radikale Umwandlung, eine Erneuerung im Personenkern, eine „neue Kreatur".

Dass der Mensch an dieser entscheidenden Stelle, nämlich bei seiner Neuschöpfung, seiner Wiedergeburt, auch nur im geringsten mitwirken könne, genau das verneint Luther aufs Schärfste. Weil hier gilt: „Christus allein! Der Geist Gottes allein!"

 

Der Freiheitswahn

In welcher Lage befindet sich der gefallene Mensch? Paulus sagt: „Die Sünde betrog (täuschte) mich (Römer 7, 11). Satan, der Vater der Lüge, verlockte mich mit faszinierenden Bildern, gaukelte mir Glück, Leben, Freiheit vor. Durch raffinierte Manipulation, durch teuflische Gehirnwäsche, durch höllische Drogen hat er mich in eine Welt der Träume und Illusionen versetzt, hat mich in den wahnsinnigen Rausch vermeintlicher Freiheit getrieben!

Diese Existenz in Schein und Illusion hält der vom Satan geblendete allerdings für das einzig Reale. So trennt er sich von Gott, sägt den Ast ab, der ihn trägt, stürzt ins Bodenlose und jauchzt dabei, im Wahn befangen: „Endlich frei!" Das ist also Hauptkennzeichen des gefallenen Menschen, dass er sich selbst für frei hält. „Die Freiheitsidee ist der Glaube des natürlichen Menschen; und dass der Mensch nicht anders kann, als an seine Freiheit glauben, das ist seine Unfreiheit." Der Mensch muss an seine Freiheit glauben, bis es Gott gefällt, ihm diesen Glauben zu nehmen. „Die Sünd hat mich besessen." Luther hat dieses totale Verstricktsein in Lüge und Wahn, diese Besessenheit des Menschen, plastisch beschrieben:

„Die Schrift... schildert uns den Menschen als einen solchen, der nicht nur gebunden, elend, gefangen, krank und (geistlich) tot ist, sondern der unter dem Einfluss seines Fürsten, des Satans, zu all diesem Jammer noch den der Blindheit hinzufügt, indem er sich für frei, glücklich, erlöst, mächtig, gesund und lebendig hält, Denn Satan weiß wohl, dass er, wenn der Mensch sein Elend erkennen würde, keinen in seinem Reich behalten könnte, weil Gott sich dessen, der seinen Jammer sieht und zu ihm schreit, sofort erbarmen und ihm helfen muss." (LD 237/ 100)

Es kommt also alles darauf an, dass diesem verblendeten Menschen die Wirklichkeit seines Elends entdeckt wird, dass ihm der Star gebrochen wird. Wie diese heilsame Ent-Täuschung, diese rettende Desillusionierung geschieht, ist jetzt zu fragen.

 

III) Herrschaftswechsel

Ein neues Wollen setzt einen neuen Menschen voraus, die „neue Kreatur". Wie aber kommt dieses neue Sein zustande? Hier muss die Antwort ohne Zweifel heißen: Sola gratia, allein durch Gottes Gnade!

Das Wort tut’s

Das neue Leben schafft Gott selbst, Gott, der Schöpfer Geist; er wirkt es durch sein schöpferisches Wort. Dieses Wort begegnet dem Menschen in zweifacher Gestalt und mit doppelter Wirkung: Es deckt die Schuld auf und deckt sie zu, es richtet und rettet, erklingt als Todesurteil und als Freispruch, stellt die unerbittliche Diagnose und bringt die rettende Therapie; kurz, es widerfährt uns als Gesetzt und Evangelium. So wie es in der Begegnung zwischen dem Propheten Nathan und David, dem Mörder und Ehebrecher, unnachahmlich plastisch (=anschaulich) wird (2. Samuel 7): „Du bist der Mann!" Das ist die „Donneraxt" des Gesetzes, die den Schrei heraus treibt: „Ich habe gesündigt gegen den Herrn! „Der Herr hat deine Sünde weggenommen", so lautet der alles wendende Trost des Evangeliums.

Das Gesetz reißt den vom Satan geblendeten aus allen Illusionen; das Evangelium führt den Todeskandidaten zu dem Mann am Kreuz.

Luther: „Hier zeigt sich, wie viel und wie weit das Gesetz nützt, nämlich, dass der freie Wille an sich allein so blind ist, dass er nicht einmal die Sünde kennt, sondern ihm das Gesetz als Lehrer dazu nötig ist... Denn dies ist die Frucht, dies das Werk,, dies das Amt des Gesetzes, dass es den Unwissenden und Blinden ein Licht ist..., welches die Krankheit, die Sünde, den Tod, die Hölle, den Zorn Gottes zeigt. Aber es hilft nicht, noch befreit es von ihnen... Ein anderes Licht ist wahrhaft nötig, welches das Heilmittel zeige. Das ist die Stimme des Evangeliums, welche auf Christus als Befreier von diesen (oben Genannten Übeln) allen hinweist" (LD310f/ 217f).

„Wie die Stimme des Gesetzes sich nur auf diejenigen erstreckt, die ihre Sünde nicht spüren und die nicht erkennen" (damit sie nämlich zur Erkenntnis kommen), - so findet das Wort der Gnade nur bei denen Zugang, die ihre Sünden spüren und in Betrübnis, ja sogar in Verzweiflung darüber geraten" (LD 245/ 106).

So zeigt das Gesetz dem Sünder das eigene Herz, das Evangelium aber lässt ihn das Herz Jesu schauen.

Die „bescheidene „ Definition" (=genaue Begriffsbestimmung) des Erasmus

Welchen Anteil an dieser Wende, dieser „Bekehrung" hat der Mensch? Genau hier liegt der Streitpunkt zwischen Luther und Erasmus, denn hier im „Zentrum der Heilswende", lässt Erasmus den „freien Willen" auftreten, hier, im Herzen des Wiedergeburts- und Neuschöpfungswunders, lässt er den Menschen aktiv mitwirken. Gerade hier soll die große Stunde des „freien Willens" schlagen!

Allerdings klingt alles, was Erasmus zu Ehren des „freien Willens" zu sagen weiß, höchst bescheiden. Der Humanist ist bereit, die Möglichkeiten des Menschen auf ein Minimum zurückzuschrauben. Der Spielraum des „freien Willens" geht gegen Null. Aber: Dass der Mensch an dieser stelle kooperierend (=zusammenarbeitend) beteiligt sei - mit einem noch so geringen Beitrag - dieses „Dass" ist das Entscheidende! Hier verdirbt ein Gramm Sauerteig alles; hier lässt ein einziger Tropfen Säure die ganze Milch des Wortes Gottes gerinnen. Hier zeigt sich für Luther der verzweifelte und zugleich gottlose Kämpfer aller, die an einer totalen Bankrotterklärung, an einer völlig bedingungslosen Kapitulation vorbeikommen wollen, „ dass ihnen wenigstens ein klein wenig überlassen wird" (Luther LD 194/ 43f/CI 124). Aber dieses Minimum, dieses „Fünklein" verdirbt alles.

Hören wir auf die Definition (=genaue Begriffsbestimmung) des Erasmus:

„Weiter verstehen wir an dieser Stelle unter dem freien Willen die Kraft des menschlichen Willens, mit der der Mensch sich zu dem hinwenden kann, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abwenden kann" ( 76/vgl. LD 226; CI 151)

Wie demütig klingt das doch! Wie viele Evangelische (Pietisten?) würden das ohne Zögern, ja mit Engagement (=persönlicher Einsatz) unterschreiben. Erasmus behauptet doch keineswegs, dass wir das Heil (Jesus Christus) nicht nötig hätten, oder dass wir selbst uns dieses Heil schaffen könnten. Nein, das Heil ist da, es wird dem Menschen angeboten, hingehalten. Und nur darin besteht die Freiheit des Menschen, dass er sich hier entscheiden kann: entweder zufassen (sich hinwenden) oder vorbeigehen (sich abwenden. Was könnte daran falsch sein?

Doch was hier so bescheiden klingt und so einleuchtend dazu, ist für Luther eine nicht zu überbietende Vermessenheit (größenwahnsinnige Selbstüberschätzung) nichts als Gotteslästerung. In seinem lateinisch geschriebenen Buch bricht es an einer Stelle gewaltsam auf deutsch aus ihm heraus: „Das ist zuviel!" ( 18/CI 103; LD 165). Dass wir es ja im Gedächtnis behalten: An diesem Punkt lag für Luther der ganze Unterschied zwischen der römisch-katholischen Theologie und dem biblischen Evangelium. Iwands provozierende These heißt: Der moderne Protestantismus ist hier Erasmus gefolgt, nicht Luther. Da wird „marktwirtschaftlich" gedacht: Gottes Gnade sei ein bloßes „Angebot" und der Kunde treffe die Entscheidung. Dabei sei die Gnade bloße „Möglichkeit"; wir müssten sie erst wirklich werden lassen. Das ist Erasmus, nicht Luther.

 

„Ich glaube, dass ich ... Nicht glauben kann"

Wir fragen, vielleicht etwas irritiert, was denn „zu viel" sei bei diesem Minimum? Will Luther etwa behaupten, dass hier im Zentrum der Heilswende der Mensch mit all seinem Wollen, Wählen, Entscheiden nichts sei? Genau das meint Luther: Der Mensch ist hier nichts, weil hier Christus alles ist. Das „Christus allein" will wörtlich genommen werden! Hier gilt das radikale Nein zum Wahn vom „freien Willen". Unerbittlich beharrt Luther hier auf dem Wort des Paulus: „So liegt es nun nicht an jemandes Laufen oder Wollen, sondern an Gottes Erbarmen." (Römer 9, 16) „Pietismus quo vadis?" Wohin gehst du, Pietismus, so fragte vor Jahren Otto Rodenberg. Hier und nirgendwo sonst fällt die Antwort!

Im Detail, so sagt man, stecke der Teufel. Luther sieht ihn bei des Erasmus Definition (=genaue Begriffsbestimmung) in dem Wörtlein „sich". Der Mensch könne angesichts des Heilsangebotes „sich zuwenden" oder „sich abwenden". Prüfen wir den Satz: „Ich wende mich zu!" Wer wendet? Ich! Also bin ich hier das Subjekt, der Handelnde. Wen wende ich? Mich! Also auch das Objekt, der Behandelte bin ich. Das bedeutet fraglos: Ich kann über mich nach Belieben verfügen. Ich habe mich an der entscheidenden Stelle ganz im Griff. Ich stehe mir selbst voll zu Gebot und zur Verfügung. Was heißt das anderes als: Ich bin ganzer Freiheit mein eigener Herr!? Ich bin „Herkules am Scheideweg"! - Da ist nichts mehr von Versklavung unter der Sünde, nichts von „die Sünd hat mich besessen". Wer sich so selbst in der Hand hat, sich so nach Wunsch hin - und abwenden kann, der ist - die Konsequenz ist unausweichlich - sein eigener Erlöser. Der braucht weder Christus noch den Heiligen Geist. Angesichts des angebotenen Heils wird er zum strahlenden „Selbstversorger". Luther hält Erasmus vor: „Du überlegst gar nicht, wie viel du ihm (dem freien Willen) mit diesem Wörtlein „sich" oder „sich selbst" beilegst, wenn du sagst: er kann sich hinwenden, denn damit schließt du ja ganz und gar den Heiligen Geist mit all seiner Kraft aus, als wäre er überflüssig oder gar nicht notwendig" (LD 232/ 80).

Quo vadis? Wohin gehst du?, so ist hier jeder gefragt. Wer hier mit dem Humanisten geht, muss des Reformators Erklärung zum 3. Artikel durchstreichen: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen,...erleuchtet,...geheiligt,...und erhalten." Das also ist des Christen Credo (=Glaubensbekenntnis): Ich glaube, dass ich (von mir aus ) nicht glauben kann! Wer das bekennt, bekennt damit den „unfreien Willen" und damit das „Sola gratia" (allein die Gnade).

 

„Christus selbst" - oder „Ich selbst"?

Hier muss sich erweisen, ob wir „evangelisch" sind. Das ist keineswegs zunächst konfessionell gemeint, sondern ganz elementar: Folgen wir dem Evangelium? Folgen wir Jesus, wenn er sagt, dass die Sünde zuerst und zuletzt nicht ein moralisches Versagen ist, sondern der Unglaube (Johannes 16, 9), der nicht Gott sondern sich selbst recht gibt?

Dazu Luther: „Dazu ist die Ungläubigkeit nicht eine grobe Neigung, sondern die höchste, die da sitzt und herrscht in der Burg des Willens der Vernunft" (LD 323/ 239). Folgen wir Paulus: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft... Ich weiß, dass in mir, d.h. in meinem Fleisch nichts Gutes wohnt" (Römer 7, 14+18)? Sagen wir ja zu Jesu radikalem Urteil: „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch" (Johannes 3, 6)? Singen wir mit dem Reformator:" Es war kein Guts am Leben mein"? Glauben wir, was wir mit dem Munde bekennen, dass Jesus keine „gemalten Sünder" erlöst hat, sondern „mich verlorenen und verdammten Menschen", also nicht einen reparablen (=zu reparierenden), sondern einen total irreparablen (=nicht zu reparierenden) und wertlosen?

Oder meinen wir mit Erasmus, dass „Fleisch" nicht etwa ein Ganzheitsurteil über den Menschen sei, sondern nur seine niedere Triebsphäre (Sphäre=Wirkungskreis), sein tierisches Teil meine; dass dagegen der vernünftige und wahrhaft menschliche Teil durchaus fähig sei, nach dem Guten zu streben? Wollen wir noch irgendeinen unverdorbenen Rest festhalten, ein winziges „Fünklein"? Oder sind wir (nicht nur bildlich, sondern real) „tot in Sünden" und also zu jedem „Sich-Hinwenden unfähig?

Jeder winzige Rest wäre „Räuber an der Göttlichen Ehre". Luther geht es um den Ruhm des Gekreuzigten: „Wollen wir etwa den Preis seines Blutes so gering achten, dass er allein das, was das Wertloseste im Menschen ist, erlöst hat, dagegen das Vortrefflichste im Menschen durch sich selbst kräftig ist und Christus nicht mehr nötig hätte?, so dass wir demnächst Christum als Erlöser nicht des ganzen Menschen, sondern seines wertlosesten Teiles, nämlich des Fleisches predigen, den Menschen aber selbst als den Erlöser seiner selbst in seinem vorzüglicheren Teil ... Wenn der bessere Teil des Menschen unverdorben ist, bedarf er nicht des Erlösers Christus ... So wird es durch dieses Dogma von dem vornehmsten Teil des Menschen geschehen, dass der Mensch über Christus und den Teufel erhoben wird, d.h. Gott der Götter und Herr der Herren wird" ( 186f).

Hier hat Luther - so Iwand - die titanische (=riesenhaft, gewaltig) Selbstvergötzung des Menschen vorausgeahnt, wie sie im 19.Jahrhundert etwa von Friedrich Nietzsche vollzogen wurde. Und dies ist nur konsequent (=zielbewusst): Wer leugnet, dass der Mensch Geschöpf ist und sich total Gott verdankt (1. Korinther 4, 7), wer die Erbsünde, also die totale und universale Verfallenheit des Menschen, für einen Wahn hält, der muss den Menschen an Gottes Platz rücken und im „Antichristen" den wahren Befreier sehen. Hier steht in der Tat alles auf dem Spiel! Nicht umsonst warnt Luther den Erasmus nicht weniger als sechzehn Mal, sein „freier Wille" mache Gottes Gnade zunichte. „Christus selbst" oder „Ich selbst", das ist die Alternative (=Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten)! Kann ein Christ da wählen, kann er da wählen wollen?

 

IV. Ein Stück Dialog

Luthers Schrift ist ja selbst Dialog; er antwortet Stück um Stück auf die Schrift des Erasmus. Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir nun versuchen, in einen Dialog mit dem Reformator einzutreten. Wir stellen ihm unsere Fragen, bringen Einwände und Bedenken vor und lassen ihn entweder wörtlich oder sinngemäß antworten. (Dabei ist es freilich zu bedenken, dass der Referent (=der Redner, in diesem Fall Siegfried Kettling) als Interpret (=der etwas in einer bestimmten Weise auslegt) des Reformators auftritt und nur versuchen kann, dessen Gedanken sachgemäß auszuziehen.)

Unfreier Wille und die Imperative in der Bibel

(Imperativ=grammatische Befehlsform)

Frage: Gibt es nicht im AT wie im NT viele Imperative, viele Befehls- oder Bedingungssätze („Tue das, dann wirst du leben - Wenn du das tust, so lebst du!")? Nun scheint mir ein Befehl doch nur dann sinnvoll, wenn der Angeredete die Fähigkeit hat, ihn zu befolgen. „Heute schreibst du deine Hausaufgaben ordentlicher", sagt die Mutter, „ich weiß ja, dass du schöner schreiben kannst!" So lehren doch alle Philosophen (etwa Kant), so argumentieren und praktizieren alle Pädagogen, so denkt doch jeder vernünftige Mensch. Das Gegenteil wäre ja absurd (=widersinnig, sinnlos): Nur ein Narr würde einen Tauben ins Konzert einladen, eine Gelähmte um den nächsten Tanz bitten. Wenn also Gott sagt „Du sollst!", muss er doch auch das Können voraussetzen. Wie passt das zum „unfreien Willen"?

Antwort: So - auf der Ebene menschlicher Vernunft - hat auch Erasmus argumentiert; theologisch aber hat er dabei alles durcheinender geworfen. Wir reden ja hier von Gottes Wort, und da muss man unterscheiden zwischen dem richtenden Gesetz und dem rettenden Evangelium.

Beide können im Indikativ reden, in Aussagesätzen, in Feststellungen. „Du bist der Mann!", so das Gesetz; „Dir sind deine Sünden vergeben!", so das Evangelium. Beide können aber auch den Imperativ, die Befehlsform benutzen.

Hier geht es um den Imperativ des Gesetzes. Was ist sein Ziel? Es will dem verblendeten, dem von Satan besessenen, dem in der Illusion seiner Freiheit gefangenen Menschen die Augen offnen. Gerade mit der Aufforderung: „Tu das!" soll dem vermeintlichen Alleskönner der Star gestochen werden. „Tu’s doch! Pack an! Reiß dich zusammen!", so appelliert das Gesetz um den Träumer wachzurütteln, den Trunkenen endlich zu ernüchtern: „Ich kann’s nicht! Weh mir, ich bin verloren! Ich armer, elender, sündiger Mensch, wer wird mich erretten?" Das Gesetz setzt scheinbar den freien Willen voraus, aber gerade um ihn ad absurdum zu führen (=die Unsinnigkeit beweisen). Und das nicht theoretisch und abstrakt (=ohne unmittelbaren Bezug zur Realität), sondern tief durch die existentielle Erfahrung des Scheiterns hindurch. Ja, das Gesetz schneidet noch tiefer: „Ich schaffe es nicht. Mir fehlt das Vermögen!", das ist die erste Einsicht, es geht um das „Nicht Können". Aber dann weiter: „In Wahrheit will ich es auch gar nicht; mich selbst will und suche ich mit ganzer Leidenschaft, nicht Gott und seine Ehre." Hinter dem Nicht-Können wird das abgrundtiefe Nicht-Wollen, ja das Nicht-Wollen-Können sichtbar (Der Mensch kann nicht wollen, dass Gott GOTT sei)!

Dahinter aber wird der Urgrund des Elends aufgedeckt: Das falsche, das pervertierte (= verdreht, verfälscht, abnormal) Sein, das „Ich bin Fleisch und ganz verderbt" (J. Klepper). So knüpft das Gesetz an die Illusion des freien Willens an, gerade um die heilsame, die notwendige Ent-Täuschung zu vollziehen. Das ist der Sinn diese Imperative: Der kernfaule Mensch soll „christusreif" werden.

Luther: „Daher, um die Menschen an sich zu fesseln, liegt dem Satan daran, dass sie ihr Elend nicht erkennen, sondern annehmen,, sie könnten alles leisten, was man sagt. Mose will jedoch, und dem Gesetzgeber liegt im Gegenteil daran, dem Menschen durch das Gesetz sein Elend zu enthüllen, ihn in Erkenntnis seiner selbst, zerknirscht und außer Fassung, zur Gnade vorzubereiten und zu Christus zu bringen, damit er so gerettet werde" (LD 238/ 100).

 

Unfreier Wille und missionarische Verkündigung

Frage: Du betonst so stark: Was den „höheren Bereich" (die Superiora) angeht, da liegt nicht das Geringste in unserer Macht. Da liegt nichts, an jemandes Wollen oder Laufen", sondern alles allein an Gottes Erbarmen. Alles kommt da auf Gottes Geist an, und der wirkt, „wo und wann es Gott gefällt". Ist dann nicht alle Wortverkündigung, alle Mission und Evangelisation, alles Ermuntern zum Bibellesen, alles Einladen zu Predigt und Bibelstunde schlicht Unsinn? Gilt es dann nicht, die Augen zu schließen und auf den wunderbaren Gnadeneinbruch senkrecht von oben zu warten? Und wird dieses Hoffen und Harren nicht ein sinnloses „Warten auf Godot" oder den „Sankt-Nimmerleins-Tag?

Antwort: Mein jahrelanges Bemühen um die Bibelübersetzung, meine jahrzehntelange Predigttätigkeit beweisen doch schon, dass ich so gerade nicht denke. In der Tat: Es liegt alles an Gottes Gnade, alles ausschließlich an seinem Heiligen Geist. Aber wie wirkt dieser Schöpfer-Geist? Sicher, „er weht, wo er will" (Johannes 3, 8). Aber wo will er wehen? Das ist doch das Wunder: Gottes Geist hat sich an das Bibelwort gebunden, an das schlichte Zeugnis von Jesus Christus. Durch dieses Evangelium will er uns durch die Ohren hindurch ins Herz sprechen, weil es unter seinem Blasen und Wehen zur lebendigen, neues Leben schaffenden Stimme werden lassen, zum allmächtigen Schöpferwort, das über das Totenfeld fährt und Auferweckung schafft.

„So hat es Gott gefallen, dass er nicht ohne das Wort, sondern durch das Wort und seinen Geist schenkt. Freilich, er könnte dies auch ohne das Wort tun, aber er will es nicht." (LD 258)

Was folgt daraus? Gerade wenn die Diagnose „unfreier Wille" stimmt, wenn der Mensch sich weder befreien will noch kann, ja seine Verlorenheit nicht einmal wahrzunehmen vermag, dann kommt doch alles darauf an, dass dieser „Besessene befreit wird, dass er die Stimme des Stärkeren hört, der dem Starken die Beute entreißt. Gerade wenn die Diagnose stimmt, dann muss ernst gemacht werden mit der allein seligmachenden Therapie, mit der Proklamation (= Aufruf an die Bevölkerung) des Göttlichen Wortes, mit der Predigt von Gesetz und Evangelium. Nicht obwohl es gilt „unfreier Wille", ist Predigt, Mission, Evangelisation „dran", sondern gerade weil es gilt! Gerade weil ich weiß: „Unfreier Wille", darum rufe ich: „Land, Land, Land, höre des Herrn Wort!" Wo die Lehre vom unfreien Willen faule Leute macht, Mission hemmt, Passivität (= Teilnahmslosigkeit) bewirkt, da ist sie völlig missverstanden. Denn sie ist eben nicht Narkotikum (= Betäubungsmittel) nicht ein „Quietiv" (Quietismus= Streben nach gottergebener Frömmigkeit und Ruhe des Gemüts), das einschläfert, sondern ein Motiv, ist göttlicher Impuls (= Anstoß, Anregung). So spricht der „unfreie Wille": „Wir können`s ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollten von dem, was wir gesehen und gehört haben" (Apostelgeschichte 4, 20). „Wir können´s nicht" das ist es!

 

Unfreier Wille und evangelistischer Ruf zum Glauben

Frage: Ich möchte nachhaken: Wenn du die These des Erasmus „"Der Mensch kann sich seinem Heil zuwenden oder sich davon abkehren" so radikal ablehnst, ist es dann sinnvoll, wenn ein Evangelist ausruft: „Heute ist die Stunde des Heils! Komm jetzt zu Jesus! Erhebe jetzt deine Hand! Komm jetzt nach vorn!"? Steht das nicht alles auf dem ideologischen Fundament des Erasmus und muss mit ihm vereint werden?

Antwort: Über die Stilfragen der Evangelisation will ich mich nicht äußern (eine solche Art der Evangelisation gab es zu meiner Zeit nicht), zur Sachfrage aber will ich gern Stellung nehmen.

Der Satz „Komm heute zu Jesus!" als solcher besagt noch nichts. Er kann ausgerufen werden unter den Voraussetzungen des Erasmus: Dann ist er ein Appell an das vermeintlich noch vorhandene „gute Fünklein", dann lebt er von der Illusion, der Mensch könne und wolle von sich aus das Heil ergreifen. Man mag damit Menschen in psychische Erregung versetzen, sie gruppendynamisch aufputschen, aber das ist „Fleisch", sind Zuckungen des alten Menschen, dem der Satan auch die „religiöse Masche" erlaubt, als Opium, versteht sich!

Der Satz „Komm zu Jesus!" kann aber auch auf dem Hintergrund der Erkenntnis vom „unfreien Willen" des Menschen ausgesprochen werden; dann ist er ein Imperativ des Evangeliums. Weil der Schöpfer-Geist wirkt, ist das gepredigte Wort voller Kraft und Leben. Als Jesus in Grab und Verwesungsgeruch hineinrief: „Lazarus, komm heraus!", da geschah das nicht in der Hoffnung auf Scheintod, auf einen Rest Lebensenergie, auf noch reanimierbare Zellen. Nein, dieser Ruf war Schöpferwort an einen Toten. Das ist das Geheimnis des göttlichen Imperativs: Er setzt nicht bei uns die Kraft voraus, sondern trägt sie in sich. Bringt sie mit. Es geschieht nicht nach der Melodie: Du sollst, weil du kannst!, sondern nach Gottes Weise: Du darfst, weil ich kann! Nach diesem Modell geschieht „Erweckung" nämlich als Auferweckung.

Ein Evangelist treibt nicht Leichenfledderei (so warnte Ludwig Hofacker: Zerrt nicht so an den Toten herum!), sondern traut der Verheißung: „Mein Wort soll nicht leer zurückkommen." Diese göttliche Zusage steht über dem Jetzt, dem Heute, gilt für diese Stunde (Das Evangelium sagt immer: Heute!, vergleiche das „Heute" im Lukasevangelium.) Recht verstanden ist also der Ruf: „Komm heute zu Jesus!" nichts anderes als ein „Lazarus, komm heraus!" (Wobei ein rechter Verkündiger stets weiß, dass nicht er, sondern Gottes Geist allein für den Einzelnen die „Stunde" setzt!).

Wieder gilt die Regel: Gerade weil wir vom unfreien Willen wissen, wagen wir im Namen Jesu den schöpferischen Imperativ des Evangeliums. Rechte Evangelisation und die Lehre vom unfreien Willen bedingen einander und bleiben einander gesund (redignierende Passivität wie drängerischer Aktivismus werden einander gebannt).

 

Unfreier Wille und Bekehrung

Frage: Da sagt einer: „Ich habe mich bekehrt, ich bin zum Glauben gekommen." Er sagt nicht: „Der Glaube kam über mich." Er fährt fort: „Ich glaube", nicht „Es glaubt in mir". Zeigt das nicht deutlich, dass Menschen ihre Bekehrung als eine Entscheidung erleben, als einen aktiven Schritt in den Glauben. Bei dem sie sich mit ihrem Denken, Fühlen, Wollen ganz engagiert (=entschieden) erfahren? Wenn die Lehre vom unfreien Willen gilt, müsste dann der Christ seine Bekehrung nicht als eine Art Entrückung erfahren, könnte er nicht lediglich passivisch (=untätig, teilnahmslos) von der „Wiedergeburt" sprechen?

Antwort: Meine Regel, die ich der Bibel abgelauscht habe, lautet: Gott wirkt in uns--nicht ohne uns. Gott behandelt uns nicht wie „lapis et truncus", wie Stein und Baumstumpf, also als Sachen.

Paulus sagt: „Gott schafft beides, das Wollen und das Vollbringen" (Philipper 2, 13). Kann man den unfreien Willen klarer bezeugen?? Auch das Wollen ist ganz Gottes Schöpferwerk. Aber diese Neue, dieses geistliche Wollen schafft Gottes Geist in uns, und so wollen wir. Er schafft in uns das Vollbringen, „macht uns Beine", und so kommen wir zum Glauben. Gott, der Heilige Geist, vernichtet das Ich, das Gott, der Vater, schuf, nicht einfach. Er erweckt es vom Tode, verwandelt es, schafft es völlig um, so dass der Mensch nun wahrhaft zum ersten Mal wirklich im Sinne Gottes „Ich" sagen kann: „Ich glaube, ich liebe, ich hoffe, ich bete. Es ist eben das neue Ich, das hier aktiv wird. Das Zum-Glauben-Kommen ist die erste Lebensäußerung des „auferweckten" Menschen; der Ruf „Abba, Vater!" ist der vitale Geburtsschrei der neuen Kreatur. Aber all das („Ich habe mich bekehrt, entschieden...") steht unter dem Satz des Paulus: „Ich lebe, aber nun nicht ich, Christus lebt in mir" (Galater 2, 20). Gottes Wollen und unser Wollen bilden keine Koalition (=Bündnis), ergänzen sich nicht etwa zu 100 Prozent („Mischfinanzierung"); unser Wollen ist vielmehr „dimensional", umgriffen, durchtränkt, „durchgeistet" von Gottes Wollen: Gott macht so in mir, dass er mich wollen macht!

Deshalb ist es sicher nützlich, die psychische (=seelische) Außenseite und die pneumatische (=geistgewirkte) Innenseite zu unterscheiden: Von außen mag ich den Vorgang als meine Bekehrung, als mein Wollen, Entscheiden, mein Kommen erleben, in der geistlichen Tiefenschicht ist dies alles ganz und gar Gottes Wirken, sein Wunder, sein Geheimnis. Manche Christen bekennen: „Ich musste durch viel Kampf hindurch", die zugehörige Innenseite aber sah so aus: Der Starke, der Satan wollte seine Beute nicht hergeben (sein Reittier behalten), aber der Stärkere, der Ostersieger, hat sie ihm triumphierend entrissen. Es ist wahr: Ich glaube; nicht ein Es (eine anonyme (=ohne Namen) Macht) glaubt in mir. Aber: Ich glaube, bete, liebe, hoffe, wirke, ich tue Buße und kehre um--dies alles „en pneumati", in dem Gottesgeist, der allein lebendig macht. Auch hier bewährt sich die Lehre vom unfreien Willen als Schlüsselerkenntnis.

 

Unfreier Wille und christliche Ethik (=Lehre vom sittlichen Wollen und Handeln des Menschen)

Frage: Wie ordnet sich nun das Handeln des Christen ein? Besteht nicht die Gefahr, dass die Lehre vom unfreien Willen alle Ethik lahm legt? Kann sie nicht in feige und Passivität (=Teilnahmslosigkeit) treiben, in eine erbärmliche Kopfhänger-Mentalität (Mentalität= Sinnesart, Denkweise, Geistesart): „Ich armer, elender lutherischer Mensch: Ich bin nichts, weiß nichts, hab nichts, kann nichts und tue deshalb auch nichts."

Ist das deine Botschaft?

Antwort: Das war schon der Vorwurf des Erasmus! Ihm, dem Humanisten, dem Reformer und Pädagogen ging es um Aktivierung des (so muss ich scharf urteilen!) „alten Menschen". Man muss dem alten Esel gut zureden, ihn notfalls auch durchpeitschen, damit er läuft! Aber mir geht es ja um die "neue Kreatur". Auch da bin ich oft missverstanden worden im Sinne eines traurigen „Quietismus (=Streben nach gottergebener Frömmigkeit, Ruhe des Gemüts)", einer lahmen und lähmenden Passivität. Aber ich habe zwei Sätze gesagt, und auf dem zweiten liegt jetzt der Ton:

„So der Glaube nicht ohne Werke ist, und seien es auch die geringsten, macht er nicht gerecht, ja, ist er nicht der Glaube."

"Es ist unmöglich, dass der Glaube sei ohne unablässige, viele und große Werke."

Hier geht es um den Imperativ des Evangeliums (etwa Römer 12, 1f), der zum fröhlichen Gottesdienst ruft. An die „neue Kreatur" ist er adressiert: Gott schenkt ihr ein neues Wesen, damit ein neues Wollen, damit ein neues Wirken. Jetzt wächst die Frucht des Glaubens! Das von Gott „Geritten-werden" ist „ königliche Freiheit" ( 46/LD 196).

„Wenn Gott in uns wirkt, will und handelt... Der durch den Geist Gottes gewandelte und freundlich eingeblasene Wille... Aus reiner Lust und Neigung... Er fährt fort das Gute zu wollen, gern zu haben und zu lieben, so wie er vorher das Böse wollte, gern hatte und liebte" (LD 195/ 46)"

Es ist also nichts Biblisches, Evangelisches an dem jämmerlichen „Ich kann, bin, hab nichts" im Munde des Christen. Freilich, aus sich selbst vermag er nichts. Aber er ist ja „in Christus", und der ist der Auferstandene; er ist „im Geist", und der ist der Neuschöpfer. Gott will uns als seine Mitarbeiter (2. Korinther 1, 24; 2. Korinther 6, 1f; 1. Korinther 3, 9; Kolosser 4, 11), als „Gehilfen der Freude". Jetzt wirkt Gott in uns und durch uns; dabei werden wir nicht „ausgeschaltet", sondern als seine Kinder ganz „eingeschaltet", ganz beteiligt, ganz engagiert (=entschieden). Jetzt ist der neue Gehorsam möglich und wirklich: Was bei unserer Errettung streng ausgeschlossen war - nämlich jedes Mitwirken, alle Kooperation - das geschieht jetzt: Wir werden Gottes Mitarbeiter. Und er hat gewaltige Aufgaben für uns!

„Aber er wirkt nicht ohne uns, die er ja gerade dazu neu geschaffen hat und erhält, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken. So predigt er durch uns, erbarmt sich der Armen durch uns, tröstet die Betrübten durch uns" (LD 298f/Mü200).

Ja, ich sage es noch kühner: „Wir sind wechselseitig einer dem andern ein Christus, wie Christus uns getan hat" (vgl. II,S.415: „invicem sumus alter alterius Christus...").

„Ich vermag alles", sagt der Apostel und präzisiert sofort, „durch den, der mich mächtig macht, Christus" (Philipper 4, 13). So löst sich das Rätsel: Nichts können wir aus uns selbst (das an die Adresse aller Erasmusleute!). Alles können wir in der Kraft Christi (das den falschen Kümmerchristen ins Stammbuch!).

„So würde es auf einmal wahr werden, dass wir nichts von dem vermöchten, was vorgeschrieben wird, und zugleich alles vermöchten, indem wir jenes unseren eigenen Kräften, dies der Gnade Gottes zuschrieben" 117).

Dieses neue Tun, das aus dem neuen Sein entspringt (wie die Frucht dem Weinstock), hat ein neues Motiv: Gott allein die Ehre!

„Die Kinder Gottes aber tun das Gute in einem uneigennützigen Willen, fragen nach keinem Lohn, sondern allein nach der Ehre und dem Willen Gottes, bereit, das Gute zu tun, selbst wenn es, was unmöglich ist, weder ein Reich Gottes, noch eine Hölle gäbe" ( 120/LD 256).

 

Unfreier Wille und befreiter Wille

Frage: Sollte man dann nicht begrifflich unterscheide: „Vom unfreien Willen", das ist eine Aussage über den von Sünde, Tod und Teufel besessenen Menschen, über den Menschen ohne Christus. Aber: „Vom befreiten Willen", das ist die passende Überschrift für ein Christenleben. Dann würde deutlich: Der „befreite Wille" tritt an die Stelle des „unfreien Willen"!?

Antwort: Das ist in bestimmter Hinsicht gewiss richtig: Gott befreit den Willen. So habe ich ja auch die ganze Summe eines christlichen Lebens unter die Überschrift zu stellen: „Von der Freiheit eines Christenmenschen". Und doch möchte ich daran festhalten, dass „Vom unfreien Willen", als Überschrift über dem alten wie dem neuen Leben steht. Freilich in ganz unterschiedlichem Sinn. Paulus sagt: „Da ihr nun frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte (Sklaven) geworden der Gerechtigkeit" (Römer 6,18). Oder: „Wir dienen (jetzt) im neuen Wesen des Geistes und nicht (mehr) im alten Wesen des Buchstabens" (Römer 7, 6). Wir sind befreit von dem alten Schinder, dem „Mörder und Lügner von Anfang", dem Satan. Aber wir haben nun einen neuen Herrn, der und „teuer erkauft hat". Wir sind nicht „unser eigen" (1. Korinther 6, 19f), sondern gehören mit Leib und Seele Jesus Christus. Weil dies gilt: Herren sind wir, gerade weil wir des Herrn sind; weil es wahr ist: Christenstand heißt „neuer Gehorsam"; weil die Freiheit eines Christenmenschen oft missbraucht wurde zu libertinischer Autonomie (=die freie Entfaltung der Persönlichkeit vertretend); vor allem aber, weil „freier Wille" zutiefst ein Ehrentitel Gottes ist, darum bleibe ich dabei: Auch über dem neuen, dem Christenleben steht - freilich in leuchtenden Buchstaben - „unfreier Wille". Das ist - wie der Heidelberger Katechismus sagt - „mein einziger Trost, dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre", sein eigen und nicht mein eigen bin.

 

V. Unfreier Wille und Erwählung

Hier meldet sich die tiefste Frage: Wenn es mit den „Superiora" (=das, was wesenhaft höher ist als wir) so bestellt ist, wenn es da schlechterdings nicht an unserem „Laufen und Wollen" liegt, wenn wir keine Sekunde unseres Lebens dem ungebundenen Fohlen gleichen, sondern stets „Gerittene" sind, die sich den Reiter nicht wählen können, wenn wir in keiner Situation wie Herkules am Scheideweg stehen, wenn wir uns also als „natürliche Menschen" immer schon und ausnahmslos als „Besessene" im Machtbereich des Satans befinden, wenn wir uns selbst also nie so zur Verfügung stehen, dass wir uns dem Heil „zuwenden" können, wenn von unserem „freien Willen" lediglich zu sagen ist: er „hasste Gott’s Gericht, er war zum Gut’n erstorben", wenn er nur eines wollen kann - und dies mit Leidenschaft - , dass Gott nicht Gott sei, und wenn all dies keineswegs durch Zwang von außen , sondern der tief inneren Versklavung an unser Gottwidriges Sein so geschieht, dann liegt doch alles ausschließlich an Gottes freier Gnade. Aber wenn man das „sola gratia" (=nur die Gnade) so radikal versteht, muss man dann nicht Gott fragen: Warum bewirkst du bei dem einen den Glauben und belässt den anderen in seinem Unglauben? Ist es dann nicht am Ende deine Schuld, wenn einer verloren geht?

 

Die Vernunft gehört unters Kreuz

Der alte Drang der Vernunft, Maß aller Dinge zu sein, erhebt auch in unserem Theologisieren das Haupt. Gott soll sich selbst und sein Tun an unseren Normen ausweisen, soll sich vor unserem Forum rechtfertigen. Die Vernunft weiß, was gerecht ist, und Gott hat sich, will er sich nicht selbst disqualifizieren, nach diesem Kriterium (=Merkmal, Kennzeichen) zu richten.

„Die menschliche Vernunft wird aufgebracht, welche, obwohl sie in allen Worten und Werken Gottes blind, taub, töricht, gottlos und gotteslästerlich ist, an dieser Stelle als Richterin über die Werke Gottes herangezogen wird" (LD273/ 138).

„Einer so großen Ehre hält das Fleisch Gott nicht für würdig, dass es glaubt, er sei gerecht und gut, wenn er über das hinaus etwas sagt und tut, was der Codex (=Gesetzbuch) des Justinian oder das fünfte Buch der Ethik des Aristoteles bestimmt hat" 167).

Der „gesunde Menschenverstand" will Gott messen; wenn das nicht vermessen ist! Gerät die Vernunft ins Theologisieren, wird sie „fromm", so will sie (statt Gott anzugreifen) Gott verteidigen, gebärden sich als sein Advokat: Nein, sagt sie, nicht Gott ist Schuld; nicht an ihm liegt es, sondern am Menschen. Herr X hätte glauben sollen, aber er hat eben nicht „das Seine" getan. So unternimmt es die Vernunft, „Gott zu entschuldigen und den freien Willen zu beschuldigen" (LD 271/ 135). Sie will Gottes Handeln einsichtig und plausibel machen. Wem? Sich selbst, der Vernunft! Sie will nachweisen, wie „vernünftig", „human", „gerecht" Gott doch handelt, will ihn nicht nur freisprechen, sondern ihm ein „Verdienstkreuz" verleihen. Dabei merkt die verblendete Vernunft nicht, dass eine Verteidigung Gottes nicht weniger überheblich, ja gotteslästerlich ist wie ein Angriff auf seine Ehre!

„Dahin kommt es, wenn wir mit menschlicher Vernunft Gott messen und rechtfertigen wollen, wenn wir die Geheimnisse der Majestät nicht ehrfürchtig verehren, sondern forschend in sie eindringen, dass wir, von Scheinruhm erdrückt, statt einer Entschuldigung tausend Gotteslästerungen von uns geben" (LD 272f/ 137).

Freilich meint sie es gut, die Vernunft. Aber mit wem? Mit sich selbst! Sie merkt in ihrer Verblendung nicht, dass es ihr nur scheinbar um Gott geht, in Wahrheit aber um die Selbstbehauptung, um ihr eigenes Überleben. Denn das gäbe der Vernunft den Todesstoß, wenn sie vor der Souveränität (=Herrschaftsgewalt, Unabhängigkeit, Überlegenheit) Gottes ihre Waffen strecken müsste, gerade auch ihre scheinfrommen Verteidigungswaffen! Wenn sie sich so beugen müsste, dass sie alle ihre Normen und Ansprüche aus der Hand legte und Gott wahrhaft Gott sein ließe: Herr Gott, was „gerecht", was „gut" ist, das weißt und bestimmst du allein. Was du tust, das ist heilig, gerecht und gut! Nicht, weil ich es einsehen könnte, weil es mir plausibel wäre, sondern weil du GOTT bist („Glaube und Geist urteilen... dass Gott gut sei, und wenn er auch alle Menschen verdürbe", LD 274/ 132).

Gerade bei der Erwählungsfrage geht es um die entscheidende Probe: Wollen wir recht bekommen in und bei Gott? Oder soll Gott endlich bei uns zu seinem Recht kommen? Können wir uns ganz Gott ausliefern, uns Gott ganz anheim geben - auf Gedeih und Verderb? Wenn Gnade wirklich Gnade ist, dann ist sie völlig frei und souverän, kann weder ergründet, noch auf irgend eine Weise gefordert werden. Einen Anspruch auf Gnade kann es nicht geben, das wäre reiner Widersinn! Ist Gnade reines, unvorhersehbares, ja undenkbares Wunder, dann kann es ihr gegenüber weder moralische („Verdienst") noch intellektuelle („Vernunft") Forderungen geben. Gerade an der Erwählungsfrage kommt es heraus, ob die Vernunft sich unter das Kreuz Christi beugt, ihr Todesurteil (Kreuz) auf sich nimmt, bedingungslos kapituliert und spricht: „Wir können’s (wollen’s) nicht ergründen, wir können (wollen) nur vertrauen." Da ist die Wiedergeburt geschehen: Da ist die Vernunft vom „Baum der Erkenntnis" hin zum Kreuzesstamm geführt worden. Da gehen ihr die Augen auf: „Es ist nicht unsere Aufgabe, das (die Geheimnisse der göttlichen Majestät) wissen zu wollen, sondern vielmehr, diese Geheimnisse anzubeten. Glauben heißt für Luther „Deum justificare", Gott recht geben, nur ihm, ihm ganz und gar.

 

Die Erwählungsanfechtung ist heilsam

Luther selbst hat die Frage tief ins Herz getroffen: Was wäre, wenn Gott mich nicht erwählt, sondern verworfen, mir nicht das ewige Heil, sondern die Verdammnis bestimmt hätte? Gewiss, ich empfinge dann nur, was ich verdient habe, und könnte keineswegs über Gottes Härte oder gar Ungerechtigkeit klagen. Und doch:

„Ich selbst bin mehr als einmal bis zum Abgrund und zur Hölle der Verzweiflung erschüttert gewesen, sodass ich sogar wünschte, ich wäre nie als Mensch geschaffen worden, ehe denn ich wusste, wie heilsam eine solche Verzweiflung ist und wie nah der Gnade" (LD 288/ 153).

Heilsam ist diese „Hölle", weil hier aller Heilsegoismus ausgeschmolzen wird, weil hier nur eines bleibt: „Dein Wille geschehe!"

Ludwig Feuerbachs These (=Leitsatz) lautete, alle Religion sei ein egoistisches, ein gerade nicht theozentrisches (=Gott in den Mittelpunkt stellend), sondern anthropozentrisches (=Den Menschen in den Mittelpunkt stellend) Unternehmen: Der Mensch suche sich seine Sehnsüchte (etwa das Verlangen nach einem Leben nach dem Tod) auf dem raffinierten Umweg über die „Gottesprojektion" (=Abbild) zu erfüllen. Wohl diene er „Gott", bete, opfere, aber nur, damit dieser „Gott" ihm zu Willen sei. So sei der Mensch mit seinem Begehren, mit seinem Eudämonismus (=Glückseligkeit als treibende Kraft und Ziel des Lebens), Anfang, Mitte und Ende aller Frömmigkeit. „Gott" sage man, aber man meine sich selbst! Das ist im philosophischen Gewand die alte Frage des Satans: „Meinst du, dass Hiob umsonst (d.h. ohne egoistische Berechnung) Gott fürchtet? (Hiob 1, 9), dass er wirklich Gott meint, wahrhaft Gott GOTT sein lässt?"

In der Erwählungsanfechtung stellt sich diese Frage in letzter Schärfe; genauer: Gott selbst stellt sie uns! Luther hat sich in seiner Römerbriefvorlesung (1515/16) dazu geäußert: Er spricht von Menschen, die Gott lieben „mit der Liebe sündlicher Begier", nämlich „um ihres Heiles und um der ewigen Ruhe willen oder um der Hölle zu entgehen, d.h. nicht um Gottes, sondern um ihrer selbst willen" ( E II, Römer S. 301). Ganz anders ist es bei den Menschen, die Gott mit jener wahren Liebe zugetan sind, „die nicht von Hause da ist, sondern allein vom Heiligen Geist kommt."

„Solche schicken sich freiwillig in jeglichen Willen Gottes, auch in die Hölle und in den ewigen Tod, wenn es Gott so will, dass sein Wille völlig geschehe; so sehr suchen sie nichts von dem, was das Ihre ist" (ebenda 301).

Wer aber so mit Gott und seinem Willen eins wird, der kann nur dort ewig sein, wo Gott ist: „Denn es ist unmöglich, dass außerhalb von Gott bleibt, wer sich dem Willen Gottes so völlig hingibt" (eb 302). Die Stimme des „Fleisches" schreit beständig: „Mein, mein!" „Räume dies Nein hinweg und sag dafür: Ehre sei Dir, Herr! Und du wirst selig sein" (eb 294). So stirbt die geistliche Begehrlichkeit, und Gott bekommt wahrhaft recht. So, nur so, ist Feuerbachs Theorie wahrhaft zu überwinden.

 

Von Gottes Verborgenheit und seinem Sich-Offenbaren

Offenbarung Gottes ist in keiner Weise selbstverständlich, ist reines unableitbares (kontingentes) Wunder. Was keine Vernunft fordern, erwarten oder auch nur verstehen kann, Gott hat es getan. Er tritt aus sich heraus, bricht sein Schweigen, zeigt uns sein „Herz". Er kommt zu uns, sodass wir zu ihm kommen können.

Gott „in seinem Wesen und in seiner Majestät" ist uns schlechterdings unzugänglich: Er ist „wie ein verzehrend Feuer" und „wohnt" in einem Licht, da niemand zukommen kann." Sein Anblick wäre unbedingt tödlich. Wie gut, dass Gott sich da vor uns verbirgt!

Aber Gott schafft einen Platz, wo er uns zugänglich wird (wie im alten Bund das Zelt der Begegnung). Er, der uns in seiner unverhüllten Herrlichkeit unerträglich wäre, er verhüllt sich gnädig für uns, wird der Gott, der sich uns in gnädiger Verhüllung, in Knechtsgestalt zeigt. Wo? Ausschließlich in Jesus Christus und in dem süßen Evangelium: da, nur da will er sich von uns finden lassen.

So unterscheidet Luther den Gott, der sich - uns unzugänglich - verborgen hat, und den Gott, der sich uns offenbart, aber eben so: „In unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewige Gut." Was den Gott in seiner „nackten Majestät" angeht, so gilt hier die strikte Regel: „Was über uns ist, geht uns nichts an" (LD 247/ 108). Hier stehen alle Ampeln auf rot! Wehe jedem, der hinter die Offenbarung Gottes greifen, der Gott, abgesehen von Jesus Christus, jenseits von Wort und Sakrament haben will! In Natur und Geschichte spüren wir wohl etwas vom heißen Atem Gottes, aber sein Herz sehen wir da nicht. Erst recht vergreift sich, wer in die Geheimnisse Gottes - und dazu gehört für Luther die Prädestinationsfrage (Erwählungsfrage)! - wahnwitzig einbrechen will!

Schau auf Jesus! Da heißt Gottes lockende Stimme: „Kommt her zu mir alle!" Da schauen wir Gottes gnädiges Vatergesicht und dürfen „Abba" (Papa) rufen.

„Was über uns ist, geht uns nicht an!" Immer wieder schärft Luther ein: Hier ist Anbetung gefragt, nicht vermessenes Erforschen-Wollen. Wir bekommen Gott nicht in unseren Griff. Der Vater bleibt „der ganz andere" (Barth). „Nun dürfen wir nur das Wort betrachten, jenen unerforschlichen Willen müssen wir stehen lassen" (LD 248/ 108f). Es hängt unser Heil daran, dass wir hier Gottes Kinder bleiben, uns nicht als seine Geheimräte aufspielen. „Was über uns ist, geht uns nicht an". Hier ist aller Theologie die absolute Grenze gezogen. Hier muss ein deutliches Nein gesprochen werden zu der Spekulation Calvins von der „doppelten Prädestination" von Ewigkeit her (davon wissen wir nichts) ebenso zu der Spekulation von einer „Wiederbringung aller Dinge", einer „Allversöhnung" (davon wissen wir ebenso wenig). Jede derartige Spekulation ist nicht eine besondere, exklusive Tiefenschau, sondern schlicht Vermessenheit.

Großartig fasst Iwand zusammen: „Der Glanz und der Schrecken Gottes, der uns unzugänglich ist, treibt uns immer wieder zurück - dem gepredigten Gott in die Arme" ( 293). „Gottes Verborgenheit gibt der Offenbarung ihre göttliche Souveränität, seine Offenbarung aber nimmt seiner Verborgenheit den Schrecken" ( 294).

 

Erwählung in Jesu Wunden und Wort

Aber bleibt nicht die Frage: Wenn bei allen die Ausgangsposition dieselbe ist, nämlich: „Für alle Menschen ist der gleich definierte „freie Wille" angenommen worden: dass er nichts Gutes wollen könne" (LD 272), wenn das ausnahmslos für jeden gilt: Er kann nicht wollen, dass Gott GOTT sei, „warum ändert er (Gott) nicht auf einmal die bösen Willen?" (LD 280/ 145). Es liegt doch in seiner Macht, einzig da! Luthers Antwort lautet immer neu:

„Das gehört zu den Geheimnissen der göttlichen Majestät, in der seine Entscheidungen unbegreiflich sind. Und es ist nicht unsere Aufgabe, das wissen zu wollen, sondern vielmehr, diese Geheimnisse anzubeten. Wenn Fleisch und Blut hier Anstoß nimmt und murrt, so mag es ruhig murren, Gott wird sich deswegen nicht wandeln" (LD 280/ 145).

Aber neben dieser deutlichen Abfuhr, die Paulus ebenso scharf erteilt hat (Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst", Römer 9, 20), neben diesem Verweis steht immer wieder die Einladung: Schau auf Jesus! Sobald du den Lichtkegel der Offenbarung verlässt, stehst du vor undurchdringlichem Dunkel. Sobald du von Christus wegblickst auf Gottes Verborgenheit, versinkst du wie Petrus in der Flut! So redet Luther seelsorgerlich mit Frau Barbara Lisskirchen, die „mit der Anfechtung von der ewigen Vorsehung hoch bekümmert ist" (Brief vom 30.4.1531/LD X Briefe, S. 226-228):

„Unter allen Geboten Gottes ist das höchste, dass wir seinen lieben Sohn, unsern Herrn Jesus Christus, uns vor Augen stellen sollen, der soll unsers Herzen täglicher... Spiegel sein, darin wir sehen, wie lieb uns Gott hat... Dass er auch seinen lieben Sohn für uns gegeben hat. Hier, hier, sage ich, lernt man die rechte Kunst von der Versöhnung und sonst nirgends. Da wird sich’s finden, dass ihr an Christus glaubet. Glaubt ihr, so seid ihr berufen, seid ihr berufen, so seid ihr auch gewisslich (zum Heil) vorherbestimmt... Unser Herr Jesus Christus zeige euch seine Füße und Hände (vgl. Johannes 20, 27) und grüße euch freundlich im Herzen, auf dass ihr ihn allein ansehet und höret, bis dass ihr fröhlich in ihm werdet, Amen."

Das gilt: „In Christus ist der unbegreifliche, schreckliche, allmächtige, majestätische Gott mir gnädig."

Es bleibt dabei: Unsere Erfahrung zeigt, dass der eine „zum Glauben kommt", der andere ihn ablehnt (wobei diese Erfahrung keine letzte Aussage sein kann, denn wir sehen nur, was vor Augen ist!). Diese Erfahrung können wir nicht mit Erasmus auf den „freien Willen" des Menschen zurückführen, sondern auf das für uns undurchschaubare Handeln Gottes. So bleibt jede Bekehrung ein reines Gotteswunder und Geheimnis. Wer glaubt, kann nicht selbstgerecht auf den, der (vielleicht: noch) nicht glaubt, hinab sehen, denn: Was hast du, das du nicht empfangen hast, und zwar sola gratia, nur durch Gnade? So sagt Iwand mit Recht: „Vom Menschen her den Unterschied zwischen „gläubig" und „ungläubig" begründen, führt zum Richten und macht hoffärtig (hochmütig); aber von Gott her den Unterschied in seiner Unbegreiflichkeit stehen lassen, führt zum Erbarmen und macht demütig" ( 300). Man darf hinzufügen: Es macht auch hoffnungsvoll, lässt niemanden aufgeben. Denn: Wenn Gott mit mir, der ich nichts als Feind Gottes war, „fertig wurde", wie sollte er es mit irgendeinem andern nicht schaffen?

Ausblick auf die Endvollendung

Unserem bangen Fragen gibt Luther noch einen weiteren Hinweis. Er heißt uns vertrauensvoll ausschauen nach der endgültigen, der eschatologischen (=endzeitlichen) Volloffenbarung Gottes am jüngsten Tag. Dabei greift er auf die „verbreitete und gute Unterscheidung" von den drei Lichtern zurück (LD 331/ 246). Es gibt drei Weisen, wie Gott Licht in unsere Dunkelheit bringt, uns erleuchtet.

Da ist zuerst das „Licht der Natur". Das in dem inferioren (=untergeordneten) Bereich durchaus seine Kompetenz (=Zuständigkeit, Befugnis) hat. Einem Menschen, der vor dem Rätsel von Blitz und Donner erzittert oder das „Wunder" eines vorbeirasenden Schnellzuges zum ersten Male erlebt, kann durch das „Licht der Natur", das heißt, durch rationale (= vernünftige, durch die Vernunft bestimmte) physikalische „Aufklärung", zureichend geholfen werden.

Wer aber etwa vor dem abgründigen Geheimnis der Theodizeefrage (Frage nach der Rechtfertigung Gottes, angesichts wahrnehmbarer Übel (Hiob)) erbebt, vor dem Glück der Gottlosen, dem Leid der Frommen, dem offensichtlichen Triumph der Ungerechtigkeit in der Welt, der muss mit dem „Licht der Vernunft" (=Natur) scheitern:

Sieh, Gott regiert diese körperliche Welt in den äußeren Dingen so, dass du, wenn du auf das Urteil der menschlichen Vernunft schaust und ihm folgst, gezwungen bist zu sagen, entweder: es gibt keinen Gott oder: Gott ist ungerecht" (Luther LD 329/ 245).

Hier ist das „Licht der Natur" eitel Finsternis. Aber nun geht das „Licht der Gnade" freundlich auf, es macht uns den gekreuzigten und auferstandenen Christus hell, es führt uns ins Wort, lässt uns hören und glauben: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen" Römer 8,26). Das ist keineswegs eine rationale Erklärung: Wir durchschauen das Dunkel der Theodizeefrage nicht, aber wir vermögen es im Licht der göttlichen Verheißung zu „durchglauben".

In der Frage der Erwählung lässt uns auch das biblische Wort vor einem letzten Geheimnis stehen; alles Verstehen-wollen muss hier „abdanken" und dem Anbeten Platz machen. Hier gibt es weder eine logische noch eine theologische Erklärung. Hier gilt es wartend, hoffend, betend stille zu stehen - bis das „Licht der Herrlichkeit" alles überstrahlen wird. Luther vollzieht hier einen Analogieschluss ( er folgert vom Kleineren aufs Größere):

„Was meinst du, wird geschehen, wenn das Licht des Wortes und des Glaubens aufhören und die Sache selbst und die göttliche Majestät durch sich selbst offenbart werden wird? Oder meinst du nicht, dass dann das Licht der Herrlichkeit eine (jede) Frage auf das leichteste lösen kann, die im Licht des Wortes oder der Gnade unlösbar ist, da das Licht der Gnade eine Frage so leicht gelöst hat, die im Licht der Natur unlösbar war? ... Das Licht der Herrlichkeit ... Wird alsdann zeigen, dass Gott, dessen Gericht bisher eine unbegreifliche Gerechtigkeit innewohnt, die gerechteste und offenkundigste Gerechtigkeit zugehört" (Luther LD 330 f/ 246).

 

Schluss

Macht und Seligkeit des unfreien Willens

Luther hat nicht nur den „unfreien Willen" (De servo arbitrio) gelehrt, sein ganzes Leben ist eine einzige Demonstration dieser Lehre, sein ganzes Wirken steht unter der Überschrift „De servo arbitrio". Was er von allen Christen sagt „Sie werden nicht durch den freien Willen, sondern durch Gottes Geist getrieben" (LD 264/ 126), das bestimmt alle Stationen seiner Biographie: Nicht sein Wünschen und Begehren trieb ihn ins Kloster: die Hand des Herrn lag schwer auf ihm! Nicht er drängte sich zur Doktorwürde und ins Lehramt: „In einem Dusel" wurde er dorthin gezogen. Gegen seinen Willen und gegen den Rat der Freunde ist er „wie ein geblendetes Pferd" gegen Tetzel vorgegangen und hat die 95 Thesen verfasst. In Worms konnte er nicht widerrufen, weil sein Gewissen „gefangen" war „in Gottes Wort". Was Paulus bezeugt, prägte auch sein Wirken: „Ein Zwang liegt auf mir; wehe mir, wenn ich nicht das Evangelium predige" (1. Korinther 9, 16). Luther war gewiss: „Meine Lehre ist nicht mein", darum wollte er auch keine „Lutheraner", sondern einzig Christen. Gerade so aber wurde er das auserwählte Rüstzeug Gottes. Die Reformation lebt, weil sie eben nicht Luthers Werk war:

„Hier gibt man sich ... In Gott gefangen, begnügt man sich mit der Rolle, sein Werkzeug zu sein, das dem Herrn jederzeit und auf jedes Risiko zur Verfügung steht. Hier verzichtet man auf Verantwortung und Strategie ... Bei alledem erweist es sich dann, dass Gott den von ihm in Beschlag genommenen in die angestammte Seinsbestimmung des Menschen zurückbringt: Gottes machtvoller Mandatar (=im Auftrag (kraft Vollmacht) Handelnder) auf Erden zu sein. Jener kleine Mönch bringt Papst und Kaiser in Verlegenheit. (Schwarzwäller).

„Domini sumus": Weil wir des Herrn sind, darum sind wir des Herrn!

´Wenn man deshalb Luther den „freien Willen" anböte, würde er ihn entsetzt zurückweisen, denn nicht nur alle Vollmacht zum Dienst liegt in jenem seligen „Gerittenwerden", sondern auch alle Heilsgewissheit: Ich bin mit selbst uns all meiner Unzuverlässigkeit entnommen, bin für Zeit und Ewigkeit in Jesu Händen geborgen. Niemand - auch mein eigener Wille nicht! - kann mich aus diesen Händen reißen!

„Ich bekenne fürwahr in Bezug auf mich: Wenn es irgendwie geschehen könnte, möchte ich nicht, dass mir ein freier Wille gegeben werde, oder das etwas in meiner Hand gelassen würde, womit ich nach dem Heil streben könnte... Denn mein Gewissen würde, wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiss und sicher, wie viel es tun müsste, damit es Gott genug tue... Aber jetzt, da Gott mein Heil aus meinem Willen herausgenommen und in seinen Willen aufgenommen hat, und nicht durch mein Werk oder laufen, sondern durch seine Gnade und Barmherzigkeit mich zu erhalten verheißen hat, bin ich sicher und gewiss, dass er getreu ist und mir nicht lügen wird, auch mächtig und stark ist, dass keine Teufel, keine Widrigkeiten ihn werden überwältigen oder mich ihm werden entreißen können... Das ist der Ruhm aller Heiligen in ihrem Gott" Luther LD 326f/ 243 f).