Das abendländische Christentums – ein Auslaufmodell? Über die Zukunft der westeuropäischen Kirchen im 21. Jahrhundert Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war beim 100-jährigen Missionsfest einer Missionsgesellschaft in Großbritannien. Man hatte sich überlegt, wie man dieses 100-jährige Jubiläum symbolträchtig feiern könnte und hatte, dann die Idee, dass man 100 weiße Tauben losfliegen lassen könnte als Symbol dafür, dass aus den 100 zurückliegenden Jahren Zukunft und neue Hoffnung erwächst. Das Ganze sollte dann so laufen, dass der zuständige Bischof eine dieser Tauben in die Hände nimmt und ein Gebet spricht und am Ende des Gebetes dann die Taube in die Höhe wirft und frei lässt und mit ihr alle anderen Tauben auch dann losfliegen. Tolle Idee, gesagt – getan. Das Missionsfest kam. Der Bischof nahm für sein Dankgebet eine Taube in die Hände und betete, ja er betete inbrünstig, er dankte fast für jedes einzelne Jahr der 100-jährigen Geschichte einzeln, es war ein bewegendes, engagiertes, inbrünstiges und langes Gebet und als er endlich „Amen“ sagte, warf er das Tier in die Höhe. Aber anstatt, dass die Taube losflatterte, fiel sie wie ein Stein wieder auf die Erde. Der gute Mann hatte das arme Tier während seines Gebets erwürgt und aus dem Symbol der Zukunftshoffnung, wurde ein Trauerspiel des Todes. Wir feierten vor zwei Jahren 500 Jahre Reformation und als Protestanten glauben wir, dass das eine Gottesgeschichte ist, die wir da feiern. Dass in dieser Geschichte der lebendige Gott selbst am Wirken und Handeln war und dadurch auch seine weltweite Gemeinde hier geführt und geleitet hat. Aber dieses Jubiläumsjahr wurde auch durchzogen, vielleicht nicht gerade vom Hauch des Todes, aber doch von einer Ahnung der Vergänglichkeit – gerade auch der protestantischen Kirchen. I. Der Protestantismus der Gegenwart – eine Bestandsaufnahme Wenn wir auf die Kirche in Europa schauen, dann kann man nicht nur mit Zahlen arbeiten, aber Zahlen sagen auch schon was. Zwar sind in Europa immer noch etwa 75 % aller Menschen nominell Christen, aber wenn man einen Blick auf die sog. „religiöse Praxis“ wirft, dann sieht das Bild anders aus. In Westdeutschland bezeichnen sich noch 18 % als ziemlich oder sehr religiös, in Ostdeutschland sind es 6 %. Der Gottesdienstbesuch liegt zwischen 3 und 10 % der Mitglieder (nicht der Bevölkerung!). Es gibt in Europa noch vier Länder, die als stark religiös gelten. Da sind Portugal, Italien, Polen und Griechenland, d. h. drei katholische und ein griechisch-orthodoxes Land. Je weiter man nach West- oder Nordeuropa geht, umso säkularisierter erscheint dieser Kontinent. Oder anders ausgedrückt: Je protestantischer ein Land ist, desto säkularisierter ist es. In England hat sich die Zahl der Mitglieder seit 2002 mehr als halbiert – von 31 auf 14 Prozent. Besonders steil war der Absturz in der Altersgruppe der 45- bis 54-Jährigen: Bei ihnen sank der Anteil der Kirche-von-England-Bekenner von 35 auf elf Prozent. Noch beunruhigender waren allerdings die Umfrageergebnisse in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen: 70 Prozent von ihnen gaben an, überhaupt keine Religion zu haben. Als Mitglied der Kirche von England bezeichneten sich gerade mal noch zwei Prozent (!) der jungen Erwachsenen. Die weit überwiegende Mehrheit aller europäischen Protestanten verzichtet auf eine religiöse Praxis, um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Ein Blick auf Deutschland: In der Bundesrepublik sind noch gut 21 Mio. Menschen Mitglieder in der Evangelischen Kirche, zusammen mit den katholischen Schwestern und Brüdern haben die beiden großen Volkskirchen noch etwa 44 Millionen Mitglieder, was etwa 53 % der Gesamtbevölkerung entspricht. Nur zum Vergleich: 1950 waren noch 96 % der in Deutschland lebenden Bevölkerung Mitglieder der beiden großen Kirchen. Am 2. Mai veröffentlichte das Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge ihre Ergebnisse eine von den beiden großen Kirchen in Auftrag gegebenen Studien, wonach sowohl die katholische wie die protestantischen EKD-Gliedkirchen im Jahr 2060 nur noch halb soviel Mitglieder haben werden wie heute und nur noch halb so viele Kirchensteuermittel. Diese Entwicklung hat gewaltige Konsequenzen. Bereits heute gehört in den neuen Bundesländern 80 % der Bevölkerung keiner Kirche mehr an. Hier breitet sich eine Kultur der Konfessionslosigkeit aus. Religion wird als etwas Sonderliches empfunden. In Nordrhein-Westfalen werden in den nächsten Jahren bis zu 1800 Kirchen als Gottesdienststätten aufgegeben. Zurzeit gibt es in NRW insgesamt 6000 Kirchen. Kirchen werden in Seniorenwohnheime, Kindergärten und Konzertsäle umgebaut. Heute ist ein Pfarrer durchschnittlich für 1700 Mitglieder zuständig, in 40 Jahren wird er sich um 4000-5000 kümmern. Die Zahl der Pfarrer wird schneller sinken als die Zahl der Gemeinden. In der Nordkirche geht man davon aus, dass man bereits im Jahr 2030 ein Drittel weniger Pfarrer haben wird als heute. Wenn wir nach den Gründen fragen, kommen wir zuerst an dem großen Strom des Säkularismus nicht vorbei. Seit der Aufklärung hat sich das Denken der Menschen auf unserem europäischen Kontinent radikal verändert. Hat man vor 500 Jahren noch ganz selbstverständlich die Rahmenbedingungen des christlichen Weltbildes akzeptiert, so denken Menschen heute radikal diesseitsbezogen. Der christliche Glaube hat für viele Menschen schlicht seine Plausibilität verloren. Die tiefen Fragen des Lebens sind noch genauso unbeantwortet wie vorher, aber man sucht die Antworten nicht mehr im christlichen Glauben. Und mit dem Verlust der Plausibilität des christlichen Glaubens verliert auch automatisch die eigene Mitgliedschaft in einer Kirche an Plausibilität. Wenn ich das alles nicht mehr glauben kann oder will, warum soll ich dann noch Mitglied sein? War es bis vor 60 Jahren noch völlig selbstverständlich, Mitglied einer der großen Volkskirchen zu sein, so wird das mehr und mehr ein Akt der individuellen freien Entscheidung. Musste man sich vor 30 Jahren noch rechtfertigen, wenn man aus der Kirche austrat, so muss man in manchen Regionen der Republik mittlerweile begründen, warum man noch Mitglied ist. Es genügen heute relativ kleine und z. T. sehr ferne Anlässe – egal in welcher der Großkirchen –, um einer inneren Distanz einen äußeren Ausdruck zu verleihen. Der letzte Grund ist deshalb nicht der äußere Anlass, sondern die innere Entfremdung. Wie kam es zu dieser inneren Entfremdung und Distanz? Da müssen wir noch mal eine Schippe tiefer graben: In Europa wird die Kirche seit dem 20. Jh. als eine Institution der europäischen Gesellschaft verstanden, so wie seit 100 Jahren die Post, das Telefon, die Stromwerke und Stromanbieter oder die Tankstellen. Von Kirchen wird in Europa nicht viel erwartet, nur eines: Sie sollen da sein, wenn man sie braucht. So wie der Elektriker kommen soll, wenn man ihn braucht, so wie man zur Tankstelle fährt, wenn der Tank leer ist, so wie man zur Post geht, wenn man ein Päckchen verschicken will. Aber wir leben nicht in Tankstellen und wir wären sehr überrascht, wenn uns der Tankwart zu einem abendlichen Benzinvortrag einladen würde. Ich will an der Tanke meinen Sprit und fertig. Wir wären genervt, wenn der Elektriker jeden Tag auf der Matte stehen würde, um mit uns über die Vorzüge von Strom zu reden. Ich brauche Strom, aber ich will nicht darüber reden. Wir gehen so selten zur Post, wie irgendwie nötig – weil man da oft lange warten muss. Und genauso nehmen die Europäer die Kirchen wahr – es ist wichtig, dass es sie gibt, wenn man sie braucht. Aber eben nur „wenn man sie braucht“. Wissen Sie, wie der Vorstandsvorsitzende des Elektrizitätswerkes heißt, von dem Sie Ihren Strom beziehen? Wissen Sie, wie der Postbeamte heißt, der Ihnen täglich die Post bringt? Wissen Sie, wem die Tankstelle gehört, bei der Sie immer tanken? In aller Regel ist Ihnen das egal: Sie wollen Ihre Post, Ihren Sprit, Ihren Strom. Mehr wollen Sie nicht. Sie werden nur dann emotional berührt von Ihrem Stromanbieter, wenn der Strom weg ist. Emotional wird Ihre Beziehung zu Ihrem Postboten nur, wenn er die Post nicht bringt. Und bei der Tankstelle wechseln Freude und Ärger mit den Spritpreisen! So ist das auch mit Gemeinde: Mehr als den kirchlichen Service bei Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung wollen die meisten Menschen nicht und die, die es noch wollen, werden immer weniger und irgendwann überlegen sie sich, ob sie es überhaupt noch brauchen, oder ob es nicht doch billigere Angebote gibt. Und emotional wird die Beziehung zur Kirche meistens dann, wenn das kirchliche Personal nicht liefert, was erwartet wird. Vor 30 Jahren konnten Sie Ihren Stromanbieter nicht wählen. Der Strom kam von den städtischen Kraftwerken. Fertig. Aus. Der Preis war gesetzt und die einzige Wahl, die Sie hatten, war ob sie Strom wollen oder nicht. Vor 70 Jahren waren wie gesagt 96 % der deutschen Mitglieder einer der beiden großen Kirchen. Ja, es gab auch damals schon Freikirchen, aber man hat Religion und Kirchenzugehörigkeit mehr als Schicksal, denn als Wahl begriffen. Heute ist das mit Konfessionen und Religionen wie mit Stromanbietern: Suchen Sie es sich aus: Klassisch evangelisch, römisch-katholisch, charismatisch freikirchlich, oder vielleicht entspannt buddhistisch oder eher stramm muslimisch? Menschen betrachten Konfessionen und Religionen als Dienstleister, als Anbieter einer religiösen Serviceleistung und deshalb werden wir auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten diese Art der „Kundschaft“ definitiv verlieren, und zwar nicht deshalb, weil wir viel falsch machen, sondern weil wir als Kirche und Gemeinde etwas anderes wollen als was Menschen wollen, die sich als Kunden verstehen.Selbst wenn wir den Service bieten wollten, der hier erwartet wird, würden andere es billiger hinbekommen, denn bei Service und Dienstleistungen zählt der Preis. Gemeinde kann sich aber nie einem Dumping-Wettbewerb stellen. Wir „verkaufen“ keine Kasualien, wir „verkaufen“ keine Taufen oder Trauungen. Und wenn wir uns darauf einlassen würden, dann würde es automatisch andere geben, die es billiger anbieten, aber was noch schlimmer ist, dann würden wir faktisch die Gemeinde Jesu verkaufen. Wenn wir als Gemeinde Menschen wie Kunden behandeln, dann werden sie sich auch so benehmen. Eine Kirche kann nicht wie ein Dienstleistungsanbieter seinen Kunden hinterherrennen und mit dem jeweils besten Service punkten wollen. Das wäre eine Verkennung der Identität der Kirche Jesu Christi. Eine Kirche hat Glieder, Nachfolger und Heilige, aber keine Kunden. Wir stecken in einem Dilemma und das Ergebnis wird sein, dass der christliche Glaube in Deutschland die Rolle einer „Staatsreligion“ mitsamt ihren Privilegien verlieren wird. Zwar ist das formal schon seit dem Ende des 1. Weltkriegs und dem Beginn der Weimarer Republik so, aber im 20. Jahrhundert erfüllten die großen Kirchen immer noch die Rolle einer Staatsreligion. In spätestens 30 Jahren werden die christlichen Kirchen anderen Religionen gleichgestellt sein, so wie das in vielen anderen Ländern heute schon der Fall ist. Dann werden bei staatlichen Anlässen nicht nur der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD-Ratsvorsitzende auftreten, sondern eben auch die Vorsitzenden der wichtigsten muslimischen Verbände und vielleicht auch buddhistische oder hinduistische Vertreter. Wir erleben in Europa das Ende des sog. „Christentums“. Wir erleben nicht das Ende des christlichen Glaubens, aber das Ende des „Christen-tums“. Paul Zulehner aus Wien spricht vom Ende der „christentümlichen Zeit“. Diese Endsilbe „–tum“ steht in der deutschen Sprache für „Stand“ und „Würde“, für etwas Statisches, Ehrwürdiges und Etabliertes. Und genau diese Dinge sind ins Wanken geraten und verschwinden mehr und mehr. Wir reden hier vom Ende privilegierter Positionen, vom Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse, vom Ende starker Kirchengemeinden, vom Verschwinden üppiger Ressourcen, von der Auflösung des Sonntags als staatlich geschützter Ruhetag, vom christlichen Analphabetismus, vom christlichen Monopol in Sachen „Glaube“. Mehr als 1000 Jahre Christentum befinden sich gegenwärtig in der Auflösung. Und wenn der christliche Glaube Europa wieder verlässt, dann bleibt nicht der blanke Säkularismus, Humanismus oder Rationalismus übrig, sondern dann kommen die Märchen wieder, dann halten die Fabeln und Mythen Einzug, dann kommt das Heidentum zurück. Auch am diesjährigen Reformationsfest werden mehr Menschen Halloween feiern als den Reformationstag.Es bewahrheitet sich der berühmte Satz von Gilbert Keith Chesterton: „Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts, sondern dann glauben sie an irgendetwas.“ (Gilbert Keith Chesterton) Aber gleichzeitig zu diesem europäischen Prozess der Auflösung eines 1000-jährigen Christentums, passiert weltweit noch etwas anderes: Wenn man im 21. Jahrhundert über den Protestantismus spricht, dann muss man das auch in einer weltweiten Perspektive tun. Und da zeigt sich, dass sich der Protestantismus von der nördlichen auf die südliche Welthalbkugel verlagert hat. Allein in dem von Terror und Korruption geplagten Nigeria gibt es doppelt so viele Protestanten wie in Deutschland. Im südlichen Teil Afrikas, dem sog. Schwarzafrika ist die Christenheit in den letzten 100 Jahren von 9 % auf 63 % gewachsen.Der geographische Schwerpunkt des weltweiten Protestantismus und überhaupt der Weltchristenheit findet sich nicht mehr in Europa und nur noch bedingt in Nordamerika, sondern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Dort ist das Zentrum der Christenheit und wir liegen in Europa mittlerweile am Rand der Christenheit. Dort schlägt auch das Herz des Protestantismus und dieses Herz – auch das muss man dazusagen – schlägt mehrheitlich pfingstkirchlich und charismatisch. Rund 670 Mio. Christen gehörten laut World Christian Database (WCD) heute einer Pfingstkirche, einer charismatischen oder neo-charismatischen Kirche an. Das ist mehr als ein Viertel der 2,5 Mrd. Christen weltweit. Zum Vergleich in den 1970er Jahren waren es gerade einmal 5 Prozent. Hält dieses Wachstum weiter an, könnte bis 2050 die Pfingstbewegung das katholische Christentum in weiten Teilen der Welt als größte christliche Strömung ablösen. In Asien, Afrika und Lateinamerika diskutiert man nicht über das Ende des Christentums, sondern darüber, wie man diese schnell wachsenden Gemeinden und Kirchen geistlich und theologisch gesund erhalten kann. Denn manches Wachstum ist dort mehr ein Wuchern. Während Wachsen etwas Gesundes ist, ist Wuchern etwas Krankhaftes. Sie merken: Die Gemeinde hat immer mit Herausforderungen zu tun, aber sie sehen unterschiedlich aus. II. Perspektiven Wir brauchen eine Kultur der Ermutigung und des Wagnisses! Unsere Debatten der letzten Jahre zeigen sehr genau, worin wir stark sind: Wir sind stark darin, wenn es darum geht Bedenken vorzutragen, kritisch zu analysieren und zu erklären, warum bestimmte Vorschläge nicht gehen. Aber solange wir mehr einer Kultur der Bedenken und der Kritik Raum geben, als einer Kultur der Ermutigung, der Dankbarkeit und der Hoffnung werden wir nicht weiterkommen. Aber für eine Kultur der Bedenken, der Kritik, der Entmutigung und der Verzagtheit hat Gott eine eigene Sprache entwickelt, nämlich die Sprache des Geldes bzw. des fehlenden Geldes. Warum beginnen sich Kirchen und Gemeinden erst dann zu bewegen, wenn das Geld fehlt? Offensichtlich ist das die lauteste Sprache Gottes, die er dann einsetzen muss, wenn wir sein leises Reden nicht mehr hören. Wir brauchen eine Kultur des Wagemutes, wo wir Menschen es nicht nur erlauben, sondern sie dazu ermutigen, etwas Neues zu beginnen. Kirchenleitung und Dekane sollten nicht nur die Aufgabe haben, etwas zu regulieren oder zu kontrollieren, sondern die Aufgabe zu initiieren, anzuregen, zu ermutigen, zu ermöglichen. Bischof Graham Gray ist mit dem Satz bekannt geworden: „Man wird nicht mehr besorgt fragen, was wird bloß der Bischof von diesem Experiment halten! Man wird wissen, der Bischof wäre sehr enttäuscht, wenn wir es nicht wagten.“ (Bischof Graham Gray) Im Neuen Testament ist das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld so ein Ermutigungstext zum Wagemut. In diesem Gleichnis ist klar: Nicht jede Saat geht auf, sogar verhältnismäßig wenig. 75 % des Säens führt zum Misserfolg. 75 % der Arbeit und des Saatguts ist für die Katz. Aber die 25 % Erfolg wären nicht da, wenn man es trotz der großen Streuung nicht gewagt hätte. Und: 25 % tragen Frucht: 30-fach, 60-fach und sogar 100-fach. Nicht jedes Experiment gelingt. Es gibt keine Experimente ohne die Möglichkeit des Scheiterns, aber ohne Experiment kein Erfolg. Und wir brauchen eine Kultur des Wagemutes, auch etwas Altes zu beenden, um die Kraft und die Mittel für das Neue zu haben. Auch damit tun wir uns sehr schwer. Aber nochmal die Frage: Muss Gott erst mit der Sprache des Geldes uns ansprechen, bevor wir ihn hören können? Wir werden erstaunt sein, auf was wir alles verzichten können! Unsere Volkskirchen sind strukturell durch drei wesentliche Elemente geprägt: erstens durch die Parochie, zweitens durch das Hauptamt und drittens durch Kirchengebäude. Keines dieser drei Elemente spielt im Neuen Testament eine wesentliche Rolle. Wenn wir ins Neue Testament schauen, dann merken wir, dass viele der Dinge, die wir heute im Blick auf Kirche und Gemeinde als unverhandelbar betrachten, überhaupt kein Thema waren: Waren die Jünger und Apostel ehrenamtlich, nebenamtlich oder hauptamtlich, vollzeitlich oder teilzeitlich engagiert? Wenn wir ihnen diese Frage stellen könnten, dann würden sie uns wahrscheinlich mit großen und fragenden Augen anschauen und zurückfragen, von was wir da eigentlich reden? Wir bestimmen das Wohl und Wehe von Gemeinden immer noch viel zu sehr über Pfarrer und Pfarrstellen, als ob die Kirche mit Pfarrerinnen und Pfarrern steht und fällt. Die Zahl der Pfarrstellen wird zur Zukunftsfrage der Kirche und damit auch zum Nadelöhr für das Wohl und Wehe von Kirche. Michael Herbst schreibt: „Kirche ist Pfarrerskirche und ‚gut so’ soll das auch noch sein. Nicht gut, gar nicht gut!“ Ein wesentliches Ziel unserer Kirche ist eine flächendeckende Versorgung mit Pfarrerinnen und Pfarrern. Gemeindeglieder werden damit zu Menschen, die versorgt werden müssen, so als ob es bei einer Gemeinde um betreutes Wohnen geht. Das ist nicht die Form von Christsein, die uns im Neuen Testament vorgestellt wird. Christen sollen nicht entmündigt und betreut werden, sondern ihre Begabungen und Vollmachten erfahren, erleben und einsetzen. Das dritte Element sind Kirchengebäude. Im Neuen Testament waren die gemeindlichen Treffpunkte sehr flexibel: In Jerusalem traf man sich zuerst im Tempel, später in den Häusern einzelner Gemeindeglieder, in Philippi traf man sich am Flussufer, in Korinth zuerst in einer Zeltmacherwerkstatt, später in der Villa des Gaius. Unsere europäischen Kirchen und Kathedralen sind wunderbare Gebäude. Aber genau diese Gebäude werden uns heute zur Last. Wir können sie vielfach nicht mehr bezahlen und nicht mehr erhalten. In Frankreich verfallen die schönsten gotischen Kirchen oft mitten in Städten und Dörfern, weil sie niemand mehr bezahlen kann und weil sie auch niemand mehr braucht. In Italien sind jetzt bei den verschiedenen Erdbeben der jüngeren Zeit über 1000 Jahre alte Kirchen eingefallen, die niemand mehr aufbauen wird, weil das Geld fehlt – und weil es zu wenige Menschen sind, die sie brauchen. Auch hier geht eine 1000-jährige Geschichte des Christentums zu Ende. In der Mitteldeutschen Kirche sind die Kolleginnen und Kollegen so ans Ende der Fahnenstange gelangt, dass die frühere Landesbischöfin und unserer frühere württ. Oberkirchenrätin Ilse Junkermann sagte: „Wir sind am Ende unserer bisherigen Möglichkeiten.“ Deshalb hat man dort jetzt Erprobungsräume eingerichtet, wo man ganz bewusst auf einzelne oder mehrere dieser klassisch volkskirchlichen Elemente verzichtet, sei es auf die Parochie oder auf Hauptamtliche oder auf Kirchengebäude, um dann zu sehen, was passiert. Wir werden uns noch lange in unseren altehrwürdigen Kirchen zum Gottesdienst treffen. Wir brauchen auch noch lange gut ausgebildete und umfassend kompetente Pfarrerinnen und Pfarrer. Aber wir sollten neue Formen, neue Räume, neue Formate des geistlichen Dienstes nicht als Bedrohung, sondern als Chance und als Notwendigkeit begreifen. Wir brauchen eine verheißungsorientierte Sicht der Kirche! Wir haben mit einer Betrachtung der Wirklichkeit begonnen, aber damit können wir als Christen nicht stehen bleiben und schon gar nicht aufhören. Denn die Wirklichkeit der Gemeinde besteht aus mehr denn bloß aus Zahlen. Die Gemeinde ist eine geistliche Wirklichkeit, die getragen wird von Gottes Wort und Verheißung. Am Anfang der Gemeinde stand nicht eine Betrachtung der Wirklichkeit, sondern am Anfang steht die Verheißung Jesu an Petrus: „Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ (Mt 16,18) Die Gemeinde beginnt nicht mit einer Analyse, sondern mit einer Verheißung. In dieser Verheißung ist von den Pforten der Hölle die Rede und das heißt: von Schwierigkeiten, Bedrohungen, Anfeindungen, Anfechtungen und Nöten. Aber das ist nicht das Hauptthema. Das Hauptthema ist, dass Jesus Gemeinde bauen will und diese Gemeinde nicht verschwinden, nicht überwältig werden, nicht vernichtet werden kann, durch was auch immer. In dieser Verheißung ist allerdings nicht davon die Rede, dass es seiner Gemeinde immer gut gehen wird, dass sie immer unaufhaltsam wachsen wird, dass sie Jahr für Jahr steigende Kirchensteuereinnahmen haben wird, dass sie ihre kirchlichen Gebäude und Amtsträger immer gut versorgen kann, dass sie staatliche Privilegien haben wird … Nein, das steht nicht da. Jesus baut seine Gemeinde und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Wir müssen die Gemeinde immer verheißungsorientiert begreifen, sonst halten wir das Betrachten der Wirklichkeit nicht aus. Hans-Joachim Eckstein zu sagen: „Die Gemeinde Jesu hat ihre beste Zeit niemals hinter sich, sondern immer vor sich.“ Wenn wir es wieder lernen die Gemeinde verheißungsorientiert zu sehen, dann bekommen wir auch wieder Augen für die Schönheit der Gemeinde. Denn wo wir nur eine zerfallende Kirche sehen, sieht Jesus eine schöne Braut. Und wenn wir die Kirche so sehen, dann mag in unserer Arbeit immer noch viel daneben gehen, dann werden wir in unserer Arbeit von den gewaltigen Veränderungen der nächsten Jahrzehnte nicht verschont, aber wir werden unter diesem Hoffnungshorizont nicht scheitern. Wenn wir es lernen, die Gemeinde als eine schöne Braut zu sehen, dann bekommen wir auch die Kraft und die Liebe, um ihre tiefe, innere Krankheit auszuhalten. Adolf Schlatter hat einmal gesagt: „Die Not der Kirche wird nur dadurch überwunden, dass sie getragen wird.“ Darum geht es: Die Not der Kirche zu überwinden, und nicht darum, uns von der Not der Kirche überwinden zu lassen. Auch das Schlechtreden der Kirche kann zur Sucht werden: So wie wir schon seit langem für alkoholsüchtige Menschen den neudeutschen Begriff „alcoholics“ kennen und für arbeitssüchtige Menschen den Begriff „workaholics“, so gibt es seit 30 Jahren auch den Begriff „negaholics“. Das sind Menschen, die dem Negativen verfallen sind. Sie vertragen kein „Ja“, und kein „Gut“ mehr und sie werden vermutlich an einer Überdosis „Nein“ oder „Schlecht“ sterben. Wer eine verheißungsorientierte Sicht gewinnt, wer wieder einen Liebesblick für seine Kirche und Gemeinde gewinnt, der bekommt auch wieder Augen für die Wege, die uns Gott auf ganz wunderbare Weise öffnen wird. Seit dem 1. September 2018 ist Heiner Wilmer der neue Bischof des katholischen Bistums Hildesheim und er sagte einen Satz, den ich sehr bemerkenswerte fand: „Manche in der Kirche klagen seit Jahren: Es ist fünf vor zwölf! Ich halte das für Quatsch: Es ist fünf nach zwölf! Es ist längst zu spät. Aber das hatten wir schon zu Jesu Zeiten. Ich glaube zutiefst, dass der Heilige Geist uns auf Wege führt, von denen wir noch nicht einmal ahnen, dass es sie gibt.“ Prof. Dr. Volker Gäckle ist Pfarrer, Professor für Neues Testament und Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell.