Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Dunkle Nachtstunde. 1

„Aber – – – Christus lebt!“ 3

Das apostolische Glaubensbekenntnis auf dem Fabrikhof 5

Die Synagoge. 6

Die starke Hand. 9

Das Buch des Lebens. 10

Debora im Luftschutzkeller 12

Was sie dachten – – –. 14

„Hinweg mit diesem Gott!“ 15

„Sie suchen, was sie nicht finden …“ 17

Eine Türe ging auf 19

Ein Weltanschaulicher Kampf um ein Frühstück. 21

Das können wir ja abwarten! 25

An einer polnischen Landstraße. 26

„Was ihr getan habt …“ 27

„In zehn Jahren …!“ 28

„Das Gewissen … ach ja, das Gewissen!“ 32

Ringen um Tod und Leben. 33

„Es ist schade um dich!“ 34

„Jetzt geht wieder die schöne Zeit an!“ 36

„Gott ist an allem Schuld!“ 37

Tante Regine. 39

Kann die Natur uns erlösen?. 40

Zwei Wege. 41

Phrase oder Ewigkeitswort auf dem Friedhof 42

Die Entwurzelten. 44

„Viel Zeit!“ 49

Geborgen. 50

 

 

 

 

 

Dunkle Nachtstunde

 

Seltsam, wie still nachts um 2 Uhr die Grosstadtstrassen sein können, die am Tage mit Lärm erfüllt sind! Schwarz und schweigend stehen die Häuser. Trübe scheinen die Lampen durch den dunklen Nebel.

Fröstelnd biege ich ein in die Strasse, die zu dem Krankenhaus führt. Mitten in der Nacht hat mich das Telefon geweckt: Ein Sterbender verlangt nach dem Pfarrer.

Aus einem Hause fällt Licht. Zankende Stimmen stören die Ruhe der Nacht. Um welche Kleinigkeit man sich dort wohl streitet? Und in dem Krankenhaus schickt sich eine Seele an, in die Ewigkeit zu gehen.

Es ist so wunderlich: Ich sollte das Sterben doch gewohnt sein! Wie viele habe ich dahingehen sehen – auf Schlachtfeldern und auf Krankenbetten! Aber – es ist und bleibt eine erschütternde Sache, wenn der lebendige Gott ruft: „Kommt wieder, Menschenkinder!“

Ich muss mich beeilen! Bald stehe ich vor dem großen Gebäude. Der Pförtner weiß schon Bescheid und weist mich auf die richtige Station.

Und nun betrete ich das Krankenzimmer. Im Bett ein noch junger Mann. Seine Frau sitzt erregt bei ihm. Als sie mich sieht, springt sie auf: „Herr Pfarrer, geben Sie meinem Mann schnell das Abendmahl!“

Ich schaue auf den Patienten. Der Tod hat das Gesicht schon gezeichnet. Der Kranke nimmt keine Notiz mehr von meinem Kommen.

Nein! Ich werde den Mann nicht mehr mit einer Abendmahlsfeier quälen. Aber es ist meine Überzeugung, dass die Sterbenden unser Wort noch hören, auch wenn der Leib keine Zeichen des Verständnisses mehr gibt. Und darum will ich den Mann in die Ewigkeit begleiten mit meinem Gebet und mit den Worten der Gnade.

Die Frau hält meine Hand fest: „Herr Pfarrer, schnell! Geben Sie meinem Manne das Abendmahl!“

Ich schiebe sie beiseite. Ihre Unruhe ist bedrückend. Dann beuge ich mich zu dem Kranken und sage ihm ganz langsam das Bibelwort: „Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde …“

Langsam schlägt er die Augen auf und sieht mich an. Die Frau packt meinen Arm: „Schnell! Das Abendmahl!“

Wenn ich doch die Frau zur Ruhe bringen könnte! Ich führe sie auf den Korridor hinaus und versuche ihr klar zu machen, dass ihr Verlangen sinnlos sei. „Sehen Sie, Ihr Mann ist schon viel zu elend. Das Abendmahl quält ihn jetzt nur.“

Sie schluchzt auf: „Aber er soll doch selig werden!“

Was soll man da sagen? „Frau!“ erkläre ich ihr erregt, „meinen Sie denn, eine äußerliche Zeremonie könne vom Gericht Gottes erretten? Wenn Ihr Mann den Herrn Jesus Christus kennt als seinen Heiland und an Ihn glaubt, dann ist er errettet – auch wenn er jetzt nicht das Abendmahl nimmt. Und ohne Jesus – ja, da hilft auch kein Abendmahl!“

Aber sie lässt nicht nach! Sie erzählt, wie sehr ihr Mann nach dieser Feier begehre. Sie drängt …

Ach, ich war damals ein junger Anfänger im Amt. Auf der Universität hatte mich kein Mensch auf solche Fälle vorbereitet. Hilflos stand ich im Zweifel, was zu tun sei. Dann gab ich nach.

Wir gingen in das Zimmer. Schnell richtete ich die Geräte. Der Mann war durch die leise Unruhe aufgewacht. Still und – wie mir schien – gesammelt, war er jetzt ganz bei der Sache.

„Dies ist der Kelch des neuen Testaments in meinem Blute, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden …“ In der unendlich stillen Nachtstunde standen diese gewaltigen Worte wie Felsen der ewigen Errettung …

Betend wartet der Krankenwärter im Hintergrund. Ich kannte ihn als einen von Herzen gläubigen Christen.

Als die Feier zu Ende war, sank der Mann befriedigt zurück in die Kissen. Ich verließ mit dem Wärter das Zimmer. Nun sollten die beiden Eheleute allein sein, um Abschied zu nehmen.

Aber – ich kam noch nicht fort. Der Wärter verwickelte mich in ein Gespräch. Und ich ließ es gern geschehen. Mir war, als sei diese Sache noch nicht zu Ende.

Es verging eine halbe Stunde. Alles war still.

„Wir wollen nach dem Kranken sehen“, sagte ich und öffnete die Tür.

Da bot sich mir ein verblüffendes Bild: aufrecht saß der Mann im Bette. Lachend rief er uns zu: „Ich bin über den Berg. Es geht besser!“ Und lachend und weinend warf sich die Frau an seinen Hals.

Es war erstaunlich. Aber warum sollte das nicht stimmen? Es läuft mancher durch die Strassen, den die Ärzte einmal aufgegeben hatten. Und die Freude der beiden steckte einfach an. Da musste man sich mitfreuen.

Ich nahm die Hand des Kranken: „Wie glücklich bin ich, dass ich das miterleben darf.“ Und nun ergriff mich dieser Wechsel der Situation mächtig. Ich musste noch ein Wort sagen: „Lieber Mann, als Sie an den Pforten der Ewigkeit standen, ist der Herr Jesus zu Ihnen gekommen mit Seiner Gnade. Lassen Sie nun nicht mehr von diesem Heiland!“

Da ging auf einmal ein abscheuliches Grinsen über das Gesicht des Mannes – es war wie ein Flammenschein der Hölle. Spöttisch lächelnd sagte er: „Ach, das alles brauche ich doch nicht mehr. Ich lebe ja wieder!“

Erschüttert stand ich. Jedes Wort blieb mir in der Kehle stecken. Und während ich noch so stand, griff der Patient plötzlich nach seinem Herzen und – sank langsam zurück. Er war tot!

Da bin ich in die Nacht geflohen …

 

 

 

 

„Aber – – – Christus lebt!“

 

Der junge Bauer auf dem einsamen westfälischen Hof machte große Augen. „Sie wollen Ihre Räder bei mir abstellen? Natürlich können Sie das! Aber – sagen Sie mal! – was ist denn eigentlich los? In meiner Scheune stehen sicher schon etwa hundert Fahrräder. Und – sehen Sie! – dahinten kommt schon wieder ein Trupp!“

Er spähte auf die regennasse Landstrasse hinaus. Leise fieselte ein Sprühregen. Man konnte nicht weit sehen. Der Wind trug uns einzelne Töne des Fahrtenliedes zu, das die heranziehende Schar sang.

„Die kommen zu Fuß!“ sagte der Bauer. „Einen Wimpel haben sie auch. So geht das nun schon den ganzen Nachmittag. Und alles zieht hinauf zur Schwedenschanze …“ Er zeigte auf eine nebelverhangene Kuppe des Teutoburger Waldes.

„Kommen Sie doch mit!“ luden wir ihn ein, während wir die Räder in der Scheune abstellten. Er überlegte einen Augenblick, ging dann ins Haus und kam in einem Lodenmantel zurück.

„Jetzt kann's losgehen!“ lachte er. „Nun bin ich aber gespannt!“ Während wir auf steilen, kleinen Wegen in die Berge stiegen, erzählten wir ihm, die evangelische Jugend habe an alle jugendbewegten Kreise die Parole aufgegeben: „Wir treffen uns am Sonnabend vor Ostern auf der Schwedenschanze zu Aussprache und Osterfeuer!“ Diese Botschaft sei nur von Mund zu Mund durchgegeben worden. Und nun habe sich eben die Jugend aller Schattierungen aufgemacht.

„Ja, – aber – bei diesem Wetter?!“ meinte er etwas erstaunt. „Das habe ich doch gesehen, dass manche von weit her kommen.“

Wir lachten. Es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, in der eine herrliche und seltsame Bewegung durch die Jugend ging. Man hatte bei Fahrt und Lager eine neue Welt gefunden. Und in dem entschlossenen Willen zur inneren Wahrhaftigkeit, in dem neuen Lebensstil und in der Ablehnung der verrotteten „alten Welt“ verstand man sich mit der Jugend anderer Färbung tausendmal besser als mit den „Alten“ des eigenen Lagers.

Über solchen Gesprächen hatten wir die kahle Kuppe der Schwedenschanze erreicht. Fröhliche Rufe empfingen uns. Der Regenwind peitschte die Wimpel von Pfadfindern, evangelischer Jugend, sozialistischen Gruppen, „Landsknechten“, Gilden – und was alles so aufbrach in jener stürmischen Zeit.

Und dann saßen wir unter ein paar alten Bäumen. Das Gespräch begann. Wir vergaßen Sturm, Regen, Nässe und Nebel über dem heißen Ringen.

Die neue Welt! Darum ging es! Und wir Christen sagten, da müsse man davon ausgehen, dass ja morgen der Tag der Auferstehung Jesu sei. In diesem Ereignis sei die neue Welt angebrochen. Ohne den lebendigen Herrn Jesus müsse alles, was wir ersehnten wieder im Alten untergehen. Wir bezeugten das aus unserem Wissen um Jesus, ohne zu ahnen, wie schrecklich die Zukunft uns Recht geben würde.

Ich weiß nicht mehr, was alles in jener hereinbrechenden Nacht vor Ostern gesagt wurde. Nur der Schluss unseres Gesprächs hat sich mir unvergesslich eingeprägt.

Fackeln waren angezündet worden. Und im flackernden Lichte stand ein erregter junger Mann und rief: „Schluss mit dem Christentum! Das hat 2000 Jahre Zeit gehabt, die Welt zu erneuern. Und was ist geschehen? In seinem Namen sind Menschen gemartert und getötet worden! In seinem Namen ist eine Welt von Heuchelei aufgebaut worden! Schluss damit! Ein Neues muss kommen! Das Christentum ist tot! Das Christentum ist tot!“

Plötzlich stand neben ihm ein blonder junger Westfale. Ich sehe ihn noch vor mir, wie der Wind an seinem Haarschopf zerrte. Mit einer entschlossenen Handbewegung gebot er dem anderen Schweigen. Und dann rief er – und es war ein unendlicher Jubel in seiner Stimme: „Gut! Mag sein! Es mag sein, dass das Christentum tot ist. Aber – Jesus Christus lebt!

Auf einmal war tiefes Schweigen über den Hunderten von jungen Menschen.

Und dann rief einer mit heller Stimme: „Nun das Osterfeuer!“

Wir liefen zu dem riesigen Holzstoss. Das Holz war nass, und das Feuer musste sich erst durchsetzen. Aber dann prasselte es hoch auf.

Und während der Sturm das Feuer peitschte, sangen wir jauchzend:

 

Du hast in dieser armen Welt

Ein Feuer angefacht,

Und deine heilge Rechte hält

Noch immer drüber Wacht.

So brennt's und lodert's da und dort

Trotz Wind und Wasser immerfort;

O schür die Glut, dass Funken sprühn

Lass auch in uns dein Feuer glühn,

Lass Funken sprühn, dass unsre Herzen glüh'n!

 

Heut zünden wir ein Feuer an

Und weihen dir die Nacht;

Wir freuen uns wie Kinder dran,

Dass du uns Licht gebracht.

Ein Licht aus unsres Vaters Welt

Bist du in unsre Nacht gestellt;

Dein Leben leucht' wie Sonnenschein

In unsre kalte Welt hinein;

Zieh uns hinein in deinen Sonnenschein.

A. Maurer

 

Es war lange nach Mitternacht, als wir mit dem jungen Bauern hinabstiegen. Der Regen hatte aufgehört. Über uns leuchteten die Sterne.

Kein Wort wurde mehr gesprochen. Nur ganz von ferne hörte man den Gesang einer Schar, die über den Kamm des Gebirges davonzog. Leise sangen wir mit: „Das Reich ist dein, Herr Jesu Christ, das Reich, um das wir fleh'n …“

 

 

 

 

Das apostolische Glaubensbekenntnis auf dem Fabrikhof

 

Wenn mein Freund Hans einem die Hand drückt, dann weiß man, was man hat – sowohl am Händedruck wie an dem ganzen Mann.

Hans betont manchmal mit Nachdruck: „Ich bin nur ein einfacher Arbeiter!“ Aber ich wünschte wohl, dass alle „Gebildeten“ solch einen weiten Blick und solch eine innere Freiheit hätten wie er.

Hans steht mir sehr nahe. Mit ein paar andern Männern kommt er an jedem Sonntagvormittag vor dem Gottesdienst in meine Sakristei. Dann rufen wir zusammen unsern himmlischen Vater an, dass Er Sein Wort mächtig mache in dem Gottesdienst.

Aber nun wird mein Leser schon ungeduldig. Denn er will ja nicht den Hans kennen lernen, sondern die Geschichte hören, die damals auf dem Kruppschen Werkshof sich abspielte.

„Damals“ – das war im Jahre 1934, als die germanischen Religionsunternehmungen in Deutschland hervorsprossten wie das Gras nach dem Regen. Professoren und Gauleiter, Generalsfrauen und HJ-Führer wetteiferten darin, ihre abstrusen Ideen als nordische Religion anzupreisen. Eines schien klar: Das Christentum war abgetan.

Damals also geschah es, dass in einer Werkspause Hans mit einer großen Schar von Arbeitern im Fabrikhof stand. Man unterhielt sich. Und bald kam das Gespräch auch auf die Religion.

Da war namentlich einer, der sich mächtig wichtig nahm. Der redete große Worte. Und dann ergoss er seinen Spott über Hans, der „immer noch“ zur Kirche ginge. Aber damit sei es nun bald zu Ende.

Hans antwortete, so gut er es konnte. Die Diskussion wurde schnell heftig. Immer mehr Arbeiter drängten sich um die beiden.

Da sagte Hans: „Ich habe den Eindruck, dass wir aneinander vorbeireden. Jetzt sollte zuerst einmal der von uns beiden deutlich sagen, was er denn eigentlich glaubt, damit unsere Standpunkte klar werden. Ich will den Anfang machen. Und dann sagst Du, was Du glaubst.“

Und dann legte Hans laut und vernehmlich los: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden. Und an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn …“

Es wurde sehr still. In der Kirche – ja, da war dies apostolische Bekenntnis oft gesprochen worden. Aber hier! Zwischen Werkshallen auf dem Fabrikhof! Unter rauen Männern im Arbeitskleid!

Hans ließ nichts aus: „… Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen! – So, das ist mein Glaubensbekenntnis. Und nun kommst Du dran! Sage uns Dein Bekenntnis!“

Der andre fing an zu stottern: „Hör mal, … pass einmal auf! …“

Aber nun war Hans eiskalt: „Nix – pass einmal auf! Du sollst uns sagen, was Du glaubst!“

Wieder fing der andre an zu stottern: „Also – mit dem Christentum – das ist doch – das geht doch nicht – – –.“

Hans war unerbittlich: „Du sollst nicht sagen, was am Christentum verkehrt ist. Dass Du gegen uns bist, haben wir ja nun begriffen. Du sollst uns jetzt positiv sagen, was Du denn glaubst. Los, fang an!“

Atemlos lauschte ringsum das Volk dem Wortgefecht. Jetzt kamen ermunternde Stimmen: „Los, Karl! Sag es doch!“

Der stand jetzt mit einem puterroten Kopfe da. Endlich brach es aus ihm heraus: „Was ich glaube? Was ich glaube! – Ja, das ist noch nicht ganz raus! Da arbeiten sie noch dran in Berlin!! ...“

Da brach ein Gelächter aus. Und in das Lärmen und Lachen hinein schrie der Ärmste zornig: „Wenn es aber heraus ist, dann glaub ich dran! Darauf könnt Ihr Euch verlassen ...!“

Man glaubte es ihm. Das bezweifelte nun keiner...

Ich habe oft gedacht, man müsste es mehr machen wie der Hans. Man müsste die Bestreiter des Evangeliums nach ihrem eigenen Glauben fragen. Da käme es dann schnell heraus, dass die meisten groß sind im Negativen. Aber wenn es darum geht, etwas Positives vorzubringen, sind sie meist sehr, sehr arme Leute.

O Hans! Ich würde dir einen Lehrstuhl für praktische Theologie geben!

 

 

 

 

Die Synagoge

 

Gott hat manchmal seltsame und wunderliche Prediger. Der Arzt Lukas berichtet uns in seinem „Evangelium“, dass ein gehenkter Mörder in seiner Todesstunde vom Kreuz herab eine unerhört eindrückliche Predigt gehalten habe.

Und das Alte Testament weiß, einmal zu erzählen, dass sogar ein richtiger, vierbeiniger Esel geredet habe.

Manche glauben diese Geschichte nicht. Ich glaube sie. Denn ich weiß, dass sich Gott oft wunderliche Prediger Seiner Wahrheit erwählt.

Unter diesen ist mir besonders eindrücklich ein großes, totes und ausgebranntes Gebäude. So oft ich daran vorbeikomme, fängt dies Haus an, mir eine Predigt zu halten. Und ich weiß, dass es eine ganze Nacht lang zu vielen hundert Menschen gesprochen hat.

Dies seltsame, predigende Gebäude steht mitten in einer lauten Großstadt des Ruhrgebietes.

Hier muss einmal eine reiche jüdische Gemeinde gewesen sein, dass sie sich solch eine großartige Synagoge hat bauen können. Es ist ein riesiger Kuppelbau aus grauem Naturstein! Vor vielen Jahren habe ich den Bau einmal von innen angesehen. Die Pracht dort entsprach ganz dem wundervollen Äußeren. Man sah, dass ein großer Künstler dies Haus entworfen und gebaut hatte.

Dann kam jener schreckliche Tag, der für Jahrhunderte ein dunkler Fleck auf der Geschichte unseres Landes sein wird; jener Tag, da das deutsche Volk mit einem Male vergaß, dass es einen Luther, Kant, Bach, Goethe gehabt hat; da es mit einem riesigen Satz aus dem 20. Jahrhundert in das Mittelalter zurücksprang …

Es raste der Pöbel; die jüdischen Geschäfte wurden geplündert; die Wohnungen der Juden demoliert; Unschuldige getreten, erschlagen und erschossen …

Ein wüster Haufe drang auch in die herrliche Synagoge und steckte sie in Brand. Was nur brennbar war, wurde ein Raub der Flammen. Aber am Ende stand noch der riesige, nun so kahle Kuppelbau. Die großen Steinquadern hatten dem Feuer getrotzt.

Damals fing dies Gebäude an, peinlich zu werden. Es redete noch nicht. Aber in seiner toten Schweigsamkeit begann es, die Menschen zu beunruhigen. Die Lautsprecher dröhnten von dem „deutschen Kulturwillen“. – Und da stand dies Haus! Über dem Portal konnte jeder es noch lesen: „Mein Haus soll ein Bethaus sein vor allen Völkern!“ Da stand es mit seinen rauchgeschwärzten Mauern und seinen leeren Fensteröffnungen.

Man sprach immer wieder davon, dies Haus müsse abgerissen werden. Aber – es kam nicht dazu. Es war, als habe man den Mut verloren, noch einmal die Hand an dies stumme, riesige Gebäude zu legen.

Und die Synagoge schwieg – schwieg – als warte sie auf den Tag, da sie würde reden können.

Und der kam!

Dieser Tag fing in der Grosstadt an wie alle andern. Die Kaufleute gingen in ihre Geschäfte die Hausfrauen hatten Wäsche oder standen in Schlangen vor den Läden, in denen die Waren schon knapp wurden; die Bergleute fuhren in die Tiefe, und andre kamen herauf … Es war wie immer. So verging der Tag. Es kam der Abend. Dunkel lagen die Straßen. Alle Häuser waren verdunkelt, alle Lichter draußen gelöscht. Es war ja Krieg, und schon war manche Bombe über der Stadt gefallen.

Um 21 Uhr tönten die Sirenen. Die Menschen liefen in die Keller … und dann kam der Schrecken!

Der erste große Angriff mit „Bombenteppich“ und „Flächenbränden“. Die Menschen in den Kellern spürten die furchtbare Hitze. Sie stürzten heraus! Nein! Viele kamen nicht mehr heraus. Sie fanden die Zugänge verschüttet und verbrannten bei lebendigem Leibe …

Aber die herauskamen, entsetzten sich. Rings um die Synagoge waren enge, dicht besiedelte Straßen. Und nun stand alles in Flammen. Wohin man sich auch wandte, – Feuer! Feuer! Dieser furchtbare Brand schaffte sich selbst den Sturm, der das Feuer brausend weitertrug.

Die Menschen hüllten sich in nasse Tücher und machten sich auf, irgendwo Schutz zu suchen. Aber die Straßenausgänge waren mit Trümmern versperrt. Der Rauch nahm ihnen den Atem. Da sank manch einer um und wurde von stürzenden Mauern erschlagen, vom Rauch erstickt, vom Feuer verschlungen …

Die sich durchschlugen, suchten mit vor Angst irren Augen nach einem Ort, der Schutz böte vor dem Feuer. Sie fanden nur einen: die riesige, kahle, längst ausgebrannte Synagoge. Hunderte haben in jener schrecklichen Nacht dort Rettung gefunden.

Da saßen sie, eng gedrängt und zitternd auf dem nackten Boden, während draußen der schauerliche Tod umging. Da saßen sie und konnten nicht weglaufen, als nun die Synagoge anfing zu predigen.

Es war eine schreckliche Predigt. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten.“

Da war manch einer, der hatte an jenem Frühlingstag mitgemacht, als man das Feuer an diese Synagoge legte. Und die andern hatten neugierig zugesehen, hatten vielleicht gelacht. Sicher hatten sie geschwiegen. Aber – wer hatte an Gott gedacht, an Gott, der nicht schweigt?

Damals hatte das Feuer dies eine Gebäude verzehrt. Nun ging die Stadt im Feuer unter … Und ausgerechnet dies Gebäude war nun Zuflucht!

Die Synagoge predigte. Und selbst der Verstockteste hat in jener Nacht des Grauens die Predigt gehört: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten ...“

Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende.

Unter den Flüchtlingen war einer, dem hielt die Synagoge eine besondere Predigt.

Er war ein einfacher Mann, der einen kümmerlichen Lohn auf einer Kohlenzeche verdiente. Aber er gehörte zu den Leuten, von denen der Herr Jesus sagte, dass sie „reich sind in Gott“.

Dieser Mann saß unter dem bestürzten Volk und war weder sehr verwundert noch unruhig. Verwundert war er nicht, weil er aus dem Wort Gottes längst wusste, dass dies Volk schrecklichen Gerichten entgegengehen musste. Und unruhig war er nicht, weil er Frieden mit Gott hatte.

So saß er nun in seiner Ecke, nachdem er vielen Leuten zurechtgeholfen hatte. Er war müde. Aber schlafen konnte man ja nicht.

Und da fing die Synagoge an, ihm ihre besondere Predigt zu halten. Sie fragte: „Weißt du auch, warum ihr hier geborgen seid vor dem Feuer?“ Und er antwortete: „Ja, weil hier das Feuer schon einmal getobt und alles, was brennbar war, verzehrt hat.“

„Weißt du auch“, fragte die Synagoge, „dass es noch ein andres und schrecklicheres Feuer gibt als dies, vor dem ihr euch hier geborgen habt?“

„Das weiß ich wohl“, sagte der Mann, „das ist das schreckliche Feuer des Gerichtes und Zornes Gottes, das einmal entbrennen wird über alles ungöttliche und unheilige Wesen der Menschen.“

„Da weißt du ja schon viel!“ sagte die Synagoge. „Aber meinst du, dass du dann auch eine Zuflucht finden wirst, wenn dies Feuer entbrennt? Meinst du, dass dann auch solch eine Stelle da sein wird, die Zuflucht bieten kann, weil das Feuer schon darüber ging?“

Nun lächelte der Mann inmitten des erschrockenen und betrübten Volkes und sagte: „O, ich weiß, wo du hinaus willst. Ja, es gibt einen einzigen Ort, über den das Feuer des Zornes Gottes schon ging und der darum Zuflucht bietet: Das ist das Kreuz Jesu auf Golgatha.“

„Du hast recht!“ sagte die Synagoge. „Sieh mich nur an! Wie sicher seid ihr in meinem Schoße, weil ich früher das Feuer erlitten habe. Und so ist man sicher unter dem Kreuz Jesu. Wie hat dort das Feuer gebrannt, als Jesus rief: ,Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen!' – Jetzt ist man in alle Ewigkeit dort sicher vor dem Gericht Gottes.“

Da freute sich der einfache Mann, dass er um diese ewige Zuflucht wusste. Dann legte er sich, so gut es bei dem Gedränge eben möglich war, zurecht und schlief nun doch ein – er ruhte so friedlich und getröstet wie ein Kind am Herzen der Mutter.

 

 

 

 

Die starke Hand

 

Engadin! – Der Name klingt wie ein Gedicht. Wir hatten einen Sommertag lang die Schönheit dieses herrlichen Landes genossen. Nun war es Abend. Wir bummelten noch ein wenig durch die Strassen von Pontresina. Kurgäste aus aller Herren Länder, Hotelburschen, Sennen, Alte und Junge, Reiche und Arme belebten die Straßen.

Auf einmal schritten zwei junge Männer an uns vorbei, die aller Blicke auf sich zogen: straff, braungebrannt, gingen sie mit langen, federnden Schritten gleichmütig durch die Menge.

„Das sind zwei berühmte Bergführer!“ sagte jemand.

Wir sahen ihnen nach. Ein Hauch von Abenteuern lag über ihnen. Und dann kam die Rede natürlich auf die Bergführer.

Während des Gesprächs gingen meine Blicke immer wieder hinüber zu den weißen Schneegipfeln der Bernina, die leise im Abend verdämmernd über die dunklen Tannenwälder herübergrüßten.

Mein Schweizer Freund folgte meinen Blicken. „Ja, sieh dort den scharfen Grat! Das ist der Bianco-Grat. Da hat es ein Bergführer einmal erlebt, dass Amerikaner schwindlig wurde. Er kauerte sich nieder und war durch alles Zureden nicht zu bewegen, weiterzugehen. Da erhob der Führer drohend seinen Eispickel und schrie: „Ich schlag' Sie jetzt über den Grat hinunter, wenn Sie nicht sofort weitergehen!“ Da erschrak der Amerikaner so fürchterlich, dass er aufsprang und – um sein Lehen zu retten – die beängstigende Gratwanderung fortsetzte. Und als sie wieder im Tal waren, da gab der reiche Mann dem Führer einen Extra-Dollarschein. Denn er hatte begriffen, wie prächtig ihm der Führer geholfen hatte.“

„Von dem Bianco-Grat weiß ich noch eine andre Bergführer-Geschichte“, sagte jetzt ein anderer Freund. „Da geht es steil bergauf durch harten Schnee, rechts und links aber schauerlich hinunter in endlose Tiefen. Und dann kommt da eine Stelle – da ist der Grat ausgebrochen ...“

„Da hört es einfach auf?“ frage ich erschrocken.

„Nun ja, es ist nicht so schlimm. Aber man muss eben doch etwas über einen Meter springen zu der Stelle hin, wo der Grat weitergeht.“

Uns, die wir aus der Ebene kommen, schaudert ein wenig hei diesem Bild. Aber mein Freund fährt fort: „Nun, für geübte Leute ist es nicht gefährlich. Also – dort ist nun die Geschichte passiert. Da geht eine Gesellschaft über den Grat. Sie kommen an diese Stelle. Der Führer springt voran. Der Nächste zögert. Da streckt der Führer ihm die Hand hin.

Der Ängstliche sieht nachdenklich auf die Hand – er überlegt, ob er es wagen kann. Da schüttelt der Bergführer nachdrücklich diese seine sehnige, braungebrannte Hand und ruft: „Sie können es getrost wagen. Diese Hand hat nie jemand losgelassen!”

Was nun noch weiter gesprochen wurde, habe ich nicht mehr gehört. Denn meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Ich sah im Geist diese starke Hand vor mir und hörte das unendlich stolze Wort: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“ Aber vor meinen Augen änderte sich das Bild der Hand. Die Hand, die ich sah, war durchbohrt.

Mein Leben mit Jesus ist auch eine Gratwanderung. Seitdem ich mein Leben an Ihn angeseilt habe, ging es oft über steile und gefährliche Wege. Und immer wieder wollte mir schwindlig werden. Immer wieder sagte das verzagte Herz: „Man kann nicht einfach gegen alle Berechnung nur auf Jesus hin leben.“ Aber dann war es immer so, wie dort am Bianco-Grat. Er streckte mir Seine Hand, die für mich durchbohrt war, entgegen und sagte: „Diese Hand hat noch nie jemand losgelassen.“

Ja, so ist es! O, diese starke Hand Jesu! Man kann sich ihr getrost anvertrauen. Jesus sagt im 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums: „Niemand soll die Meinen aus meiner Hand reißen.“ Und ich bin gewiss, dass niemand und nichts Ihn zum Lügner machen wird.

 

 

 

 

Das Buch des Lebens

 

Es war eine jener trostlosen Straßen, wie sie überall in großen Industriestädten zu finden sind: endlose Reihen geschmackloser Mietskasernen, grau geworden vom Ruß, der aus unzähligen Schloten quillt, – rasselnde und bimmelnde Straßenbahnen, – Lastautos, die lärmend über das schlechte Pflaster holpern, – Kneipen, aus denen kreischend Radiomusik ertönt – – und dazwischen Menschen! Menschen! Dicht gedrängt! Die Not des Lebens steht ihnen im Gesicht geschrieben.

Und Kinder! Scharen von Kindern! Sie spielen unbekümmert und bringen es fertig, in dieser traurigen Umgebung dasselbe Jugendparadies zu finden wie andre „im schönsten Wiesengrunde“.

Ein paar Buben rennen mich beinahe um. Sie kommen mir gerade recht. Ich bin erst seit kurzem in dieser Stadt und kenne die Gegend noch nicht genau. Nun soll ich einen Kranken besuchen, der „Auf der Soldatenwiese“ wohnt. Wo in aller Welt mag hier die Soldatenwiese sein? So weit ich sehe: nirgends etwas Grünes!

So halte ich nun den Buben, der beim eifrigen Spiel fest: „Weißt Du, wo die Soldatenwiese ist?“

„Ja, das ist doch das Barackenlager hinter dem alten Friedhof.“ „Wo ist denn der alte Friedhof? Kannst Du mir nicht den Weg dahin zeigen?“

Er schaute sich nach seinen Freunden um. Die haben sich neugierig herzu gemacht. „Geht ihr mit?“ fragte er. Und ich lerne hier wieder die Macht der „Horde“ kennen. Wenn die andern „Nein!“ sagen, wird er um nichts in der Welt zu bewegen sein, mir den Weg zu weisen. Aber ich habe Glück: sie wollen alle mit. Und so ziehe ich weiter – nun mit einem stattlichen Gefolge von 12 Buben.

Sie erwarten offenbar etwas von mir. Gut! Ich werde sie nicht enttäuschen. „Wollt ihr eine Geschichte hören?“

„Klar! Fangen Sie an!“

Und während wir uns durch den Lärm und das Gedränge schieben, erzähle ich ihnen die biblische Geschichte, wie die Jünger beim Sturm auf dem See Genezareth in große Not gerieten, wie aber der Herr Jesus dann mit Seinem machtvollen Wort den Sturm stillte.

Buben hören gern von Jesus. Und so gefiel ihnen diese Geschichte so gut, dass sie noch mehr verlangten. Ich erzählte. Ärgerlich, erstaunt, lächelnd und auch wütend schauten uns die Leute nach. Denn ich musste ja recht laut reden, damit ich bei dem Lärm verstanden wurde. Und jedenfalls war der Name Jesus auf solch einer Straße nicht gerade etwas Alltägliches.

Inzwischen hatten wir den alten Friedhof erreicht. Hier bogen wir ab in einen ganz schmalen Weg, der am Kirchhofgitter entlang führte.

Da hielt auf einmal einer der Buben an und sagte erstaunt: „Wie still es hier ist!“ Ich musste lächeln: solchen Großstadtjungen fällt es nicht auf, wenn es abscheulich laut ist, sondern wenn es still wird.

Aber wir blieben nun alle stehen und lauschten hinein in die Stille des alten Friedhofs. Man hörte nur den Wind in den Bäumen rauschen. Und von fern den Lärm der Straße.

„Buben!“ sagte ich, „jetzt ist es da drin im Friedhof ganz still. Aber es wird einmal ein Tag kommen, an dem es hier ein großmächtiges Leben und Gedränge gibt.“

„Wenn der Friedhof abgeräumt wird!“ erklärt einer, der Bescheid weiß.

„Nein! Das meine ich nicht. Ich denke an den Tag, „wenn einst die Posaun' erklingt, die auch durch die Gräber dringt.“ Und nun erzähle ich ihnen die unerhörte Botschaft der Bibel, dass die Toten auferstehen werden; und dass der Herr Jesus als der Erstling schon auferstanden ist.

Atemlos hören die Buben mir zu.

„Und dann?“ fragt einer.

„Ja, seht, da war ein Jünger des Herrn Jesus. Dem hat Gott in wunderbarer Weise gezeigt, was dann kommt. Ich will es euch in den Worten dieses Johannes sagen: ,Und ich sah einen großen weißen Stuhl und den, der darauf saß; vor des Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl'.“

Schweigend haben alle zugehört. Aber es ist fast, als seien diese gewaltigen Worte der Offenbarung zu groß für sie. Ich muss es ihnen in ihre Sprache übersetzen:

„Bub, wie heißest du?“ frage ich einen.

„Ich? Ich heiße Eduard.“

„Also Eduard, pass einmal auf. Da steht also eine unübersehbare Menge vor diesem weißen Thron. Einer nach dem andern wird aufgerufen. Auf einmal ruft ein Engel mit starker Stimme: , Eduard!' Und dann steht der Eduard ganz allein vor Gott. Und da sagt Gott zu dem starken Engel Gabriel: , Sieh doch nach, ob der Eduard im Buch des Lebens steht.' Und der Engel blättert in dem großen Buch und sucht – – er schlägt die nächste Seite um – nichts! – er sucht weiter – die übernächste Seite – – wieder nichts – er blättert weiter – – und sucht – – –“

Die Buben halten vor Spannung den Atem an.

Und ich erzähle weiter. Über dem Erzählen wird es mir selbst von neuem ganz eindringlich groß, dass wirklich unser ganzes Leben und alle Welt- und Menschengeschichte auf das große Gericht Gottes zueilen, und wie ernst doch Gott uns nimmt, dass ein jeder sein Gericht erleben und erleiden muss.

„Immer noch sucht der Engel Gabriel. Eine gewaltige Stille liegt über der ungeheuren Versammlung. Auf einmal ruft der Engel Gabriel laut: ,Da steht der Eduard im Buch des Lebens!'“

„Ha, das wäre großartig!“ sagt aufatmend der Eduard.

„Ja, Eduard“, sage ich, „das wäre herrlich, wenn dein Name einmal im Buche des Lebens stünde! Und ich will dir auch sagen, wie das geschehen kann: Schenke du nur dein ganzes Herz dem Herrn Jesus, von dem ich euch erzählt habe. Dann kann es dir nicht fehlen … Aber da vorn sehe ich schon das Barackenlager. Das wird ja wohl die Soldatenwiese sein. Da danke ich euch auch recht herzlich für die Begleitung!“

Und während die Buben laut rufend davonziehen, geht mir der liebe alte Vers durch den Sinn:

 

„Schreib' meinen Nam'n aufs Beste

Ins Buch des Lebens ein,

Und bind' mein Seel fein feste

Ins schöne Bündelein

Der’r, die im Himmel grünen

Und vor dir leben frei:

So will ich ewig rühmen,

Dass dein Herz treue sei.“

 

 

 

 

Debora im Luftschutzkeller

 

Offen gestanden – ich habe immer ein wenig Angst vor der alten „Mutter Berger“ gehabt. Denn sie hatte die Pfarrer im Verdacht, dass es ihnen an dem rechten Eifer für das Reich Gottes fehle. Sie wird wohl in einem langen Leben ihre Erfahrungen gesammelt haben.

Und weil sie nicht zu den Leuten gehörte, die hinter dem Rücken kritisieren, so besuchte sie mich ab und zu und sagte mir ihre Meinung oder gab mir Aufträge. Das war nicht immer ganz leicht zu ertragen. Aber oft musste ich ihr auch Recht geben. Und wenn sie dann mit einem betete zum Schluss des Gesprächs, dann war alles gut. Ihre Gebete waren gewaltig: Da spürte man das Erschrecken vor Gottes Majestät. Da brach eine brennende Liebe zum Herrn Jesus und zu den Menschenkindern heraus. Da wurde man erschüttert durch das Eifern um das Reich und die Ehre Gottes.

So ähnlich stelle ich mir Debora, das Weib Lapidoths, vor, die als Richterin in Israel die Kanaaniter schlug. Die Kenner der Bibel wissen, dass man im 4. Kapitel des Richterbuches von ihr lesen kann. Und ich kam mir neben der Mutter Berger immer wie der Barak vor, von dem dasselbe Kapitel berichtet, dass er nicht ganz mitkam neben dem gewaltigen Glauben der Debora.

Der furchtbare Bombenkrieg brach über unsre Stadt Essen herein. Immer häufiger wiederholten sich die Schreckensnächte, in denen verzweifelte Menschen durch die Strassen irrten und nicht wussten, wo sie sich vor dem Feuer bergen sollten.

Hunderttausende flohen aufs Land. Als man der Mutter Berger nahe legte, sie solle sich doch auch evakuieren lassen, tat sie das kurz ab: „Ich habe hier meine Aufgabe.“

In der Tat, die hatte sie! Wie viele mögen sich an dieser glaubensstarken Frau aufgerichtet haben in jenen schrecklichen Jahren!

Eines Nachts saß sie wieder im Keller mit den anderen Hausbewohnern. Das waren gottlose Leute, die über die alte Frau nur lächelten.

Dann kam der Angriff. Wer je solch eine Stunde miterlebt hat, weiß, welch eine Qual das für die Nerven ist: das Heulen der Sprengbomben, das teuflische Zischen der Brandbomben, das zerreißende Krachen der Explosionen. Da wird eine Minute zur Ewigkeit. Und solch ein Angriff dauerte oft 50 Minuten!

Die Leute im Keller schrieen. Sie klammerten sich aneinander. Jeden Augenblick konnte man verschüttet oder zerrissen werden.

Da rief auf einmal eine Frau: „Mutter Berger! Beten Sie doch!“

Mutter Berger, die bisher gelassen und ruhig dagesessen hatte, fuhr auf: „Wie könnte ich jetzt mit Euch den Gott anrufen, den Ihr bisher verachtet habt?“

„Mutter Berger, beten Sie!“ schrie die Frau.

„Ich will es tun“, sagte Mutter Berger, „wenn Ihr von jetzt an den Herrn suchen wollt!“

„Ja, das wollen wir!“ rief es aus allen Ecken des Kellers, in dem das Entsetzen nun völlig Platz gegriffen hatte. Das Licht war längst ausgegangen. Der Keller bebte wie ein Schiff im Sturm. Die Bomben krachten, heulten, zischten. Kalkstaub erfüllte die Luft. Man saß wirklich im Rachen des Todes.

„Ja, wir wollen Gott suchen!“ riefen die Leute. „Wir werden am nächsten Sonntag mit Ihnen zur Kirche gehen!“

Und dann betete diese arme, alte, schwache Frau, die im Glauben stark war, und der ihr Gott Ruhe und Gelassenheit gab, laut und tröstlich. Sie stellte diesen Keller mit all seinen verlorenen Insassen in die Hand ihres Herrn. Sie dankte Ihm für Seine Gegenwart und rief Ihn mit starker Stimme um Hilfe, Kraft und Trost an.

Über solchem Gebet des Glaubens wurde es still. Die Leute erlebten etwas von dem Frieden, „der höher ist als alle Vernunft“.

Dann war endlich der schauerliche Angriff vorüber. Still gingen alle in ihre Wohnungen – – –

Und nun kam der Sonntagmorgen. Mutter Berger ging von Tür zu Tür und lud ein zum Gottesdienst: „Ihr habt mir versprochen, den Herrn zu suchen. Jetzt kommt mit mir, Sein Wort zu hören!“

Dann musste sie schließlich doch ganz allein gehen. In der einen Wohnung schlug man ihr vor der Nase die Türe zu. In einer anderen stammelte man verlegene Entschuldigungen. In einer dritten jagte man sie mit einem Fluch weg, und in der vierten lachte man sie einfach aus – – –

Es war 14 Tage später: Wieder eine Schreckensnacht! Wieder saßen die Leute im Keller. Wieder war das Licht verlöscht. Wieder heulten, krachten und zischten die Bomben über einer sterbenden Stadt.

Die Leute im Keller von Mutter Berger wollten diesmal stark sein. Sie hatten sich ein wenig geschämt, dass sie so „die Nerven verloren hatten“. Aber als eine halbe Stunde vergangen war und der Schrecken sich nur immer mehr steigerte, da war es mit ihrer Stärke vorbei. Und dann fiel ihnen wohl ein, wie ihre Herzen über dem starken Gebet der alten Frau ruhig geworden waren.

Die Mutter Berger war ja wieder unter ihnen. Ja, gelassen und still versunken saß sie in einer Ecke.

Und dann schlug eine schwere Bombe ganz in der Nähe ein. Man hörte sie heranheulen … eine Schrecksekunde … dann ein ohrenbetäubendes Krachen, Bersten … Kalkstaub … man meinte, man müsse ersticken …

Da schrie ein Mann entsetzt: „Frau Berger! Beten Sie doch!“ Und alle fielen ein: „Mutter Berger! Beten Sie!“

Einen kurzen Augenblick war es still. Man hörte nur das Getöse des Angriffs. Dann kam die Stimme der Mutter Berger durch die Dunkelheit – und man wusste nicht, ob sie hart oder traurig klang: „Mit Euch kann ich nicht mehr beten. Ihr verachtet ja meinen Gott!“

Und sie überließ die Leute ihrem Entsetzen – –

Debora im Luftschutzkeller! – –

Mutter Berger wurde später schwer krebskrank. Lange lag sie im Krankenhaus. Dann schickte man die alte Witwe als einen hoffnungslosen Fall nach Hause.

Bald nachher trafen wir sie auf der Straße. Sie war – wie so oft – auf Wegen der Liebe. Sie konnte es nicht lassen, den Menschenkindern, an denen sie eine Aufgabe hatte, nachzugehen.

Wir waren entsetzt: „Mutter Berger! Sie sind doch krank! Wie können Sie so herumlaufen! Was macht denn der Krebs?“

Da winkte sie etwas ärgerlich mit der Hand und sagte dann gelassen: „Was geht mich mein Krebs an?“

So blieb sie stark und getrost, bis ihr Herr sie heim rief zur Ruhe der Kinder Gottes. Wir aber trauerten um eine „Mutter in Israel“.

 

 

 

 

Was sie dachten – – –

 

Beerdigung!

Wir stehen um das offene Grab. Der Mann, dessen Sarg da langsam in die Tiefe gleitet, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. So wundert es mich nicht, dass eine große Menschenmenge sich eingefunden hat.

Ein leiser Regen setzt ein. Die Leichenträger werfen eilig eine Unmenge von nassen Kränzen von den schwarzen Karren. Dann verschwinden sie.

Nun spricht ein Pfarrer.

Heimlich schaue ich mich ein wenig um. Lautlos stehen die Leute und horchen zu … Ja, hören sie wirklich? Ich möchte, ich könnte in die Köpfe und Herzen hineinsehen. Das müsste doch interessant sein, festzustellen, was jetzt jeder denkt. Ob ich einmal versuche, es zu erraten?

Der dicke Herr mit dem spiegelblanken Zylinder (schaut verstohlen auf seine Uhr): Himmel, wenn der sich da vorne doch ein bisschen beeilen wollte, dann könnte ich noch eine Stunde auf mein Büro und die Post erledigen. So eine Beerdigung nimmt schrecklich viel Zeit weg!

Die schlanke Frau an seiner Seite: Schrecklich, so ein Grab! Nun liegt der arme Kerl da unten! Vor 14 Tagen hat er noch ein paar Flaschen Mosel mit uns geleert. Und nun …! Brr! Wenn man denkt, dass sich jetzt die Würmer an ihn heranmachen! Und dass man selber mal so …! Ich möchte, es wäre zu Ende!

Das junge Mädchen: Der Dr. X. schaut dauernd zu mir herüber. Und dabei! ... wie sehe ich aus! Schwarz steht mir einfach nicht! Ob er es wohl merkt?

Die arme Verwandte dort am Grab: Ja, der hat sich aufs Geschäft verstanden! Aber dass er nur einmal an uns gedacht und uns etwas hätte zukommen lassen … Nein! Lieber machte er schöne und kostspielige Ferienreisen! Ha, nun nützt ihm sein ganzes Geld nichts mehr! Ob er wohl im Testament an uns gedacht hat?

Die alte Frau mit dem zarten Gesicht: Ich werde wohl die nächste sein, die sie hier heraustragen … Ich freue mich darauf. Wie schön, dass ich von Jugend auf den Herrn Jesus als meinen Heiland kenne. Eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens hat Er mir geschenkt. Eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens – ! Wie schön ist das!

Der Mann mit den verbissenen Zügen: Da haben wir's! Nun fängt der Pfarrer wirklich wieder mit dem alten Unsinn an: Auferstehung der Toten! So ein Unsinn! Tot ist tot! Wie der Baum fällt, so bleibt er liegen. Am liebsten möchte ich unter Protest die Versammlung verlassen. Aber das geht ja wohl nicht gut …

Der nachdenkliche Mann: Auferstehung der Toten?! Habe lange davon nichts mehr gehört. Gut, dass man sich einmal Zeit nimmt für eine Beerdigung. Auferstehung der Toten! Wenn das wahr wäre? Ja, dann sollte man … dann sollte man … Nun, was denn? Wollen hören, vielleicht sagt der Pfarrer, was man sollte … Was empfiehlt er? Jesus! Wer ist Jesus? Doch irgend so ein Religionsstifter! Was sagt der Pfarrer da? Jesus errettet und macht selig! Dann wäre er doch mehr als ein Religionsstifter? … Wenn ich nur mehr Zeit hätte, mich um diese Sache zu kümmern! … Aber, wenn es eine Auferstehung der Toten gibt, dann sollte man sich doch die Zeit nehmen. Dann wäre das doch wichtiger als alles andre …

Der elegante junge Herr: Schrecklich! Nun verregnet mir mein gepumpter Zylinder! Mein Nachbar wird schön schimpfen! Hätte ich doch einen Schirm mitgenommen!

Der einfache Mann dort mit dem stillen Gesicht: Mein Gott, mein Gott, ich bitt durch Christi Blut: Mach's nur mit meinem Ende gut!

„Amen!“ sagt da der Pfarrer. – Eine leise Bewegung geht durch die Versammlung, als nun ein Chor zu singen beginnt.

 

 

 

 

„Hinweg mit diesem Gott!“

 

An dem langen Bretterzaun steht eine Gruppe von Männern. Was wird dort schon los sein? Wahrscheinlich verkauft irgendein „fliegender Händler“ seinen „Gesundheitstee“ oder „Patentkrawatten“! Diese Burschen können ja so hinreißend reden, dass sich immer eine neugierige Gruppe um sie versammelt.

Ich will schon vorbeigehen – da merke ich: diese Sache ist ernster. Auf irgendeiner Erhöhung, die ich nicht erkennen kann, steht ein hagerer Arbeiter und redet auf seine Genossen ein.

Da ich auf der anderen Straßenseite gehe, kann ich nur einzelne Fetzen seiner Rede hören: „Dickbäuchige Aussauger … luxuriöse Villen … hungrige Kinder … Ausbeuterlöhne … arbeitslos … auf die Straße fliegen!“

Das Herz krampft sich mir zusammen. Das hier ist keine politische Versammlung. Es ist ja so unendlich viel Not bei uns im Ruhrgebiet beieinander. Und diese Not hat hier eine wilde, hasserfüllte Stimme bekommen …

Auf einmal schrecke ich zusammen. Der Redner hat mich erspäht und erkannt: „Ha, da ist ja ein Pfaffe!“ ruft er. „Kommen Sie nur her! Wir müssen auch einmal miteinander reden! Ich habe Sie was zu fragen!“

Sehr liebenswürdig lautet die Einladung ja nicht. Aber wenn man nicht empfindlich ist, kann man seine Worte doch immerhin als eine Einladung ansehen. Also gehe ich auf den Haufen zu.

Die Männer machen mir Platz; ich gehe durch die Menge, die sich hinter mir wieder dicht zusammenschließt. Und dann stehe ich vor dem Redner. Jetzt sehe ich, dass er auf einem Erdhaufen steht. Außerdem ist er ein beträchtliches größer als ich. So muss ich recht zu ihm hinaufsehen. Nun, es ist einem Pfarrer sehr heilsam, wenn er einmal unten zuhören muss, und die andern stehen auf der Kanzel.

Da legt er los: „Ich frage Sie, Sie Vertreter Gottes! Wie kann Ihr Gott schweigend zusehen, wenn so viel Unrecht geschieht …“

Und nun schildert er die Elendswohnungen, die Sorgen der Mütter, die ihre Kinder nicht sättigen können; die Verzweiflung der Erwerbslosen, die ihre Tage unnütz verdämmern müssen; den Jammer der Bergleute, die in der harten Arbeit eine Gesteinstaublunge bekommen haben und nun in den besten Mannesjahren elend und arbeitsunfähig dahinsiechen …

Und daneben stellt er den Luxus der Besitzenden, den Hochmut der so genannten Gebildeten …

„Nur zu!“ muss ich denken. „Es ist ja wahr, was du sagst! Es muss ja auch gesagt werden …“

Langsam merkt er offenbar, dass ich ihm innerlich gar nicht opponiere. Das ist aber nicht der Sinn seiner Rede. Er hat mich ja als seinen Feind herbeigeholt. Und nun fällt ihm offenbar auch ein, womit er mich wütend machen kann.

„… Und dazu schweigt Ihr lächerlicher Gott! Und die Kirche ist nur ein Instrument in der Hand der Ausbeuter! O, Ihr Gott! Den gibt es gar nicht! Damit machen wir nun Schluss! …“

Ich schüttle den Kopf.

„… Was, Sie meinen, es gäbe wirklich einen Gott? Dann will ich Ihnen was erzählen! Machen Sie gut Ihre Ohren auf! Wenn es also Ihren Gott gibt, dann werde ich ihm ja einmal begegnen nach meinem Tod …“

Ich nicke nur. Zu mehr komme ich nicht.

„Also, ich werde ihm begegnen? Gut! Darauf freue ich mich! Da werde ich nämlich auf diesen Gott zugehen und werde ihm sagen: Du hast gewusst, dass Kinder verhungern, während andre alles haben, und hast nichts getan! Du hast Kriege zugelassen, in denen die Unschuldigen leiden mussten, und die Schuldigen brachten lachend ihr Schäfchen ins Trockene! Du hast geschwiegen zu all dem Jammer, dem Unrecht, der Bedrückung, der Ausbeutung! Ja, das alles will ich Ihrem Gott unter die Nase reiben … Und wissen Sie, was ich dann zu ihm sage? Dann heißt es: Du Gott! Hinweg! Herunter von deinem Thron! Hau ab …“

So! Nun hat er es erreicht, dass auch ich zornig werde. Ich falle ihm ins Wort: „Gut so! Ich werde mitrufen bei diesem „Herunter von deinem Thron! Hau ab!“ …

Es ist auf einmal ganz still. Erstaunt sieht mich der Redner an. Er hat wohl das peinliche Gefühl, er hätte sich irgendwie geirrt und ich sei gar nicht der Pfarrer. Es ist fast zum Lachen, wie verblüfft alles dreinschaut. Und damit hat sich die Atmosphäre auf einmal geändert, so, dass man vernünftig miteinander reden kann. Solch eine Gelegenheit muss ich benutzen:

„Sehen Sie, ein Gott, der sich von Ihnen so antrompeten lässt, müsste ja wirklich ein lächerlicher Gott sein. Nein! Den gibt es nun wirklich nicht. Der existiert nur in Ihrem Kopf. Ein Gott, der sich von Ihnen zur Rechenschaft ziehen lässt, – ein Gott, vor dem Sie als Richter stehen und Er ist der Angeklagte – … ach nein! Solch einen Gott gibt es nur in ganz verwirrten Köpfen. Und da kann ich nur sagen: Hinweg mit diesem Gott! Mit solch einem muss endlich einmal Schluss gemacht werden …!“

„Aber – Sie sind doch Pfarrer“, stammelt etwas erschrocken der Redner.

„Gewiss, das bin ich! Aber darum will ich Ihnen sagen …“ – und nun erhob ich meine Stimme, dass alle gut hören konnten – „darum will ich Ihnen bezeugen: Es gibt einen andern, wirklichen Gott. Den ziehen nicht Sie zur Rechenschaft. Sondern der stellt uns vor Sein Gericht. Und da wird Ihnen das Wort in der Kehle stecken bleiben! Es gibt keinen Gott, zu dem Sie sagen könnten: Hinweg mit Dir! – Aber es gibt einen heiligen, lebendigen, wirklichen Gott. Und der könnte einst zu Ihnen sagen: Hinweg mit dir! …“

Nun, es war ein raues und heftiges Gespräch geworden. Aber den Männern war das recht. Ich sah, dass sie mir zuhörten. Und daran erkannte ich, dass sie nicht politische Fanatiker waren, sondern Männer, welche die harte Not drückte.

Darum konnte ich noch ein paar Worte anbringen: „Ich verstehe nicht, dass Sie Ihren Kampf um soziale Gerechtigkeit beschmutzen, indem Sie den Kampf gegen Gott aufnehmen. Ich meine vielmehr, wenn man „Gerechtigkeit“ fordert, dann kann man das eigentlich nur im Namen Gottes tun. Und damit bekommt die ganze Sache für die Fordernden wie für die Hörenden ein völlig andres Gewicht!“

Damit nahm ich Abschied, und die improvisierte Versammlung sich auf …

 

 

 

 

„Sie suchen, was sie nicht finden …“

 

Es ist wunderlich, wie einzelne Eindrücke der frühesten Jugend unverlierbar im Gedächtnis haften, während oft große Erlebnisse der späteren Zeit wie ausgelöscht sind.

So erinnere ich mich, dass ich als ganz kleiner Kerl meinen Vater auf einem Gang in die Stadt begleiten durfte. Der Weg führte über einen schmalen Steg, der die Bahnanlage überquerte. Es war aufregend, weil die Bohlen nicht dicht nebeneinander lagen. Man sah zwischen ihnen in der Tiefe die glitzernden Geleise.

Mein Vater ging vor mir her, und ich nahm mein kleines, zitterndes und furchtsames Herz in beide Hände. Immer hatte ich das Gefühl, ich müsse zwischen den Bohlen durchfallen und hinabstürzen.

Als eine Rangierlokomotive, die grauenvoll qualmte, unten durchfuhr, da war es um meine Fassung geschehen. Es muss komisch gewesen sein, wie ich auf einmal aus dem umhüllenden Qualm erbärmlich um Hilfe schrie.

Aber dann fasste mich die starke Hand meines Vaters. – Das ist etwa 50 Jahre her. Und – wie gesagt – ich war ein so kleiner Kerl, dass ich mich sonst kaum an jene Zeit erinnere. Aber die unendliche Seligkeit, die ich über der starken, rettenden Vaterhand empfand, ist mir so gegenwärtig, als sei das gestern gewesen.

Wie oft hat später die rettende Hand meines Heilandes so in mein Leben eingegriffen, wenn der Qualm des Lebens mich verzweifeln lassen wollte.

Es war sicher nicht viel später, als sich jene andere seltsame Geschichte ereignete, die hier berichtet werden soll.

Da tobte durch meine Heimatstadt der Karneval. Mein Vater litt als ein treuer Pfarrer seiner Gemeinde innerlich große Not. Er bekam nachher die erschütternden Folgen dieser Taumeltage zu spüren, da arme Leute ihre Betten ins Pfandhaus trugen, um mitfeiern zu können.

Es war am Aschermittwoch. Da forderte er mich auf: „Komm, du darfst mich auf einem Gang begleiten!“ Es war noch früh am Morgen. Da und dort sah man in den Straßen die widerlichen, betrunkenen Überbleibsel der letzten Nacht.

Der Weg führte uns auch in die Anlagen, die sich in meiner Heimatstadt einen Berghang hinanzogen.

Es war schön dort. Und ich sehe noch im Geist die morgenfrischen Bäume und Sträucher.

Der Weg ging in Serpentinen bergan. An jeder Umbiegung des Weges stand unter einem großen Gebüsch jedes Mal eine Bank, von der aus man einen schönen Ausblick in das Tal hatte.

Gemächlich stiegen wir höher. Wieder kamen wir an so eine Wegbiegung. Und da – wir stutzten einen Augenblick – da auf der Bank saß ein blutjunges Paar: Er noch im Harlekinkostüm, sie in ein Flittergewändchen gekleidet. Ach, es sah das so unsagbar aus an diesem frischen Morgen! Auf den Gesichtern der beiden lagen die Spuren einer Taumelnacht. Diese jungen Menschen waren wohl schon alle Tiefen gegangen!

Nun, ich war so ein kleiner Kerl, dass ich von all dem nicht viel verstand. Was mir aber damals schon auffiel, war dies: Über diesen Gesichtern lag eine unendliche Traurigkeit, eine abgrundtiefe Verzweiflung. Welche Gesichter über den Narrenkleidern!

Es war kein Wunder, dass wir beide betroffen stehen blieben. Aber mein Vater fasste sich schnell und ging schweigend weiter. Und ich stapfte mit meinen kleinen Beinen hinter ihm her. Dabei hatte ich das Gefühl, als wenn etwas unsagbar Schreckliches mich gestreift hätte.

Wir waren kaum um das uns verdeckende Gebüsch gebogen, da mein Vater stehen und horchte. Nun hörte ich es auch – die beiden sangen ganz leise ein Lied. Es klang so seltsam, dass es mir durch Mark und Bein ging.

Damals hörte ich zum ersten Mal dies Lied, das ich später oft gesungen habe. Wo mochten diese Zwei das herhaben? Vielleicht kamen sie aus einem frommen Elternhaus. Oder sie hatten es in einem Kindergottesdienst gelernt, als ihr Leben noch nicht so unsagbar beschmutzt war.

Ich erlebte das alles etwas fassungslos. Und als mein Vater weiterging in tiefem Schweigen, ja, in erschüttertem Schweigen, zog ich bekümmert hinter ihm her. Ich verstand ja nichts. Es war mir nur, als hätten sich Abgründe vor mir aufgetan.

Später aber, als ich selbst dies Lied lernte, verstand ich die Bewegung meines Vaters. Das Lied nämlich lautet so:

 

„Ich bin durch die Welt gegangen,

und die Welt ist schön und groß,

und doch ziehet mein Verlangen

mich weit von der Erde los.

 

Ich habe die Menschen gesehen,

und sie suchen spät und früh;

sie schaffen und kommen und gehen,

und ihr Leben ist Arbeit und Müh.

 

Sie suchen, was sie nicht finden,

in Liebe und Ehre und Glück,

und sie kommen belastet mit Sünden

und unbefriedigt zurück.

 

Es ist eine Ruhe vorhanden

für das arme müde Herz!

Sagt laut es in allen Landen:

Hier ist gestillet der Schmerz!

 

Es ist eine Ruh gefunden

für alle fern und nah,

in des Gotteslammes Wunden

am Kreuz auf Golgatha.“

 

Manchmal – ganz unmotiviert – fallen mir die beiden jungen Menschen ein. Und ich frage mich, ob diese in der Wüste der Welt Verirrten wohl den Weg „nach Hause“ gefunden haben, von dem sie hier sangen?

 

 

 

 

Eine Türe ging auf

 

Wie lange ist das nun eigentlich her – lasst mich zurückrechnen! – Ach, es ist ja gleichgültig, wie viel Jahre seitdem verflossen sind. Es war jedenfalls nicht sehr lange nach dem ersten Weltkrieg.

Wer die Zeit noch miterlebt hat, weiß, dass damals die Menschen nicht so stumpf und müde waren wie nach dem zweiten großen Krieg. Nein, damals verbissen sie sich mit Leidenschaft und Fanatismus in politische Ideen.

Also damals war es, als ich in den Arbeitervorort einer Industriestadt geschickt wurde mit dem schönen Titel „Hilfsprediger“. Wenn man es richtig verstand, bedeutete dieser schöne Name, dass ich ein Prediger sei, dem man helfen müsste. Und so war es in der Tat.

Was nützte es mir hier, dass ich einen Krieg mitgemacht hatte! Und dass ich Theologie studiert hatte, brachte mich auch nicht weiter! Denn diese verhetzte Bevölkerung, die schon ihrer westfälischen Natur nach ziemlich dickköpfig ist, war sich völlig einig in der Ablehnung des Pfarrers und des Evangeliums.

In die Kirche kamen die Leute nicht. Also fing ich an, tagsüber Besuche in den Häusern zu machen. Weil aber die Männer in der Fabrik waren und ich nur die Frauen antraf, höhnten sie: „Da sieht man's! An die Männer wagt sich so ein Pfaffe nicht heran!“

Daraufhin machte ich meine Besuche am Abend, wenn die Männer zu Hause waren. Für ein paar Tage wurde die Front verwirrt. Dann stand sie wieder fest gegen mich. Es wurde die Parole ausgegeben: „Kein Mann darf mit dem Pfaffen sprechen!“

Es war fürchterlich! Ich ging von Wohnung zu Wohnung. Mit den Frauen gab es ein kurzes, unerfreuliches Gespräch. Die Männer saßen dabei, grinsten und schwiegen. Kein Gruß! Kein Handschlag! Sie taten, als sei ich Luft.

Oft war ich tief niedergeschlagen vor Zorn und Scham, wenn ich nach diesen Gängen in mein einsames Zimmer zurückkehrte. Manchmal aber habe ich auch gelacht und die Männer bewundert, die das so konsequent durchhielten. Ja, damals habe ich Respekt bekommen vor den westfälischen Charakteren. Und ich sagte mir: „Wenn es dem Worte Gottes gelingt, hier einzubrechen, dann wird etwas Herrliches entstehen.“

Es ist so gekommen! Jesus wurde Sieger. Und es entstand hier eine Gemeinde, die heute noch blüht.

Langsam, sehr langsam gingen die Türen auf.

Aus jenen Tagen, als die „Front“ anfing zu wackeln, will ich ein Erlebnis berichten:

„Herein!“ ruft es, als ich anklopfe.

Ich öffne zaghaft die Tür: Ein großes Zimmer mit vielen Menschen. Ich sehe die Szene noch deutlich vor mir: Die Mutter steht am Herd und backt „Pickert“. Neben ihr kniet der Vater, ein alter Arbeiter, und stochert im Feuerloch. Mitten in der Stube ein junger Mann. Er hat sich ein Waschbecken auf einen Stuhl gestellt und vollzieht eine große Reinigung. Um den Tisch sitzen noch ein paar junge Leute, Kinder, Schwiegerkinder? Ich weiß es nicht! Auch ganz kleine Kinder kriechen herum. Kurz – eine beachtliche Volksversammlung.

„Guten Abend!“ rufe ich in das Getümmel. Der Vater schaut auf: „Ach, der Pfaffe!“ Ein Gelächter antwortet. Und von dem Augenblick ab bin ich Luft für alle. Ich wende mich an die Frau. Sie tut, als sei sie taub. Sie war meine letzte Hoffnung gewesen.

Eine fürchterliche Situation! Soll ich unter dem Gelächter des Volkes abziehen? Unmöglich!

In meinem Herzen ruft es unablässig: „Herr Jesus! Nun hilf mir doch!“ Und Er hilft. Mein Blick fällt auf einen jungen Mann, der im Winkel sitzt und auf einer Gitarre herumhantiert. Ich steure auf ihn zu: „Können Sie spielen?“

„Nein!“ brummt er. Und mein Herz jauchzt. Es war doch immerhin ein menschlicher Laut.

„Geben Sie einmal her! Ich will Ihnen ein paar Griffe zeigen!“ Entschlossen entreiße ich ihm das Instrument und schlage ein paar Akkorde an. Interessiert schaut er auf meine Finger. Und ich bin nebenher überglücklich, dass hier nicht ein Klavier stand. Da hätte ich mir nicht zu helfen gewusst. Aber auf der Gitarre war ich einigermaßen sicher.

Der Unterricht beginnt. Ich drehe allem Volk den Rücken und erkläre dem jungen Mann: „Sehen Sie, das ist der D-Dur-Akkord. Der ist ganz einfach. Damit können Sie schon eine ganze Menge Lieder begleiten!“

Ich klimpere ihm vor. Er nimmt das Instrument, probiert. Es geht schief. Ich mache es noch einmal vor.

„Begleiten Sie damit ein Lied?“ fragt er. „Gewiss!“ Und dann spiele und singe ich: „Alle Vögel sind schon da …“

Er staunt. Er probiert auch …

Ich merke, dass hinter meinem Rücken eine atemlose Stille eingetreten ist. Alles horcht gespannt. Aber ich wage nicht, mich umzudrehen. So spüre ich nur die Blicke wie ein Prickeln in meinem Rücken.

Er kann es jetzt schon ganz gut. Es wird für mich Zeit, dass ich zu meiner Botschaft komme.

„Soll ich Ihnen noch einmal ein Lied vorspielen?“ frage ich. Er nickt. Jetzt gilt's!

Ich nehme die Gitarre, stimme sie noch einmal. Und dann singe ich. Nicht schön, o, ich weiß nur zu gut, dass meine Stimme sehr rau klingt. Aber auf die Schönheit des Gesanges kommt es jetzt gar nicht an. Es geht jetzt nur um den Text!

 

„Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Enden,

Gottes und Marien Sohn!

Dich will ich lieben, Dich will ich ehren,

Du meiner Seelen Freud' und Kron …“

 

Eine große Stille ist im Zimmer. Noch drehe allen den Rücken und kann nicht sehen, was sie tun. Aber – es ist still!

So wage ich den zweiten Vers. Und dann den dritten und den vierten. Niemand unterbricht mich.

Ich singe den Vers von „der schönen Jugend“: „Sie müssen sterben / müssen verderben – Nur Jesus lebt in Ewigkeit.“

Immer noch sagt niemand ein Wort. Mein Herz wird so fröhlich. Ich wusste es ja: Mögen sie alles gegen den „Pfaffen“ haben und gegen seine „Kirche“ – der Name „Jesus“ ist eine Macht, der auch harte Herzen sich beugen müssen.

Hinter mir ist es so still, als warteten alle noch auf einen weiteren Vers. So singe ich:

 

„ Wenn einst ich sterbe,

Dass ich nicht verderbe,

Lass mich Dir befohlen sein!

 

Wenn's Herz wird brechen,

Lass mich dann sprechen:

Jesus! Nimm auf die Seele mein!“

 

Das Lied ist zu Ende. Ich drehe mich um.

Alle Augen im Zimmer sehen mich an. Regungslos hat alles zugehört. Der Vater atmet tief auf: „Ein schönes Lied!“ sagt er.

„Ja, und ein wichtiges Lied!“ erwidere ich.

„Wieso wichtig?“ fragt er etwas unsicher.

„Das will ich Ihnen erklären! Aber erst müssen Sie mir einen Stuhl geben! So schnell geht das nicht!“

Es ist wie ein Wunder. Da sitze ich dann am Tisch mit diesen Leuten. Und sie hören mir zu, als ich ihnen klar mache, dass ich nicht Propagandist einer Weltanschauung bin; dass ich nichts von ihnen will; dass aber Gott durch den Herrn Jesus etwas Großes für sie getan hat …

Und leise, ganz leise geht wieder eine Tür auf, die so lange verschlossen gewesen war …

 

 

 

 

Ein Weltanschaulicher Kampf um ein Frühstück

 

Der Regen strömte. Die Berge des Sauerlandes waren von Wolken und Nebel verhängt.

Doch meine 150 rauben Burschen, die unverdrossen hinter mir herzogen, sangen: „Regen, Wind, wir lachen drüber …“

Es war eine wild zusammengewürfelte Schar. Auf den einsamen Höfen verschlossen die Bauern erschrocken die Türen. Sie dachten wohl, jetzt sei wieder einmal eine Revolution ausgebrochen.

Wir lachten. Denn wir waren in einer ganz friedlichen Stimmung …

Wie soll ich nun mit ein paar Worten erklären, wie es zu dieser wunderlichen „Fahrt“ kam? Da müssen wir schon weiter ausholen, und der Leser muss ein wenig Geduld haben:

Es war im Jahre 1932. Unser Volk war aufgespalten in unendlich viele politische und weltanschauliche Parteien, die sich mit fanatischem Hass bekämpften. Und dabei nahm die Not täglich zu. Die Zahl der Erwerbslosen war ins Ungemessene gestiegen.

Da saß eines Tages ein junger Erwerbsloser vor mir. Sein Gesicht drückte hoffnungslose Verzweiflung aus: „Sehen Sie! Wenn ich jetzt in die Ruhr springe, entsteht gar keine Lücke. Jeder ist nur froh, dass ich weg bin. Dann ist mein Vater mich los, der mich jeden Tag einen unnützen Esser nennt. Und der Staat spart die Unterstützung. Wissen Sie, wie das ist, wenn man völlig überflüssig ist?“

Da begann ich zu überlegen: Es gibt doch noch einen Stand, der in langen Ausbildungsjahren keine produktiven Werte schafft und der doch dieses entsetzliche Gefühl der Wertlosigkeit nicht hat: Das sind die Studenten. Wie wäre es, wenn ich diese Erwerbslosen in Studenten verwandelte? Das wäre immerhin eine seelische Hilfe! Gewiss, sie ist gering! Aber die Größe der Dunkelheit darf uns nicht hindern, unsre kleine Kerze anzuzünden.

So gründeten wir die „Universität für Erwerbslose“. Das wurde eine schöne und fröhliche Sache! Bald versammelten sich jeden Morgen 500 strebsame junge Männer in den Räumen des großen Jugendhauses zu ernster Arbeit. Da gab es Gruppen für Englisch, Französisch, Mathematik, Landwirtschaft, Musik, Stenographie, Esperanto, Jiu-Jitsu, Architektur, und was man sich nur denken kann. Die Dozenten waren Erwerbslose.

Es war einfach köstlich, zu beobachten, wie die bedrückten Seelen auflebten.

Den Höhepunkt aber bildete in jeder Woche eine „ Weltanschauungs-Stunde“. An der nahmen alle Studenten teil.

Welch eine unerhörte Spannung lag über dieser Versammlung! Wir begannen jedes Mal damit, dass ich etwa 20 Minuten lang das Evangelium verkündete. Dann folgte die Aussprache.

O, diese Diskussion! Die jungen Männer waren mit zitternder Erregung an dem Gespräch beteiligt. Da waren junge Kommunisten, SA-Leute in der braunen Uniform, Stahlhelmer und sozialistische Falken, Nihilisten und Christen, Narren und Weise, Fanatiker und Zyniker, Atheisten und Jesus-Jünger, Sektierer und Idealisten.

Oft verwandelte sich der Saal in ein tobendes Schlachtfeld. Und ich musste wie ein Löwenbändiger dazwischen springen und den erregten Männern klarmachen, dass sie ja jetzt Studenten seien, dass sie also nicht mit Stuhlbeinen, sondern nur mit den Waffen des Geistes zu kämpfen hätten. Da löste sich oft alles in ein fröhliches Gelächter auf.

In einem aber waren sich fast alle einig: Das Evangelium wurde in den ersten drei Minuten schon vom Tisch gewischt. Nun ja, der Pfarrer musste wohl so reden! Aber diese überalterte Sache hatte ernsthaft nichts zu bedeuten! Und dann kamen die politischen Ideologien! Die Lehre von Lenin! Die Lehre von Hitler! Die Wirtschaftslehre von Silvio Gesell! Karl Marx! Das wimmelte nur so von Fachausdrücken, großen Ideen, wirtschaftlichen Lösungen! Und ich stand ganz klein und dumm da mit meinem schlichten Evangelium von dem Heiland der Sünder. Was sollte das noch hier bei dieser Schar! Jeder hatte das Rezept zur Welterlösung fertig in der Tasche!

Und so wäre es wohl geblieben, wenn sich nicht die Sache mit den Brötchen ereignet hätte. Und das kam so:

Eines Tages beschlossen wir, einen zweitägigen Ausflug in das Sauerland zu machen. An dem Morgen, als wir losziehen wollten, war das Wetter sehr zweifelhaft. So erschienen nur 150 Unentwegte.

Das wurde eine unvergessliche Fahrt!

Seit ich denken kann, habe ich solch einen Dauerregen nicht erlebt. Aber wir waren nun einmal entschlossen, unseren Plan durchzuführen. So ging's von Hagen nach Lethmate. Die herrliche Dechenhöhle war trocken. Und so waren die seltsamen Tropfstein-Gebilde dort eigentlich das Einzige, was wir an jenem Tage zu sehen bekamen. Alles andere verschwand im Nebel und Wasser.

Schließlich landeten wir singend und pudelnass in einer Jugendherberge. Jeder Fahrtenbruder weiß ja, wie es nun zuging. Fröhliches Gewimmel! Kleider wurden am dampfenden Ofen getrocknet. Und nach dem Abendbrot saßen wir gemütlich und leicht müde um den Kamin. Ich wollte eben von einer Reise nach Amerika erzählen, da erschien ein Bäckerlehrling:

„Einen schönen Gruß vom Meister! Und ob einer der Herren morgen früh Brötchen wolle. Er gäbe 4 Stück für zehn Pfennige ab.“

Nachdenklich saßen meine Gefährten. Ich konnte auf ihren Stirnen lesen: Ein Groschen! Viel Geld für einen Arbeitslosen! Dafür konnte man 3 Zigaretten bekommen! Aber so frische, knusprige Brötchen! Gewiss! Aber – es gab ja doch Brot zum Frühstück. –

Schließlich entschlossen sich etwa 50 Mann, die Brötchen zu bestellen.

So – nun konnte ich erzählen! Es wurde sehr gemütlich. Schließlich konnte ich sogar eine Abendandacht halten. So freundlich war die Stimmung!

Als ich alle im Bett wusste, atmete ich auf. Friedlich schlief nun der Kommunist neben dem Nazi, und der zünftige Pfadfinder neben dem Mann, der mit – leider nun völlig zerstörten – Bügelfalten war.

Ich ging in mein Zimmer und fiel in einen tiefen Schlaf. Da träumte ich, ich sei in einen Volksaufruhr geraten. Brüllend wälzten sich die Massen über meine Verzweiflung. Ich fuhr auf. Ich war ganz wach.

Es war schon Tag. Ich hatte mich verschlafen. Aber – was war das? Der Volksaufruhr war offenbar schreckliche Wirklichkeit: Ich hörte tobendes Geschrei, wildes Geraufe

Wie ich war – im Schlafanzug – stürzte ich hinaus und sah die Bescherung: Der süße Friede vom Abend war völlig dahin. Eine Schlacht aller gegen alle war entbrannt.

Mit Mühe brachte ich in Erfahrung, was sich ereignet hatte: Da war am Morgen der Bäckermeister mit den 200 Brötchen erschienen. Diese frischen Brötchen hatten herrlich geduftet. Und überhaupt – am Morgen sah die ganze Sache anders aus. Da hatten sich kurz entschlossen die Zigaretten-Freunde vom Abend auf die köstliche Ware gestürzt, hatten dem Bäcker die Brötchen aus der Hand gerissen. Und viele, die am Abend bestellt hatten, waren leer ausgegangen. Das ließen die sich natürlich nicht gefallen. Und dann war der Krach da. Und weil man doch schon einmal am Raufen war, kamen alle andern Spannungen gleich mit zum Austrag. Es ging nun „in einem Aufwaschen“.

Meine verschlafene Gestalt, mein wildes Dazwischentreten, meine mir selbst erstaunliche Entschlossenheit erregten allmählich Aufsehen, und ich konnte mir endlich Gehör verschaffen.

Kategorisch stellte ich die Forderung: „Jetzt werden zuerst einmal alle Brötchen an mich abgeliefert.“ Es gab einen kleinen Kampf, stilles Ringen in Jungmänner-Herzen, freundliche Reden von mir – und dann lag ein Berg von Brötchen vor mir. Es fehlte keines.

Dann die Frage: „ Wer will nun eigentlich Brötchen?“ Es meldeten sich alle. Ich traf wie ein Feldherr meine Anordnungen: „Jetzt bekommt erst einmal jeder eins. Und dann holt mir den Bäcker!“

Der tief erschrockene Meister wurde irgendwo aufgestöbert. Vor versammelter Mannschaft stellte ich ihm die entscheidende Brötchen-Frage: „Sind Sie im Stande, uns in einer halben Stunde noch 400 Brötchen zu verschaffen?“ Er war im Stande! Gepriesen sei der wackere Mann!

Ach! Dies friedliche Frühstück! Und dann stellten wir mit Begeisterung fest, dass ein herrlicher Tag inzwischen angebrochen war: Die Vögel sangen, die Sonne schien, die Blumen blühten, die Bäume rauschten. Die Welt war doch schön!

Unter einer alten Linde versammelten wir uns zur Morgenandacht. Das hielten meine rauen Gefährten sicherlich für einen Spleen ihres Pastors. Aber immerhin gab sich der Mann ja viel Mühe! Und warum also sollte man ihn nicht anhören! Schließlich war man ja kein Unmensch!

Die Braven! Sie ahnten nicht, was ihnen bevorstand.

Ich sprach über das Wort Jesu: „Siehe ich mache alles neu.“

„Freunde!“ sagte ich. „In einer Forderung sind wir alle einig: Die Welt muss anders werden. Ja, sie muss anders werden! Seit einem halben Jahre nun höre ich in jeder „Weltanschauungsstunde“, wie jeder von Euch ein fertiges politisches und wirtschaftliches Rezept in der Tasche hat zur Erlösung der Welt. O, ich war oft erstaunt, welch große Ideen Ihr da habt. Aber – nun bin ich enttäuscht. Ihr, die Ihr meint, die Welt erlösen zu können mit Euren Ideologien, könnt nicht einmal 200 Brötchen im Frieden verteilen! Was soll ich dazu sagen? Es war bei uns heute Morgen wie in der Welt im Großen: Güter waren genug vorhanden. Bei gutem Willen konnte jeder satt werden. Und was wurde? Krieg und Geschrei! Nehmt es mir nicht übel: Ich glaube an alle Eure Ideologien nicht mehr. Was helfen sie, wenn sie so kläglich versagen im Kleinen! …“

Schweigend saß das junge Volk. Wirklich, sie waren beschämt. Keiner wagte etwas zu sagen. So fuhr ich fort:

„Und warum ist es so gegangen? Weil jeder nur an sich selbst dachte. Euer böses und selbstsüchtiges Herz hat Euch einen Streich gespielt und alles verdorben …“

Ich sah ihnen an, dass sie mir Recht gaben. Immer schwiegen sie. „Ihr habt immer getan, als sei die Bibel ein dummes, völlig überholtes Buch. Nun sage ich Euch: Die Bibel hat recht! Denn sie sagt: Es wird nur anders, wenn unsre Herzen anders werden, wenn Du und ich neu werden, wenn wir befreit werden von unsrer furchtbaren Selbstsucht!“

Es war eigentlich ein herrlicher Gottesdienst. Der Sommerwind rauschte in der alten Linde, und der Gesang der Vögel störte uns nicht. Er unterstrich nur die Stille. Das schönste aber war diese Gemeinde: Junge Männer, denen etwas dämmerte von der Brüchigkeit ihrer Ideologien, die ihnen bisher als die Lösung aller Welträtsel erschienen waren.

„Freunde!“ rief ich bewegt, „Ihr irrt, wenn Ihr die Bibel für ein überholtes Buch haltet! Hier wird uns gezeigt, wie Herzen neu werden. Da finden wir den Mann, von Gott gesandt, der durch Sein Blut und Seinen Geist uns ganz umgestaltet und neu macht – Jesus Christus! …“

Die Sonne schien so hell und strahlend. Aber – was war ihr Glanz gegen die Herrlichkeit des Sohnes Gottes, die über diesen armen jungen Männern aufging.

Wie ein starkes Gebet erklang zum Schluss unser Lied:

 

Morgenglanz der Ewigkeit,

Licht vom unerschaffnen Lichte!

Schick uns diese Morgenzeit

Deine Strahlen zu Gesichte,

Und vertreib durch deine Macht

Unsre Nacht!

 

Von da an begann es, dass die „Universität für Erwerbslose“ auf die Botschaft der Bibel hörte.

 

 

 

 

Das können wir ja abwarten!

 

Die drei Männer schauen auf, als ich in das Zimmer trete.

Es ist das typische Krankenhaus-Zimmer: Weiß, hell, sauber. Einer der Männer liegt im Bett. Die beiden anderen sitzen in ihren gestreiften Krankenanzügen daneben. In ihren Händen halten sie Spielkarten.

„Guten Tag! Ich bin der Pfarrer und wollte Sie einmal begrüßen!“ Der im Bett lächelt verächtlich: „Nett von Ihnen! Aber wir interessieren uns nicht für religiöse Fragen.“ Und dann zu den andern: „Spielen wir weiter!“

Mit steigt das Blut zu Kopf: „Mann!“ fahre ich ihn nicht so großspurig! Wenn Sie sagen: Ich interessiere mich nicht für das Christentum! – gut, das lasse ich gelten. Aber wer gibt Ihnen das Recht, für die andern mitzusprechen? Mir ist eine Botschaft anvertraut, die so wichtig ist, dass ich ihr unter allen Umständen Gehör verschaffen muss.“

„Und was ist das für eine Botschaft?“

„Ich kann sie mit einem einzigen Satz sagen: ,Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben'.“

Eine kleine Weile ist es sehr still. Dann sagt der freche Geselle: „Und warum drängen Sie diese Botschaft auch den Leuten auf, die sich nicht dafür interessieren?“

„Das will ich Ihnen gern sagen: Weil in diesem Spruch das Wort ,verloren' vorkommt. Stellen Sie sich Folgendes vor: ich wache eines Nachts auf, rieche Brandgeruch und merke mit Schrecken, dass unser Haus brennt. Schleunigst bringe ich meine Familie in Sicherheit und fange an zu retten, was noch zu retten ist. Ganz oben wohnt eine alte schwerhörige Frau. Offenbar schläft sie tief. Ich lasse sie schlafen. Was geht mich die fremde Frau an! Mag sie umkommen!“

Der Kranke unterbricht mich: „Dann wären Sie ein Verbrecher!“ „Ganz recht! Und noch viel mehr wäre ich das, wenn ich Sie, mein Lieber, ungewarnt in das ewige Verderben laufen ließe. Ich will es Ihnen wenigstens gesagt haben: ,dass alle, die an Jesus glauben, nicht verloren werden… !' Hier ist die ewige Errettung!“

Der Kranke lacht höhnisch auf: „Na ja, das musste ja kommen! Jetzt wollen Sie uns Angst machen mit der Hölle. Ewiges Verderben! Unsinn! Gibt's ja gar nicht!“

Ich stehe auf und sage nur noch: „Das können wir ja nun abwarten. Die Zukunft wird's ausweisen, ob Gottes Wort stimmt. Wenn es recht hat – und es hat recht! – dann sind Sie verloren! Auf Wiedersehen!“

Damit gehe ich. An der Türe drehe ich mich noch mal um – und erschrecke. Mit aufgerissenen Augen schaut mir der Mann nach. Dann stammelt er in abgerissenen Worten: „Dann bin ich … verloren …! das können wir … abwarten … Warten Sie doch!“

Da kehre ich um. Und dann sitze ich am Bett. Und wir besprechen – ach, nicht „Religiöse Fragen“, sondern die „Frohe Botschaft“, dass Jesus Sünder selig macht.

 

 

 

 

An einer polnischen Landstraße

 

Dieses kleine Erlebnis hat mir mein Bruder erzählt, als er während des letzten Weltkriegs einmal auf Urlaub war. Es war sein letzter Besuch bei uns. Nun schläft sein Leib irgendwo in Russland dem großen Tag der Auferstehung entgegen.

Die kleine Episode „am Rande des Krieges“ spielte sich ab an einer polnischen Landstraße. Da standen die Soldaten und sahen neugierig auf einen Zug flüchtender Juden.

Es mag sein, dass manche eigentlich spotten wollten. Aber die Hohnworte blieben ihnen im Halse stecken beim Anblick dieses Elends. Es waren sicher andere darunter, denen Wut und Scham das Herz erfüllten. Aber auch die wagten nichts zu sagen. Es war gefährlich, für die Gehetzten einzutreten.

So schwiegen alle und sahen, wie alte Leute sich vorbeischleppten, wie Männer auf Schubkarren die elende Habe zu retten versuchten, wie weinende Kinder sich an die Röcke der Mütter hingen. Ab und zu kam auch ein größerer Wagen vorbei, den ein elendes Pferd mühselig voranbrachte.

Solch ein Karren war es, dem plötzlich krachend ein Rad zusammenbrach. Der Mann, der neben dem Pferd ging, besah sich schweigend den Schaden. Dann zog er seinen Rock aus und versuchte, das Rad auszubessern.

Die Arbeit war viel zu schwer für einen einzigen Mann. Stöhnend stemmte er sich gegen den zusammengesunkenen Wagen.

In diesem Augenblick sprangen zwei Soldaten vor und begannen ihm zu helfen: mein Bruder und ein anderer, ihm Unbekannter. Sie waren beide Jünger Jesu, und das Gebot ihres Herrn war ihnen wichtiger als die Rücksicht auf die möglichen Folgen. Gewiss würde nun schon die Meldung an die vorgesetzte Stelle gehen, dass zwei deutsche Soldaten den verhassten Juden geholfen hätten.

Schweigend mühten sich die drei. Schweigend sahen die andern zu.

Und so wäre die Sache wohl zu Ende gegangen, wenn nicht eine alte Frau auf einmal das Wort ergriffen und ein Gespräch entfesselt hätte, das allen, welche die Bibel nicht kennen, unverständlich bleiben muss.

Diese alte Frau lag oben auf dem Karren und hielt mühselig das Gepäck zusammen. Nun richtete sie sich auf und fing mit gellender Stimme an zu klagen. Es war, als ob eine abgründige Verzweiflung ausbräche:

„Warum müssen wir Juden immer wandern? … Immer wandern! … Keine Heimat! … Haben wir eine gefunden, dann wird sie uns bald wieder entrissen … Wir müssen wandern, wandern, endlos … Unsere Vorfahren waren umhergetrieben, unsere Väter … wir … unsre Söhne … immer wandern, immer heimatlos … ruhelos … immer wandern … Wann werden wir endlich eine Heimat finden? …“

Da richtete sich der unbekannte Soldat auf und erklärte großem Ernst: „Dann, wenn Jehova sie wieder sammeln wird in Kanaan, im Lande ihrer Väter!“

Wild fuhr die alte Frau auf: „Wie sollte das zugehen, dass unser zerstreutes Volk wieder zusammengebracht würde aus allen Ländern?“

Ruhig und ernst erwiderte der Soldat: „Wie das zugehen wird? Ebenso wie damals, als Jehova Ihre Väter aus der Knechtschaft in Ägypten führte, durch Seine starke Hand und Seinen ausgereckten Arm! Suchen Sie diesen, Ihren Herrn und warten Sie auf Ihn!“

Dann nahm er die Arbeit wieder auf. Bald war der Schaden behoben, und der Wagen fuhr weiter.

Schweigend sahen die Soldaten auf ihren Kameraden. Es war, als sei ihnen eine Ahnung aufgegangen, dass nicht die lauten Menschen die Weltgeschichte machen, sondern dass eine verborgene Hand einen geheimen Plan durchführt.

 

 

 

 

„Was ihr getan habt …“

 

Damals gab es in Frankfurt am Main noch keine Trümmer.

Die schöne Pauluskirche mit all ihren geschichtlichen Erinnerungen stand noch unversehrt.

Inmitten einer großen Menschenmenge saß ich als junger Student und schaute auf zu dem ehrwürdigen D. Traugott Hahn, der in großem Segen in Reval gewirkt hatte und nun an seinem Lebensabend Evangeliums-Vorträge hielt.

Er erzählte: „Eines Tages wurde ich mit meinem Schwiegersohn Sielmann auf der Straße von den Bolschewiken verhaftet und in das Gefängnis eingeliefert. Wir litten keine äußere Not dort. Und die Gemeinschaft, die wir miteinander hatten, gab reiche Stärkung. Aber es quälte uns, dass unsre Frauen gar nicht wissen konnten, wohin wir gekommen seien. Sie mussten in großer Sorge sein.

Eines Tages, als es im Gefängnis sehr still war, ging ganz leise unsere Zellentür auf, ein junger Wächter trat herein und fragte: „Väterchen, kann ich etwas für Dich tun?“ Hochbeglückt baten wir ihn, unsern Frauen Nachricht zu bringen. Das hat er auch getan. Und wir hörten später, als wir wieder frei waren, wie sehr unsre Frauen durch die Botschaft getröstet wurden …“

Und nun erhob der alte D. Hahn gewaltig seine Stimme und rief: „Wenn an dem Tage der Auferstehung die Millionen vor dem Herrn stehen, dann will ich nicht ruhen, bis ich jenen jungen Mann gefunden habe. Und dann will ich zu dem Herrn Jesus sagen: ,Herr! Du hast erklärt: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. – Dieser junge Mann, der Dich, Herr, nicht kannte, hat mir, der ich durch den Glauben Dein Bruder bin, wohlgetan, als ich gefangen war.' Und dann wird der Herr diesen jungen Mann zu Seiner Rechten stellen. Denn Er lässt es nicht unvergolten, wenn die Unwissenden Seiner Gemeinde wohl tun.“

Diese kleine Geschichte hat sich mir unvergesslich eingeprägt. Ich wusste damals noch nicht, dass ich selbst Ähnliches erleben sollte.

Das war viele Jahre später. Wieder einmal hatte mich verhaftet und in eine abscheuliche Zelle gesperrt. Man wollte von mir Aussagen über die „Bekennende Kirche“ erpressen.

Eines Tages hatte ich wieder eines der ermüdenden Verhöre hinter mir. Das schlimmste in meiner Lage war die Angst vor dem eigenen Versagen. Würden die Nerven halten, dass man nicht eines Tages nachgäbe und die Brüder verriete? Würde man nicht doch schließlich mit gebrochenem Gewissen aus diesem furchtbaren Hause gehen? Der Gestapo-Beamte hatte mich angebrüllt: „Wir haben schon andre klein gekriegt! Wir kriegen auch Sie klein!“

Nach einem der ermüdenden Verhöre hatte man mich wieder in meine trostlose Zelle zurückgebracht. Ich war erschöpft. Wenn man doch einfach hätte schlafen dürfen! Aber am Tage war es verboten, sich auf die Pritsche zu legen. So saß ich auf meinem Hocker, und quälend wanderten die Gedanken: „Welche Schmach werden meine Kinder zu erdulden haben, wenn Lehrer und Mitschüler sich lächelnd zuflüstern: Deren Vater sitzt im Gefängnis! Der ist ein Staatsfeind!“

Und dann war es auf einmal aus. Die Nerven waren am Ende. Hemmungslos musste ich weinen. Ach nein! Man war kein Held! Hier verging einem aller Heroismus.

Da öffnete sich leise die Zellentür. Ich sprang auf. Der oberste Aufseher war hereingekommen. Ich wollte meine Meldung machen. Aber er winkte ab: „Sie dürfen nicht verzweifeln. Es wird schon alles gut gehen! Und sehen Sie mal, hier habe ich Ihnen etwas zum Lesen mitgebracht. Das wird Sie auf andre Gedanken bringen!“ Und damit legte er eine – Jagdzeitung vor mich hin. Dann verschwand er wieder.

Und ich saß und schaute die Jagdzeitung an. „Halali!“ Ja, ich muss offen gestehen, dass es mir gar nicht halalimäßig zumute war. Und die Aufsätze über die Zucht guter Jagdhunde oder über die Pflege der Fasanen konnten mir in meiner Lage wenig bedeuten.

Und doch – nie wieder ist mir eine Zeitschrift so lieblich und so herrlich vorgekommen wie diese Jagdzeitung. Sie wurde mir immer schöner, je mehr ich bedachte, dass der Aufseher mit dieser scheinbar geringen Geste seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt hatte.

Während ich dort saß und auf die Jagdzeitung starrte, sah ich auf einmal wieder den alten D. Hahn vor mir. Und ich hörte das Wort Jesu: „Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“

 

 

 

 

„In zehn Jahren …!“

 

Die Riegel meiner Gefängniszelle klirrten. Die Türe wurde aufgerissen. „Herauskommen zum Verhör!“

Wieder einmal wurde ich die langen Korridore entlang geführt zu den Büros der Gestapo.

Ich war so unsagbar müde. Was wollten sie denn jetzt wieder von mir? Ach, ich wusste es ja ganz genau: Sie wollten von mir Aussagen erzwingen über die kämpfende Bekennende Kirche. Und ich konnte doch unmöglich meine Brüder verraten.

Nun ging das schon wochenlang so: Zermürbendes Warten in der engen Zelle und noch zermürbendere Verhöre.

Kurz darauf stand ich wieder vor meinen Quälgeistern. Wie ich diese drei Gesichter dort hinter dem breiten Tisch nun allmählich kannte! Diese blassen, verlebten, seelenlosen und grausamen Gesichter! Aber – o Wunder – heute lag ein freundliches Lächeln über diesen Physiognomien. Ich erschrak: Was hat das wohl zu bedeuten? – Und nun bot man mir sogar einen Stuhl an! Das war neu. Sollte jetzt das „Zuckerbrot“ erreichen, was die „Peitsche“ nicht fertig gebracht hatte? Ich ging innerlich in Abwehrstellung.

Und dann fing einer von den Dreien an: „Wir haben Sie nun eine zeitlang beobachtet. Und da haben gemerkt, dass Sie gar nicht so übel sind. Nur …“

Er räusperte sich. Und ich wusste: Jetzt kommt es! Er fuhr fort: „Nur – Sie sitzen gewissermaßen auf einem falschen Pferd. Sie sind Jugendpfarrer, nicht wahr?“

„Jawohl!“

„Ja, das müssen Sie nun langsam begreifen, dass dieser Beruf völlig überholt ist. Wir werden in Zukunft keine Jugendpfarrer mehr brauchen.“

Ich muss wohl ein etwas erstauntes Gesicht gemacht haben. So fühlte er sich gedrungen, mir die Sache noch etwas deutlicher zu machen: „Wir haben heute eine neue Weltanschauung. Das Christentum hat ausgespielt. Ich sage Ihnen: In zehn Jahren wird kein junger Mensch in Deutschland mehr wissen, wer Ihr imaginärer Jesus ist! Dafür werden wir sorgen!

Und dann kam ein freundliches Angebot: ich solle doch einen andern Beruf ergreifen. Sie wollten mir gerne behilflich sein. Ja, sie machten mir sogar allerlei Vorschläge. Es war rührend, wie diese harten Männer um meine Zukunft besorgt waren!

Leider war ich nicht im Stande, diese freundlichen Offerten anzunehmen. So wurden sie schließlich ärgerlich, und ich wanderte die langen Korridore zurück – in die Zelle.

Das wurde ein schwerer Abend! „In zehn Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus ist!“ Immer hörte ich diesen harten Satz. Warum sollte es nicht wahr werden? Gott kann doch einem Volke das Evangelium wegnehmen! Aber – welche Finsternis musste dann in meinem Volke anbrechen! – – –

Es ist eine wunderliche Sache, wenn Menschen mit solcher Bestimmtheit etwas über die Zukunft aussagen. Es war ja das eines der Kennzeichen jener seltsamen Zeit des „Dritten Reiches“, dass jeder, von dem „Führer“ angefangen bis zum kleinsten Funktionär herab, mit geradezu anmaßender Sicherheit die Zukunft durchschaute. Nur – dass über all dem das Wort aus dem 2. Psalm stand: „Der im Himmel sitzt, lacht ihrer …“

In jener dunklen Abendstunde in der Gefängniszelle aber hörte ich dies tröstliche und unheimliche Lachen nicht. Mein Glaube war so schwach. Er hörte nur das lästerliche Lachen der Hölle: „In 10 Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Jesus ist!“

 

 

Gott aber tut mehr, als unser Glaube fassen kann!

Es war sieben Jahre später, an einem Sommermorgen 1945.

Strahlender Sonnenschein weckte mich in der Frühe auf. Sofort überfiel mich der Gedanke an unsere gegenwärtige Lage, welcher die widerstreitendsten Gefühle in mir auslöste: Dahin war die Würde meines Volkes! Zerstört lagen die Städte, ganz besonders auch die Stadt Essen, der meine Lebensarbeit galt. Meine liebe alte Kirche lag in Trümmern! Mein Haus war verbrannt! Mein Sohn war irgendwo in Russland begraben. Überall ging der furchtbare Hunger durch's Land! Aber – was war das gegen den unsagbaren Jammer: Die Blüte der jungen Mannschaft war tot, geopfert den wahnsinnigen Träumen einiger Politiker!

Und doch – der Krieg war zu Ende. Zu Ende die schrecklichen Bombennächte. Zu Ende auch – ich atmete auf – die Quälereien der Gestapo. Zu Ende all die sinnlosen Verbote für unsre Jugendarbeit …

Da klingt auf einmal in mein Sinnieren hinein ein unsagbar fröhlicher Ton. Irgendwo da draußen zieht ein Posaunenchor heran und spielt:

 

Geh aus, mein Herz, und suche Freud'

In dieser schönen Sommerszeit

An deines Gottes Gaben …

 

Nun hält es mich nicht mehr im Bett. Ich springe an das offene Fenster! Welch ein überwältigender Anblick: Im Morgensonnenglanz liegen die waldbedeckten Höhen des Siegerlandes. „O Täler weit, o Höhen / Du schöner, grüner Wald …!“ Mein Fenster ist wie eine Warte, von welcher der Blick weit, weit hinaus geht in das Land. – –

Aber dann wird mein Blick gefesselt durch das, was unter meinem Fenster vorgeht: Da führt die große Landstraße von Siegen nach Dillenburg vorbei. Und auf dieser Straße zieht ein Zug heran: Vorn die Posaunen. Jubelnd schmettern sie Paul Gerhardt's Sommerlied:

 

Ich selber kann und mag nicht ruh'n,

Des großen Gottes großes Tun

Erweckt mir alle Sinnen …

 

Den Posaunen folgen junge Männer. Es sind noch nicht viele. Die meisten leben noch in Kriegsgefangenschaft. Und wie viele kommen nie mehr nach Hause! Aber dies Trüpplein von 20 Mann macht doch das Herz lachen.

Und dann kommen die Buben und Mädchen. Und dann – in einem sehr ungeordneten Haufen – Männer, Frauen und kleine Kinder.

Über dem ganzen Zug liegt eine Freude, die man nicht beschreiben kann! Jahrelang waren solche christlichen Feste verboten. Zum ersten Mal wieder trifft man sich!

Gerade unter meinem Fenster stößt der fröhliche Zug auf einen andern Menschenhaufen, der um die Kurve von Siegen her kommt. Die Posaunen brechen ab, die Züge lösen sich auf. Fröhlich begrüßt sich junges Volk.

Mir ist, als träumte ich! – – –

Aber nun ist mir vor lauter Freude der Erinnerungen an jenen großen Tag beim Schreiben „der Gaul durchgegangen“. Und der arme Leser weiß gar nicht recht, wo wir uns eigentlich befinden.

Zwischen Siegen und Dillenburg führt die Landstraße über einen der höchsten Punkte dieses Berglandes. Man nennt ihn den Rödgen. Dort stehen nur ein paar Häuser: zwei Bauernhöfe, ein Kurhaus, ein Pfarrhaus und eine herrliche, sehr alte, große Kirche.

In der dortigen Gegend hat Gott im vorigen Jahrhundert gewaltige Erweckungen gegeben. Und bis zum heutigen Tage ist das „fromme Siegerland“ bekannt durch ein reges geistliches Leben. Dies hatte sich auch gezeigt bei den Missionsfesten auf dem Rödgen, zu denen in früheren Jahren immer sehr viel junges Volk herbeigeströmt war.

Das hatte die Machthaber des „Dritten Reiches“ verstimmt. Und so hatte man die Feste verboten.

Nun waren die Fesseln gefallen. Zum ersten Mal wieder sollte Jugendmissionsfest auf dem Rödgen gefeiert werden!

Wie ein Feuer war diese Botschaft durch das Land gegangen. „Jugendmissionsfest auf dem Rödgen!“ Da strömte das Volk herbei! Und aller Jammer der Zeit, alle Sorgen und Nöte gingen unter in der unbeschreiblichen Freude, die über dem Volke Gottes liegt, wenn man „zusammenkommt“.

Das sah ich aus dem Fenster des hochgelegenen Pfarrhauses. Auf allen Wegen zog es heran. Von allen Richtungen her klangen Posaunen!

Wie schnell war ich in den Kleidern! Und nun hinunter!

Als ich die junge Pfarrfrau sah, ging mir ein Stich durchs Herz. Auch hier hatte der Jammer der Zeit seine dunklen Fittiche gebreitet: Der Pfarrer war in Russland vermisst. Die junge Frau hatte wohl das Leid am Morgen schon vor den Thron der Gnade hingelegt. Und nun freute sie sich mit den Fröhlichen.

Welch ein Gewimmel unter den alten Bäumen vor dem Haus, im Pfarrgarten, am Waldrand, auf den Wiesen!

Ein Kirchenältester stürzte auf mich zu: „Die Kirche ist viel zu klein für den Festgottesdienst!“

Wir sahen uns die Sache an. Ja, was ist zu tun?

Hinter der Wiese steil den Berg hinan. „Wenn wir alle Fenster öffnen, dann kann sich das Volk auf der Wiese lagern und dem Gottesdienst folgen!“

Ja, die Fenster öffnen! Das war nicht so einfach. Sie waren ein paar hundert Jahre alt. Klirrend stürzte beim ersten die Bleiverglasung heraus. „Ach lasst nur!“ sagt lächelnd der Kirchenälteste. Er war bestimmt nicht immer so großzügig. Aber heute! …

 

 

Diesen Gottesdienst werde ich nie vergessen, solange ich lebe. Kaum fand ich Raum, um zum Abendmahlstisch zu gehen, von wo die Schriftverlesung geschehen sollte. In allen Gängen drängte sich junges Volk. Auf den Galerien und der Kanzeltreppe saßen sie erwartungsvoll. Und draußen war es wie ein bunter Teppich – blühende Jugend!

Da setzten die Posaunen ein. Machtvoll erklang der Gesang des herrlichen Tersteegen-Liedes:

 

Siegesfürst und Ehrenkönig,

Höchst verklärte Majestät …

 

Und da, genau in diesem Augenblick, überfiel mich die Erinnerung. Ich sah mich wieder in dem abscheulichen Büro stehen, ich sah die verlebten, leeren, grausamen Gesichter: „In zehn Jahren wird kein junger Mensch mehr wissen, wer Ihr imaginärer Jesus ist.“

Diese Jugend aber sang hier:

 

Sollt ich nicht zu Fuß dir fallen

Und mein Herz vor Freude wallen,

Wenn mein Glaubensaug' betracht't

Deine Glorie, deine Macht!

 

Etwas erstaunt sah das junge Volk, wie der Festprediger sich die Tränen wischte, die einfach nicht zu halten waren. Kaum brachte ich die Schriftverlesung zu Ende: „… und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel …“

Da setzte ein Chor ein und sang die Psalmverse: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachen und unsre Zunge voll Rühmens sein …“

Da war es um uns alle geschehen, wir waren im Innersten bewegt. Und diese große Schar ahnte etwas davon, wie es sein wird in der zukünftigen neuen Welt, wo einmal alle, alle Fesseln fallen …

 

„… wenn frei von Weh

Ich sein Angesicht seh.“

 

 

 

 

„Das Gewissen … ach ja, das Gewissen!“

 

Unvermutet stehe ich einem hochgewachsenen Herrn gegenüber. Ich schaue in das kluge, aufgeschlossene Gesicht. Meine Gedanken fahren aufgeregt durcheinander: „Den kennst du doch! Das ist doch …“

Und dann weiß ich auf einmal, wer er ist. Im Geiste sehe ich mich in einem großen Konzertsaal. Eine festliche und erwartungsfrohe Menge füllt ihn bis zum letzten Eckchen. Auf dem Podium stimmen die Musiker ihre Instrumente. Rings um das Orchester bilden die Chöre einen ornamentalen Rahmen: Die Frauen in Weiß, die Männer in feierlichem Schwarz.

Auf einmal brandet ein gewaltiger Beifall auf: Der bekannte und beliebte Dirigent ist erschienen. Mit großen Schritten eilt er zu seinem Pult, ergreift den kleinen Stab, erhebt die Arme – totenstill wird es in dem Saal.

Und dann erklingen die unendlich ergreifenden Töne der Bach'schen „Matthäus-Passion“: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen …“ in meisterhafter Vollendung. – – –

Ja, so ist es, dieser berühmte Dirigent; den ich selbst so hoch schätze, steht vor mir.

Ich ergreife die Gelegenheit, ihm zu danken für alles, was er mir geschenkt hat. Namentlich für die herrliche Wiedergabe der Bach'schen Matthäus-Passion.

„Ja“, sagt er, „es ist eine seltsame Zeit, die wir erleben. Es ist, als wenn die Menschen etwas Tieferes suchten. Sehen Sie, wenn ich ein Konzert mit leichter Musik ankündige, dann ist der Saal halbvoll. Wenn ich aber die Matthäus-Passion gebe, dann sind zwei Aufführungen überfüllt.“

„Ja, es ist eine Unruhe über die Menschen gekommen“, erwidere ich. „Sie fangen an zu begreifen, dass nur das Evangelium Antwort auf unsre Lebensprobleme geben kann …“ Aufmerksam hört er zu. Aber sein Gesicht ist mit sieben Siegeln verschlossen. Um ihn aus seiner Reserve herauszulocken, setze ich etwas spöttisch hinzu: „Es ist nur bedauerlich, dass unser gebildetes Bürgertum von all dem so wenig merkt.“

Erstaunt mustert er mich, als wenn er fragen wollte: „Soll unser Gespräch denn mehr sein als eine höfliche Unterhaltung?“

Und dann sagt er: „Sie unterschätzen unsern Ernst. Sehen Sie, jedes Mal, wenn ich die Matthäus-Passion dirigieren muss, lese ich vier Wochen lang nur das Matthäus-Evangelium.“

Fast ärgerlich winke ich ab: „Wenn Johann Sebastian Bach zufällig den Koran vertont hätte, würden Sie vier Wochen lang dieses Buch lesen!“

Jetzt schaut er mich verblüfft an. Und da mache ich wie ein Fechter nun einen offenen Ausfall: „Ich meine; wann werden die Gebildeten in unserem Volk, also Leute wie Sie, es endlich begreifen, dass sie ohne das Evangelium nicht leben können!“

Er springt auf: „Nun, wenn wir hier so offen reden, dann will ich Ihnen einmal sagen, was ich in dieser Sache denke!“

Er lächelt und wird dann auf einmal sehr ernst. Denn er begreift als ein kluger Mann wohl, dass konventionelle Höflichkeit eine unheimliche Waffe sein kann gegen das „Wort der Wahrheit“, und dass ein Prediger des Evangeliums diese geschmeidige Waffe mehr verabscheuen muss als den brutalen Augriff der primitiven Gottlosigkeit.

„Also, die Sache ist so“, sagt er langsam, als wenn er nun jedes Wort noch einmal prüfen wolle, „wenn ich ein Wort des Johannes-Evangeliums lese – das ist ganz groß! Ganz groß und herrlich! Aber wenn ich Bruckner's 3. Symphonie höre – – das ist größer! Ja, das ist größer! Denn – – das Wort ist nicht das Letzte!

So, nun ist es heraus. Und einen Augenblick lang liegt zwischen uns eine große Stille. Denn es ist schon eine besondere Sache, wenn ein Mensch seine innerste Gesinnung offenbart.

Aber ich durfte diesen Satz nicht so stehen lassen. Denn ich hin überzeugt, dass gerade in dieser Haltung ein Grund für die geistige Katastrophe des Abendlandes liegt. Darum unterbrach ich das Schweigen: „So, das Wort ist nicht das Letzte? Ich fürchte, Sie haben den tiefsten Grund der inneren Unruhe unserer Zeit noch gar nicht erkannt. Wir sind ein ruchloses Jahrhundert, wie seit der Renaissance keines mehr gewesen ist; die Menschen unserer Zeit sind unendlich schuldig geworden. Und die tiefste Ursache aller Unruhe ist – das böse Gewissen. Gott ist für unsere Zeit noch nicht so tot, dass Er nicht die Gewissen beunruhigte …“

Geradezu erschrocken starrte er mich an. Ich fuhr fort: „Und sehen Sie! Da kann sogar Ihre beste Musik vielleicht die Rolle von Morphium spielen. Was unsre Zeit aber braucht, ist nicht Morphium für die Gewissen, sondern Heilung der Gewissen. Und da hilft nur ein Wort, nämlich ein klares Wort Gottes. Etwa das Wort: Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde.“

Deutlich sehe ihn noch vor mir, wie er an die Verandatür dastand. Meine letzten Worte hatte er kaum mehr aufgenommen. Als wenn er in ein neues Land schaute, sagte er nur immer wieder: „Das Gewissen! … Ach ja, das Gewissen! Das … gibt es auch noch? Das habe ich ja ganz vergessen! – – Das Gewissen!

Ohne Abschied ging ich weg. Ich glaube, er hat es gar nicht gemerkt …

 

 

 

 

Ringen um Tod und Leben

 

Langsam gehe ich durch den hellen Korridor des großen Krankenhauses, in dem ich die Seelsorge habe.

Als ich am Operationssaal vorbeikomme, öffnet sich die Tür. Ich sehe Schwestern und Ärzte, die sich über eine weißverhüllte Gestalt beugen.

Eben kommt der Professor heraus. Sein Gesicht ist wie verfallen. Selten habe ich einen Menschen so erschöpft gesehen. Mit einem flüchtigen Gruß geht er vorbei.

Hinter ihm geht eine Schwester. Sie erkennt mich und grüßt: „Eine schwere Operation gehabt?“, frage ich.

Sie nickt.

„Ist sie gelungen?“

Sie zuckt die Achseln: „Das schwerste scheint überwunden. Es ist ein Vater von fünf Kindern. Hoffentlich ringen wir ihn dem Tode ab.“

Das Wort klingt in mir noch nach, während ich weitergehe. Tod! Tod!

Ich ringe ja mit einem viel schrecklicheren Tode als der Professor. Gewiss, es ist schrecklich, wenn der Leib stirbt. Aber viel furchtbarer ist es, wenn die Seele erstorben ist, wenn sie nicht mehr auf Gottes Ruf reagiert, wenn sie keine Unruhe des Gewissens mehr spürt, wenn sie unfähig geworden ist zum Beten.

Da stehe ich vor einer weißen Tür.

Dahinter in dem großen Saal liegt so einer, um den ich ringe. Als ich zum ersten Mal an sein Bett trat, fing der alte Kerl an zu lachen. Und dann schimpfte er, man möge ihn doch mit dem „Quatsch“ in Ruhe lassen.

Ich ließ ihn ausreden. Dann aber sagte ich ihm das Wort: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, die Sünder zu erretten.“

Da lachte er wieder schallend und rief mir nach: „Sagen Sie Ihrem Jesus, er solle mir ein paar Zigaretten bringen!“

So ging es durch ein paar Wochen. Ich ließ ihn nicht los. Immer wieder stand ich vor diesem Bett. Immer wieder bekam ich dieselben blöden Reden zu hören. Und immer wieder sagte ich ihm ein Wort von Jesus, das er lachend von der Bettdecke wischte.

Aber vor ein paar Tagen war es auf einmal ganz anders. Da grüßte er freundlich. Ich zog mir einen Stuhl heran. Er sagte kein Wort. Langsam zog ich mein Testament heraus und las aus dem Buch:

„Kommet her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid …“

Weiter wagte ich noch nichts zu sagen. Er nickte schweigend – ich ging still weg, sah ihn aber lange an.

Nun stand ich wieder vor der Tür: „Hoffentlich ringen wir ihn dem Tod ab“, sagte ich leise und trat ein.

Das Bett war leer. „Gestern gestorben“, sagten die andern Patienten.

 

 

 

 

„Es ist schade um dich!“

 

Während des Krieges kamen allerlei Soldaten für längere oder kürzere Zeit nach Essen. Darunter waren Christenleute, die meinen N amen irgendwie gehört hatten und mich nun aufsuchten.

Aus solchen Besuchen hatte sich im Laufe der Zeit ein Soldatenkreis entwickelt, der an einem bestimmten Wochentage in meiner Wohnung sich zusammenfand. Da betrachteten wir Gottes Wort, tauschten unsere geistlichen Erfahrungen aus und hielten schließlich eine gemeinsame Abendmahlzeit mit dem Kärglichen, was uns zugeteilt war.

Trotzdem der Kreis beständig wechselte, entstand hier doch eine enge Gemeinschaft. Und uns allen, die wir an jenen Abenden teilgenommen haben, erscheinen sie in der Erinnerung noch wie eine liebliche Oase in den wüsten Kriegszeiten.

Eines Tages fand sich ein neuer Mann in mittleren Jahren zu uns. Er hatte eine stille, feine, zurückhaltende Art. Erst im Laufe der Zeit kamen wir dahinter, dass er ein außerordentlich gebildeter Mann war, der unsagbar Schweres durchgemacht hatte. Um seines freimütigen Bekenntnisses willen hatte er lange Zeit im Konzentrationslager gesessen. Schließlich hatte man ihn entlassen und dann gleich zum Militär eingezogen. Unter den rohen Vorgesetzten galt er natürlich als verdächtiger KZ-Sträfling. Und so hatte er sich wohl angewöhnt, ein stilles und zurückgezogenes Leben zu führen.

Eines Abends aber taute er auf. Und da berichtete er uns ein kleines Erlebnis, das uns allen tiefen Eindruck machte:

Er lag auf einer Stube, die mit etwa 10 Soldaten belegt war. Da ging es laut her. Besonders aber ein junger Mann, der aus Hamburg kam, führte das große Wort. Der war offenbar durch alle Pfützen der Großstadt gegangen. Und nun erfüllte er die Stube mit seinen schmutzigen Reden. Da hagelten die Flüche und Zoten. Und das übrige Volk zollte ihm begeistert Beifall. Auf den stillen Mann aber, der sein Bett in einer Ecke hatte, nahm man weiter keine Rücksicht.

Eines Tages war die Post verteilt worden. Die Soldaten auf ihren Stuben öffneten ihre Päckchen und lasen ihre Briefe. Auch der Hamburger hatte ein Paketchen bekommen. Irgendein Mädchen hatte wohl an ihn gedacht. Und während er stolz den Inhalt vorzeigte: Zigaretten und Bonbons – erzählte er wichtigtuerisch von seinen vielen und gemeinen Liebschaften.

Ja, und da kam der Punkt, wo der stille Mann es nicht mehr ertrug. Zu aller Erstaunen trat er auf einmal vor und sagte in seiner schweren und nachdrücklichen Art: „Was bist du für ein armer Kerl! Wenn's so dreckig aus dir herausfließt, wie muss es erst in dir drin aussehen! Es ist schade um dich!“

Damit ging er aus der Stube. Und seltsamerweise war es auf einmal totenstill, während er die Türe hinter sich zuzog.

Er war auf dem Korridor noch nicht weit gekommen, da lief der andre hinter ihm her: „Kamerad! Halt einmal!“

„Was gibt's?“

„Du sagst, es sei schade um mich! So etwas hat mir noch niemand gesagt. Das – ja, – – wie soll ich es sagen? – das sieht aus, als ob ich einen Wert gehabt hätte. Ich verstehe das nicht. – – – Sag mir, was meinst du damit?“

Der stille Mann blieb stehen. Und dann fing er wieder an in seiner merkwürdig nachdrücklichen Art, zu reden: „Gott hat aus dir etwas machen wollen. Auch du bist von Ihm geschaffen. Und jetzt – so ein Schmutz! Ja, es ist schade, Kamerad, wenn man weiß, dass Gott etwas mit dir wollte, dann kann man nur sagen: Es ist schade um dich!“

Gleich darauf musste man zum Appell antreten. Der stille Mann ging an seinen Platz. Auf einmal, während die Reihen sich formierten, fühlte er, dass einer von hinten seine Hand ergriff. Und dann wurde ihm ein Bonbon hineingedrückt. Als er sich kurz umschaute, stand der rohe Hamburger hinter ihm.

Nun war allerdings jetzt keine Zeit zu einem Gespräch. Aber als der Appell zu Ende war, fragte unser Freund: „Warum tust du ausgerechnet mir etwas Gutes? Ich habe dir doch hart die Meinung gesagt.“

Da brach es aus dem andern heraus: „Du bist der Einzige, der mich in meinem Leben ernst genommen hat! Du meinst ja wirklich, dass ich einen Wert haben könnte!“

 

 

So berichtete in unsrem Soldatenkreis der stille Kamerad. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Es dachte jeder darüber nach, dass die meisten Menschen wohl – wie jener Hamburger – eine Maske trügen, hinter welcher der eigentliche Mensch mit seiner Not und Sehnsucht verborgen sei.

Schließlich fragte einer von uns: „Wie ging es denn weiter?“

Der Gefragte lächelte: „Wir sind jetzt Freunde. Ja, mehr, Brüder! Wir lesen zusammen die Bibel. Und mein Freund hat den Herrn Jesus gefunden und weiß, dass der sein Heiland ist. Manchmal will ja das alte, wichtigtuerische Wesen wieder hervorbrechen. Aber dann erschrickt er auf einmal und schaut mich an. Und ich lese in seinem Blick die Frage: Meinst du, dass Jesus immer noch Geduld mit mir hat?

Wir wissen aber beide, dass wir von Seiner Geduld leben.“ –

Der stille Mann ist wieder aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Und ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Die Weltgeschichte hat von seinem Leben keine Kenntnis genommen. Aber ich meine, solch eine Geschichte wie die von dem Hamburger sei im Lichte der Ewigkeit wichtiger und bedeutsamer als alle großen Schlachten dieses furchtbaren Krieges.

 

 

 

 

„Jetzt geht wieder die schöne Zeit an!“

 

Es war vor Jahren am Vorabend des ersten Advent.

In dem Heim unsres Jugendkreises ist fröhliches, quirlendes Leben: Da wird noch einmal tüchtig geübt und geprobt für die Adventsfeier, zu der sich immer eine große Gemeinde aus Jungen und Alten zusammenfindet.

Der Hausmeister, der den Adventskranz aufgehängt hat, trägt eben die Leiter weg. Er kann manchmal recht verdrießlich brummen, wenn's die Jungen gar zu toll treiben. Aber heute summt er leise das liebe alte Adventslied: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …“

Und als ich ihm lächelnd nachsehe, fällt mein Blick auf einen jungen Mann. Dieser schlanke, hochgewachsene Junge ist mir besonders lieb. Ich weiß, wie schwer er es hat. Seine Eltern sind überzeugte Freidenker. Da steht er zu Hause sehr allein. Denn schon früh hat er erkannt, dass er nicht ohne Jesus leben kann. Mit Petrus sagte er zum Herrn Jesus: „Wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“

An jenem Abend also fällt er mir auf. Denn sein Gesicht strahlt ganz unbeschreiblich.

„Was ist mit dir?“ frage ich. Da atmet er tief auf und sagt: „Jetzt fängt wieder die schöne Zeit an, wo es heißt: Er kommt, Er kommt mit Willen …“ Und dann geht er schnell davon, dass ich seine Bewegung nicht sehen soll. Ich aber muss nun diesen Vers leise vor mich hin singen:

 

Er kommt, Er kommt mit Willen,

Ist voller Lieb und Lust,

All Angst und Not zu stillen,

Die Ihm an euch bewusst.

 

„Jetzt fängt wieder die schöne Zeit an!“ So oft Advent herannaht, ist mir, als höre ich den jungen Mann diesen Satz sagen.

Kurz nach Weihnachten erfasste auch ihn die Kriegsmaschine. Er wurde eingezogen. Und der Krieg ging über unser Jugendheim. Es wurde zur Ruine.

Als wir unter armseligen Umständen doch wieder unsre Adventsfeier hielten, brachte die Post einen Brief von unserem jungen Freund. Da schrieb er aus Russland. Man spürte aus jeder Zeile das Heimweh und die furchtbare Einsamkeit. Aber es stand auch noch etwas andres in dem Brief. Und das war die Freude, dass „jetzt wieder die schöne Zeit anfängt“. „Ich vereinige mich im Geist mit euch“, schrieb er, „und singe mit euch: Er kommt, Er kommt mit Willen / Ist voller Lieb und Lust / All Angst und Not zu stillen …“

Als wir im Jahre darauf Advent feierten, kam kein Brief mehr von ihm. Da war er irgendwo im fernen Osten gefallen.

Ja, „gefallen“ in die Hand seines Heilandes, von dem er sich erkauft und gerettet wusste. Und ich weiß: Als die tödliche Kugel ihn traf, wurde das für ihn zum rechten Advent. Da kam sein Heiland und holte ihn nach Hause, wo Er endgültig und für immer „alle Angst und Not des Herzens stillt“.

 

 

 

 

„Gott ist an allem Schuld!“

 

Manchmal erlebt man das Walten des lebendigen Gottes so deutlich, dass man nur staunen muss. Und wenn das geschieht, ist man – so glaube ich – immer irgendwie beschämt. Diese Tatsache wurde mir durch folgendes Erlebnis neu bewusst:

Da saß ich am Steuer meines Wagens und brummte ärgerlich vor mich hin. Es war auch wirklich kein Spaß zu fahren: Der Regen troff nur so. Man konnte kaum durch die Scheiben sehen. Und die Nacht war schwarz wie ein Tunnel. Dabei musste ich eine weite Strecke zurücklegen. Es ging über lauter Straßen mit einem ekelhaften Kopfpflaster. Das ist bei Regen schrecklich glatt. Und dann die Straßenbahnschienen! Der Wagen rutschte nur so durch den großen Verkehr! Jedes entgegenkommende Auto, ja jeder Radfahrer – und es wimmelte von Bergleuten, die zur Schicht fuhren! – warf mit seiner Laterne eine lange Lichtbahn in die Nässe. Das blendete unerträglich! Das war nun schon der dritte Abend, dass ich diese mühsame Fahrt machte. Und vier Abende hatte ich noch vor mir. Dazu sah es gar nicht so aus, als wenn das Wetter besser werden wollte.

Und warum das alles?

Da hatte nun so ein kleines Dorf eine Evangelisation veranstaltet. Schön und recht! Aber was in aller Welt hatte mich bewogen, diese Sache zu übernehmen? Eigentlich hatte ich selbst das auch gar nicht getan. Wie war es denn dazu gekommen? Ein Jugendkreis meiner Gemeinde war in dem Dorf freundlich aufgenommen worden. Und da hatte man sie am Schluss gebeten: „Nun sagt doch eurem Pfarrer, er soll einmal eine Woche lang bei uns Vorträge halten!“ Das hatten die Burschen so halb zugesagt. Jedenfalls versicherten sie mir, ich dürfe sie jetzt nicht blamieren und absagen!

„Langsam! Langsam!“ Ich fasse das Steuer fester. Es geht wieder um so eine gefährliche Kurve. Und natürlich kommt mir ausgerechnet ein riesiger Lastwagen entgegen. Abblenden, das kennt der Fahrer offenbar auch nicht … Vorsichtig schiebe ich meinen Wagen daran vorbei.

Wirklich, es ist „zum Wild-Werden“! Ich muss an den ärgerlichen Brief denken, der zu Hause auf meinem Schreibtisch liegt. Aus einer Stadt im Süden ist er gekommen. Und die Leute dort beschweren sich bitter, dass ich ihnen nun schon zum zweiten Mal eine Einladung abgeschlagen habe.

Im Geist sehe ich die große Stadtkirche vor mir. Unwillkürlich vergleiche ich sie mit dem armen DorfkirchIein in dem „Nest“. Nur mit Mühe und Not bekommt man da ein paar Leute zusammen. Das ist ja so verständlich: wer mag bei diesem Wetter die weiten Wege aus den zerstreuten Bauernhöfen antreten! Das müssen immerhin sehr hungrige Seelen sein!

Im Gedanken an diese verlangenden Herzen wird mir ein bisschen besser zu Mute.

So, und nun haben wir endlich die letzten Zechen hinter uns. Jetzt kann man etwas freier fahren. Wir überholen ein paar triefende Gestalten, die zu der Dorfkirche eilen – durch Nacht und Sturm! Wirklich – das Bild packt uns. Und man schämt sich schon fast seines Ärgers.

Aber das Eigentliche kommt erst!

Als ich meinen Wagen am gewohnten Platz anhalte, mich da ein Mann: „Guten Abend, Herr Pfarrer! Darf Sie in mein Haus einladen? Es kommt da ein kleiner Kreis zum Gebet zusammen vor Ihren Versammlungen.“

Das kann man brauchen. Alle Nerven zittern nach der anstrengenden Fahrt. Da ist es schön, mit ein paar Gleichgesinnten vor Gott stille zu werden.

In einem netten Hause finden wir ein paar Männer, Frauen und junge Leute. Und da hören wir die wunderbare Geschichte, die mir klar macht, warum ich ausgerechnet dort Vorträge halten musste.

„Sehen Sie“, berichtete der Mann, „schon in meinem Elternhause hat das Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus das Leben beherrscht. Und darum hat es meinen Vater und Großvater immer geschmerzt, dass hier in der Gegend so viel geistlicher Tod ist. Die Leute gehen auf in den Sorgen des täglichen Lebens. Und nach Frieden mit Gott fragen nur ganz wenige.

Als mein Vater dann hörte, dass da und dort Vortragsreihen und Evangelisationen gehalten wurden, sagte er oft: Wenn das doch in unserer Gemeinde einmal geschähe, dass eine Woche lang der Weg zur ewigen Seligkeit klargelegt würde!

Wir Jungen meinten dann, wir könnten das ja einmal veranstalten. Aber mein Vater wehrte ab: Das darf man nicht erzwingen! Das muss von dem Kirchengemeinderat oder – wie man hier sagt – vom Presbyterium ausgehen! Wir wollen darum beten! – Und das haben wir seitdem getan. Nun schon durch Jahre hindurch. Mein Vater ist darüber gestorben. Aber wir haben weitergemacht. Jede Woche ist hier im Hause gebetet worden, Gott möge es dem Presbyterium doch ins Herz geben, dass sie einmal einen Evangelisten berufen …

Und sehen Sie, jetzt hat Er unsere Bitten erhört. Sie sind ganz offiziell vom Presbyterium berufen. Und wir können Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir uns freuen, dass nun eine Woche lang unser Kirchlein sich füllt – trotz Sturm und Regen!“

So wurde mir dort in der Stube berichtet. Und man wird verstehen, dass es mir etwas den Atem verschlug. Denn wenn wir auch mit der Erfüllung unsrer Gebete rechnen, so ist es für unsere harten Herzen doch immer wunderbar, wenn wir die Hand des lebendigen Gottes eingreifen sehen.

Wie musste ich mich nun von Grund meines Herzens schämen, dass mir diese Fahrten hatten zu viel werden wollen!

Aber dabei durfte ich gar nicht stehen bleiben. Da war ein junger Mann in der Stube. Der lachte mich fröhlich an und sagte: „Sehen Sie, darum hat es uns auch so gefreut, dass Sie am ersten Abend ausgerechnet das Thema hatten!“

Da besann ich mich, dass ich meine Vortragsreihe begonnen hatte mit einer Rede über das Thema: „Gott ist an allem schuld!“ So stand es auf den Handzetteln, die zu den Versammlungen einluden. In der Tat: Gott war an allem schuld!

Da wurde mir das Herz weit. Und so haben wir zusammen gebetet, dass Er in dieser Sache weiter wirken wolle.

 

 

 

 

Tante Regine

 

„O, welch köstlicher Sonnenschein! Da möchte ich wirklich ins Freie hinaus!“ rief ich an einem prächtigen März-Morgen. „ Wo könnte ich denn hin?“ fragte ich meine Familie.

„Besuche doch wieder einmal die Tante Regine! Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört“, meinte meine Frau.

Das war eine gute Idee. Tante Regine war eine prächtige Frau: klug, gebildet, fromm, aufrichtig – kurz, man hatte immer etwas davon, wenn man mit ihr zusammen war.

Diese Tante wohnte in Wuppertal. Mit dem Rad war das Städtchen in einer guten Stunde zu erreichen, man erlebte dabei das schöne bergische Land und tat obendrein noch etwas Nützliches. Gewiss würde es die Tante freuen, wenn ich einmal nach ihr sah.

So fuhr ich also los in den schönen Sonnenschein.

Da stand ich auch schon vor dem Hause meiner Tante und klopfte. – Keine Stimme noch Antwort. Ich pochte heftiger.

Endlich ging oben ein Fenster auf, eine Frau schaute heraus und teilte mir mit, die Tante sei krank und liege im Krankenhaus.

Die arme, alte, einsame Tante! Die braucht mich! Ich frage mich durch zu dem Spital.

Und dann stehe ich vor dem Bett der Patientin. Ich sehe sofort, dass es ernst um sie steht. Sie ist sehr elend. Aber nun bin ich soweit gefahren. Da möchte ich doch nicht ganz umsonst gekommen sein! Und wenn aus einem Gespräch auch nichts wird, so möchte ich ihr doch wenigstens ein Wort Gottes sagen.

So nehme ich ihre schmale, blasse Hand, beuge mich zu ihr hinab und sage langsam das herrliche Wort aus dem 23. Psalm: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“

Da schüttelt sie traurig den Kopf und zeigt auf ihre Ohren. Ich verstehe: Sie ist so schwerhörig geworden, dass ich lauter sprechen muss. Also brülle ich ihr das Wort noch einmal ins Ohr. Aber sie schüttelt ihren weißen Kopf. Sie hat es nicht verstanden.

Einen Augenblick bin ich ratlos. Soll die ganze Fahrt umsonst gewesen sein?

Da fällt mir etwas ein: Ich reiße ein Blatt aus meinem Notizbuch und schreibe den Spruch groß und deutlich darauf. Sie nimmt das Blatt, versucht zu lesen – es geht auch nicht. Ihre Augen sind zu schwach. Mühselig richtet sie sich auf, nimmt ein Vergrößerungsglas vom Nachttisch und versucht, damit das Geschriebene zu entziffern.

Sie versucht! Aber es gelingt nicht. Und mit einer erschütternden Gebärde lässt sie Blatt und Glas sinken und legt sich in die Kissen zurück. – –

Mir wollen die Tränen kommen: Wie furchtbar ist das! Ich verstehe, dass diese Frau wie lebendig eingemauert ist. Kein Ton und keine Nachricht von draußen dringen zu ihr hinein. Und dies bei einem so regen und lebendigen Geist!

Da sagt sie mit leiser Stimme: „Ja, ich bin ein armer Mensch. Ich kann nicht mehr sehen und nicht mehr hören …“ Und dann – mit einem tiefen Aufatmen: „Aber ich habe den Heiland! Und wer den Heiland hat, der hat genug.

Müde fuhr ich mit meinem Rad nach Hause zurück. Aber in meinem Herzen lag ein großes Freuen: Wie reich macht der Herr Jesus Seine Leute! Und auf einmal erkannte ich, wozu mir diese Fahrt bestimmt gewesen war: Ich wollte eine alte Frau trösten, und sie hat mich herrlich getröstet.

 

 

 

 

Kann die Natur uns erlösen?

 

Karl Freund wandelte an einem Sonntagmorgen den stillen Waldweg entlang. Er atmete tief auf und blieb beglückt stehen. So liebte er es. Ringsum das stille Rauschen des Waldes, das Singen der Vögel, der blaue Himmel und das glänzende Licht, das die Morgensonne in Pfeilbündeln durch das dichte Laub warf. Wie schön doch das alles war!

Unwillkürlich faltete er die Hände. Er fühlte sich eins mit der herrlichen Natur. Er war in ihr und sie in ihm. So feierte er seinen Gottesdienst.

„Nein!“ dachte er, „da sitzen sie nun in dämmrigen, muffigen Kirchen und lassen sich irgendwelche mittelalterliche Dogmen vortragen. Ach, wie man bloß daran Freude haben kann? Hier ist Gott! Hier inmitten all der herrlichen Natur … Ja, hier … Hier kann man ihn fühlen im Atmen der Natur. Und wer hier nicht Gott erlebt, der muss einen Stein in der Brust haben …“

Bei jedem Schritt entdeckte er neue Offenbarungen der Natur. Ganz feierlich war ihm zumute.

Einige Jahre später.

Wieder geht Karl Freund durch den stillen sommerlichen Wald. Aber diesmal ist sein Herz nicht voll Harmonie. Es ist notvoll und zerrissen. Gestern ging das Glück seines Lebens in Trümmer.

Seine junge Frau hat einem Kindlein das Leben geschenkt, aber sie selbst hat unter unsagbaren Qualen ihr junges Leben lassen müssen. Und kurz nachher ist auch das Kindlein gestorben.

Nun ist er früh am Morgen hinausgeeilt in seine geliebte Natur. Sie soll ihm Trost und seelische Kraft geben. Schon stundenlang schreitet er durch den Wald. Er sieht es alles wie sonst … die Vöglein zwitschern, die Wolken ziehen … Die Sonne liegt über dem allem … Aber in seinem Herzen will es nicht stille werden. Es hat keinen Wert, sich etwas vorzumachen. Es ist schon so: Die Natur hat heute keinen Trost für sein zerrissenes Herz.

Fast wild macht ihn der Anblick der herrlichen Waldespracht. Am liebsten möchte er, während die alten Bäume so gleichmütig rauschen, als sei nichts geschehen, wild aufschreien: „Was soll mir all eure Schönheit? Was soll mir das Rauschen? In einem Vierteljahr ist ja doch Herbst. Dann muss auch eure Schönheit sterben, sterben, ja sterben …“

Er kommt auch von dem Gedanken nicht los. Es hämmert in seinen Schläfen: „Sterben … ja sterben …“ Langsam geht er weiter. Das Bild der Toten steht vor ihm. O, in all seinem Schmerz ist noch ein besonderer Stachel: Am Abend, ehe seine Frau ins Krankenhaus ging, an dem Abend – er kann es heute gar nicht verstehen –, an dem Abend hatte er noch einen kleinen Wortwechsel mit ihr. Wie er das nur hatte tun können! Gewiss, er war abgearbeitet, gereizt. Aber es hat ja keinen Zweck, allerlei Entschuldigungen zu suchen. Tatsache war, dass er harte, unfreundliche Worte zu ihr sagte. Und das war nun das Letzte gewesen! Wie ihn das jetzt schmerzte! Nie mehr gutzumachen! Nie mehr! …

Karl Freund stürmte den Weg entlang. J a, wenn er jetzt jemand gehabt, der zu ihm hätte sprechen können … Aber das Rauschen der Bäume ließ ihn so kalt und unberührt. Groll und Erbitterung kamen über ihn. Alles Menschenleid schien sie nicht zu kümmern. Sie standen, wie sie standen, die alten Bäume …

Da drang auf einmal Glockengeläute durch die Morgenstille. Karl horchte auf. Ohne zu wissen was er tat, folgte er dem Klang. Bald lichtete sich der Wald, und ein Dörflein lag im Wiesengrunde.

Wie im Traum ging Karl hinter einem jungen Bauern her, der über den alten Friedhof dem Kirchlein zuwanderte. Jetzt durchschritt er die niedrige Pforte. Und nun saß er – seit langem zum ersten Male – in einer Kirche. Leise setzte die Orgel ein. Und dann fielen die Stimmen der Bauern ein, die sangen:

 

„Jesu, meine Freude,

meines Herzens Weide,

Jesu, meine Zier.

Ach, wie lang, ach lange

ist dem Herzen bange

und verlangt nach dir …“

 

Ihm war es, als sängen seine Mitmenschen für ihn. Jetzt trat der Pfarrer an den Altar und las in die Stille hinein: „Jesus Christus spricht: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken …“

Da schlug Karl Freund die Hände vors Gesicht und ward stille vor dem lebendigen Gott.

 

 

 

 

Zwei Wege

 

Irgendwo im Taunus war es, auf einer einsamen Landstraße. Ein strahlender Vorfrühlingstag ging zu Ende. Die Vögel sangen ihr Abendlied. Über die Wälder herüber klang eine Glocke. Über den Wiesen und Feldern lag es wie frohe Erwartung: „Es muss doch Frühling werden.“

Ich hatte mich auf einen Stein gesetzt und genoss den Abendfrieden.

Da kommt ein ganz alter Mann des Weges daher. Der Rücken ist gebeugt, grau sind Haar und Bart.

„Guten Abend!“ rufe ich ihm fröhlich zu.

Keine Antwort.

Lauter rufe ich: „Guten Abend!“

Da dreht er sich einen Augenblick herum und knurrt: „Sie werden einen Schnupfen kriegen, wenn Sie noch lange dasitzen!“

Ich muss lachen: „So ein Grobian!“ Aber dann stehe ich auf und gehe ihm nach.

„Ein schöner Abend“, sage ich.

„Kühl“, knurrt er.

„Jetzt wird's bald Frühling!“ meine ich.

„'s wird Zeit“, brummte er.

So geht das eine Weile. Ich suche ihn fröhlich zu stimmen. Er brummt und schimpft nur. Da reißt mir die Geduld.

„Sagen Sie doch, lieber Mann, haben Sie eigentlich gar nichts zum Freuen?

Da sieht er mich unsäglich bitter und traurig an und antwortet hart: „Nein!“ Und dann ist's, als sei ein Damm weggerissen. Da ergießt sich ein Strom von Anklagen gegen die Welt und gegen sein Dasein, gegen die bestehenden Verhältnisse und gegen seine Kinder.

Der arme alte Mann! Er war auch einmal jung, hatte sicherlich Freude gesucht, Schönes erhofft. Und nun ist ihm am Rande des Grabes nichts geblieben als eine Enttäuschung und grenzenlose Bitternis.

Wie Leid tut er mir!

Da wage ich eine letzte Frage: „Haben Sie denn auch keine Hoffnung des zukünftigen Lebens?“

Energisch und zornig winkt er ab: „Das ist ja alles Unsinn!!“ Und damit geht er auf einem Seitenweg davon.

Lange folge ich mit den Augen der armen, gebeugten Gestalt. Sein letztes Wort hat mir das Geheimnis seines Elends enthüllt: Er hat keinen Frieden mit Gott.

Bei solch einem Leben steht man am Ende bettelarm und verloren. Da hat man nichts mehr zum Freuen. Da ist nur noch Grauen.

Während ich ihm nachsehe, taucht in meiner Erinnerung ein anderes Bild auf:

Es ist noch gar nicht lange her, da erlebte ich, wie ein starker Mann in den besten Jahren sich zum sterben anschickte. Neben dem Bett saß seine Frau, und um ihn her stand ein Trüpplein weinender Kinder, die er unversorgt zurücklassen musste.

Da bat der Sterbende: „Kinder, singt mir noch ein Lied!“

„Was denn Vater?“

„Singt mir“, sagte er mit schwacher Stimme, „singt mir den Vers: ,O dass ich tausend Zungen hätte'.“

Und dann wurden alle Not und das Grauen des Sterbens vertrieben von dem Lobe Gottes:

 

O dass ich tausend Zungen hätte

Und einen tausendfachen Mund

So stimmt ich damit um die Wette

Vom allertiefsten Herzensgrund

Ein Loblied nach dem andern an

Von dem, was Gott an mir getan.

 

Das war der Inhalt eines Lebens, das durch Jesus Christus mit Gott versöhnt war. Da gab's im Blick auf die Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft im Sterben nur das Lob Gottes.

 

 

 

 

Phrase oder Ewigkeitswort auf dem Friedhof

 

Der Friedhofswärter zuckt bedauernd die Schultern: „Sie müssen leider warten. Sie wollen doch das Kind von Familie X. beerdigen? Ja, da ist nun eine andre Feier, die noch nicht zu Ende ist.“

In diesem Augenblick höre ich die Klänge des Chopin'schen Trauermarsches. „Was ist denn da los?“

„Das ist eben diese andre Beerdigung“, sagt der Friedhofswärter. „Eine ganz große Sache!“ fährt er fort. „Da wird eine Frau begraben, die in der Partei eine große Rolle spielte. Und im Luftschutz! Natürlich ohne Pfarrer! Aber mit allem Drum und Dran: Luftschutz, Parteileute, Musik, Amtswalter. Weil die Halle zu klein war, sind sie im Freien.“

Also warten! Wenn die Männer der Partei erst einmal reden, geht es nicht so schnell. Es war zur Zeit des „Dritten Reiches“.

Ich ziehe mir meinen Talar an. Und dann? Ja, was soll ich nun machen? Wie wäre es, wenn ich mir diesen Aufmarsch ansähe?

Also gehe ich hinter die Halle auf den freien Platz. Das übliche Bild: Hakenkreuz-Fahnen, Blechmusik, Uniformen und ein schreiender Redner. Bescheiden stelle ich mich hinter die Letzten und höre zu. Aber der Redner hat mich erspäht. Irgendwie ist ihm die Anwesenheit eines Mannes im Talar unangenehm.

Ich zweifle nicht daran, dass er mich entdeckt hat, denn ich merke, wie er unruhig wird. In seiner Rede gibt er mir den Beweis dafür, als er nun einsetzt mit wilden Ausfällen gegen „die Pfaffen“. „Nicht diese Pfaffen sind die wahren Christen! Der Dienst in der Partei, den diese Tote getan hat, ist das wahre Christentum!“ In der Tonart geht es weiter.

Schließlich nimmt auch diese „gewaltige“ Rede ein Ende. Gegen den Sarg gewandt, ruft der Redner der Toten zu: „Gehe ein nach Walhall!“

Die Musik setzt ein, und der ganze Haufe zieht ab zum Grab, das weit draußen am Rande des Kirchhofes liegt.

Bald nachher ziehe ich mit den betrübten Eltern denselben Weg. Das kleine weiße Kindersärglein hat der Leichenträger einfach unter den Arm genommen.

Als wir an unserem Grabe ankommen, ist die andre Beerdigung eben zu Ende. Während der kleine Sarg in das Grab hinabgelassen wird, strömt die Menge vorbei. Als ich dann endlich anfangen will, entdecke ich, dass mein Parteiredner bei unserm Grab stehen geblieben ist. Ich überlege mir heute noch, warum er das tat: Wollte er einmal sehen, wie wir das machen? Oder wollte er nun über mich lächeln, wie ich über ihn gelächelt hatte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls also stand er in seiner prunkenden Uniform etwas deplaziert hinter den unscheinbaren, weinenden Eltern.

Und dann ertönen die herrlichen, ewigen Worte der Bibel über diese Stätte des Todes: „Jesus sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Und: „Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, welches war bei dem Vater und ist uns erschienen.“

Als alles zu Ende ist, ergibt es sich dann ganz von selbst, dass ich neben dem Amtswalter zurückgehe. Man muss schon jene Zeit miterlebt haben, um zu begreifen, wie seltsam das ist: der Mann in der braunen Uniform und der Pfarrer im Talar. Die Gärtner schauen uns erstaunt nach.

Er schweigt in allen Sprachen der Welt. So beginne ich das Gespräch: „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Bitte!“

„Sie haben vorhin ihre Rede geschlossen mit dem Ruf: Gehe ein nach Walhall!“

„Ganz richtig!“

„Nun, ich will nicht davon reden, dass nach germanischer Mythologie nur die Männer nach Walhalla eingehen, nicht die Frauen. Wenn Sie diese Sprache schon sprechen, sollten Sie sie wenigstens richtig brauchen. Aber – wie gesagt – darauf will ich jetzt gar nicht eingehen.“

„Sie wollten mich etwas fragen!“

„Richtig! Sagen Sie: Gibt es Walhall?“

Schweigen. Dann fährt er auf: „Na hören Sie einmal! Der Führer selbst hat bei Hindenburgs Beerdigung …“

Ich unterbreche ihn: „Verzeihen Sie! Ich fragte: Glauben Sie an Walhall?“

Jetzt wird er ganz aufgeregt: „Passen Sie einmal auf! … Wenn man an … Ich meine, wir sollten …“

Wieder muss ich unterbrechen: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einfach mit Ja oder Nein antworten wollten. Gibt es Walhall?

Jetzt wedelt er ungeduldig mit der Hand: „Wie Sie nur so kindlich fragen können! Natürlich gibt es Walhalla nicht. Das sagt man nur so, um auszudrücken … ja, um auszudrücken …“

Mir genügt es. Und nun breche ich los: „Also Sie verkündigen an Gräbern Dinge, die Sie selber nicht glauben? Sehen Sie, das nenne ich pfäffisch. Das scheint mir das echte Kennzeichen eines Pfaffen zu sein, dass man Worte macht, die man selbst nicht ernst nimmt! Und das wagen Sie angesichts des Todes und der Ewigkeit! Das ist furchtbar! Wenn wir Jesum bezeugen und von der zukünftigen Welt reden und von der Auferstehung der Toten, dann meinen wir das so!“

„Heil!“ sagte er da mit schnarrender Stimme. Es klang wie eine Drohung. Dann bog er ab. Einen Augenblick lang wollte mich die Drohung beunruhigen. Aber dann überkam mich der Jammer um das arme, verführte Volk.

 

 

 

 

Die Entwurzelten

 

1. Salz der Erde

 

Als ich auf der Kanzel stand, fiel mir ein junges Gesicht auf: blass, dunkle Augenränder, – das typische Gesicht eines Bergmannes.

Auch an den kommenden Sonntagen sah ich ihn, – nun sogar in Begleitung von anderen. So sprach ich ihn eines Sonntags nach dem Gottesdienst an. Ich erfuhr, dass er aus dem Osten stammt, dass er mutterseelenallein in der Welt steht und nun in einem der großen Lager haust, in dem viele hundert Jungbergleute eine Art von Heimat gefunden haben. „Besuchen Sie mich doch einmal! Meine Kameraden würden sich auch freuen!“

So stand ich eines Tages vor dem riesigen, scheußlich kahlen Ziegelbau, in dem 600 junge Männer wohnten. Hinter dem Gebäude ragte der Förderturm der Zeche empor; sonst sah man gut gepflegte Schrebergärten und ungepflegte Mietskasernen.

Ich ging durch das große Portal. Aus einer Portierbude rief mich eine raue Stimme an, wo ich denn hin wolle. Hier könne nicht einfach jeder hereinkommen.

Etwas erschrocken wollte ich Auskunft geben, da bekam ich einen Schlag auf die Schulter: „Wahrhaftig! Das ist ja der Pfarrer Busch! Das ist ja großartig, dass Sie einmal nach uns sehen!“

Es stellte sich heraus, dass der vierschrötige Mann der Hausvater war. Als ich ihm erklärte, dass ich hier einen Jungbergmann besuchen wolle, lachte er etwas verlegen und meinte: „Es sind raue Burschen hier im Hause. Ich glaube, Sie können allerhand erleben.“

Der Mann hatte Recht gesprochen. Ich erlebte „allerhand“.

Mein Freund hauste in Zimmer 23. Als ich die Tür öffnete, erinnerte ich mich an die Zeit, da ich als junger Soldat in einer Kaserne leben musste. Dieser Geruch von verbrauchter Luft, von Schweiß, Zigaretten und Fußlappen! In der Mitte ein riesiger Tisch. Rings an den Wänden eiserne Spinde und Feldbetten.

Mein Freund war ein wenig verlegen, als er so „bürgerlichen“ Besuch bekam. Und die andern jungen Männer schauten neugierig und misstrauisch auf. In diesem Augenblick ging es mir blitzartig auf, dass diese jungen Leute ja in einer völlig anderen Welt lebten als ich, ihr Leben war von früher Jugend an Kasernenleben: Arbeitsdienst, Militär, Krieg, Gefangenschaft, Bergmannslager – ! Die wussten ja gar nicht mehr, was ein Familienleben ist. Die hatten keine Ahnung, wie ein Leben aussieht, das man sich selbst gestaltet. Und vor allem – Alleinsein kannten sie nicht! Sicher waren sie im Grunde alle furchtbar einsame Leute – einsame Leute, die nie allein sind.

Ich musste die Befangenheit durchbrechen. Es gelang. Und bald saßen wir in gemütlichem Gespräch um den großen Tisch.

„Nun sagen Sie mir, wie es kommt, dass Sie in meinen Gottesdienst gefunden haben“, fragte ich meinen jungen Freund.

Ohne Scheu antwortete er: „Ich war früher in Schlesien in einem CVJM. Und da habe ich mich entschlossen, dem Herrn Jesus anzugehören. Als ich nach Essen kam, habe ich mich erkundigt, wo man wohl hier die Jesus-Botschaft hören könne. Und so kam ich unter Ihre Kanzel.“

Nun war ich wirklich erstaunt, dass keiner eine Miene verzog. Wer die Atmosphäre solcher Stuben kennt, der weiß, dass der Name Jesus jedes Mal Widerspruch, Spott und Hohn hervorruft. Aber hier erfolgte nichts dergleichen. Das war wunderlich. So fragte ich die andern: „Ja, und was sagen Sie nun dazu?“

Einen Augenblick war es sehr still. Dann raffte sich ein langer Bursche auf: „Ja, dann wollen wir das einmal ruhig sagen! Zuerst haben wir uns fürchterlich geärgert, als wir hörten, unser Kamerad ginge in die Kirche. Dazu musste er ja auch so früh aufstehen, dass wir immer gestört wurden.“

„Ja, ja“, nickte einer, „wir haben ihm das Leben sauer gemacht. Man kann ja heute ruhig darüber sprechen. Ich habe immer mit meinen Stiefeln nach ihm gefeuert. Aber er hat sich nicht abhalten lassen.“

„Im Gegenteil!“ fiel ein anderer ein. „Er hat uns immer eingeladen mitzukommen. Das kam natürlich gar nicht in Frage. Aber – an Weihnachten – am frühen Morgen – da sagte er – er ginge zur Christmette. Und – ja – wissen Sie, Weihnachten ist ja was Besonderes. Kurz, da gingen wir also alle mit.“

Ich staunte.

„Und seither werden Sie in Ruhe gelassen?“ fragte ich meinen jungen Freund.

Da leuchtete sein Gesicht auf: „Jetzt gehen sie ja mit!“ sagte er fröhlich. Und all die rauen Burschen schauten verlegen drein, als wenn die schlimmste Übeltat an das Licht gekommen wäre.

Ich aber sah meinen Freund an. Und durch den ging mir das Wort Jesu: „Ihr seid das Salz der Erde! Ihr seid das Licht der Welt! Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht wohl verborgen bleiben.“

 

2. Eine beunruhigende Frage

 

So bald, wie ich es mir gedacht hatte, kam ich nicht „Sie müssen auch unsre Kameraden nebenan besuchen!“

Man führte mich ins Nachbarzimmer – und ließ mich allein. Ich musste lächeln: Die Burschen kannten ihre Kameraden. Und sie waren wohl gespannt darauf, was die zu dem Besuch eines Pfarrers sagen würden. Aber es schien ihnen doch geraten, den allein die Sache ausfechten zu lassen.

Da stand ich nun in einem großen Saal, der von 16 jungen Männern bewohnt wurde. Einer löffelte am Tisch seine Suppe. Ein anderer machte sich gerade zum Ausgehen fertig („Mal ein bisschen ins Kino gehen!“), ein dritter lag auf dem Bett und erzählte dreckige Witze … kurz, alle waren beschäftigt, so beschäftigt, dass sie nur eben aufschauten, als ich ins Zimmer trat. Und dann machte jeder weiter, als sei ich gar nicht vorhanden.

Eine unbehagliche Situation! Man musste ihr ein Ende machen.

„Grüß Gott, Ihr Männer!“ rufe ich mit aller herzlichen Offenheit, die mir nur irgendwie zur Verfügung steht.

Aber mein gut gemeinter Gruß bleibt völlig wirkungslos. Der junge Mann, der aus dem Blechnapf seine Suppe isst, schaut gleichmütig auf und – isst weiter. Der am Fenster, der sich gerade eine Zigarette dreht, hat offenbar überhaupt nichts gehört … Ich komme mir vor wie – ja, wie soll ich sagen? – so muss einem Weinreisenden zu Mute sein, der aus Versehen einem Abstinenzverein einen Sekt offeriert hat.

Nun wird es mir zu dumm. Ich setze mich kurz entschlossen dem Suppenesser gegenüber: „Wo sind Sie denn her?“

„Oberschlesien!“

„Und Ihre Angehörigen?“

„Alle umgekommen!“ Das Gespräch ist zu Ende.

Ich wende mich an einen Zweiten: „Und wo ist Ihre Heimat?“

„Ostpreußen.“

„Haben Sie noch Angehörige?“

„Meine Mutter lebt in der Ostzone!“

Ich frage einen Dritten: „Woher stammen Sie?“

„Ich bin aus Bayern. Meine Eltern sind geschieden. Die sind froh, dass sie mich los sind!“ Alles lachte.

„Wie alt sind Sie denn?“ fragte ich.

„Achtzehn!“

Aus dem Hintergrund ruft einer: „Das ist unser Jüngster! Unser süßer Kleiner!“

Ich wende mich an den Mann im Hintergrund: „Wo sind Sie denn zu Hause?“

„Ich? Ich bin mit meinem Alten aus der Ostzone geflüchtet. Jetzt verhungert der langsam in Hagen.“

Es ist unheimlich, wie hier mit einer unsagbaren Gleichgültigkeit die erschütternsten Schicksale berichtet werden.

Da richtet sich der junge Mann, der auf seinem Bett liegt, auf: „Hören Sie einmal, Sie fragen wohl gerne die Leute aus?“ Spott und Drohung liegen in seiner Stimme. Jetzt muss ich nach vorne durchbrechen.

„Ja“, erwidere ich „Ganz recht! Ich frage die Leute aus. Haben Sie einmal vom Gallup-Institut gehört?“

Sie wissen Bescheid: „Das ist doch so ein Rundfrage-Unternehmen in Amerika!“

„Ganz recht!“ mache ich weiter. „So was Ähnliches bin ich auch. Ich habe allerdings nur eine einzige Frage. Was ich bis jetzt gefragt habe, war nicht das Eigentliche.“

„Also, dann schießen Sie doch los!“ sagte der Esser gemütlich und stellt seinen Topf beiseite. Er ist fertig und steckt sich eine Zigarette an.

Ich schaue ihn fest an: „Meine Frage lautet: Sind Sie, wie Sie sein sollten?

Er ist erstaunt. Er wird verlegen. Schließlich sagt er ärgerlich: „Ich bin, wie ich bin!“

Ich lache: „Sehen Sie, Sie haben keinen Mut, meine Frage zu beantworten.“ Er fährt auf: „Wieso! Natürlich hab' ich Mut!“

„Nun, dann antworten Sie mir doch: Sind Sie, wie Sie sein sollten?“

Er schaut sich verzweifelt um. Dann stößt er heraus: „Das ist kein Mensch!“

Ich schaute mich kurz um. Alle hören voll Spannung zu.

Ich halte meinen Partner fest: „Sie weichen schon wieder aus! Ich habe nicht nach allen Menschen gefragt. Ich frage Sie: Sind Sie, wie Sie sein sollten?“

Einen Augenblick Stille. Dann sagte er ehrlich: „Nein!“

Der macht gar keine Ausflüchte: „Nein!“

Es ist auf einmal eine unheimliche Spannung andern in der Luft, als ich nun einen nach dem andern frage: „Und Sie?“

Monoton und ehrlich heißt’s jedes Mal: „Nein! Ich bin nicht wie ich sein sollte!“

Wie ein dumpfer Druck liegt es auf uns, als ich durch bin. „Meine Herren!“ sage ich, „da müssen Sie mir schon eine zweite Frage erlauben! Warum ändern Sie sich nicht?

Diese Frage macht auf einmal alle lebendig. Der auf dem Bett springt auf und ruft: „Himmel! Ja. Warum ändern wir uns nicht? Hab' ich noch nie drüber nachgedacht! Gewusst hab' ich immer, dass es nötig wäre!“

Einer setzt sich durch und rückt mir nahe auf den Leib: „Ha, leben Sie bitte einmal in solchen Verhältnissen! Und dann sagen Sie, dass man sich ändern muss! Nur die Verhältnisse sind an allem schuld!“

Ich winke ab: „Das ist Unsinn! Ich kenne viele Leute die in vorzüglichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen leben und die sich doch nicht ändern, trotzdem es sehr nötig wäre. Nein! Daran liegt es nicht!“

Das leuchtet ihnen ein. Es wird wieder sehr still. Der auf dem Bett – er hat sich wieder hingeworfen – murmelt nur: „Warum ändern wir uns nicht?“

„Ich will's Ihnen sagen“, so antworte ich auf seine leise Frage. „Weil Sie es nicht können! Es kann doch keiner aus seinem Wesen und aus seiner Haut!“

Wieder wird es lebendig. Alle sprechen zu gleicher Zeit: „Na also! Warum machen Sie uns denn erst verrückt!“ – „Klar, so ist es!“ …

Noch einmal muss ich mir Ruhe verschaffen: „Ich bin noch nicht fertig! Jetzt will ich Ihnen einen Tipp geben. Haben Sie schon etwas von Jesus gehört?“

Verlegenes und erstauntes Gemurmel: „Klar!“

„Haben Sie schon einmal gedacht, dass Jesus für ein Bergmannsheim in Frage käme?“

Gelächter und Kopfschütteln.

Geradezu erschrocken aber sind sie, als ich nun erst rufe: „Da irren Sie gewaltig! Jesus kommt für Sie in Frage! Denn eben dieser Jesus hat gesagt: Siehe, ich mache alles neu! Der ist für Sie am Kreuz gestorben, damit Sie anders und ganz neu werden können! So! In dieser Richtung fangen Sie doch bitte an zu suchen! Und nun muss ich gehen!“

Als ich die Türe hinter mir zuzog, ging in der Stube ein erregtes Gespräch los.

 

3. „Woher wissen Sie?“

 

Die nächste Stube ist klein. Nur drei Mann finde ich hier vor. Einer sitzt am Tisch und liest. Ein zweiter, der sich bald als Berliner entpuppt, rasiert sich. Der dritte brät sich ein Kotelett.

„Guten Tag!“ fange ich gleich tapfer der evangelische Jugendpfarrer. Da ich Ihrer Kameraden besucht habe, wollte ich Sie auch eben begrüßen!“

Der Berliner grinst. Während er seinen Bart schabt, erklärt er spöttisch: Ich höre immer Pfarrer! Nicht gefragt!“

Welches Großmaul, denke ich, und entgegne: „Ich höre immer: Nicht gefragt! Was ist nicht gefragt?“

Da guckt er mir mitten ins Gesicht und sagt lachend: „Gott ist nicht gefragt! Dafür interessieren wir uns nicht! Nun wissen Sie ja Bescheid!“

In mir steigt Zorn auf: „Mensch!“ fahre ich ihn an, „das ist ja nicht die Frage, ob Sie sich für Gott interessieren. Vielmehr ist das die Frage, ob der heilige, lebendige Gott sich für solch einen Burschen interessiert, wie Sie einer sind …!“

In diesem Augenblick packt mich selber das Wunder des Evangeliums, dass ich hinzusetze: „… und stellen Sie sich vor: Er tut’s! Es ist wunderbar, aber wahr: Gott interessiert sich für Sie!“

Da geschieht etwas Erstaunliches: Er hat auf einmal auch gemerkt, dass dies etwas Unbegreifliches ist. So lässt er fassungslos seinen Rasierapparat sinken und sagt voll Verwunderung: „Woher wollen Sie das wissen? Für mich hat sich bisher doch noch niemand interessiert!“

Nun kann ich einfach nicht anders – ich sage ihm das größte Wort der Bibel: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Und dann weiß ich, dass hier jetzt alles gesagt ist, was zu sagen ist. Darum gebe ich ihm die Hand: „Das wollte ich Ihnen nur mitteilen. Auf Wiedersehen!“

Ich gehe.

Im nächsten Zimmer hatte ich kaum „Guten Tag“ gesagt, da stürmten die drei herein, der Berliner an der Spitze: „Mann! Davon müssen wir mehr hören!“

Und ehe die Zimmerbewohner noch recht wissen, was denn eigentlich los ist, sitzen wir am Tisch, und ich bezeuge Jesus als den Heiland und Sohn Gottes.

 

4. Die Not

 

Es gab natürlich nun manches Zimmer, in dem sich nicht Besonderes ereignete, wo man mich gelassen begrüßte und gelangweilt gehen ließ. Und doch – das ist jetzt falsch gesagt: Es ist immer ein Ereignis, wenn der Name des Herrn genannt wird – auch wenn wir weder Wirkung noch irgendwelche Spuren sehen.

Aber von einem Zimmer muss ich noch berichten. Da wurde es besonders schön.

Es fing aber gar nicht schön an. Als ich in die kleine Drei-Mann-Stube trat, verschlug es mir zuerst den Atem: Die ganze Wand war behängt mit gemeinen obszönen Bildern. Die hatte man offenbar aus Magazinen und „Illustrierten“ ausgeschnitten und mit Reißnägeln an der Wand befestigt.

Ich brachte kein Wort heraus. So blieb ich an der Tür stehen und schaute erschrocken auf den wunderlichen Schmuck. Langes Schweigen!

„Gefällt Ihnen wohl nicht?“ fragte schließlich einer frech.

„Nun, das ist Geschmackssache!“ erwiderte ich. „Jedenfalls würde ich mir meine Stube anders tapezieren.“

Wieder Schweigen.

„Da ist doch nichts dabei!“ warf endlich einer hin.

Mein Blick fiel auf die drei jungen Burschen. Was hatten sie wohl schon alles erlebt! Ein tiefes Mitleid überkam mich: „Ich glaube, die Bilder sprechen davon, dass hier eine Not liegt. Ja, es ist eine große Not, wenn man mit sich selbst nicht fertig wird. Aber – man hängt doch die Dokumente seiner Not nicht an die Wand! Ja, man spricht vielleicht mit einem guten Freund darüber. Aber – an die Wand hängen …!“

Schweigen!

Und auf einmal stand einer langsam auf. Er ging auf das nächste Bild zu und begann, es abzunehmen. Die beiden andern sahen ohne Widerspruch zu, wie er nun die Reißnägel aus der Wand zog und Bild für Bild herunterholte. Es dauerte lange. Und es fiel kein Wort dabei.

Dann war die Wand leer. Es war wie ein Aufatmen. Nun war die Bahn frei für das Gespräch. Wir rückten zusammen und redeten wie Brüder miteinander. Ja, wie Brüder. Denn es war uns, als hätten wir sehr viel miteinander erlebt.

 

 

 

 

„Viel Zeit!“

 

„Eine richtige Antwort ist wie ein lieblicher Kuss“, sagt der weise Salomo. Und er hat Recht.

Ernst ist ein junger Arbeiter. Er hat es nicht ganz leicht. Denn seit er sich von ganzem Herzen zum Herrn Jesus bekehrt hat, muss er allerlei Spott ertragen. Aber er ist „nicht auf den Mund gefallen“ und weiß zu antworten.

Eines Tages erklärt ein Arbeitskollege: „Mit dem Tode ist alles aus und vorbei!“

Ernst fährt herum: „Nein!“ sagt er bestimmt.

„Was soll denn noch kommen?“ fragen spöttisch ein paar Stimmen.

„Das Weltgericht!“ sagt Ernst.

„Wie sollen wir uns das denn vorstellen?“

Ernst zieht sein kleines Testament aus der Tasche und liest: „Und ich sah einen großen weißen Thron und den, der darauf saß; vor des Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein ander Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.“

Einen Augenblick lang ist Stille. Dann lacht einer laut auf: „Mensch, ich möchte nur wissen, wo dieser Thron eigentlich stehen soll, wenn Erde und Himmel nicht mehr da sind!“

„O“, erwidert Ernst nachdrücklich, „darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, wo der Thron steht. Sieh lieber zu, dass du bestehst.“

Wieder tritt Stille ein. Dann meint einer nachdenklich: „Ich kann mir das Ganze doch nicht vorstellen. Sieh einmal, es haben doch so furchtbar viele Menschen gelebt in all den Jahrhunderten und in den vielen Ländern. Und da soll nun jeder einzeln gerichtet werden. Denk doch, wie viel Zeit man dazu braucht.“

Darauf entgegnet Ernst: „In der Ewigkeit haben wir ja auch sehr viel Zeit. Es liegt dann nichts anderes mehr vor.“

Diese Antwort genügt. Es sagt keiner mehr etwas.

 

 

 

 

Geborgen

 

Einen Augenblick stehe ich still vor der weiß gestrichenen Tür Nr. 24 des großen Krankenhauses. Was soll ich dem Mann sagen, der dort liegt? Er hat Schweres erlebt. Bei einer Autofahrt ist er verunglückt und liegt nun mit zerschmettertem Armgelenk hier in der fremden Stadt im Krankenhaus. Und inzwischen ist zu Hause seine treue und geliebte Frau einem Herzschlag erlegen und zu Grabe getragen worden. Und zu all den äußeren und inneren Schmerzen mögen die Sorgen kommen um das große Geschäft zu Hause, das den Chef so nötig braucht.

Ach, was soll ich diesem armen Mann sagen?

Ich trete in das Krankenzimmer, stehe vor dem Bett, fasse nach der gesunden Hand und versuche ein paar Trostworte zu sagen.

Da schaut mich der alte Herr mit einem unbeschreiblichen Blick an und sagt: „Ich bin geborgen!

Ich verstehe ihn. Da neben ihm auf dem Nachttisch liegt die aufgeschlagene Bibel. Sie spricht auf jeder Seite von der Liebe Gottes, die in Jesus erschienen ist. In dieser Liebe ist dieser Lastträger geborgen.

Und nun sehe ich im Geiste die große Schar derer, sich mit Freuden Kinder Gottes nannten. Lastträger waren und sind sie alle, aber sie bezeugen es fröhlich: Ich bin geborgen!

Da war Abraham. Er war Fremdling geworden. Und der Herr hatte ihm gesagt: „Abraham, ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn!“ „Geborgen!“

Da ist Paulus. Zerschlagen – in Ketten liegt er im Gefängnis in Philippi. Aber „um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott im Gefängnis“. Ist das nicht unerhört? Das konnten sie tun, denn sie waren „geborgen“ in der Liebe Gottes.

Da ist Luther. Der schreibt seinem Kurfürsten, der um ihn besorgt ist, der Kurfürst möge sich nur nicht sorgen. Denn mit all seiner Macht könne er ihn doch nicht schützen. Vielmehr wolle er, Martin Luther, „Seine kurfürstlichen Gnaden“ schützen. „Geborgen!“

Und von den Feinden umgeben, vom Papst gebannt, vom Kaiser geächtet, lehrt er die Christenheit das Lied:

 

„Eine feste Burg ist unser Gott,

ein gute Wehr und Waffen.“

 

Das heißt „geborgen“.

Und ich denke an Paul Gerhardt, den großen Sänger. In den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, als die Flammen sein Dorf in Schutt und Asche gelegt hatten, singt er:

 

„Warum sollt ich mich denn grämen?

Hab ich doch Christus noch!

Wer will mir den nehmen?“

 

„Geborgen.“

Geborgen sind sie alle, die das Heil Gottes in Jesu ergriffen haben. Geborgen sind sie in der Liebe Gottes. Und was der Dichter des 36. Psalmes bezeugt hat, das ist täglich ihre Erfahrung: „Wie teuer Ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben.“

Vor kurzem sah ich in meiner Kinderstube ein liebliches Bild. Meine Jüngste hatte sich irgendwo gestoßen. Am Kopf war eine dicke Beule. Aber nun saß sie ganz getröstet und fröhlich auf dem Schoss der Mutter. An den Bäckchen hingen noch die Tränen. Aber die Augen lachten schon wieder. „Geborgen!“

Da musste ich denken: Das ist ein Bild der Christen. Mancherlei Narben und Wunden schlägt ihnen die Welt. Noch zittert das Herz über mannigfacher Not und über dem, was ihr Gewissen ihnen vorhält. Aber sie sind geborgen in der Liebe ihres Herrn, und sie rühmen: „Wir überwinden weit um des willen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn“ (Römer 8, 37).