Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Ein Weltanschaulicher Kampf um ein Frühstück

 

Der Regen strömte. Die Berge des Sauerlandes waren von Wolken und Nebel verhängt.

Doch meine 150 rauben Burschen, die unverdrossen hinter mir herzogen, sangen: „Regen, Wind, wir lachen drüber …“

Es war eine wild zusammengewürfelte Schar. Auf den einsamen Höfen verschlossen die Bauern erschrocken die Türen. Sie dachten wohl, jetzt sei wieder einmal eine Revolution ausgebrochen.

Wir lachten. Denn wir waren in einer ganz friedlichen Stimmung …

Wie soll ich nun mit ein paar Worten erklären, wie es zu dieser wunderlichen „Fahrt“ kam? Da müssen wir schon weiter ausholen, und der Leser muss ein wenig Geduld haben:

Es war im Jahre 1932. Unser Volk war aufgespalten in unendlich viele politische und weltanschauliche Parteien, die sich mit fanatischem Hass bekämpften. Und dabei nahm die Not täglich zu. Die Zahl der Erwerbslosen war ins Ungemessene gestiegen.

Da saß eines Tages ein junger Erwerbsloser vor mir. Sein Gesicht drückte hoffnungslose Verzweiflung aus: „Sehen Sie! Wenn ich jetzt in die Ruhr springe, entsteht gar keine Lücke. Jeder ist nur froh, dass ich weg bin. Dann ist mein Vater mich los, der mich jeden Tag einen unnützen Esser nennt. Und der Staat spart die Unterstützung. Wissen Sie, wie das ist, wenn man völlig überflüssig ist?“

Da begann ich zu überlegen: Es gibt doch noch einen Stand, der in langen Ausbildungsjahren keine produktiven Werte schafft und der doch dieses entsetzliche Gefühl der Wertlosigkeit nicht hat: Das sind die Studenten. Wie wäre es, wenn ich diese Erwerbslosen in Studenten verwandelte? Das wäre immerhin eine seelische Hilfe! Gewiss, sie ist gering! Aber die Größe der Dunkelheit darf uns nicht hindern, unsre kleine Kerze anzuzünden.

So gründeten wir die „Universität für Erwerbslose“. Das wurde eine schöne und fröhliche Sache! Bald versammelten sich jeden Morgen 500 strebsame junge Männer in den Räumen des großen Jugendhauses zu ernster Arbeit. Da gab es Gruppen für Englisch, Französisch, Mathematik, Landwirtschaft, Musik, Stenographie, Esperanto, Jiu-Jitsu, Architektur, und was man sich nur denken kann. Die Dozenten waren Erwerbslose.

Es war einfach köstlich, zu beobachten, wie die bedrückten Seelen auflebten.

Den Höhepunkt aber bildete in jeder Woche eine „ Weltanschauungs-Stunde“. An der nahmen alle Studenten teil.

Welch eine unerhörte Spannung lag über dieser Versammlung! Wir begannen jedes Mal damit, dass ich etwa 20 Minuten lang das Evangelium verkündete. Dann folgte die Aussprache.

O, diese Diskussion! Die jungen Männer waren mit zitternder Erregung an dem Gespräch beteiligt. Da waren junge Kommunisten, SA-Leute in der braunen Uniform, Stahlhelmer und sozialistische Falken, Nihilisten und Christen, Narren und Weise, Fanatiker und Zyniker, Atheisten und Jesus-Jünger, Sektierer und Idealisten.

Oft verwandelte sich der Saal in ein tobendes Schlachtfeld. Und ich musste wie ein Löwenbändiger dazwischen springen und den erregten Männern klarmachen, dass sie ja jetzt Studenten seien, dass sie also nicht mit Stuhlbeinen, sondern nur mit den Waffen des Geistes zu kämpfen hätten. Da löste sich oft alles in ein fröhliches Gelächter auf.

In einem aber waren sich fast alle einig: Das Evangelium wurde in den ersten drei Minuten schon vom Tisch gewischt. Nun ja, der Pfarrer musste wohl so reden! Aber diese überalterte Sache hatte ernsthaft nichts zu bedeuten! Und dann kamen die politischen Ideologien! Die Lehre von Lenin! Die Lehre von Hitler! Die Wirtschaftslehre von Silvio Gesell! Karl Marx! Das wimmelte nur so von Fachausdrücken, großen Ideen, wirtschaftlichen Lösungen! Und ich stand ganz klein und dumm da mit meinem schlichten Evangelium von dem Heiland der Sünder. Was sollte das noch hier bei dieser Schar! Jeder hatte das Rezept zur Welterlösung fertig in der Tasche!

Und so wäre es wohl geblieben, wenn sich nicht die Sache mit den Brötchen ereignet hätte. Und das kam so:

Eines Tages beschlossen wir, einen zweitägigen Ausflug in das Sauerland zu machen. An dem Morgen, als wir losziehen wollten, war das Wetter sehr zweifelhaft. So erschienen nur 150 Unentwegte.

Das wurde eine unvergessliche Fahrt!

Seit ich denken kann, habe ich solch einen Dauerregen nicht erlebt. Aber wir waren nun einmal entschlossen, unseren Plan durchzuführen. So ging's von Hagen nach Lethmate. Die herrliche Dechenhöhle war trocken. Und so waren die seltsamen Tropfstein-Gebilde dort eigentlich das Einzige, was wir an jenem Tage zu sehen bekamen. Alles andere verschwand im Nebel und Wasser.

Schließlich landeten wir singend und pudelnass in einer Jugendherberge. Jeder Fahrtenbruder weiß ja, wie es nun zuging. Fröhliches Gewimmel! Kleider wurden am dampfenden Ofen getrocknet. Und nach dem Abendbrot saßen wir gemütlich und leicht müde um den Kamin. Ich wollte eben von einer Reise nach Amerika erzählen, da erschien ein Bäckerlehrling:

„Einen schönen Gruß vom Meister! Und ob einer der Herren morgen früh Brötchen wolle. Er gäbe 4 Stück für zehn Pfennige ab.“

Nachdenklich saßen meine Gefährten. Ich konnte auf ihren Stirnen lesen: Ein Groschen! Viel Geld für einen Arbeitslosen! Dafür konnte man 3 Zigaretten bekommen! Aber so frische, knusprige Brötchen! Gewiss! Aber – es gab ja doch Brot zum Frühstück. –

Schließlich entschlossen sich etwa 50 Mann, die Brötchen zu bestellen.

So – nun konnte ich erzählen! Es wurde sehr gemütlich. Schließlich konnte ich sogar eine Abendandacht halten. So freundlich war die Stimmung!

Als ich alle im Bett wusste, atmete ich auf. Friedlich schlief nun der Kommunist neben dem Nazi, und der zünftige Pfadfinder neben dem Mann, der mit – leider nun völlig zerstörten – Bügelfalten war.

Ich ging in mein Zimmer und fiel in einen tiefen Schlaf. Da träumte ich, ich sei in einen Volksaufruhr geraten. Brüllend wälzten sich die Massen über meine Verzweiflung. Ich fuhr auf. Ich war ganz wach.

Es war schon Tag. Ich hatte mich verschlafen. Aber – was war das? Der Volksaufruhr war offenbar schreckliche Wirklichkeit: Ich hörte tobendes Geschrei, wildes Geraufe

Wie ich war – im Schlafanzug – stürzte ich hinaus und sah die Bescherung: Der süße Friede vom Abend war völlig dahin. Eine Schlacht aller gegen alle war entbrannt.

Mit Mühe brachte ich in Erfahrung, was sich ereignet hatte: Da war am Morgen der Bäckermeister mit den 200 Brötchen erschienen. Diese frischen Brötchen hatten herrlich geduftet. Und überhaupt – am Morgen sah die ganze Sache anders aus. Da hatten sich kurz entschlossen die Zigaretten-Freunde vom Abend auf die köstliche Ware gestürzt, hatten dem Bäcker die Brötchen aus der Hand gerissen. Und viele, die am Abend bestellt hatten, waren leer ausgegangen. Das ließen die sich natürlich nicht gefallen. Und dann war der Krach da. Und weil man doch schon einmal am Raufen war, kamen alle andern Spannungen gleich mit zum Austrag. Es ging nun „in einem Aufwaschen“.

Meine verschlafene Gestalt, mein wildes Dazwischentreten, meine mir selbst erstaunliche Entschlossenheit erregten allmählich Aufsehen, und ich konnte mir endlich Gehör verschaffen.

Kategorisch stellte ich die Forderung: „Jetzt werden zuerst einmal alle Brötchen an mich abgeliefert.“ Es gab einen kleinen Kampf, stilles Ringen in Jungmänner-Herzen, freundliche Reden von mir – und dann lag ein Berg von Brötchen vor mir. Es fehlte keines.

Dann die Frage: „ Wer will nun eigentlich Brötchen?“ Es meldeten sich alle. Ich traf wie ein Feldherr meine Anordnungen: „Jetzt bekommt erst einmal jeder eins. Und dann holt mir den Bäcker!“

Der tief erschrockene Meister wurde irgendwo aufgestöbert. Vor versammelter Mannschaft stellte ich ihm die entscheidende Brötchen-Frage: „Sind Sie im Stande, uns in einer halben Stunde noch 400 Brötchen zu verschaffen?“ Er war im Stande! Gepriesen sei der wackere Mann!

Ach! Dies friedliche Frühstück! Und dann stellten wir mit Begeisterung fest, dass ein herrlicher Tag inzwischen angebrochen war: Die Vögel sangen, die Sonne schien, die Blumen blühten, die Bäume rauschten. Die Welt war doch schön!

Unter einer alten Linde versammelten wir uns zur Morgenandacht. Das hielten meine rauen Gefährten sicherlich für einen Spleen ihres Pastors. Aber immerhin gab sich der Mann ja viel Mühe! Und warum also sollte man ihn nicht anhören! Schließlich war man ja kein Unmensch!

Die Braven! Sie ahnten nicht, was ihnen bevorstand.

Ich sprach über das Wort Jesu: „Siehe ich mache alles neu.“

„Freunde!“ sagte ich. „In einer Forderung sind wir alle einig: Die Welt muss anders werden. Ja, sie muss anders werden! Seit einem halben Jahre nun höre ich in jeder „Weltanschauungsstunde“, wie jeder von Euch ein fertiges politisches und wirtschaftliches Rezept in der Tasche hat zur Erlösung der Welt. O, ich war oft erstaunt, welch große Ideen Ihr da habt. Aber – nun bin ich enttäuscht. Ihr, die Ihr meint, die Welt erlösen zu können mit Euren Ideologien, könnt nicht einmal 200 Brötchen im Frieden verteilen! Was soll ich dazu sagen? Es war bei uns heute Morgen wie in der Welt im Großen: Güter waren genug vorhanden. Bei gutem Willen konnte jeder satt werden. Und was wurde? Krieg und Geschrei! Nehmt es mir nicht übel: Ich glaube an alle Eure Ideologien nicht mehr. Was helfen sie, wenn sie so kläglich versagen im Kleinen! …“

Schweigend saß das junge Volk. Wirklich, sie waren beschämt. Keiner wagte etwas zu sagen. So fuhr ich fort:

„Und warum ist es so gegangen? Weil jeder nur an sich selbst dachte. Euer böses und selbstsüchtiges Herz hat Euch einen Streich gespielt und alles verdorben …“

Ich sah ihnen an, dass sie mir Recht gaben. Immer schwiegen sie. „Ihr habt immer getan, als sei die Bibel ein dummes, völlig überholtes Buch. Nun sage ich Euch: Die Bibel hat recht! Denn sie sagt: Es wird nur anders, wenn unsre Herzen anders werden, wenn Du und ich neu werden, wenn wir befreit werden von unsrer furchtbaren Selbstsucht!“

Es war eigentlich ein herrlicher Gottesdienst. Der Sommerwind rauschte in der alten Linde, und der Gesang der Vögel störte uns nicht. Er unterstrich nur die Stille. Das schönste aber war diese Gemeinde: Junge Männer, denen etwas dämmerte von der Brüchigkeit ihrer Ideologien, die ihnen bisher als die Lösung aller Welträtsel erschienen waren.

„Freunde!“ rief ich bewegt, „Ihr irrt, wenn Ihr die Bibel für ein überholtes Buch haltet! Hier wird uns gezeigt, wie Herzen neu werden. Da finden wir den Mann, von Gott gesandt, der durch Sein Blut und Seinen Geist uns ganz umgestaltet und neu macht – Jesus Christus! …“

Die Sonne schien so hell und strahlend. Aber – was war ihr Glanz gegen die Herrlichkeit des Sohnes Gottes, die über diesen armen jungen Männern aufging.

Wie ein starkes Gebet erklang zum Schluss unser Lied:

 

Morgenglanz der Ewigkeit,

Licht vom unerschaffnen Lichte!

Schick uns diese Morgenzeit

Deine Strahlen zu Gesichte,

Und vertreib durch deine Macht

Unsre Nacht!

 

Von da an begann es, dass die „Universität für Erwerbslose“ auf die Botschaft der Bibel hörte.