Wilhelm Busch

Das Gebet des Mose

 

„Nun vergib ihnen ihre Sünde; wo nicht, so tilge midi auch aus deinem Buch, das du geschrieben hast."       

2. Mose 32, 32

 

Es war während des Krieges nach einem Bombenangriff. Da sah ich bei einem Gang durch die Stadt, wie ein kleiner Junge harmlos mit einem Bombenblindgänger spielte. Meint ihr, der Junge sei besonders tapfer gewesen? O nein! Er war nur — sehr dumm und ahnungslos.

An diesen Jungen muss ich immer denken, wenn ich sehe, wie wenig die Menschen unserer Tage den Zorn Gottes fürchten. Wo ist denn unter uns noch Furcht Gottes? dass man Gott so harmlos nimmt, das ist nicht ein Zeichen besonderer Aufgeklärtheit und Klugheit. Es ist — Dummheit. Und mehr als das: Es ist Blindheit. Und zwar eine schuld­hafte Blindheit, die sich in Zeit und Ewigkeit rächt. Wenn wir das Kreuz Christi jetzt wieder in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen wollen, dann ist die allererste Voraussetzung zum Verständnis dies, dass wir den Zorn Gottes fürchten gelernt haben. Ohne diese Voraussetzung verstehen wir gar nichts vom Kreuz.

 

 

Der Bürge

 

1. Ein großes Angebot

Die Gemeinde des Alten Bundes lagerte am Berge Sinai. Große Tage lagen hinter den Kindern Israel. Sie hatten die furchtbare Offen­barung Gottes erlebt, als Er ihnen das Gesetz gab. Aber dann folg­ten Tage, in denen nichts geschah. Mose war auf den Berg gestiegen und dort verblieben im Gespräch mit Gott. Da verwischten sich bei den Israeliten schnell die tiefen Eindrücke, und sie machten sich einen eigenen Gott: das goldene Kalb. Schrecklich entbrennt der Zorn Got­tes. Mose ist entsetzt. Er erzählt selbst (5. Mose 9, 17-18): „Da fasste ich die beiden Tafeln mit dem Gesetz Gottes und zerbrach sie vor euren Augen und fiel nieder vor dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte um all eurer Sünde willen; denn ich fürchtete mich vor dem Zorn und Grimm, mit dem der Herr über euch erzürnt war, dass er euch vertilgen wollte..."

Und nun folgt eine der ergreifendsten Szenen der Bibel. Nach einer schrecklichen Nacht der Angst verkündet Mose dem Volk: „Ihr habt eine große Sünde getan; nun will ich hinaufsteigen auf den Berg zu dem Herrn, ob ich vielleicht eure Sünde sühnen möge." Ich sehe im Geist den erschrockenen und bekümmerten Mann in die einsame Felsenwildnis hineinsteigen und in der Wolke verschwinden. Dort wirft er sich nieder vor dem Herrn und bekennt: „Ach, das Volk hat eine große Sünde getan." Dann bittet er ergreifend (ich zitiere wörtlich nach dem hebräischen Text): „Und nun vergib ihnen doch ihre Sünde! Wenn nicht, dann tilge doch mich aus dem Buch, das du geschrieben hast!" Mose bietet sich selbst als Bürgen an für die anderen. Er will die Schuld bezahlen mit seiner Seelen Seligkeit. Er will bezahlen mit dem Besten, was er hat. „Tilge mich aus dem Buch!" Jesus hat später einmal Seinen Jüngern gesagt: „Freuet euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind." Das ist die Freude des Volkes Gottes, und darüber freute sich auch Mose. Die Bibel sagt, er sei der geplagteste Mensch gewesen. Welch andern Reichtum hatte er als diesen, zu wissen: Mein Name ist geschrieben im Buche des Lebens! Und diesen einzigen Schatz und Reichtum setzt er als Bürge ein.

Das ist die wahre Liebe, „eine Flamme des Herrn". Es hat noch ein­mal einer solch ein Angebot für Israel gemacht, der Apostel Paulus. Und davon sagt der große Ausleger Bengel: „Menschliche Worte reichen nicht zu, die Gemütsbewegung heiliger Seelen auszudrücken. Von diesem Maß der Liebe lässt sich nicht leicht urteilen, denn diesen Grad vermag der kleine Maßstab unsrer Vernunftsschlüsse nicht zu erreichen, so wenig wie ein kleiner Knabe den hohen Mut ausneh­mender Kriegshelden begreifen kann."

 

2. Das verworfene Angebot

Gott hat das große Angebot des Mose schroff zurückgewiesen. Mose

kann nicht Bürge sein für Israel. Warum nicht?

Um das zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, was ein Bürge ist.

Da hat ein Kaufmann eine große Schuld zu bezahlen. Er ist völlig außerstande dazu. Aber er hat einen reichen Freund, der seinerzeit für ihn die Bürgschaft übernahm. Nun springt der ein und befriedigt den Gläubiger.

Mose kann nicht Bürge sein. Denn auch er ist vor Gott Schuldner. Selbst dieser große und heilige Mann ist Gottes Schuldner! Es ist erschreckend zu lesen, dass Mose (5. Mose 1, 37) berichtet: „Der Herr ward zornig über mich." Auch über ihn entbrennt Gottes Zorn. Auch er ist Sünder und Gott verschuldet. Wie sollte er für die Sünder Bürge werden können!

Damit nun rückt diese Sache aus der geschichtlichen Betrachtung heraus und wird für uns wichtig. Wir müssen zunächst unsern katho­lischen Brüdern sagen: Es kann also kein Heiliger mit seinen guten Werken für mich eintreten und bezahlen, wenn Gott sogar den Mose damit abwies. Es bleibt bei dem harten Psalmwort: „Kann doch einen Bruder niemand erlösen noch ihn Gott versöhnen, denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen; man muss es lassen anstehen ewiglich" (Psalm 49, 8-9).

Aber sprechen wir von uns! Wenn selbst ein Mose Gott verschuldet war und sagen muss: „Der Herr ward zornig über mich" — wo wol­len wir bleiben?

Man kann von dieser Lage hören und doch nicht erschrecken dabei. Furchtbar, wenn es bei uns so wäre! Es kann aber geschehen, dass die Last unserer unbezahlbaren Schuld uns auf die Seele fällt und wir erkennen, wie wir völlig ungerüstet dem großen Zahltag entgegen­gehen; wie wir Gott alles schuldig geblieben sind; dass Sein Zorn wie eine dunkle Wolke über uns hängt. Da wird es uns zum Er­schrecken, dass selbst ein Mose als Bürge abgelehnt wurde. Mose wollte für das verlorene Israel aus dem Buch des Lebens ge­strichen werden. Weil er als Sünder nicht Bürge werden konnte, lehnte Gott es ab. Aber es gibt noch einen zweiten Grund dafür: Gott hatte für diese Bürgschaft, für das gültige Opfer, einen andern ausersehen.

 

3. Der rechte Bürge

Lasst uns miteinander im Geist auf den Hügel Golgatha bei Jerusa­lem gehen!

Seht den ans Kreuz genagelten Mann an! Der ist Gott nichts schul­dig geblieben. Er ist der völlig Gerechte. Immer wieder hat Gott Ihm gesagt: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe."

Dieser Mann muss nicht klagen wie Mose: „Der Herr ward zornig Über mich."

Und nun hört, wir Er dort am Kreuze ruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!" Da ist Seine Seele ausgestrichen aus dem Buche Gottes.

Da geschieht, was Mose wollte: Ein anderer bezahlt für die Sünder. Nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt, für dich und mich. Am Kreuz wurde Jesus Bürge für uns, die wir Gott alles schuldig geblieben sind. Da bezahlte Er für uns.

Lasst mich zum Schluss ein kleines persönliches Erlebnis berichten: Vor einiger Zeit hatte ich in Ostfriesland Vorträge zu halten. Als ich mit meinem kleinen Wagen auf einer Landstraße entlang fahre, komme ich plötzlich an eine vereiste Stelle. Ehe ich gegensteuern kann, gerät der Wagen ins Schleudern, kippt um und stürzt über eine hohe Böschung in einen Moorgraben. Es sind seltsame Sekun­den, ehe man sich das Genick bricht (was nur durch Gottes Bewah­rung nicht geschah). In diesen Sekunden stand mir erschreckend Gottes Gericht vor der Seele. Aber im selben Augenblick auch der Vers: „... dass mein Bürge für mich spricht, / dies ist meine Zuver­sicht." Wie Orgelton klang es in mir: „Mein Bürge!" dass wir im Leben und Sterben nichts wüssten als Ihn!