Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

„Fränzken"

 

„Fränzken", von dem diese Geschichte handelt, ist heute ein stattlicher junger Mann. Er nimmt es mir nicht übel, daß ich die Geschichte weitererzähle, und denkt gewiß, sie könnte manch einem ein „Licht aufstecken helfen".  — —

 

„Und am allerschlimmsten sind die Konfirmanden", schloß der Mann seinen Bericht über meine neue Gemeinde. „Da neh­men Sie am besten jedesmal einen kräftigen Rohrstock mit."

Mir wurde angst und bange. Da stand ich nun als blutjunger Pfarrer vor dieser großen Gemeinde. Wenn der Mann recht hatte, dann mußte es eine furchtbare Horde sein, die hier hauste. Und die Konfirmanden! O du liebe Zeit! Ich hatte in meinem Leben noch nie einen Jungen verhauen und gedachte es auch in Zukunft so zu halten. — Wie würde es mir ergehen?

Mit furchtsamem Herzen stand ich am nächsten Morgen vor meinen „Wilden". Aber bald merkte ich, daß die ebenso Angst hatten vor mir wie ich vor ihnen. Da mußte ich lachen, und es wurde sehr nett.

Allerdings — einer fehlte — „Fränzken". Als ich nach ihm fragte, ging ein Schmunzeln durch die Reihen. „Aha", dachte ich, „das ist wohl der Häuptling eurer Streiche! Darum seid ihr so manierlich, weil der fehlt!"

Und ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein vor „Fränzken". Aber „Fränzken" boykottierte mich. Er erschien einfach nicht. Also mußte ich mich eines Tages auf den Weg machen, „Fränz­ken" zu suchen.

Ein niedriges, schmutziges Haus, geschwärzt vom Ruß der nahen Industriewerke, in der Nähe einer Großstadt-„Aschenkippe".

Auf mein Schellen öffnet ein junges Mädchen die Tür. Sie mustert mich erstaunt und — läuft ins Zimmer zurück. Ich gehe ihr nach. Aus der anliegenden Kammer höre ich klägliches Jam­mern. Ich gehe hinein. Ein furchtbares Bild: auf dem schmalen

Bett liegt eine Frau im allerletzten Stadium einer entsetzlichen Wassersucht. Ein schrecklicher Anblick!

Und dies arme Weib jammert. Es dauert erst einige Zeit, bis ich sie verstehe: „Mein armer Junge! Mein armes Fränzken! Kein Mensch hat ihn lieb! Der Lehrer haut ihn! Der Vater haut ihn! Der Pfarrer haut ihn! O mein Fränzken! Nur ich habe ihn lieb! Und ich muß sterben ..."

Ich bin erschüttert. Das ist Mutterliebe! Sie denkt nicht an ihr Elend. Sie denkt nur an ihr Kind.

„Ich will Ihren Jungen liebhaben", sage ich bewegt.

Zwei Tage lebt sie noch. Zwei Tage, an denen der Mann irgendwo im Gasthaus saß.

Zwei Tage, in denen Gottes Wort Einzug hielt in der armen Hütte und der Heiland Jesus einem armen Menschenherzen sei­nen Frieden schenkte. Dann ging sie heim. Bei der Beerdigung sah ich zum erstenmal „Fränzken". Er war ein großer, starker Junge mit verschlossenem Gesicht. Wir schlössen, so gut es ging, Freundschaft miteinander. Und von da ab kam er nach der Schule häufig zu mir und wurde immer mehr unser Hausgenosse. Trotzdem war mir immer so, als stehe zwischen ihm und uns eine Mauer.

Kurz vor Ostern war Konfirmation. „Fränzken" stand in der großen Schar der Kinder. Er sah ungewohnt feierlich aus in seinem dunklen Anzug und dem Stehkragen. Was in ihm vorging, konnte ich nicht erkennen. Die Mauer stand da­zwischen.

Eine Woche später war das Abendmahl der Konfirmanden. Am Abend vorher sammelte ich noch einmal die Schar, um ihnen eine Vorbereitung zu geben für die wichtige Stunde.

Das machte ich so: Ich hatte ein Steinhausen-Bild vom Gro­ßen Abendmahl aufgehängt. „Kinder!" sagte ich, „dies Bild ist noch nicht zu Ende. Das geht da über den Rand hinaus weiter. Und da dürft ihr stehen. Auch euch hat der Heiland an seinen Tisch gerufen und geladen. Das ist eine hohe Ehre und eine ganz große Freude." So erklärte ich ihnen das Abendmahl.

Dann sangen wir noch ein Lied, beteten und gingen still nach Hause.

Als Letzter verließ ich den Saal. Im Hof stand noch ein Trüpplein Jungen. „Na, was ist los?" fragte ich. Schweigend wiesen sie auf „Fränzken". Der stand da, an die Mauer gelehnt. Die hellen Tränen liefen ihm über die Backen. Der ganze Kerl war ein Bild unsagbaren Jammers. „Was ist denn mit dir los?" fragte ich. Keine Antwort. Da nahm ich ihn kurzentschlossen am Arm und brachte ihn in meine Wohnung.

Da saß er nun weinend vor mir und — schwieg. Mir griff das ans Herz. So ein Junge weint nicht. „Nun rück mal raus, Fränzken, was drückt dich? Komm, sag's mir!" Da kam es heraus, stotternd — schluchzend: „Alle dürfen morgen zum Abendmahl gehen, nur ich nicht." — „Du nicht? Warum du nicht?" — „Ich ich bin zu schlecht!" Ich war tief bewegt. Wenn dieser trotzige Junge so erschüttert war, dann wurde es ernst. — Ja, es wurde ernst. Was nun gesprochen wurde, soll kein Mensch erfahren. Das geht keinen Menschen etwas an. Das war nur bestimmt für Gott. Als Fränzken fertig war mit abladen, war's ein ganzer Berg von Schuld. Erschüttert sind wir niedergekniet und haben alles vor den Herrn Jesus hin­gelegt und sein Erbarmen angerufen. Und dann habe ich ge­sagt: „So, Fränzken, jetzt mußt du aber auch glauben, daß auch du, gerade du, zum Herrn Jesus kommen darfst."

Nie vergesse ich diese Abendmahlsfeier. Alle Kinder traten an den Altar mit ihren Angehörigen. Aber dann kam „Fränz­ken!" Ganz allein kam er über den Altarplatz auf mich zu. Seine Mutter war tot. Sein Vater saß irgendwo in der Wirt­schaft. Doch „Fränzkens" Angesicht glänzte vor Freude.

Mir aber fiel Jesu Wort ein:

 

„Also wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen."