Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

„Ich tue recht und scheue niemanden!"

 

Geradezu aufregen kann mich dieser Satz!

Wie oft, ach ja, wie ermüdend oft habe ich es erlebt, daß mir einer, dem ich das Evangelium bezeugte, freundlich abwinkte und überlegen sagte: „Wissen Sie, ich halte mich an die Reli­gion, die schon mein Vater hatte. Und die heißt: Tue recht und scheue niemand."

Da bin ich dann oft aufgefahren und habe heftig erwidert: „Das ist die blödeste Religion, die ich kenne. Denn erstens ist es eine Religion, bei der Gott noch nicht mal vorkommt. Und zweitens — ist es gar nicht wahr!"

Dann hat der andre wohl still gelächelt, als wenn er sagen wollte: „Wahrscheinlich hast du recht. Aber so ist es für mich am bequemsten."

Und da läßt sich ja dann nichts machen.

Aber einmal hat es mir Gott doch geschenkt, daß so ein selbst­gerechter Sünder aus seinem stolzen Sattel stürzte. Es ist schon fünfzehn Jahre her. Und der Mann, um den sich's dabei han­delt, ist längst in der Ewigkeit. So kann man die Geschichte ruhig erzählen.

Ja, man muß sie erzählen. Denn wir haben viel vergehen sehen: ein Kaiserreich und eine Republik und einen totalitären Staat. Und mit diesen Systemen fielen jedesmal Weltanschau­ungen dahin. Aber der dumme Satz: „Ich tue recht und scheue niemand" ist geblieben, — geblieben in einem Volk, das jahre­lang geradezu vorgelebt hat, was Menschenfurcht ist. Doch wer will sich darüber wundern? Den Satz haben schon die Pharisäer zu Kaiser Augustus' Zeiten gesagt.

Aber nun zu der Geschichte!

Da besuchte ich oftmals einen alten Mann in einem Alters­heim. Er war ein gottloser, verhärteter Kerl. Und was ich ihm auch aus der Bibel vorlas, das lief an ihm ab wie Wasser am Marmorstein.

Als ich eines Tages wieder in sein Zimmer trete, liegt er im Bett. „Oh, sind Sie krank, Vater N.?" frage ich. Verdrießlich antwortet er: „Ach, wenn man mal fünfundsiebzig ist, kann man ja ruhig sterben."

„Stop!" rufe ich. „Halt! Das ist nicht richtig! Ob man ruhig sterben kann, das hängt nicht vom Alter ab. Ich habe einen vierzehnjährigen Jungen ruhig sterben sehen. Und ich habe einen alten Sünder verzweifelt in seinen Sünden dahinfahren sehen. Nein! Vom Alter hängt das nicht ab. Das hängt vom Frieden mit Gott ab!"

Etwas unsicher schaut mich der Alte an. Dann legt er los: „Frieden mit Gott? Den habe ich! Ich habe nichts gegen Gott. Mein Wahlspruch war: Tue recht und scheue niemand! Danach habe ich gelebt. Ich habe niemand bestohlen, ich habe niemand Unrecht getan ..."

Und während er nun alle seine „guten Taten" aufzählt, kratzt er mit beiden Händen auf der Bettdecke. Es ist, als wenn er alle seine Vorzüge und guten Taten auf ein Häuflein zusammen­scharren und vor Gott hinlegen wolle.

Immer noch zählt er auf, während seine Hände das unsicht­bare Häuflein hübsch säuberlich zusammenscharren: „. . .ich habe nie Streit gehabt in meinem Hause, ich war immer kame­radschaftlich gegen meine Arbeitskollegen, ich habe ..."

Endlich ist er fertig.

„Lieber Mann!" sage ich nun, „da kann ich Ihnen ja nur gra­tulieren, daß Sie so prächtig und großartig vor das Angesicht des lebendigen Gottes gehen können. Ich bin zwar nur halb so alt wie Sie. Aber so großartig stehe ich leider nicht da. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, dann muß ich sehr traurig werden darüber, wie oft ich versagt habe. Wie oft habe ich Got­tes Gebote übertreten! Wie oft bin ich Liebe schuldig geblieben! Wie oft habe ich mit meinen Launen meine Umgebung gequält! Oh, da ist viel, viel Schuld. Und sehen Sie! Darum bin ich froh, daß ich einen Heiland habe, der am Kreuz für mich gestorben ist und der mich verlorenen Menschen mit Gott versöhnt hat. Ja, dieser Heiland ist meine ganze Hoffnung."

Einige Augenblicke ist es sehr still im Zimmer. Dann seufzt der Alte tief auf und gibt zu: „Ja, wenn ich mir die Sache ge­nau überlege, dann ist in meinem Leben auch nicht alles so gewe­sen, wie es sein sollte ..."

„Oho!" lege ich nun aber los. „Was soll das denn heißen? Eben haben Sie doch noch so großartig getan, wie Sie vor Gott bestehen könnten und wie Ihr Leben hoch in Ordnung sei!"

„Ja . . .", sagt er zögernd, „wenn man sein Leben mal so richtig ansieht, dann ..."

„Ja, lieber Vater, dann packen Sie mal aus und machen Sie Ihr Gewissen frei!"

Und dann kam eine Beichte. Was da gesprochen wurde, hat nur Gott hören dürfen. Aber als der Alte zu Ende war, stand ein riesiger Berg von Schuld und Sünde da, vor dem das kleine Hügelchen auf der Bettdecke ganz und gar verschwand. Ich war erschüttert. „O lieber Mann! Mit solchem Berg von Sünde woll­ten Sie in die Ewigkeit gehen?! So wollten Sie vor den dreimal heiligen Gott treten?!" Und dann kniete ich an seinem Bett nie­der, und wir brachten diesen Berg von Schuld vor Gott.

Als wir das getan hatten, durfte ich ihm sagen: „Nun heben Sie Ihre Augen auf zum Heiland am Kreuz! Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten."

Dann ging ich und ließ ihn in großer innerer Not und Her­zensunruhe. Als ich nach wenigen Tagen wiederkam, fand ich einen völlig verwandelten Mann vor. Nun hatte sein Herz den gefunden, der gekommen ist in die Welt, „die Sünder selig zu machen".

Und als ein Begnadigter und von Gott Angenommener und wirklich mit Gott Versöhnter ist er im Jahr darauf friedlich hinübergegangen in die Ewigkeit.