Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

„Das habe ich noch nie erlebt!"

 

Nein! Diesen schrecklichen Morgen im Jahre 1940 werde ich nie vergessen können.

Da machte die Gestapo einen ganz großen „Schlag" gegen die evangelische Jugendarbeit unsrer Stadt. In meinem Büro er­schienen zwei finstere Männer, stöberten in allen Akten, be­schlagnahmten „verdächtiges Material" und fuhren schließlich mit allen Schreibmaschinen davon.

Mir war der Kopf noch ganz benommen. Da schellte es. Eine weinende Frau kam an, die Mutter eines treuen Mitarbeiters: „Bei uns sind sie gewesen und haben alle Schränke ausgeleert und alle Schubladen umgekippt. Und dann haben sie einen Ball gefunden. Da haben sie erklärt: Jetzt haben wir den Beweis, daß hier verbotener Sport getrieben wird . . .'" — — Sie war noch nicht zu Ende, da erschien ein Vater mit einem ähnlichen Bericht. Der Schreck stand ihm im Gesicht geschrieben. Und ich dachte: „Die müssen bös gehaust haben, wenn ein starker Mann so verstört wird."

Am Ende waren 40 bis 50 Leute versammelt. Bei allen mei­nen freiwilligen Mitarbeitern waren die Beamten eingebrochen, hatten verwüstende Haussuchung gehalten und wilde Drohun­gen ausgestoßen.

Wir haben dann ein Wort Gottes zusammen gelesen von der Stadt Gottes, die „fein lustig bleiben" soll, auch wenn die Berge wanken.

Darauf haben wir zusammen gebetet. Getröstet verließen sie mich, und doch Furcht im Herzen, was daraus werden würde.

Nun, es ist eigentlich gar nichts daraus geworden. Vielleicht wollte man den jungen Leuten und ihren Eltern nur ein wenig den Mut zur Mitarbeit im evangelischen Jugendwerk nehmen.

Aber eine kleine Geschichte ist im Zuge dieser Sache gesche­hen, die es wert ist, daß sie erzählt wird:

Zunächst also wurden all die jungen Männer zu einem Ver­hör bestellt und in langen, quälenden Verhandlungen ver­nommen.

Und am Ende kam ich selbst an die Reihe als verantwort­licher Leiter. Mit Herzklopfen stand ich wieder in dem Raum, in dem ich schon so viele schwere Stunden erlebt hatte.

Lange schaute mich der verhörende Beamte schweigend an. Dann atmete er auf einmal tief auf und sagte — eine tiefe Er­schütterung war seinen Worten anzuspüren —: „Jetzt habe ich 50 Ihrer Jungen verhört. Und dabei ist etwas geschehen, was ich noch nie erlebt habe. Keiner von den 50 hat mich ange­logen. Alle haben lieber zu ihrem eigenen Schaden ausgesagt, als daß sie eine Lüge gesagt hätten. Daß es so etwas gibt!"

Mir wurde das Herz fröhlich. „O ihr Jungen!" mußte ich denken, „ihr habt gewaltiger gepredigt als mancher berühmte Evangelist. Ihr habt das Gewissen dieses verhärteten Mannes angerührt!"

Der Beamte saß schweigend auf einem Stuhl. „Armer Mann!" hätte ich gern zu ihm gesagt, wenn das möglich gewesen wäre. Denn es streifte mich in diesem Augenblick eine Ahnung, wie furchtbar eine Welt ist — ohne Christus!