Neue Perspektiven durch Jesus - auch für Frauen
Lukas 4, 16-27
Predigt Andreas Symank
Freie Evangelische Gemeinde Zürich
Helvetiaplatz
Zürich, 20. Mai 2001
Wissen Sie, was ein Dragoman ist? Hier vorne steht
einer. Dragoman, ein arabisches Wort – so wird im Nahen Osten der Dolmetscher
genannt, der Übersetzer. Mein Metier ist das Übersetzen, und die Texte, die ich
übersetze, haben mit dem Nahen Osten zu tun und stammen aus dem Nahen Osten. Es
sind die vielen großartigen Bücher des Alten und Neuen Testaments. Ich bin
Mitarbeiter an einem Bibelübersetzungsprojekt, der Neuen Genfer Übersetzung.
Das letzte Buch, das ich übersetzt habe, ist die
Apostelgeschichte gewesen. (Inzwischen habe ich mit dem 1. Korintherbrief
begonnen.) Wenn man sich so lange mit einem Buch beschäftigt, macht man sich
die verschiedensten Gedanken dazu. Eine solche Überlegung war: Was für eine
Rolle spielen eigentlich die Frauen in der Apostelgeschichte? Die
Apostelgeschichte ist von Lukas verfaßt. Wie denkt Lukas über die Frauen?
Tauchen sie in seinem Geschichtswerk überhaupt auf? Sind sie Mauerblümchen, die
in der nahöstlichen Männerwelt ein Schattendasein fristen?
Wenn man die Rolle der Frau in der Apostelgeschichte
untersuchen möchte, scheint es mir besonders wichtig, daran zu denken, daß die
Apostelgeschichte eigentlich nur die Hälfte von dem ist, was Lukas geschrieben
hat, die zweite Hälfte. Die erste Hälfte ist das Lukas-Evangelium, und beide
Bände zusammen bilden ein zusammenhängendes, fortlaufendes Geschichtswerk über
Christus und die ersten Christen.
Die Punkte, die Lukas in der Apostelgeschichte
wichtig sind, sind ihm natürlich auch schon in seinem Evangelium wichtig. Seine
Einstellung zum Thema Frau ist im ersten Teil seines Werkes dieselbe wie im
zweiten. Und weil so vieles dazu schon im Evangelium deutlich wird, ist es
hilfreich, dort zu beginnen. Und wahrscheinlich kommen wir heute auch gar nicht
über das Evangelium hinaus.
Eine kleine Bemerkung noch vorweg: Es ist erst
einige Wochen her, da hat unser Prediger, Herr Birnstiel, eine Predigtreihe
über das Thema Mann und Frau gehalten. Wenn ich dieses Thema heute nochmals
aufgreife, ist das reiner Zufall und geschieht ganz sicher nicht, um an dieser
Predigtreihe, die ich als sehr hilfreich empfunden habe, irgend etwas zu
kritisieren oder zu verbessern. Sehen Sie es einfach als Ergänzung an – so, wie
man dieselbe Sache von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten kann. Wir
haben vier Evangelien, nicht nur eines. Aber das heißt noch lange nicht, daß
sich diese vier widersprechen, im Gegenteil: Sie ergänzen sich; sie zeigen uns
Jesus unter vier verschiedenen Aspekten. Entsprechend möchte ich das Thema Frau
heute aus einem speziellen Blickwinkel untersuchen – dem von Lukas.
Es gibt – ziemlich am Anfang des Lukas-Evangeliums –
ein Ereignis, das geradezu programmatisch ist für alles, was dann folgt. Ich
denke an Lukas 4,16-21: der erste öffentliche Auftritt Jesu, über den Lukas
ausführlich berichtet. Es ist Sabbat. Jesus befindet sich in der Synagoge
seiner Heimatstadt Nazaret. Er steht auf, um aus der Heiligen Schrift
vorzulesen, und man reicht ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er rollt sie
auf und beginnt zu lesen:
„Der Geist des Herrn ruht
auf mir,
denn der Herr hat mich
gesalbt.
Er hat mich gesandt mit dem
Auftrag,
den Armen gute Botschaft zu
bringen,
den Gefangenen zu verkünden,
daß sie frei sein sollen,
und den Blinden, daß sie
sehen werden,
den Unterdrückten die
Freiheit zu bringen
und ein Jahr der Gnade des
Herrn auszurufen.“
Jesus liest aus dem Propheten Jesaja vor. Er liest
von einem geheimnisvollen „Ich“, den Gott in die Welt gesandt hat. Dann rollt
er die Buchrolle zusammen, setzt sich (ein Zeichen, daß er den Text jetzt
auslegen wird) und sagt: Dieser „Ich“ – das bin ich. Ich bin der, den Gott gesandt
hat. Es ist mein Auftrag, den Armen eine gute Botschaft zu bringen, die
Gefangenen aus dem Gefängnis zu führen, den Blinden das Augenlicht
wiederzugeben, die Unterdrückten in die Freiheit zu führen und euch allen zu
verkünden, daß Gott euch seine Gnade anbietet.
Und in der Folge nennt Jesus zwei alttestamentliche
Beispiele, wo Menschen in Not geholfen wurde – die Witwe in Sarepta im Gebiet
von Sidon, die durch Elia vor dem Hungertod gerettet wurde, und den syrischen
Feldherrn Naaman, der durch Elisa von seinem Aussatz befreit wurde. Haben Sie
es beachtet? Das erste Beispiel spricht von einer Frau, einer Witwe.
Das ist übrigens nicht das einzige Mal, daß Lukas
auf Witwen zu sprechen kommt. Die Witwen waren in der damaligen Gesellschaft
eine besonders benachteiligte Gruppe, und immer wieder zeigt Lukas, wie Jesus
sich in auffallender Weise um sie gekümmert hat, mindestens siebenmal in seinem
Geschichtswerk.
[Die alte Prophetin Hanna im Tempel von Jerusalem
(2,36-38), die Frau in Nain, deren einziger Sohn gestorben war (7,11-17), die
hartnäckige Bittstellerin im Gleichnis von der Witwe und vom Richter (18,1-8),
die Witwen, deren Besitz, wie Jesus sagt, die religiösen Anführer des Volkes
„verschlingen“ (20,47), die bettelarme
Frau, die ihr letztes Geld, zwei kleine Kupfermünzen, in den Opferkasten im
Tempel legt (21,1-4), die Witwen in der Jerusalemer Gemeinde, für die eigens
sieben besonders vertrauenswürdige Männer als Diakone angestellt werden, damit
sie bei der täglichen Versorgung mit Lebensmitteln nicht zu kurz kamen (Apg 6),
die vielen Witwen in Joppe, für die Tabita Kleider und Mäntel nähte (Apg 9).]
Also: Lukas nennt das Programm, das Jesus für seinen
eigenen Dienst aufgestellt hat, und macht deutlich, daß benachteiligte Frauen
zu den Gefangenen gehören, die Jesus in die Freiheit führen will.
Ein anderes Strukturmerkmal im Doppelwerk von Lukas:
Lukas neigt offensichtlich dazu, Mann und Frau paarweise auftreten zu lassen.
Häufig kommen ein Mann und eine Frau gleichzeitig in einem Bericht vor. Und wo
Lukas von einer Begebenheit erzählt, in der ein Mann die Hauptrolle spielt,
führt er sehr oft im selben Zusammenhang auch eine Begebenheit an, in der es um
eine Frau geht. Einige Beispiele:
Es geht ganz vorne los.
Zweimal wird in Kapitel 1 die außergewöhnliche Geburt eines außergewöhnlichen
Sohnes angekündigt. Beide Ankündigungen erfolgen durch den Engel Gabriel,
- die eine an Zacharias, den
künftigen Vater von Johannes dem Täufer (1,10-20)
- die andere an Maria, die künftige Mutter von Jesus
Christus (1,26-38)
Mann und Frau
Später im selben Kapitel
finden wir zwei Lobgesänge:
- Maria preist Gott in einem
Loblied (1,46-55)
- Zacharias preist Gott in einem Loblied (1,67-79)
Frau und Mann
Im nächsten Kapitel, bei der Geburtsgeschichte von
Jesus (2,1ff), spielen beide Elternteile eine wichtige Rolle,
- sowohl Josef
- als auch Maria
Mann und Frau
Als das Baby Jesus von seinen Eltern im Tempel Gott
geweiht wird, kommt es zu zwei bedeutsamen Begegnungen:
- mit dem alten Simeon (2,25ff)
- und mit der alten Hanna (2,36ff)
Mann und Frau
In Kapitel 4 führt Jesus zwei Beispiele für Gottes
Hilfe in alttestamentlicher Zeit an (wir sprachen bereits davon):
- die Witwe in Sarepta im Gebiet von Sidon, die
durch Elia vor dem Hungertod gerettet wurde (4,25f), also die Gruppe der Witwen
- und den syrischen Feldherrn Naaman, der durch
Elisa von seinem Aussatz befreit wurde (4,27), also die Aussätzigen
Frau und Mann
Im selben Kapitel ist von
zwei Heilungen die Rede:
- Jesus heilt einen Mann, der
von einem Dämon besessen ist (4,31ff)
- und gleich darauf heilt er die Schwiegermutter von
Petrus (4,38f)
Mann und Frau
In Kapitel 7 wird erneut von
zwei Wundern erzählt:
- Jesus heilt den Diener des
Hauptmanns von Kafarnaum (7,1ff)
- und macht in Nain einen Toten lebendig, weil er –
wie ausdrücklich gesagt wird – tiefes Mitgefühl mit dessen Mutter, einer Witwe,
hat (7,11ff)
Mann und Frau
Ebenfalls in Kapitel 7 führt Jesus zwei
seelsorgerliche Gespräche:
- eines mit dem Pharisäer Simon, der ihn eingeladen
hat (7,36ff)
- aber auch eines mit jener sündigen Frau, die zum
Entsetzen von Simon hereinplatzt
Mann und Frau (wir kommen später noch einmal auf
diese Begebenheit zu sprechen)
In Kapitel 10 hält Jesus uns
zwei Vorbilder vor Augen:
- Er erzählt die Geschichte
von dem Samaritaner, der sich richtig verhalten hat (10,25ff)
- Und daneben stellt Lukas das Beispiel von Maria,
die sich ebenfalls richtig verhalten hat (10,38ff; auch darauf kommen wir im
Lauf der Predigt nochmals zurück)
Mann und Frau
In Kapitel 13 erzählt Jesus
zwei Gleichnisse:
- das Gleichnis vom
Senfkorn, das ein Mann in die Erde steckt (13,18f)
- und anschließend das Gleichnis vom Sauerteig, den
eine Frau unter den Teig mischt (13,20f)
Mann und Frau
Kapitel 15 ist das große Kapitel vom Verlieren und
Wiederfinden:
- Jesus erzählt von einem Hirten, der ein verlorenes
Schaf so lange sucht, bis er es wieder gefunden hat (15,3ff)
- und von einer Frau, die eine verlorene Silbermünze
so lange sucht, bis sie sie gefunden hat (15,8ff)
Mann und Frau
In Kapitel 17,34f spricht Jesus von der großen
Scheidung, die am Ende der Zeit vollzogen wird, der Trennung zwischen solchen,
die ihm vertrauten, und solchen, die ihn ablehnten, und er nennt
- neben den Männern
- ausdrücklich auch die Frauen [das erste Beispiel
kann sich auf zwei Männer beziehen oder auf ein Ehepaar]: zwei Frauen, die
zusammen Getreide mahlen, und von denen die eine angenommen und die andere
zurückgelassen wird
Männer und Frauen
In Kapitel 18 gibt uns Jesus zwei Beispiele, wie wir
beten sollen:
- die hartnäckige Witwe, die den gottlosen Richter
so lange bedrängt, bis er schließlich nachgibt (18,1ff)
- und den Zolleinnehmer im Tempel, der nicht mit
guten Taten prahlt wie der Pharisäer, sondern um Vergebung bittet (18,9ff)
Frau und Mann
Im Zusammenhang mit Jesu Auferstehung berichtet
Lukas
- sowohl von den Frauen am Grab, die sich davon
überzeugen lassen, daß Jesus auferstanden ist (24,1ff)
- als auch von den Emmaus-Jüngern, die schließlich
glauben, daß Jesus lebt (24,13ff)
Frauen und Männer
Diese auffällige Parallelführung von Männern und
Frauen bei Lukas findet ihre Fortsetzung in der Apostelgeschichte.
In Kap 5,1ff wird von einem
Betrugsversuch mit schrecklichem Ausgang berichtet; ein Ehepaar belügt Gott vor
der ganzen Gemeinde:
- Hananias
- und Saphira
Mann und Frau
In Kap 9 lesen wir zweimal von einem wunderbaren
Eingreifen Gottes:
- Zunächst heilt Petrus den gelähmten Äneas (9.32ff)
- und macht dann die tote Tabita wieder lebendig
(9,36ff)
Mann und Frau
In Kap 16 berichtet Lukas von zwei Bekehrungen in
Philippi:
- erst von der Umkehr der Geschäftsfrau Lydia
- und dann von der Umkehr des Gefängnisaufsehers
Frau und Mann
In Kap 17,34 nennt er zwei Menschen, die sich auf
die berühmte Areopag-Rede des Paulus hin für die Botschaft von Jesus öffneten:
- einen Mann (Dionysios)
- und eine Frau (Damaris)
Mann und Frau
In Kap 18,2f.19.26 berichtet Lukas von zwei der
wichtigsten Mitarbeiter des Apostels Paulus. Es handelt sich um ein Ehepaar:
- Aquila
- und Priszilla (nicht weniger als sechsmal wird
dieses Ehepaar im NT erwähnt, und viermal davon wird Priszilla sogar als erste
genannt)
Mann und Frau oder eben: Frau und Mann
Vielleicht ist Ihnen diese Parallelführung von Mann
und Frau bei Lukas noch nie aufgefallen. Man liest oft nur einen einzelnen
Vers, eine einzelne Begebenheit. Aber sobald man einmal einen Schritt
zurücktritt und das Evangelium bzw. die Apostelgeschichte als Ganzes überblickt,
springt einem diese ständige Doppelung geradezu ins Auge. Die Parallelität von
Mann und Frau kann kein Zufall sein. Dazu kommt sie viel zu häufig vor; dazu
ist Lukas ein viel zu gewissenhafter und sorgfältig gestaltender Historiker.
Außerdem findet sich vieles von dem jetzt angeführten Material nur in seinem
Evangelium, nicht bei Matthäus, Markus oder Johannes. Es handelt sich hier
offensichtlich um ein Struktur-Element, und offensichtlich will Lukas seinen
Lesern damit etwas sagen: Mann und Frau stehen Seite an Seite vor Gott. Gott
kümmert sich um beide genau gleich; die Erlösung gilt beiden genau gleich.
Beide sind vor Gott gleich viel wert, und beiden ist er gleich gnädig. Lukas
muß gar nicht ausdrücklich darauf hinweisen, muß nicht viele Worte darüber
verlieren. Die bloße Anordnung des von ihm ausgewählten Stoffes macht es klar:
Mann und Frau sind in Gottes Heilsplan genau gleich bedeutsam. In der neuen
Gemeinschaft der Christen stehen sie nicht auf verschiedenen Stufen; sie stehen
Seite an Seite.
Letztlich ist es natürlich nicht Lukas, der uns das
klarmacht; es ist Jesus. Lukas hat die Berichte zwar entsprechend
zusammengestellt, aber geredet und gehandelt hat Jesus. Jesus ist es, der die
Frau aus ihrer Zweitklassigkeit herausgeholt und ihr den gebührenden Platz an
der Seite des Mannes wiedergegeben hat als ein gleichwertiges Geschöpf Gottes,
dem keine speziellen Einschränkungen auferlegt werden müssen und das an allen
Segnungen Gottes genauso Anteil hat wie der Mann. Jesus hat das gemacht, nicht
Lukas.
Und trotzdem muß man sich fragen: Wieso betonte
gerade Lukas. daß Jesus die Unterdrückten befreien und den Leidenden helfen
wollte? Eins ist schließlich klar: Lukas konnte unmöglich alles berichten, was
es über Jesus zu berichten gab. Am Ende des Johannes-Evangeliums heißt es:
„Wenn alles einzeln aufgeschrieben würde, was Jesus getan hat – ich glaube, die
Welt wäre zu klein, um all die Bücher zu fassen, die man dann schreiben müßte“
(Joh. 21,25). Lukas mußte eine Auswahl treffen unter den zahllosen Reden und
Taten Jesu. Außerdem mußte er das ausgewählte Material ordnen, gliedern und
strukturieren. Von daher ist es sicher kein Zufall, wenn gerade in seinem Werk
immer wieder neben dem Mann die Frau steht, ja wenn die Frau sogar als Beispiel
für den Mann hervorgehoben ist und wenn so ausführlich davon berichtet wird,
wie Jesus gerade mit Frauen umgegangen ist – mit jungen Mädchen, mit
ausländischen Frauen, mit Müttern, Witwen, Prostituierten, Kranken, die als
unrein galten usw. Ich denke, Lukas berichtet das, was ihm persönlich besonders
wichtig geworden ist und was ihm für seine Leser besonders wichtig scheint.
Ihm persönlich ist die Frauenfrage vielleicht
deshalb so wichtig geworden, weil er von Haus aus Arzt war. Er hatte viel zu
tun mit Krankheiten, sozialer Benachteiligung und häuslichem Elend. Das hat ihn
geplagt, und er hat es – vielleicht mehr als die anderen Jünger – als besonders
wohltuend empfunden, wie sehr Jesus sich gerade um die vom Leben und von der Gesellschaft
Benachteiligten kümmerte.
Und was seine Leser betrifft: Wir wissen nicht
genau, wann Lukas sein Evangelium schrieb – es muß irgendwann in der zweiten
Hälfte des 1. Jh nach Chr. gewesen sein. Wir wissen auch nicht genau, für wen
sein Bericht bestimmt war. Gewidmet ist er Theophilus, aber sicher hatte Lukas
von vorneherein einen größeren Leserkreis im Auge. Eins scheint auf jeden Fall
klar: Auch noch zu Lukas‘ Zeit gab es starke Vorbehalte gegenüber dem, was
Jesus über die Frauen gelehrt und wie er sie behandelt hat. Offensichtlich war
es immer noch umstritten, daß Frauen genau wie Männer Objekt der Gnade Gottes
sind, daß sie selbst genau wie Männer Jünger Jesu sein können, ja daß ihr
Glaube sogar ein Vorbild für Männer sein kann.
Es gibt bei der Berichterstattung von Lukas noch
einen dritten Aspekt, und der ist von allen wohl der auffälligste und
überraschendste: Immer wieder kommt es zu einer Vertauschung der Rollen! Frauen
übernehmen die Verantwortung, Frauen treten als Zeugen auf, Frauen sind ein
Vorbild für die Männer! Das mag uns selbstverständlich vorkommen, aber für die
damalige Zeit und besonders für die fromme jüdische Welt war das geradezu
undenkbar.
Gehen wir nochmals rasch einige der Stellen durch,
wo Lukas in derselben Begebenheit oder in zwei aufeinanderfolgenden
Begebenheiten von einem Mann und einer Frau berichtet.
Kapitel 1: Der Engel Gabriel kündigt sowohl dem
Zacharias als auch der Maria an, daß sie je einen Sohn bekommen werden.
Zacharias glaubt das dem Engel zunächst nicht (und wird dafür mit zeitweiligem
Stummsein bestraft). Maria hingegen ist von vorneherein offen und bereit für
das Wunder (obwohl es für sie viel schwerer ist, damit fertig zu werden – sie
ist noch unverheiratet, hat noch nie mit einem Mann geschlafen und wird jetzt
in den Verdacht des vorehelichen Verkehrs oder, schlimmer noch, der Untreue
gegenüber ihrem Verlobten Josef geraten; der verheiratete und kinderlos alt
gewordene Zacharias dagegen kommt bei dem Wunder sehr gut weg – er steht als
einer da, der auch noch im hohen Alter potent ist!). Und trotzdem hat Zacharias
viel mehr Vorbehalte. Er hinterfragt das Ob, Maria nur das Wie. Er bezweifelt,
ob es überhaupt geschehen kann, sie weiß nicht, wie das Ganze zustande kommen
soll. Maria bittet um eine Erklärung, Zacharias fordert einen Beweis. (Übrigens
kommt Zacharias auch beim Vergleich mit seiner Frau Elisabeth schlechter weg:
Die glaubensstarke Person ist eindeutig sie, nicht er.)
Kapitel 2: Die Rolle von Maria bei Jesu Geburt ist
unvergleichlich viel wichtiger als die von Josef. Josef ist ein vorbildlicher
Charakter, ein richtiger Ehrenmann. Aber im Mittelpunkt steht seine Frau, die
Jungfrau Maria. Josef hat das Kind nicht gezeugt; sie bringt es zur
Welt. Immer wieder ist es Maria allein, die etwas unternimmt oder über deren
Empfindungen etwas berichtet wird: „Maria prägte sich alle diese Dinge ein und
dachte immer wieder darüber nach“ (2,19); (2,48b); „Seine Mutter behielt alle
diese Dinge im Gedächtnis“ (2,51b).
Beinahe schockierend ist der Rollentausch in Kapitel
7,36ff: Der fromme Simon und die Frau mit dem anrüchigen Lebensstil. Dabei
beginnt alles wie gewohnt, wie erwartet. Da ist ein Pharisäer, ein Angehöriger
der moralischen Elite des Landes, und er ist so großzügig, daß er Jesus
zusammen mit anderen Gästen (sicher auch mit seinen Jüngern) zu einem Essen
einlädt: vorbildlich! Und da ist eine Frau, die für ihren unmoralischen Lebenswandel
bekannt ist – alles andere als vorbildlich. Na ja, so sind Frauen eben
(häufig): Verführerinnen, die ehrbare Männer in Gefahr bringen. Unvermittelt
taucht sie in dieser erlauchten Gesellschaft auf, wirft sich vor Jesus zu
Boden, bricht in Tränen aus und salbt ihm die Füße mit einem kostbaren Öl.
Mensch, Jesus, denkt der Pharisäer, wenn du wüßtest, was das für eine Person
ist, würdest du dich niemals von ihr berühren lassen! Aber dann steht plötzlich
alles auf dem Kopf. Jesus klagt den Pharisäer an und hält ihm die sündige Frau
als Vorbild vor Augen: Du hast mir die Füße nicht gewaschen, wie sich das
gehört – sie hat es getan. Du hast mir keinen Begrüßungskuß gegeben – sie hat
meine Füße geküßt. Du hast meinen Kopf nicht einmal mit gewöhnlichem Öl gesalbt
– sie hat meine Füße gesalbt, noch dazu mit einem ganz besonders kostbaren Öl.
Und Jesus sagt noch mehr: Die Liebe, die sie mir erwiesen hat, ist der Beweis
dafür, daß ihre Sünden vergeben sind. Geh in Frieden, sagt er zu der Frau; dein
Glaube hat dich gerettet. Die Sünderin glaubt, ist rein, ist gerettet. Und
Simon? Von ihm wird nichts dergleichen gesagt. Die Ex-Prostituierte als Vorbild
für den Musterfrommen! Unerhört! Schockierend!
Diese Begebenheit erinnert an eine Stelle, die
allerdings nicht im Lukas-Evangelium steht, eine Stelle aus der Bergpredigt,
Matthäus 5,27f. Dort sagt Jesus: „Ihr wißt, daß es heißt: Du sollst nicht die
Ehe brechen! Ich aber sage euch: Jeder,
der eine Frau mit begehrlichem Blick ansieht, hat damit in seinem Herzen schon
Ehebruch mit ihr begangen.“
Das Stereotyp in einer Männer-orientierten
Gesellschaft war (und ist es im Grunde genommen bis heute geblieben): Die Frau
ist die Verführerin, der Agressor, von ihr geht die Versuchung zur sexuellen
Sünde aus. Entsprechend wurde die Frau damals von den Rabbinern (und wird sie
heute in frommen Kreisen) ermahnt und zurechtgewiesen: Ja nicht zu viel an die
Öffentlichkeit, ja keine unanständige Kleidung, ja kein herausforderndes
Verhalten! Der Frau wird die ganze Verantwortung zugeschoben; sie ist schuld,
wenn der Mann vor ihren Reizen kapituliert. Aber Jesus dreht die Sache um: Der Mann
ist verantwortlich, der Mann trägt die Schuld. Der Mann ist nicht der
Schwache angesichts einer aufdringlichen Frau; er ist der Agressor. Nicht die
Frau geht mit ihrer Verführungskraft auf ihn zu, sondern er geht mit seinen
gierigen Blicken auf sie zu. Wenn es zum Ehebruch kommt, hat nicht sie ihn
verführt, sondern er sie. Jesus macht den Mann verantwortlich und nimmt
die Frau in Schutz. In gewissem Sinn bestätigt Jesus damit die Führerschaft des
Mannes. Er fordert den Mann heraus: Übernimm soziale Verantwortung, schütze
deine eigene Frau, deine eigene Familie, schütze die fremde Frau, die andere
Familie. Sorge für einen offenen, entspannten Umgang von Mann und Frau
miteinander! Und gleichzeitig befreit Jesus damit die Frau aus der finsteren
Ecke, in die eine Männergesellschaft sie immer wieder drängt und wo sie
entweder gar nicht in Erscheinung treten darf oder nur als Sexobjekt
wahrgenommen wird.
Wie sagt Jesus in der Bergpredigt unmittelbar nach
der zitierten Ehebruch-Stelle? „Wenn dein rechtes Auge dich zur Sünde verführt,
dann reiß es aus und wirf es weg!“ (Matthäus 5,29) Er hätte ja auch sagen
können: „Dann befiehl der Frau, sich zu verhüllen, mehr und immer mehr!“ Meine
Familie und ich sind im Februar in Ostafrika gewesen, in Djibouti. Schon auf
dem Flug dorthin und dann auch im Land selbst begegneten wir zahlreichen
moslemischen Pilgern, die nach Mekka unterwegs waren. Die Männer zeigten stolz
ihre braungebrannte, dicht behaarte Brust. Aber von den Frauen war schlicht und
einfach nichts zu sehen, nichts außer einer Masse schwarzer Stoff. Einigen
gestattete man immerhin noch einen Sehschlitz, anderen hatte man nicht mal das
gelassen: schwarz eingehüllt vom Scheitel bis zur Sohle. Ist das die Lösung?
Jesus sieht es anders. Jesus setzt nicht bei der Frau an, sondern beim Mann.
Und vor allem: Jesus setzt tiefer an. Er Ehebruch beginnt im Herzen, sagt er.
Und die Bekämpfung des Ehebruchs muß daher ebenfalls im Herzen beginnen, durch
eine Erneuerung der Gedanken und Empfindungen. Diese Erneuerung bietet er uns
allen an, den Männern und den Frauen.
Auch an Johannes 8,2-11 mußte ich in diesem
Zusammenhang denken. Eine Ehebrecherin wird zu Christus geschleppt. Auf
frischer Tat ertappt! Alle Blicke richten sich auf die Frau. Alle Anklagen
zielen wie Speere auf die Frau. Sie hat eine todeswürdige Sünde begangen; sie
muß gesteinigt werden. Jesus dreht den Spieß um, richtet seinen Blick auf die
Ankläger: Wo ist der Ehebrecher? Zu einem Ehebruch gehören doch zwei, gehört
doch auch ein Mann. Wo ist der Ehebrecher? Womöglich in euren Reihen? „Wer von
euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen!“ Dann bückt sich
Jesus und schreibt etwas auf die Erde. Und wie er sich wieder aufrichtet, sind
sie alle weg. Einer nach dem anderen hat den Hut genommen und hat sich
verdünnisiert. Die Ankläger mußten kapitulieren – vor ihrem schlechten Gewissen,
vor Jesu Wahrhaftigkeit, vor Jesu Vollmacht! „Hat dich keiner verurteilt?“ –
„Nein, Herr, keiner.“ – „Dann verurteile ich dich auch nicht; du darfst gehen.
Sündige von jetzt an nicht mehr!“
Am allerauffälligsten ist der Rollentausch bei den
Auferstehungsberichten, Lukas 24. Es sind Frauen, die das leere Grab entdecken.
Es sind Frauen, denen die Engel erscheinen. Es sind Frauen, die als erste
glauben, daß Jesus tatsächlich auferstanden und wieder lebendig ist. Es sind
Frauen, denen die Engel den Auftrag geben, diese Supermeldung den Aposteln zu
bringen. Die Männer tauchen zunächst gar nicht auf. Sie brauchen ein viel
längeren Anlauf, bis sie begreifen und glauben können, was wirklich geschehen
ist. Und das sind ja nicht irgendwelche Männer, das sind die Zwölf, die 3 Jahre
lang mit Jesus unterwegs gewesen waren. Mehrfach waren sie Augenzeugen einer
Totenauferweckung gewesen, hatten Jesu Macht über den Tod miterlebt. Dreimal
hatten sie seine Ankündigung gehört, daß er zwar sterben, dann aber wieder
lebendig werden würde! Aber dann, als es wirklich eintraf, standen sie auf der
Leitung, auf was für einer langen Leitung! Die Frauen waren viel schneller. Was
für eine Aufwertung der Frau! Frauen sind würdig, direkte Anweisungen Gottes zu
bekommen. Frauen sind würdig, seine Botschaft weiterzusagen – sogar an die
Apostel! Frauen sind würdig, als vertrauenswürdige Zeuginnen auszusagen (gegen
jüdisches Recht; nach jüdischem Recht konnten nur Männer Zeugen sein).
Wir könnten diese Linie nun in der Apostelgeschichte
weiterverfolgen. Auch dort finden wir immer wieder einen Fall von Rollentausch,
eine unerwartete, überraschende Neubewertung der Frau. Aber dafür reicht die
Zeit jetzt nicht. Statt dessen möchte ich noch auf eine Begebenheit hinweisen,
die uns nur Lukas berichtet und die, meine ich, für das neue Verständnis von
der Rolle der Frau, von ihrer Stellung und ihrem Wert, von entscheidender
Bedeutung ist: Die Geschichte von Maria und Martha (Lukas 10,38-42).
Als Jesus mit
seinen Jüngern weiterzog, kam er in ein Dorf, wo ihn eine Frau mit Namen Martha
in ihr Haus einlud. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß.
Maria setzte
sich dem Herrn zu Füßen und hörte ihm zu. Martha hingegen machte sich viel
Arbeit, um für das Wohl ihrer Gäste zu sorgen.
Schließlich
stellte sie sich vor Jesus hin und sagte: „Herr, findest du es richtig, daß meine
Schwester mich die ganze Arbeit allein tun läßt? Sag ihr doch, sie soll mir
helfen!“
„Martha,
Martha“, erwiderte der Herr, „du bist wegen so vielem in Sorge und Unruhe, aber
notwendig ist nur eines. Maria hat das Bessere gewählt, und das soll ihr nicht
genommen werden.“
Wir kennen diese Geschichte gut: Jesus mit seinen
Jüngern im Haus der drei Geschwister Lazarus, Martha und Maria. Aber es gibt
zwei oder drei Dinge, die wir vielleicht für ganz normal halten und die doch
damals alles andere als normal waren.
Erstens: Maria setzt sich Jesus zu Füßen und hört
ihm zu, wie er seine Jünger unterweist. „Sich einem Rabbi zu Füßen setzen“ war
wahrscheinlich ein Fachausdruck für „ein Schüler des Rabbi sein“. Maria reiht
sich ein in den Kreis der Schüler von Jesus! Das war höchst ungewöhnlich. In
neutestamentlicher Zeit saßen jüdische Frauen während des Synagogengottesdienstes
wahrscheinlich getrennt von den Männern auf eigenen Galerien o.ä. Und es war
Frauen in aller Regel nicht möglich, am Unterricht eines Rabbis teilzunehmen.
Die einzige Ausnahme waren Ehefrauen von Rabbinern: Sie wurden von ihrem Mann
im Gesetz des Mose unterwiesen. Aber das spielte sich in den eigenen vier
Wänden ab. Und auch einem Familienvater war es in der Regel gestattet, neben
seinen Söhnen auch seine Töchter im Gesetz zu unterrichten (obwohl es auch
Rabbis gab, die das für unnötigen Luxus und Extravaganz hielten). Aber in einer
Rabbinerschule waren nur Männer. Und jetzt nimmt sich Maria das Recht, bei
Jesus in die Schule zu gehen! Woher nimmt sie sich diese Freiheit? Woher hat
sie diesen Mut? Zum einen liegt es sicher daran, daß sie unbedingt mehr vom
Reich Gottes wissen möchte. Aber ich denke, es hängt auch damit zusammen, daß
Jesus sich gegenüber Frauen so ganz anders verhielt als die übrigen Rabbiner.
Er nahm sie ernst, er ging mit ihnen genauso freundlich und hilfsbereit um wie
mit Männern. Bei ihm empfanden sie sich als gleichwertige Geschöpfe Gottes, bei
ihm blühten sie auf.
Zweitens: Jesus unterrichtet Maria. Auch aus der
Perspektive des Rabbis war dieser Vorgang höchst ungewöhnlich. Eine Frau unter
seinen Schülern zu haben? Im privaten Kreis, zu Hause, wenn es seine Ehefrau
oder seine Tochter war – okay. Aber daß ein Rabbi zu einer Frau ins Haus geht
und sie dort unterrichtet, das war total unüblich, war beinahe anstößig. Jesus
setzt hier sich einfach über die Konventionen seiner Zeit und Umgebung hinweg.
Es gibt für ihn keinen wirklichen Grund, Maria nicht zuhören zu lassen.
Drittens: Martha sorgt für die Gäste. Auch das ist
ungewöhnlich. Frauen war es nicht erlaubt, Männern eine Mahlzeit zu servieren –
es sei denn, kein männlicher Diener war zugegen. Vermutlich spiegelt Marthas
Eifer ihren Wunsch und ihre Bereitschaft wider, Jesus zu dienen, und sie „maßt
sich“ die Rolle eines männlichen Dieners an, die ihr eigentlich nicht zusteht.
Aber das Erstaunlichste von allem ist Jesu Antwort
an Martha: „Notwendig ist nur eins. Maria hat das Gute/Bessere gewählt, und das
soll ihr nicht genommen werden.“ Was ist dieses Gute, auf das es ankommt? Was
ist besser und wichtiger als alles andere? Gibt es für eine Frau denn irgend
etwas Wichtigeres, etwas Schöneres, eine größere Aufgabe, als Jesus das Essen
zuzubereiten? Ja, sagt Jesus: Das tun, was Maria tut – mir zu Füßen sitzen und
mir zuhören. Auf Gottes Wort hören und sich Gottes Weisung unterstellen. Mit
anderen Worten: Jünger Jesu werden, Jünger Jesu sein.
Damit hat Jesus gewissermaßen eine Ebene eingeführt,
die es bis dahin nicht gab. Jesus war nicht ein Sozial-Reformer oder
Sozial-Revolutionär. Für Sozialreformer sind die gesellschaftlichen Werte die
höchsten Werte. Die richtigen sozialen Verhältnisse haben absolute Priorität.
Für die einen, die Vertreter des Patriachats, muß der Mann unbedingt die
Führung haben, für die anderen, die Befürworter des Matriarchats, die Frau, für
wieder andere müssen alle auf genau derselben Stufe stehen und an der
Herrschaft beteiligt sein (die Vorkämpfer einer radikalen Demokratie, eines
idealen Kommunismus). Aber Jesus kam nicht primär, um auf der sozialen Ebene
etwas in Ordnung zu bringen, Unrecht zu beseitigen oder Machtstrukturen auf den
Kopf zu stellen. Jesus brachte etwas ganz Neues, er führte eine höhere Ebene
ein: das Reich Gottes, Gottes Herrschaft. Die erste Frage ist jetzt nicht mehr:
Untersteht die Frau dem Mann? sondern: Unterstehen Mann und Frau Gott? Die
entscheidende Einstellung des Mannes darf nicht sein: Ich bin der Herr meiner
Frau, und die entscheidende Einstellung der Frau darf nicht sein: Ich bin die
Dienerin meines Mannes. Die entscheidende Einstellung von beiden, Mann und
Frau, muß sein: Wir dienen Gott. Beide, Mann und Frau, sind aufgerufen, Jünger
Jesu zu werden. Der Glaube an Jesus ist eine universale Forderung und hat
absoluten Vorrang vor allem anderen; er gilt für Frauen genauso wie Männer. Die
soziale Zuordnung ist nicht mehr der entscheidende Faktor; er ist zu einer
zweitrangigen Kategorie geworden. Entscheidend ist die Unterordnung unter Gott.
Diese Neu-Orientierung hat dramatische Konsequenzen
auch für den sozialen Bereich; er gibt der Frau im Palästina des ersten
Jahrhunderts einen völligen neuen Status, eine Gleichberechtigung vor Gott,
eine Gleichwertigkeit in religiösen Dingen, einen ebenbürtigen Platz im Neuen
Bund. Seit Jesus ist der erste Beruf einer Frau nicht mehr: Gehilfin
ihres Mannes, sondern: Jüngerin Jesu.
Jesus hat also tatsächlich eine Art
Frauenbefreiungsbewegung in Gang gesetzt – women’s lib. Und doch geschah das
nicht dadurch, daß Jesus auf der sozialen Ebene alles radikal reformiert hätte.
Er wertet Marthas Einsatz in der Küche keineswegs ab. Er attackiert die
traditionelle Rolle der Frau im Haushalt nicht. Er hebt Ehe und Familie nicht
auf, im Gegenteil: Jesus hat die Position der Ehefrau gestärkt, sie ist jetzt
besser geschützt vor der Willkür des Mannes, ihr Mann trägt eine größere
Verantwortung für sie und ihre Kinder.
Nein, Jesus befreit die Frau., indem er eine neue,
übergeordnete Rolle einführt: Jüngerin Jesu zu sein. Die Veränderung beginnt
von innen her. Und dadurch verändert Jesus alles. Dadurch weist er der Frau
einen neuen Platz zu. Dadurch gibt er ihr eine neue, allem anderen vorgeordnete
Aufgabe. Die erste Frage einer Frau darf nicht mehr sein: Was will mein Mann?
sondern: Was will Gott? Nicht mehr zuerst: Wie gefalle ich meinem Mann?
sondern: Wie gefalle ich Gott? Wie setze ich mich und meine Gaben am besten für
Gott ein? Und so entstehen neue Rollen für die Frau, die sich Gott
unterstellt hat, neue Rollen für neugeborene Leute, neue Rollen im Rahmen der
Gesellschaft, aber vor allem neue Rollen im Rahmen der christlichen Gemeinde,
neue Rollen auch für die ledige Frau.
Eine ledige Frau hatte es damals in Israel ganz
besonders schwer. Sie war von vorneherein zweitklassig. Sie hatte keine Kinder.
Sie trug nichts zum Weiterbestehen von Gottes Volk bei. Aber Jesus sagt: Wenn
sie meine Jüngerin wird, erfüllt sie die beste und wichtigste Aufgabe, die Gott
für sie vorgesehen hat! – Übrigens stand es um ledige Männer damals fast
genauso schlecht. Ein Mann, der über ein gewisses Alter hinaus immer noch nicht
verheiratet war, war in den Augen vieler jüdischer Gesetzeslehrer geradezu ein
sündiger Mann. Er mißachtete das Gebot des Schöpfers: „Seid fruchtbar und mehrt
euch!“ Er sorgte nicht für Nachwuchs, er hatte keine Söhne, die den Fortbestand
der Familie und letztlich des ganzen Volkes sicherten. Ein alter Junggeselle –
das war damals ein Ding der Unmöglichkeit. Dieser Umstand trägt sicher mit dazu
bei, daß Paulus in 1. Korinther 7 mit solcher Vehemenz für das Ledigsein
eintritt. Er selbst war ledig. Und er konnte darin nichts Minderwertiges
entdecken. Im Gegenteil: „Wer heiratet, trifft eine gute Entscheidung. Aber wer
nicht heiratet, wählt den Weg, der noch besser ist“ (1. Korinther 7,38) –
vorausgesetzt, er benutzt seine Zeit und seine Kräfte um so mehr dafür, ganz
für Gott dazusein.
Die neue Realität der neuen Rollen auch für die Frau
müßten wir jetzt eigentlich in der Apostelgeschichte weiterverfolgen. Wir
würden manches Erstaunliche entdecken, aber dafür fehlt heute leider die Zeit.
Vielleicht nur so viel: Überall, wo das Evangelium hinkommt, ob in Jerusalem,
Cäsarea, Joppe, Philippi, Thessalonich, Beröa, Athen, Korinth, Ephesus oder
Rom, sind Frauen unter den ersten, wichtigsten und einflußreichsten Anhängern
des christlichen Glaubens. Wo immer das Evangelium hinkommt, finden wir Frauen,
die sich Jesus zuwenden und denen sich dadurch neue Möglichkeiten für ihr Leben
eröffnen. Wir finden Frauen, die Christus und der christlichen Gemeinde in
Rollen dienen, die ihnen normalerweise verschlossen geblieben wären.
Im Judentum hatte die Frau prinzipiell keine
öffentlichen religiösen Aufgaben. Als Lehrerin konnte sie schon deshalb nicht
auftreten, weil sie theologisch nicht geschult war. Und das Priester- oder
Levitenamt konnte sie wegen ihrer monatlich wiederkehrenden Periode nicht
ausüben, denn Priester und Leviten mußten sich ständig rein halten für die
Opfer, die sie darzubringen hatten, und die Menstruation machte unrein. Bei
Jesus zählt das alles nicht mehr. Er schult auch Frauen (siehe Maria), er möchte,
daß sie sich von ihm unterweisen lassen. Und er gibt nichts auf äußerliche
Reinheit bzw. Unreinheit. Er sieht in einer Frau, die unter ständigen Blutungen
leidet, nicht jemand, von dem man sich fernhalten muß, um die eigene Reinheit
nicht in Gefahr zu bringen, sondern eine Person in Not, die Hilfe braucht
(Matthäus 9,20-22).
Jesus befreit die Frau, aber er befreit sie nicht,
damit sie sich selbst verwirklichen kann, sondern damit sie Gottes Pläne
verwirklichen hilft. Er befreit sie zum Dienst im Reich Gottes, er unterstellt
sie Gott. Und eine größere Freiheit gibt es in dieser Welt nicht. Der Platz
unter Gott ist der beste Platz, den jemand einnehmen kann, gleich ob Mann oder
Frau. Jesus bietet uns allen die größtmögliche Freiheit an: Gott zu gehören und
seine Mitarbeiter zu sein.
Vielleicht ist zum Schluß noch eine Bemerkung zum
Feminismus angebracht. Den Sufragetten zu Anfang des letzten Jahrhunderts ging
es zunächst nur um die Abschaffung von willkürlichen, ungerechten Strukturen
und um politische, soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung der Frau. An
ihren Forderungen war vieles berechtigt. Der radikale Flügel des modernen
Feminismus will weit mehr. Sein Ziel ist es, die Frau von jeder Unterordnung zu
befreien, also auch von der Unterstellung unter Gott. Der Feminismus will jede
Art von Herrschaft zertrümmern, auch die Gottesherrschaft. Herrschaft ist
angeblich immer Männer-Herrschaft. Gott als der Herr ist nichts anderes als ein
männliches Konstrukt, ein Gedankengebilde machtbesessener Männer. Gott als
eigenständiges, reales Wesen existiert für den Feminismus nicht, nur der
chauvinistische Gottesbegriff. Der Feminismus fordert, daß Denken und
Verhalten der Menschen gewalt- und herrschaftsfrei werden, und will zu diesem
Zweck ein repressionsfreies Gottesbild einführen: Gott nicht mehr ein Herr,
sondern – eine Frau! Genau darauf läuft alles hinaus; der Feminismus erwartet
die Erlösung von der Frau, vom alles in Harmonie vereinenden Wesen der Frau.
Die Frau wird zum Gottesersatz, zur Göttin, zur Erlöserin. Darin gleicht der
moderne radikale Feminismus allen Mutter-Gottes-Kulten, allen
Göttinnen-Religionen. Es geht ihm nicht mehr nur um die Aufhebung der Unterdrückung
von Frauen; er ist zur Ersatzreligion geworden. – Und was sagt die Bibel, was
sagt Jesus? Auch Frauen sind sündige Menschen; auch Frauen brauchen Vergebung,
müssen eine neue Geburt erleben, damit sie an Gottes Frieden und Segen
teilhaben. Die Frau ist dem Mann auch in Sachen Sünde gleichwertig! Frauen sind
nicht schlechter als Männer, aber Frauen sind auch nicht besser! Das Heil kommt
niemals von einem Menschen, ob Mann oder Frau. Das Heil kommt von Gott.
Jesus war kein Feminist. Es ging ihm nicht darum,
die gesamte soziale Ordnung auf den Kopf zu stellen. Vieles von den alten
Ordnungen blieb bestehen. Wäre Jesus ein Feminist gewesen, dann hätte er
zumindest eine Frau unter die zwölf Apostel berufen. Jesus hat so viel
Anstößiges, Unerhörtes, Befremdendes getan – da hätte er dafür auch noch den
Mut gehabt. Aber er tat es nicht. Er hat das patriarchalische Rahmenwerk der
damaligen Kultur nicht einfach zerbrochen. Er hat die Stellung des Mannes als
Haupt der Frau nicht bestritten. Nein, er hat einen anderen Weg eingeschlagen,
um die entscheidenden Dinge zu reformieren. Den Rahmen hat er gelassen, aber er
hat ihn neu gefüllt. Er hat den Männern ein neues Verständnis dafür gegeben,
was Führung heißt, leadership: Führen heißt Dienen. Er selbst hat es mit seinem
eigenen Leben vorgemacht: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen
zu lassen, sondern um zu dienen." (Markus 10,45) Und er hat die Frauen aus
der Unterdrückung durch den Mann befreit, indem er sie seiner eigenen guten
Herrschaft unterstellt hat: Vor allem anderen sind sie jetzt seine
Jüngerinnen; sie gehören ihm und dienen ihm.
Ich denke, es ist angemessen, mit einem Wort von
Paulus zu schließen, von dem großen Apostel, den Lukas zeitweise auf seinen
Missionsreisen begleitete und von dem er so viel über christliche Lehre und
christliches Leben gelernt hat. Paulus schreibt in Galater 3,28: „Es hat nichts
mehr zu sagen, ob ein Mensch Jude ist oder Nichtjude, ob er im Sklavenstand ist
oder frei, ob er ein Mann ist oder eine Frau. Durch eure Verbindung mit Jesus
Christus seid ihr alle ein neuer Mensch geworden.“
Natürlich ist der Mann auch als Christ weiterhin ein
Mann und die Frau weiterhin eine Frau – mit allen biologischen und
psychologischen Unterschieden und mit allen sich daraus ergebenden praktischen
Konsequenzen für Alltag, Familie und Beruf. Aber – und das ist das Neue, das Entscheidende
– Christus hat eine Ebene eingeführt, auf der sie alle gleich sind: die unmittelbare
persönliche Verbindung zu Gott als Gottes Kinder. Und diese Ebene ist die höchste.
Sie steht über allen anderen Beziehungsebenen, über der Beziehung des Mannes zu
seiner Frau und über der Beziehung der Eltern zu ihren Kindern. Das gibt allen
unseren irdischen Verhältnissen eine völlig neue Perspektive. Das ändert und
erneuert alles – für den Mann, aber vor allem auch für die Frau.