Der Brief an die Römer

Benedikt Peters

Christliche Literatur-Verbreitung e. V. Postfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld

1. Auflage 2019

Artikel­Nr. 256386

ISBN 978­3 ­86699­386­ 0

Anmerkung des Herausgebers: Es ist zu beachten, dass der Autor an gewissen Stellen den Text des Römerbriefes direkt aus dem Griechischen übersetzt hat. Die sonstigen Bibelzitate sind, wenn nicht anders vermerkt, der unrevidierten Elber­felder Bibel 1905 und der Elberfelder Übersetzung (Edition CSV Hückeswagen) 2003 entnommen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass manche Buchtitel, die zum großen Teil in der Bibliografie erscheinen, in den Fußnoten gelegentlich in Kurzform angeführt sind.Mit rechteckigen Klammern versehene Wörter und Wendungen im Bibeltext weisen darauf hin, dass sie im Grundtext nicht vorhanden sind, aber aus sprach ­lichen Gründen in den deutschen Text eingefügt wurden. Darüber hinaus die­nen diese Klammern nach den gängigen Zitierregeln dazu, diejenigen Stellen zu kennzeichnen, wo Änderungen in der Wortstellung notwendig sind.

Einleitung 1. Der Wert und die Bedeutung des Römerbriefes

Der Römerbrief kommt seit der Antike in den verschiedenen Samm­lungen kanonischer Schriften stets als erster Brief nach der Apostel geschichte. Er ist nicht der älteste (das ist nämlich 1. Thessalonicher); er steht also nicht deshalb an erster Stelle. Er steht da, weil er der grund­legendste aller apostolischen Lehrschriften ist. Im unmittelbaren Anschluss an die Apostelgeschichte zeigt er …

… was der Inhalt der Botschaft war, die mit solch unaufhaltsamer Kraft um sich griff, dass innerhalb der ersten Generation von Gläubigen das ganze Römische Reich von unzähligen Ge­meinden durchsetzt war, … auf welcher Grundlage diese Gemeinden ruhten. Über den Römerbrief haben alle, die ihn studiert und etwas von dessen Inhalt erfasst haben, nur in Superlativen geredet. Die ältesten Ausleger aus antiker Zeit, Reformatoren, Puritaner, die Pietisten und Erweckungs­ prediger haben alle in den Chor der Bewunderer dieses großartigen Brie­fes eingestimmt.

»Diese Epistel ist das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welche wohl würdig und wert ist, dass sie ein Christenmensch nicht allein Wort für Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot der Seelen. Denn sie kann nimmer zu viel und zu wohl gelesen oder betrachtet werden, und je mehr sie gehandelt wird, je köstlicher sie wird und besser schmecket« (Martin Luther, WA DB 7, 2, 3­11).

2. Die Empfänger

Paulus schreibt »allen Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, die in Rom sind« (1,7).

Die Gemeinde in Rom hatte Paulus nicht gegründet und nie besucht, aber er hatte von ihrem Glauben gehört (1,8). Es hatte wohl auch nicht Petrus oder ein anderer Apostel die Gemeinde in Rom gegründet, denn sonst hätte Paulus sich nicht so um sie gemüht. Wie war die Gemeinde entstanden? In Apg 2,10 vernehmen wir, dass Juden aus Rom am Pfingsttag des Jahres 30 in Jerusalem waren. Es kamen gewiss einige von ihnen durch die Predigt des Petrus zum Glau­ben, und sie brachten das Evangelium nach Rom, der Hauptstadt der Welt, in die alle Wege des Imperiums führten. Die Gemeinde bestand wohl mehrheitlich aus Heiden. Kapitel 1,24­32 zeigt, wie tief diese gesunken waren, doch das Evangelium war stark genug, auch solche zu retten.

In der Gemeinde waren auch Juden, wie wir 7,1 entnehmen (»ich rede zu denen, die Gesetz kennen«). Priska und Aquila sind unter den Christen in Rom (16,3), und die waren Juden (siehe Apg 18,2), und in 16,7.11 spricht Paulus von »Verwandten«, die also auch Juden gewesen sein müssen.

3. Zeit und Ort der Abfassung

Wir erfahren in 1,10­13, dass Paulus Rom noch nicht besucht hat. Das bedeutet, dass er diesen Brief vor dem Frühjahr 60 schrieb, denn damals kam er als Gefangener zum ersten Mal nach Rom. In 15,23­25 spricht Paulus von seinen Reiseplänen; das aber konnte er nur tun, bevor er am Pfingstfest des Jahres 58 in Jerusalem verhaftet worden war. In 15,25­27 kündigt er an, dass er nun aufbrechen werde nach Jerusalem, um das Geld, das man für »die Armen unter den Heiligen … in Jerusalem« gesammelt hatte, zu überbringen. Das muss im Jahr 57 gewesen sein. Er war damals in Korinth, denn er schreibt in 16,1­2 eine Emp­ fehlung für Phöbe, eine Schwester aus der Gemeinde in Kenchreä (das war der Hafen der Stadt), der er den Brief an die Gemeinde in Rom mit­ gab. Gajus, der Gastgeber, den der Apostel in 16,23 erwähnt, ist der gleiche Mann, den Paulus bei seinem ersten Besuch in Korinth getauft hatte (1Kor 1,14); und in 16,23 grüßt ein gewisser Erastus, der gemäß 2Tim 4,20 in Korinth lebte. Nehmen wir alle diese Angaben zusammen, können wir sagen: Paulus diktierte den Römerbrief dem Tertius (16,22), als er am Ende der dritten Missionsreise im Jahr 57 noch in Korinth war.

4. Die Absicht des Apostels

»Denn mich verlangt, euch zu sehen, um euch etwas an geistlicher Gnadengabe mitzuteilen, damit ihr gefestigt werdet« (1,11). Der Apostel wünscht seit Jahren, sie zu besuchen, ist aber stets verhindert worden (1,13; 15,22­23), und darum schreibt er ihnen, was er nicht mündlich vortragen kann. Da der Apostel die Gemeinde nicht kennt und keine Abweichungen von der Lehre oder Mängel im Betragen an sprechen kann, schreibt er einen Brief, der von allgemeiner Bedeutung ist. Er erörtert in ihm die Herkunft, den Inhalt und die Früchte des Evan­geliums so umfassend wie sonst nirgends. Der Römerbrief ist eine syste­matische, vollständige Abhandlung des Evangeliums. Eine solche war auch sehr nötig. Bedenken wir: Inzwischen war das Evangelium durch die Apostel ein Vierteljahrhundert gepredigt worden; überall waren Gemeinden entstanden. Diese mussten in den Grundwahrheiten des Evangeliums befestigt und so zugerüstet werden, allen Angriffen auf die Glaubenslehre standzuhalten.

Wenn wir den Verfasser des Römerbriefes recht verstehen wollen, müs­sen wir bedenken, dass Paulus Jude gewesen und in den Lehren des Judentums gründlich geschult worden war, bevor er Christ wurde. Das altehrwürdige theologische System, dem er einst gefolgt war, behauptete von sich, den allein rechten Weg zu einem gottgefälligen Leben zu lehren. Gegen dieses ganze Selbstverständnis richtet sich die Wahrheit des Evangeliums. Da dieses aber aus dem Alten Testament kommt, wie Paulus in Röm 1,2 ausdrücklich sagt (siehe auch 3,21), ist er genötigt zu demonstrieren, in welcher Weise die Juden in ihrem Verständnis von der Gerechtigkeit Gottes und damit von der Bedeutung des Gesetzes irr­ ten. Er tut das, weil er als einstiger Jude seine Brüder nach dem Fleisch gewinnen will (siehe 9,1­3; 10,1; 11,13­14). Darum beantwortet er immer wieder Einwände, welche gegen die Lehre von der Rechtfertigung ohne Gesetz und durch Glauben allein vorgebracht werden (siehe 3,1; 4,1; 6,1; 6,15; 7,7; 11,1). Damit will er die Anstöße aus dem Weg räumen, die dem Juden den Zugang zum Evangelium versperren. Gleichzeitig will er den ehemaligen Heiden die Argumente an die Hand geben, mit denen sie den Juden antworten können, die das Evangelium angreifen. Wie die Juden hatten auch viele Christen Fragen, die Paulus in seinem Schreiben beantwortet:

Wo bleibt Gottes Gerechtigkeit, wenn Schuldige ohne jegliche Gegenleistung von ihrer Schuld freigesprochen werden und ewi­ges Leben empfangen? Wird die Predigt von der freien Gnade nicht jedes Streben nach Heiligung ersticken? Welche Bedeutung hat noch das von Gott gegebene Gesetz? Kann der Gerechtfertigte seinen Stand verlieren? Sind die besonderen Verheißungen, die Gott Abraham und seinen Nachkommen gab, hinfällig geworden? Ist Israel für immer verworfen, und hat die neue Heilsgemeinschaft, die christliche Kirche, dessen Platz eingenommen? Muss der Christ, der zum Glauben und zum Gehorsam an Jesus Christus gekommen ist, der Obrigkeit gehorchen? 5. Das Thema

Das Thema des Briefes wird in 1,1 bereits angekündigt (das »Evangelium Gottes«) und in 1,16-­17 ausformuliert: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: ›Der aus Glauben Gerechte wird leben‹« (1,16­-17). Paulus nennt die Ursache, warum er sich des Evangeliums nicht schämt: Es ist Gottes Kraft zum Heil. Diese Kraft ist es, weil es Gottes Gerechtigkeit offenbart.

Das Erstgenannte leuchtet uns unmittelbar ein. Das Evangelium, das Wort vom Kreuz, ist Gottes Kraft (1Kor 1,18); das haben wir schließlich an uns selbst erfahren. Aber die Bedeutung des Zweitgenannten geht uns meist erst später auf. Wir hätten nämlich zunächst wohl formuliert, das Evangelium offenbare Gottes Gnade oder Gottes Liebe. Und das tut es natürlich auch. Aber das Wunder des Evangeliums ist, dass es Gottes Gerechtigkeit offenbart. Es offenbart den Gott, der in seinem Wesen und in seinem Tun vollkommen gerecht ist und es auch dann bleibt, wenn er dem Sünder gnädig ist und ihn von seiner Schuld freispricht (siehe Jes 45,21), heiligt und verherrlicht (siehe Röm 3,23­-26).

6. Gliederung und Inhalt

Der Brief zerfällt ganz organisch in zwei Hälften: Die Kapitel 1 – 11 sind Lehre; die Kapitel 12 – 16 enthalten die Anwendung der Lehre im täg­ lichen Leben. Wie das große Thema des Briefes, Gottes Gerechtigkeit, sich durch alle Kapitel erstreckt, zeigt folgende Gliederung:

Einleitung (1,1-17)

1. Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in seinem Zorn über alle Ungerechtigkeit des Menschen (1,18 – 3,20)

2. Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung des Glaubenden (3,21 – 4,25)

3. Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Bewahrung des Glaubenden (5,1 – 8,39)

4. Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung Israels (9 – 11)

5. Gottes Gerechtigkeit offenbart sich im gerechten Wandel des Glaubenden (12,1 – 15,13)

6. Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Predigt in der Welt (15,14-33)

Schlusswort (16,1-27)

In der Einleitung (1,1-­17) stellt sich der Verfasser vor mit Namen und Auftrag, den er von Gott bekommen hat, und dann nennt er den Grund, warum er diesen Brief schreibt: Er hat vom Glauben der Römer gehört, und schon lange hat er die Absicht gehabt, sie zu besuchen. Da er aber noch immer verhindert ist, schreibt er diesen Brief, um sie im Glauben zu befestigen. Denn er schuldet allen Menschen das Evangelium, zu dem Gott ihn ausgesondert hat, und dieses Evangeliums schämt er sich nicht, denn es ist die Kraft Gottes zum Heil für alle, die glauben, denn es offen­ bart Gottes Gerechtigkeit.

Teil 1: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in seinem Zorn über alle Ungerechtigkeit des Menschen (1,18 – 3,20)

Dieser Teil zeigt, wie alle Menschen unter der Sünde sind und darum aus eigener Leistung und eigenem Verdienst nie gerechtfertigt werden können. Er beginnt mit den Worten: »Denn es offenbart sich Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen« (1,18), und er endet mit den Worten: »… damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde« (3,19­20). Paulus hat in 1,16 gesagt, dass das Evangelium die Kraft Gottes zum Heil ist für beide, für Juden und Griechen. Jetzt erklärt er, warum alle Menschen dieses Evangelium nötig haben: Gottes Zorn steht über allen Menschen wegen ihrer »Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit« (V. 18). Diesem Zorn können sie nur entrinnen, wenn sie von ihrer Ungerechtigkeit befreit werden. Dazu müssen sie aber als Erstes erkennen, wie Gott sie beurteilt; sie müssen erkennen, dass sie vor ihm schuldig sind. Zuerst zeigt er, dass Heiden alle der Sünde verfallen sind (1,19­32), und dann, dass auch die Juden ihr erlegen sind (2,1 – 3,8). In 3,9­20 fasst er alles bis dahin Gesagte zusammen in der Aussage, dass beide, Juden wie Griechen, »unter der Sünde« sind (3,9), und belegt dann dieses Urteil mit Worten aus dem Alten Testament, die zeigen, dass der Wille, der Verstand, die Worte, die Handlungen und die Wege aller Menschen sündig sind (3,10­18). Auf diese Weise hat er gezeigt, dass »die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen« ist (3,19), und: »Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden« (3,20).

Teil 2: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung des Glaubenden (3,21 – 4,25)

Dieser Teil zeigt, wie Gott in Christus so gehandelt hat, dass er dem Sünder, der nichts leistet, sondern nur an ihn glaubt, seine Gerechtigkeit zusprechen kann. Er beginnt mit den Worten: »Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus zu allen und auf alle, die glauben« (3,21­22); er endet mit den Worten: »Wir glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, aus [den] Toten auferweckte, der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt wurde« (4,24­25). Nachdem Paulus gezeigt hat, dass alle unter der Sünde sind und dass kein Mensch durch eigenes Bemühen von der Sünde loskommen und vor Gott gerecht werden kann (3,19­20), erklärt er, wie Gott dem Menschen seine Gerechtigkeit auf einem ganz anderen Weg gibt. Dieser Weg war schon im Gesetz und in den Propheten bezeugt (3,21), und nun ist er mit dem Kommen Jesu Christi allen offenbart worden. In 3,21­31 entfaltet Paulus die wunderbare Lehre von der »Gerechtigkeit … durch Glauben an Jesus Christus« (3,22). Er zeigt, wie es möglich ist, dass Gott den Sünder für gerecht erklären kann, ohne dass er dabei seine Gerechtigkeit verleugnet: Gott hat Christus zum »Sühneort« (oder »Gnadenstuhl«) bestimmt; der Sohn Gottes hat sein Blut gelassen, um unsere Schuld zu sühnen, »zum Erweis seiner Gerechtigkeit …, dass er [Gott] gerecht ist, auch wenn er den rechtfertigt, der an Jesus glaubt« (3,25-­26). Auf diese Weise wird der Mensch »durch Glauben gerechtfertigt …, ohne Gesetzeswerke« (3,28).

Dann demonstriert er an zwei alttestamentlichen Beispielen – an Abraham und an David –, dass die Rechtfertigung durch den Glauben keine neue Lehre ist; dass Gott immer so gehandelt hat, dass er Men­schen nur durch Glauben gerecht gesprochen hat, nie aufgrund von menschlicher Leistung, dass es immer »ohne Gesetz … ohne Gesetzeswerke« (3,21.28) geschah. Dafür ist Abraham das schlagende Beispiel; und was für Abraham galt, gilt allen, sowohl Juden wie Heiden: »›Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.‹ … Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, dass es ihm zugerechnet wurde, sondern auch unsertwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, aus [den] Toten auferweckte, der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt wurde« (4,3.23­-25).

Teil 3: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Bewahrung des Glaubenden (5,1 – 8,39)

Dieser Teil zeigt, dass Gott in so wundersamer Weise gehandelt hat, dass der Sünder, den er gerechtfertigt hat, vollkommen sicher ist, sodass ihn nichts und niemand mehr ins Verderben zurückreißen kann, in welches die Sünde Adams ihn gerissen hatte. Er beginnt mit den Worten: »Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir mittels des Glaubens auch Zugang erhalten haben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes« (5,1­2); er endet mit den Worten: »Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (8,38­-39).

Paulus sagt zu Beginn dieses Teils, wie aus der Rechtfertigung durch den Glauben die Sicherheit des Gerechtfertigten folgt: Wir haben »Frieden mit Gott«, d. h., wir sind nicht mehr Feinde (siehe 5,10), sondern Versöhnte (5,11). Gott ist nicht mehr gegen uns in seinem gerechten Zorn (1,18; 2,8), sondern »für uns« (8,31). Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die den sündigen Menschen vor Gott gerecht spricht und ihn dabei von der Herrschaft der Sünde so vollkommen befreit, dass er einst in die Herrlichkeit Gottes eingehen wird. Aufgrund der Rechtfertigung »stehen« wir in der »Gnade«, und weil wir stehen, »rühmen [wir] uns der Hoffnung der Herrlichkeit« (5,2). Es heißt »Hoffnung«, nicht etwa, weil die Sache ungewiss wäre, sondern weil die Herrlichkeit noch zukünftig ist – noch nicht offenbart, aber so gewiss, als ob sie bereits offenbart wäre; denn welche Gott »zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und welche er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht« (8,30). Die noch ausstehende Verherrlichung der Gerechtfertigten ist so gewiss, dass Paulus sagt, sie sei schon geschehen. Paulus schließt mit dem triumphierenden Bekenntnis: »Ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (V. 38-­39).

Teil 4: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung Israels (Kapitel 9 – 11)

Dieser Teil zeigt, wie Gott dem Volk, das mit größeren Vorrechten gesegnet gewesen war als alle anderen Nationen, aber gegen alle diese Vor­ rechte gesündigt hatte, alles vergibt und an ihm alle ihm gegebenen Verheißungen erfüllt und dabei gerecht bleibt. Er beginnt mit den Worten: »Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, indem mein Gewissen zusammen mit mir Zeugnis gibt im Heiligen Geist: Ich habe große Traurigkeit und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen; denn ich selbst, ich wünschte, von Christus weg verflucht zu sein für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch« (9,1­3). Er endet mit den Worten: »O Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschbar sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm vorher gegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!« (11,33­36). In Kapitel 9,1­29 zeigt Paulus, dass Gott nicht gegen seine Verheißungen handelt, wenn jetzt der Großteil des Volkes Israel diese nicht erlangt hat. Er handelte in der Geschichte der Erzväter und Israels immer so, dass nur ein Teil, ein Überrest errettet wurde (9,6­13.27­29). In 9,30 – 10,21 zeigt Paulus, dass Gott gerecht handelte, als er Israel bei­ seitesetzte, weil es im Unglauben und Ungehorsam verharrte und Gott widersprach (9,30­33; 10,16.21).

In Kapitel 11 zeigt Paulus, dass Gott gerecht handelt, indem er Israel als Nation wiederherstellt; Gottes Berufung ist unumkehrbar (11,29). So widerlegt Paulus die irrige Annahme, Israel sei auf immer verworfen (11,1­2). Indem Paulus darlegt, wie Gott auch sein altes Bundesvolk noch retten wird, hat er umfassend gezeigt, wie Gott sich in der Errettung von Sündern als der gerechte, gnädige und allein weise Gott offenbart. Der Apostel schließt darum diese drei Kapitel und mit ihm den ganzen lehrhaften Teil des Briefes mit Anbetung und Bewunderung über Gottes Wege, in denen er dessen Weisheit, Souveränität und Macht in der Errettung von Juden und Heiden entfaltet:

»O Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschbar sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm vorher gegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!«

Teil 5: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich im gerechten Wandel des Glaubenden (12,1 – 15,13)

Dieser Teil zeigt, wie sich die Gerechtigkeit Gottes in den Gerecht­ fertigten bewährt durch deren Leben und Handeln in der Gemeinde und im Staat. Das Evangelium Gottes ist die Kraft Gottes, welche die Natur selbstverliebter Menschen überwindet, sodass diese ein Leben führen, das die Ehre Gottes und das Wohl des Nächsten im Auge hat. Das zeigt sich im Leben der Gemeinde, wo wir einander dienen (Kap. 12), im Staat, dem wir untertan sind (Kap. 13), und in der Bereitschaft, uns als Christen gegenseitig zu tragen (Kap. 14,1 – 15,13).

Teil 6: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Predigt in der Welt (15,14-33)

Dieser Teil zeigt, wie Gott seine Gerechtigkeit in der Predigt des Evan­geliums unter allen Nationen offenbart. In 15,14­21 schaut Paulus zurück auf die Jahre missionarischer Arbeit im östlichen Mittelmeerraum: »[Ich habe] das Evangelium des Christus völlig verkündigt« »von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrikum1 Das heutige Albanien.« (V. 19). In 15,22-­24 spricht er von seiner Absicht, das Evangelium im westlichen Mittelmeerraum zu predigen: »Jetzt habe ich nicht mehr Raum in diesen Gegenden, habe aber ein großes Verlangen, zu euch zu kommen, seit vielen Jahren. Falls ich nach Spanien reise … hoffe [ich], auf der Durchreise euch zu sehen und von euch dorthin geleitet zu werden, wenn ich mich vorher an euch etwas gelabt habe.« Davor hat er noch einen wichtigen Dienst in Jeru­salem zu tun (V. 25­-32). Er schließt diesen Teil mit einem Segenswunsch: »Der Gott des Friedens sei mit euch allen!« (V. 33). Das Schlusswort (16,1­-27) besteht aus einer persönlichen Empfehlung (V. 1­2), Grüßen an die Geliebten in Rom (V. 3­-16), letzten Anweisun­gen (V. 17­20), Grüßen von den Mitarbeitern des Apostels (V. 21­-24) und einem Segenswunsch, der in ein Lob Gottes mündet: »Dem, der euch zu befestigen vermag nach meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, gemäß der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war, jetzt aber offenbart und durch prophetische Schriften, gemäß Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan worden ist, dem allein weisen Gott durch Jesus Christus, ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen« (V. 25­-27).

Kapitel 1 [18]

Dieses Kapitel besteht aus drei Teilen: Es beginnt mit der Anrede des Apostels, der mit seinem üblichen Segenswunsch schließt (V. 1­7). Es folgt eine Einleitung zum Brief, in dem der Apostel zunächst die Ursache und die Absicht seines Schreibens und dann dessen Thema nennt (V. 8-­17). Darauf beginnt er seine Abhandlung, und zwar, indem er zeigt, warum alle Menschen das Evangelium nötig haben: Sie stehen wegen ihrer Sünde unter Gottes Zorn (V. 18­-32).

1. Anrede und Gruß (1,1­7) [18]

Paulus kannte die Gemeinde in Rom nicht; er hatte sie nicht selber gegründet (wie die Gemeinde in Korinth), noch war sie durch einen Mitarbeiter von ihm entstanden (wie die Gemeinde in Kolossä). Da die Mehrzahl der Geschwister in Rom ihn nicht kannte, sagt er in der Anrede so viel über sich, seine Berufung und das Evangelium. Lassen wir die eingeschobenen Sätze aus, lautet die Anrede:

»Paulus, Knecht Jesu Christi, berufener Apostel, abgesondert zum Evan­gelium Gottes über seinen Sohn, Jesus Christus, unseren Herrn, allen Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, die in Rom sind: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!« Folgendes sind die Hauptaussagen:

1. Paulus schreibt und lebt als »Knecht« Jesu Christi, d. h. im Gehorsam an seinen Meister; was er schreibt, schreibt er nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag des Herrn. 2. Sein Herr und Meister ist »Jesus«, und dieser Jesus ist der »Christus«, der in den Propheten verheißene Messias. 3. Paulus ist »berufener Apostel«, d. h., er ist von Gott zu diesem besonderen Dienst berufen worden. 4. Er ist »abgesondert zum Evangelium«, dazu bestimmt, für das Evangelium zu leben. 5. Die Botschaft heißt »Evangelium Gottes«, denn sie kommt von Gott und führt zu Gott. 6. Das Evangelium ist »über seinen Sohn, … Jesus Christus, unseren Herrn«. Er ist Inhalt und Thema des Evangeliums. Wer ist er? Er heißt Jesus, ist also Mensch; und er ist Gottes Sohn, also Gott. 7. Die Empfänger sind »Geliebte Gottes, berufene Heilige«. 8. Diese sind »in Rom«, leben also in dieser Welt der Sünde und des Todes; in einer solchen Welt ruft und rechtfertigt Gott Sünder und sammelt sie in Gemeinden. 9. Ihnen wird gewünscht »Gnade … und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«.

1 Paulus, Knecht Jesu Christi, berufener Apostel, abgesondert zum Evangelium Gottes,

2 das er durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen hat,

Dass Paulus ein »Knecht Jesu Christi« wurde, muss man ein unermessliches Wunder nennen. Um das richtig einzuschätzen, müssen wir bedenken, wer dieser Paulus ist und was der Name Jesus zusammen mit dem Titel Christus besagt:

Paulus war, als er noch Saulus hieß, ein Jude, der sich rühmte, ein »Hebräer von Hebräern« zu sein, »unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes«, und »was den Eifer betrifft, ein Verfolger der Versammlung« (Phil 3,6; vgl. Apg 22,3). Und dieser Jude wird ein Knecht Jesu Christi. Um das recht zu würdigen, müssen wir bedenken, was die Zusammenstellung der beiden Wörter »Jesus« und »Christus« für einen Juden bedeutete. Wir empfinden das als Christen kaum, weil wir den Titel »Christus« zusammen mit dem Eigennamen »Jesus« als Ein­ heit – wie einen einzigen Namen – auffassen und aussprechen. Das war für die Juden im ersten Jahrhundert ganz anders. In deren Ohren war das eine einzige Provokation. Saulus hasste die Christen, eben weil sie mit dieser Selbstverständlichkeit von »Jesus Christus« sprachen und damit behaupteten, dass Jesus von Nazareth der Messias sei, der gesalbte Retter und König, auf den die Juden seit Jahrhunderten warteten. Dass nun der Jude Saulus so verändert wurde, dass er sich als Knecht des Messias Jesus bezeichnen kann, demonstriert in schlagender Weise die Kraft des Evangeliums.

Paulus nennt sich zuerst Knecht, dann Apostel. Bevor er von seinem Rang spricht, spricht er von seiner Arbeit, ehe er von der Würde seiner besonderen Berufung spricht, verweist er auf seine Niedrigkeit. Er ist ein Knecht, ein Sklave, der keine eigenen Rechte hat, der dazu bestimmt ist, dem Willen eines anderen zu leben. Und nur weil er Knecht war, konnte er ein Apostel (wörtlich: »ein Gesandter des Herrn«) werden. Ein Knecht des Herrn ist jeder, der an ihn glaubt; aber nicht jeder ist Apostel. Darum sagt Paulus, er sei ein »berufener Apostel«. Die Apostel waren be ­ sonders Berufene, wie wir aus den Evangelien verstehen. Es folgte dem Herrn eine große Anzahl von Jüngern nach. Aus dieser Menge wurden die Zwölf besonders berufen (Mt 10,1­5; Lk 6,12­16), und später auch Paulus (Apg 9 15,; 26,16­17; 1Kor 15,9­10; Gal 1,15­16). Saulus war als Jude bereits »abgesondert« gewesen, nämlich als Pha­risäer, was so viel wie »Abgesonderter«Das im NT verwendete Wort Pharisaios, »Pharisäer«, Plural Pharisaioi, entspricht dem hebräischen Peruschim, vom Verb parasch = abtrennen, absondern. bedeutet. Damals hatte er sich selbst abgesondert, um sich an die Gesetze einer besonders strengen Richtung des Judentums zu halten, jetzt aber war er von Gott »ab gesondert zum Evangelium«, αφωρισμενος, aphōrismenos, von aphorizō. Dieses Verb steht auch in Apg 13,2. Dort berichtet Lukas, wie Paulus zu seinem besonderen Dienst berufen wurde: »Während sie aber dem Herrn dienten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir ausaphorisate. Barnabas und Saulus zum Werk, zu dem ich sie berufen habe.« In Gal 1,15 sagt Paulus, dass Gott ihn aber lange vor seiner Bekehrung und seiner Berufung zum Dienst dazu abgesondert hatte: »Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leibe an abgesondertaphorisas. und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte …«

An Paulus demonstriert der Herr der Gemeinde, wie er den Sündenknecht zu einem Gottesknecht macht. Alles beginnt damit, dass Gott zum Heil aussondert, wie Paulus in Röm 8,28­30 ausdrücklich sagen wird5 Spurgeon sagte einmal in einer Predigt über Gal 1,15: »In diesen Worten ist der göttliche Heilsplan sehrklar niedergelegt. Er beginnt mit dem Wohlgefallen Gottes: ›Als es Gott wohlgefiel.‹ … Hier ist derAnfang, hier ist der Quell, aus dem alle lebendigen Wasser fließen: ›Es gefiel Gott.‹ Auf den souveränenWillensentschluss und das Wohlgefallen Gottes folgt als Nächstes die Aussonderung … Gott sonderteuns zum Heil aus, als noch keine Berge waren … Auf diesen Akt der Aussonderung folgte die wirksameBerufung: ›Er berief mich in seiner Gnade.‹«. Wie der Herr einst Abraham ausgesondert hatte aus seiner götzen­ dienerischen Verwandtschaft, sonderte er Paulus aus, den er von Mutter­ leib an dazu verordnet hatte, Christ zu werden und als Christ ein Diener am Evangelium zu sein (Gal 1,13­16); und es war der Herr, der ihm in den Weg trat und ihn in seinem wütenden Lauf aufhielt6 So geschieht, wenngleich nicht so dramatisch wie bei Paulus, allen, die der Herr für sich ausgesondert hat. »Irgendwann in meinem Leben, als ich ein junger Mann war, bin ich auf Jesus gestoßen, wie ein Auto, das nicht mehr ausweichen kann und gegen eine Mauer fährt« (Wilhelm Busch, Freiheit aus dem Evangelium, Neukirchen­ Vluyn: Schriftenmissions­ Verlag, 1987, S. 7)..

In V. 9 sagt Paulus, dass er Gott dient »im Evangelium seines Sohnes«; in V. 15 sagt er, dass er bereitwillig sei, »auch euch, die ihr in Rom seid, das Evangelium zu verkündigen«; und in V. 16 bekennt er: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht.« Paulus stellt sich den Empfängern des Briefes vor als ein Mensch, der dem Ruf des Herrn gehorchte und ganz für das Evangelium lebte. Er identifizierte sich so völlig mit dem Auftrag und der Botschaft, dass er zweimal das Evangelium »mein Evangelium« nennt (2,16; 16,25). In Apg 20 fasst Paulus in seiner Rede an die Ältesten von Ephesus sein ganzes Leben mit den Worten zusammen: »Aber ich nehme keine Rücksicht auf mein Leben, als teuer für mich selbst, damit ich meinen Lauf vollende und den Dienst, den ich von dem Herrn Jesus empfangen habe, zu bezeugen das Evangelium der Gnade Gottes« (Apg 20,24). Etliche Jahre später konnte er bekennen, dass er diesem Vorsatz treu geblieben war bis an sein Lebensende (2Tim 4,6­7).

Was Paulus antrieb, war nicht nur das Wissen, dass Gott ihn berufen hatte, sondern auch, dass es das »Evangelium Gottes« war, das er predigte. Es heißt so, weil es von Gott kommt und weil in ihm Gott selbst redet und damit seine Kraft entfaltet, die einen Sünder zum Hei­ ligen macht. Im Evangelium wird Gottes Wahrheit verkündigt; deshalb nennt es Paulus »das Wort der Wahrheit, das Evangelium eures Heils« (Eph 1,13) und »das Wort der Wahrheit des Evangeliums« (Kol 1,5). Das Evangelium verkündigt Gottes Gerechtigkeit und Gnade, Gottes Heilig­ keit und Liebe, Gottes Weisheit und Macht und lässt damit in der Herr­ lichkeit Christi Gottes Herrlichkeit aufleuchten (2Kor 4,4.6). Welch hohe Berufung, dieses Wort predigen zu dürfen, und welche Verantwortung! Wehe dem Apostel, wenn er es nicht predigt (1Kor 9,16)! Und verflucht, wer es zu ändern wagt (Gal 1,8­9)!

Jedes Mal, wenn ein Mensch dem Evangelium glaubt und anfängt, ein Leben des Glaubensgehorsams zu leben, wird Gott verherrlicht. Durch das Evangelium werden Knechte der Sünde zu Knechten Gottes, werden Lästerer zu Anbetern.

Und nicht zu vergessen: Das Evangelium verherrlicht Gott, indem der Ungläubige gemäß diesem Evangelium gerichtet wird (Röm 2,16). So wie Gott sich verherrlicht, wenn er durch sein Evangelium den Sün­ der rettet, so verherrlicht er sich, wenn er nach seinem Evangelium den Gottlosen verdammt.

Paulus unterstreicht den göttlichen Ursprung des Evangeliums, indem er vom Evangelium sagt, dass Gott es »durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen hat«. Gott gab den Propheten des Alten Bundes die Wahrheiten des Evangeliums ein, und sie redeten oder schrieben, »getrieben vom Heiligen Geist« (2Petr 1,21). Der Römerbrief lehrt also nichts Neues, sondern er erhellt und erklärt, was Gesetz und Propheten bereits bezeugt hatten: »Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten« (Röm 3,21). Dass Gott das Evangelium im Alten Testament verheißen hatte, wird Paulus in diesem ganzen Brief immer wieder bestätigen, indem er die Wahrheit des Evangeliums belegt mit Zitaten aus dem Alten Testament und indem er an zwei der größten Persönlichkeiten des Alten Testaments, an Abraham und David, die Rechtfertigung aus dem Glauben demonstriert (Kap. 4,1­8). Weil diese bereits in den alttestamentlichen Schriften enthalten war, vermochten und vermögen diese »weise zu machen zur Errettung« (2Tim 3,15). Das müssen wir gut beachten: Man kann im Alten Testament die Botschaft finden, die den Glaubenden rettet. Das Evangelium ist nicht eine plötzlich in die Welt geplatzte Idee; es wurde während Jahrhunderten vor dem Kommen Christi von Gott angekündigt. Entsprechend predigte Paulus in den Synagogen: »Und wir verkündigen euch die gute Botschaft von der zu den Vätern geschehenen Verheißung, dass Gott dieselbe uns, ihren Kindern, erfüllt hat, indem er Jesus erweckte; wie auch im zweiten Psalm geschrieben steht: ›Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.‹« (Apg 13,32­33). Als Prediger des Evangeliums der Gnade Gottes (Apg 20,24) bekannte Paulus vor dem Statthalter Felix: »Aber dies bekenne ich dir, dass ich nach dem Weg, den sie eine Sekte nennen, so dem Gott meiner Väter diene, indem ich allem glaube, was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht« (Apg 24,14). Ohne das Alte Testament gibt es keine Botschaft des Neuen Testaments; ohne die heiligen Schriften der Juden gibt es kein Christentum. Wenn wir nicht wie Paulus allem glauben, was im Alten Testament steht, haben wir kein Evangelium, denn das Evangelium bestätigt und erfüllt Gesetz und Propheten (Röm 3,21).

Warum hat Gott das so eingerichtet, dass er von der Errettung und damit vom kommenden Retter redete, bevor wir alle geboren waren? Was will er damit erreichen?

1. Wir sollen verstehen, dass Gott sich in seinem Herzen unsere Errettung vorgesetzt hatte, bevor wir je an Sünde und an die Not­ wendigkeit der Errettung dachten, ja, bevor die Sünde überhaupt in die Welt kam. Daran sollen wir erkennen, dass das Evangelium ganz von Gott ausgeht. Am Anfang der Errettung steht nicht der Wunsch des Menschen, errettet zu werden, sondern der Wille Gottes, den Menschen zu retten. Am Anfang der Errettung steht nicht die Not des Menschen, sondern Gottes Vorsatz. Das wird Paulus in Röm 8,28­30 offen aussprechen. 2. Gott hat im Evangelium das Heil »zuvor verheißen«. Indem er es zuerst ankündigt und es dann genau so ausführt (Jes 42 9,; 46,9­11), wie er es gesagt hat, erweist er sich als der treue Gott, der tut, was er ankündigt. Und er zeigt damit, dass er selbst alles, was er verheißen hat, ausführt (siehe Jes 41,21­24; 43,9­13; 44,7­8; 45,21).

Paulus sagt »seine Propheten«, nicht lediglich »die Propheten«, denn er will unterstreichen, dass die Propheten Gottes Eigentum waren: Sie waren von ihm berufen, von ihm zum Schreiben beauftragt, von ihm mit seinem Geist begabt und durch diesen geführt (2Petr 1,21). Nur auf diesem Weg konnten die »heiligen Schriften« entstehen, Schriften, die wie Gott selbst sind: ganz ohne Irrtum und damit unfehlbare und voll­ kommene Zeugen der Wahrheit über Gott, den Menschen und das Heil.

3 über seinen Sohn, der aus dem Samen Davids [geboren] wurde dem Fleisch nach 4 und als Sohn Gottes in Kraft erwiesen wurde dem Geist der Heiligkeit nach durch Toten-Auferstehung, Jesus Christus, unseren Herrn,

Das Evangelium Gottes ist »über seinen Sohn«. Im Evangelium geht es nicht um Gebote und um Leistungen, die Gott einfordert. Es geht um Gottes Sohn. Er ist die Substanz der Frohen Botschaft, und die lautet: Gottes Sohn ist zu uns gekommen, ist Mensch geworden, um unter uns zu leben und für uns zu sterben zu unserem Heil. Das Evangelium ist nicht wie das Gesetz, das den Menschen lehrte, was seine Pflicht ist, und das ihm Leben verhieß, wenn er diese erfüllte (Hes 18,9; Röm 10,5). Es handelt nicht vom Menschen, was der vermag, sondern vom Sohn Got­ tes, was der getan hat. Wie es ohne die Heiligen Schriften kein Altes Tes­ tament geben kann, so auch ohne den Sohn Gottes kein Evangelium. So wichtig es ist, dass wir ein ungebrochenes Vertrauen in die Heiligen Schriften haben, so wichtig ist es, dass wir den Sohn erkennen und an den Sohn glauben. Unterhalten wir falsche Gedanken über Jesus Chris­ tus, ist das Evangelium dahin. Darum fährt der Apostel fort und bietet in den Versen 3 und 4 eine ganz kompakte, umfassende Christologie, d. h. biblische Lehre vom Wesen und Werk des Christus Gottes. Er hat bereits gesagt, dass Jesus der Christus ist; nun folgt alles Weitere, was man über ihm wissen muss, um durch den Glauben an ihn gerettet zu werden:

1. Er ist Gott. 2. Er ist Mensch. 3. Er ist Sohn Davids. 4. Er war als Mensch ohne Sünde. 5. Er auferstand aus den Toten. 6. Er ist Herr.

All das ist enthalten in diesen beiden Versen. Christus ist »sein«, d. h. Gottes Sohn, und das bedeutet, dass er Gott ist. Und er ist »aus dem Samen Davids … dem Fleisch nach«, und das bedeutet, dass er Mensch ist. Der Retter ist wahrer Mensch, und er ist ein genau identifizierter Mensch, geboren in einem bestimmten Volk und in einer präzise definierten Familie, an einem mit Namen benannten Ort zu einem eindeutig datierten Zeitpunkt (Lk 2 1,; 23,1.24). Diese historische Persönlichkeit, dieser Mensch Jesus, ist der Christus, der von Gott verordnete und in diese Welt gesandte »Heiland der Welt« (Joh 4,42).

Nehmen wir beide Aussagen »aus dem Samen Davids« und »Sohn Gottes … dem Geist der Heiligkeit nach« zusammen, können wir das Ganze so formulieren: Christus ist Sohn Davids, und er ist Sohn Gottes. Er wurde von Maria, einer Tochter Davids, empfangen und ist darum seiner menschlichen Herkunft nach Davids Sohn (Lk 1,32); er wurde durch den Heiligen Geist gezeugt. Darum »wird er Sohn Gottes genannt« (Lk 1,35). Er wurde nicht nur vom Heiligen Geist gezeugt (Lk 1,35), sondern er war auch »voll Heiligen Geistes« (Lk 4,1) und wurde stets durch den Heiligen Geist geführt (Mt 4 1, ). Und durch diesen Geist opferte er sich Gott (Hebr 9,14). Bereits durch seine Werke (siehe Joh 14,11), aber vor allem durch die Auferstehung wurde er »als Sohn Gottes in Kraft erwiesen«. Beachten wir den Wortlaut: Es heißt nicht, dass er Sohn Gottes wurde, so wie er in der Zeugung und Geburt Sohn Davids, also Mensch, wurde (siehe Joh 1,14). Er war ewig Sohn Gottes; er blieb Got­tes Sohn, als er im Fleisch in Niedrigkeit unter uns war, und er wurde in der Auferstehung öffentlich »als Sohn Gottes« festgestellt, de­monstriert, erwiesen.Das hier verwendete Verb orizō kommt noch in Lk 22,22; Apg 2,23; 10,42; 11,29; 17,26.31; Hebr 4 7,; 17,26.31; Hebr 4,7 vor, wo es die Bedeutung »beschließen, bestimmen, festlegen, festsetzen« hat. Die Grundbedeutung des Verbs ist »eine Grenze [horos] bestimmen«, also »abgrenzen«, und damit auch »definieren« (was ja wörtlich eben »abgrenzen« heißt, von lat. finis [die Grenze]) und somit »erklären, deklarieren«. Entsprechend ist in Röm 1,4 mit orizō »deklarieren« gemeint. Janzen übersetzt sinngemäß treffend, Christus wurde als Sohn Gottes »herausgestellt«. Christus hatte sich in der Menschwerdung der »Gestalt Gottes« entäußert (Phil 2,6-7), obwohl er allezeit wahrer Gott blieb. Er wurde den Menschen gleich und erniedrigte sich bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz. Er wurde »in Schwachheit gekreuzigt« (2Kor 13,4), aber in der Auferstehung »in Kraft« bestätigt und erwiesen als Sohn Gottes. In der Auferstehung und der darauf folgenden Erhöhung hat er als Mensch die Herrlichkeit, die er als Gottessohn ewig beim Vater hatte (siehe Joh 17,5), wieder angenommen. Petrus sagt, dass er durch die Auferstehung und danach folgende Erhöhung als Herr erwiesen wurde (Apg 2,36). Er war immer Herr; er wurde nicht Herr durch die Auferstehung; er war immer der Sohn Gottes; er wurde nicht Sohn Gottes. Dass der Sohn Davids auch Sohn Gottes ist, wurde David offenbart (2Sam 7,12­14) und von den neutestamentlichen Schriftpropheten bestätigt (Lk 1,35; Hebr 1,5). Der Mensch Jesus ist wahrer Gott; denn das bedeutet der Titel »Sohn Gottes«. Das begriffen die Juden, von denen Johannes berichtet: »Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen eigenen Vater nannte und damit sich selbst Gott gleich machte« (Joh 5,18). Dass er Gott gleich war, bewies der Herr »durch Toten-Auferstehung«. Als die Juden sein Tun, seine Autorität und damit seine Gottheit infrage stellten, antwortete er ihnen: »Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten« (Joh 2,19). Kein Mensch hat die Macht, aus den Toten zu erstehen. Der Mensch Jesus aber hatte diese Macht, und damit bewies er, dass er Gott gleich, dass er Gottes Sohn ist: »Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen« (Joh 10,17­18). Diese Auferstehung enthält die ganze Erlösungstat des Sohnes Gottes:

1. Er musste zuerst Mensch werden und damit sterbliches Fleisch annehmen, denn sonst hätte er nicht sterben können. 2. Dann musste er sterben, denn sonst hätte Paulus hier nicht sagen können, er sei aus den Toten auferstanden. 3. Er ist auferstanden, weil der Tod ihn nicht halten konnte, und das wiederum beweist, dass er sündlos war: Er war von Geburt an »das Heilige [Kind]« (Lk 1,35) und Gottes Frommer (Apg 2,27), ohne Erbsünde (2Kor 5,21; 1Jo 3,5) und ohne Tatsünden (1Petr 2,22). 4. Nur weil er sündloser Mensch war, konnte er in seinem Tod an unserer Stelle das Gericht tragen (1Petr 3,18), und weil er Gottes Sohn war, konnte er auferstehen. 5. Die Auferstehung war notwendig zu unserer Errettung; denn: Ohne Auferstehung gibt es keine Vergebung der Sünden (1Kor 15,17) und keine Rechtfertigung (Röm 4,25). Ohne Tod und Auferstehung des Herrn gibt es kein Evangelium (siehe 1Kor 15,3­4).

Paulus schreibt nicht, dass Jesus durch die Auferstehung »aus den Toten«, sondern durch »Toten-Auferstehung«, d. h. durch die Auf erstehung der Toten (Mehrzahl), als Sohn Gottes in Kraft erwiesen wurde. Warum das? Er will damit andeuten, was er an anderer Stelle ausführlich erörtert: Christus ist der Erstgeborene aus den Toten (Kol 1,18); er ist »der Erstling der Entschlafenen« (1Kor 15,20), der als Erster auferstand. Als die­ ser eine Mensch auferstand, auferstand eine ganze neue Menschheit in ihm.

»Damit, dass Christus als ein zuvor gestorbener Mensch auferweckt worden war, war der Mensch durch die Kraft der Auferstehung in eine völlige neue Stellung gebracht worden, zum Leben gebracht … jenseits von Tod, Sünde, Gericht und Macht Satans … Alles wurde gewirkt zur Verherrlichung Gottes durch einen Menschen, welcher der Sohn Gottes war … und damit ist der Mensch, gemäß dem Wert dieses vollbrachten Werkes und durch die Kraft des Leben spendenden Geistes, in der Person des Sohnes Gottes in eine neue Stellung gebracht, sodass durch Glauben wir als Söhne angenommen sind.«8 J. N. Darby, On the Epistle to the Romans, S. 313, 316.

Und in ihm werden alle, die in Christus sind, einst auferstehen, »denn, wie in dem Adam alle sterben, so werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden. Jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling, Christus; dann die, die des Christus sind« (1Kor 15,22­23; vgl. V. 20). Die Auferstehung der Erlösten zu ewiger Herrlichkeit ist noch zukünftig; aber die Auferstehung ist auch schon geschehen, nämlich am Tag, da Christus, der Erstling aus den Toten, erstand, da erstanden alle, die in Christus sind, mit ihm (Röm 6,4.8; Kol 3,1). Das Evangelium ist »über seinen Sohn« (V. 3), also über »Jesus Christus, unseren Herrn«: Er ist der Inhalt des Evangeliums; nicht Regeln und Gebote machen das Evangelium aus, sondern Jesus Christus, der alle Gebote für uns erfüllte und alle Sanktionen, die auf Ungehor­ sam folgen, auf sich nahm. Das Evangelium predigen heißt deshalb, Jesus Christus predigen (2Kor 1 19,; 4,5). An das Evangelium glauben heißt, an Jesus Christus, den Herrn, zu glauben. »Jesus« ist der Name, den er als Mensch bekam: »Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus heißen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden« (Mt 1,21). Jesus ist die der griechischen Sprache angepasste Form des hebräischen Namens Jeschuah, und das wiederum ist eine Kurzform des Namens Jehoschuah = Jahwe ist Heil (Rettung). Damit, dass der Sohn Gottes Mensch wurde (mit allem, was damit zusammenhing: seine Sünd­ losigkeit und sein Gehorsam bis zum Tod am Kreuz), wirkte er Heil. Das war der Sinn seines Kommens in die Welt; darum sollte er Jesus heißen. Jesus ist »der Christus«. Dieses griechische Wort bedeutet »der Gesalbte« und damit nichts anderes als das hebräische Messias. Und er ist »Herr«. Ihn hat Gott der Vater erhöht über alle und alles (Apg 2,34­36).

Der Christus, der Gesalbte Gottes

Als Gesalbter war Jesus der von Gott verordnete Prophet, Priester und König. Diese drei waren nämlich stets »Gesalbte«; sie wurden in ihr Amt öffentlich eingesetzt durch Salbung mit Öl (siehe 2Mo 29,7; 1Sam 16,13; 1Kö 19,16b).

1. Jesus kam in die Welt als der wahre Prophet, den Gott durch Mose angekündigt hatte (5Mo 18,15). Als solcher lehrte er das Volk, wovon alle vier Evangelisten ausführlich berichten. Man achte einmal darauf, wie häufig sie das hervorheben (Mt 4,23; 5,2; Mk 1,21-22; Lk 4,14-15; 5,3; Joh 7,16-17; 18,20 etc.).

2. Jesus kam in die Welt als der wahre Priester, der anders als alle seine Vorläufer erstens sündlos war, weshalb er nicht wie Aaron zuerst für sich selbst Opfer zur Vergebung seiner eigenen Sünden darbringen musste (Hebr 5,1-3). Zweitens brachte er nicht fremdes Blut vor Gott (Hebr 9,12), sondern er opferte sich selbst durch den ewigen Geist Gott (Hebr 9,14) und ging mit seinem eigenen Blut ein in die Gegenwart Gottes. Und drittens lebt er ewig und hat darum ein ewiges Priestertum, weshalb er allezeit und bis ans Ende des Zeitalters für alle seine Erlösten eintreten kann (Röm 8,34; Hebr 7,25).

3. Jesus ist der gesalbte König (Joh 1,49), der über sein Volk und über alle Nationen herrschen soll (Ps 2,6-7; Jes 9,5-6; Jer 23,5; Dan 7,13-14; Sach 6,13; Offb 19,16).

So sehen wir, wie Jesus, der Gesalbte, alles wirkt zu unserem Heil: Als der Prophet lehrt er uns und stellt uns damit unsere Sünden vor Augen; als der Priester opfert er sich an unserer statt, um unsere Sünden zu sühnen; und als der Herr stellt er uns unter seine Herrschaft. Mit die­ sem Letzten ist die Errettung des Sünders erst abgeschlossen, ist die Sünde Adams überwunden. Adam war in Ungehorsam gegen Gott auf ­ gestanden; wir, die wir glauben, werden unter den Gehorsam des Chris­ tus und damit Gottes gebracht. Darum nennt ihn Paulus Jesus Christus, unseren Herrn.

»Herr«, Kyrios, ist der Titel Gottes, der hebräisch Jahwe lautet, und der im griechischen Alten Testament stets mit Kyrios übersetzt wurde. Wir sollten das immer vor Augen haben: Unser Herr Jesus ist der ewige Gott, der unveränderliche, der große »Ich bin«, der sich Mose offenbarte (2Mo 3,13­14) und Israel aus Ägypten führte. Damals wirkte er eine zeit­ liche Errettung; seit er Mensch geworden, für uns gestorben und wie­ der auferstanden ist, ist er uns zum »Urheber ewigen Heils« (Hebr 5,9) geworden.

5 durch den wir Gnade und Apostelamt empfangen haben zum Gehorsam des Glaubens unter allen Nationen für seinen Namen, 6 unter denen auch ihr seid, Berufene Jesu Christi.

Das Evangelium handelt von Jesus Christus, unserem Herrn; ihm ver­ danken wir alles, durch ihn »haben« »wir Gnade … empfangen«. Im Dienst wie in der Errettung ist alles »von ihm und durch ihn« (Röm 11,36). Aus ihm haben wir die Gnade, und aus Gnade haben wir das Heil (Eph 2,8), und aus Gnade haben wir unseren Dienst empfangen. Darum sagt der Apostel: »Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, der mir Kraft verliehen, dass er mich treu erachtet hat, indem er den in den Dienst stellte, der zuvor ein Lästerer und Verfolger und Gewalttäter war; aber mir ist Barmherzigkeit zuteilgeworden … Aber darum ist mir Barmherzigkeit zuteilgeworden, damit an mir, dem ersten, Jesus Christus die ganze Langmut erzeige, zum Vorbild für die, welche an ihn glauben werden zum ewigen Leben« (1Tim 1,12­13.16). Wie gerne rühmt Paulus »die Gnade unseres Herrn Jesus Christus« (2Kor 13,13), und Johannes sagt, dass wir alle aus seiner Fülle »Gnade um Gnade« empfangen haben (Joh 1,16). »Gnade und Apostelamt«: Die Gnade kommt vor dem Dienst; ohne Gnade kann niemand Gott dienen. Ist Gott nicht zuerst uns Sündern gnädig, kann er uns nie zu sich nehmen; und wäre seine Gnade damit erschöpft, dass er uns gerettet hat, könnte keiner ihm dienen. Darum sagt Paulus an anderer Stelle: »Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war« (1Kor 15,10). Wer ihm dient, tut alles »für seinen Namen« (siehe Apg 15,14); denn es ist nicht nur alles von ihm und durch ihn, sondern auch »zu ihm« (Röm 11,36) oder für ihn, d. h. zu seiner Ehre. Im Evangelium rettet Gott Menschen zu seiner eigenen Verherrlichung, und er gibt ihnen einen Dienst »für seinen Namen«, nicht für ihren eigenen Namen. Das Evangelium befreit uns für Gott; es befreit uns vom Drang, jemand und etwas sein zu wollen in dieser Welt, und es gibt uns das Verlangen, dass der Name Jesu Christi gerühmt werde. Der große Evangelist George Whitefield sagte seinen Freunden, als sie ihn drängten, es John Wesley gleich­ zutun und eine eigene Denomination zu gründen, die seinen Namen tragen sollte:

»Mein Name soll vergessen und von allen Menschen niedergetreten werden, wenn nur Jesus dadurch verherrlicht wird. Mein Name möge allenthalben sterben, meine Freunde mögen mich vergessen, wenn dadurch die Sache des gepriesenen Jesus vorangetrieben wird.«9 B. Peters, George Whitefield. Der Erwecker Englands und Amerikas, Bielefeld: CLV, 2. Auflage 2003, S. 328.

Der Dienst, den der Apostel von Gott empfangen hat, soll Menschen »zum Gehorsam des Glaubens«, hypakoē pisteōs, führen. Wie ist die­ ser Genitiv aufzufassen? Es könnte sein wie in 1Petr 1,22 (hypakoē tēs alētheias, der Gehorsam gegenüber der Wahrheit) oder wie in 2Kor 7,1 (»Furcht Gottes«, phobos theou = die Furcht vor Gott) oder in 1Jo 5,3 (agapē tou theou = die Liebe zu Gott). Der »Gehorsam des Glaubens« wäre demnach der Gehorsam gegenüber der Glaubenslehre, das, was wir in Apg 6,7 lesen: »Eine große Menge der Priester wurde dem Glauben gehorsam.«

Aber naheliegender ist es, den Genitiv so zu verstehen wie »das Zeichen des Menschensohnes« (Mt 24,30). Das ist das Zeichen, welches darin besteht, dass der Menschensohn selbst am Himmel erscheint. Oder »das Zeichen der Beschneidung« (Röm 4,11). Das ist das Zeichen, das in der Beschneidung besteht. Oder derjenige, der »die Erstlingsgabe des Geistes« hat (Röm 8,23), hat als Gabe den Geist selbst empfangen. Der Gehorsam des Glaubens ist also jener Gehorsam, der darin besteht, dass man glaubt. Der Glaube an das Evangelium ist der Gehorsam, den Gott von allen Men­ schen fordert. Wenn jemand an das Evangelium glaubt, gehorcht er dem Befehl des Sohnes Gottes: »Glaubt an das Evangelium« (Mk 1,15). Als die Juden den Herrn fragten, was sie denn tun müssten, um Gottes Werk zu tun, antwortete er: »Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat« (Joh 6,29). Die Predigt muss dazu führen, dass die Men­ schen dieser Predigt glauben; dieser Glaube ist der Gehorsam, zu dem Gott alle Menschen aufruft (siehe 2Thes 1,8). In Röm 10,16 sagt Paulus: »Nicht alle haben dem Evangelium gehorcht«, und führt als Schriftbeweis Jesaja an: »Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt

»Wenn wir diese Stelle mit anderen Stellen vergleichen, in denen diese Redeweise vorkommt, so müssen wir das Wort ›Gehorsam des Glaubens‹ nicht verstehen von dem Gehorsam gegen das ganze Wort Gottes, der eine Frucht des Glaubens ist, sondern von dem eigentlichen Gehorsam, dass man glaubt.«10 C. O. Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 33. »Den Rat Gottes zu unserer Seligkeit so zu hören, dass man sich davor beugt … und trotz allem Widerstand der Vernunft und des Herzens diesen Ratschluss annimmt – das ist’s, was hier der ›Gehorsam des Glaubens‹ genannt wird« (C. O. Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 34­-35).

Sind wir damit, dass wir glaubten, gehorsam geworden, beginnt ein gan­ zes Leben des Gehorsams, mit dem wir beweisen, dass unser Glaube echt ist. In den Kapiteln 6 – 8 und 12 – 15 wird Paulus dieses Leben ausführ­lich darlegen. Wahrer Glaube macht uns zu Sklaven der Gerechtigkeit; er macht uns zu Kindern des Gehorsams (1Petr 1,14; vgl. Eph 2,2), er unter­ wirft uns Gottes Willen. Er drängt und befähigt uns, so zu wandeln, wie Christus wandelte (1Jo 2,6).

»unter allen Nationen«: Gott sonderte Paulus aus, damit er in ers­ ter Linie seinen Sohn »unter den Nationen verkündigte« (Gal 1,16). Er wurde von Gott »bestellt … als Herold und Apostel … ein Lehrer der Nationen« (1Tim 2,7) – dies im Gegensatz zu den Aposteln Johannes und Petrus, die unter den Juden predigen sollten (Gal 2,9). Das Evan­ gelium soll Heiden und Juden, d. h. der ganzen Menschheit, gepredigt werden, aller Schöpfung, der ganzen Welt, bis an die Enden der Erde (Mt 28,18­20; Mk 16,15; Apg 1,8; 2Kor 5,19­20). Gottes Heilswille gilt allen Menschen (1Tim 2,4), denn sein Sohn wurde zum Lösegeld ge geben für alle (1Tim 2,6). Dass Gott ein Retter aller Menschen ist, verkün dete Gott nicht erst mit dem Kommen des Sohnes und durch die Predigt der Apostel, sondern schon durch seine alttestamentlichen Pro­ pheten (siehe Röm 1,2; Jes 42 1,; 45,22; Röm 15,9­12).

1. Das Evangelium muss allen Menschen gepredigt werden, weil es unter Menschen keinen Unterschied gibt; sie haben alle ge ­ sündigt und verfehlen deshalb alle ihre Bestimmung: die Herr­ lichkeit Gottes (Röm 3,23). 2. Das Evangelium muss gepredigt werden, damit diese zum »Glaubensgehorsam« kommen, denn niemand kann glauben, wenn er nicht das Wort der Wahrheit, das Evangelium des Heils, zu hören bekommt (Röm 10,17; Eph 1,13; Kol 1,5­6).

Dass alle Nationen zum Heil gerufen sind und nicht nur die Juden, wurde bereits im Alten Testament verkündet: In Abraham sollten alle Na ­ tionen gesegnet werden (1Mo 12,3), und die Nationen sollten mit Got­ tes Volk einst jubeln (5Mo 32,43). Da aller Segen nur von Abraham her und durch Israel zu den Nationen kommen sollte, konnte man das kaum anders verstehen, als dass die Nationen von Israel abhängig bleiben wür­ den. Israel bliebe also Haupt (5Mo 28,1.12­13), und die Nationen sollten unter ihnen von jenen Segnungen, die Gott Israel gegeben hatte, etwas bekommen. Dass aber beide unter einem anderen Haupt, unter Christus, völlig eins sein sollten, dass sie beide Teil am gleichen Erbe, ja, sogar zusammen die Glieder eines Leibes sein sollten, das wurde erst nach der Erhöhung Christi seinen Aposteln offenbart (Eph 3,5­6). Auf diese Tatsache bezieht sich Paulus, wenn er im Schlusswort das von ihm ge ­ predigte Evangelium ein Geheimnis nennt, das »ewige Zeiten hindurch verschwiegen war« (16,25). Im Epheserbrief erklärt er »das Geheimnis des Christus, das in anderen Geschlechtern den Menschenkindern nicht kundgetan wurde, wie es jetzt offenbart worden ist den heiligen Aposteln und Propheten im Geist, dass die aus den Nationen Miterben seien und Mitteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium« (Eph 3,4­6).

»unter denen auch ihr seid«: Auch die Christen in Rom sind Teil der großen Gemeinschaft all derer, die Gott aus allen Nationen gerufen und zu seinen Kindern gemacht hat.

»Berufene Jesu Christi«: Jeder Gläubige ist von Jesus Christus per­ sönlich und mit Namen gerufen worden. So wie der Herr einst Matthäus am Zollhaus sitzen sah und rief (Mt 9,9), so hat er uns mit Namen ge rufen (Joh 10 3,.; 17,2.6).

7 Allen Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, die in Rom sind: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

In Rom hatte man das Evangelium Gottes gepredigt, und dort hatten einige geglaubt; dort gab es einige »Geliebte Gottes«, »geliebte Kinder« (Eph 5,1), »Heilige und Geliebte« (Kol 3,12), »von Gott geliebte Brüder« (1Thes 1,4), vom Herrn geliebte Brüder« (2Thes 2,13), »in Gott, dem Vater, geliebte Berufene« (Jud 1). Die Gläubigen in Rom sollen wis­ sen, dass sie deshalb zum Glauben kamen, weil Gott sie geliebt hatte, als sie noch Sünder waren (Röm 5,8), und sie sollen wissen, dass sie als Geliebte Gottes »berufene Heilige« heißen. Das bedeutet, dass Gott sie rief, weil er sie liebte; und das bedeutet, dass er sie vorher erkannt und zuvorbestimmt hatte (Röm 8,29­30). Er rief sie durch die Predigt des Evangeliums, durch dessen Kraft sie von der Sünde befreit und von den Unreinheiten der Heiden abgesondert (1Thes 1,5.9) und zu Gott gebracht wurden (vgl. 1Petr 3,18).

Ein jeder Berufene ist ein von Gott dem Vater Geliebter. Er hat uns zuerst geliebt; darum lieben wir ihn (1Jo 4,19). Er, der uns zuerst geliebt hat, wird uns lieben bis ans Ende (Joh 13,1). Darum können wir gewiss sein, dass wir in aller Drangsal weit überwinden durch den, der uns geliebt hat (Röm 8,37), und dass uns nichts wird scheiden können von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist (8,38­39). Gott hat die ganze Welt geliebt (Joh 3,16), aber nur die Heiligen heißen »Geliebte Gottes«. Der Sünder wird aufgerufen, an den Gott zu glauben, der aus Liebe zu ihm seinen Sohn für alle Menschen gab. Wird er gläubig, weiß er, dass Gott ihn mit ewiger Liebe geliebt hat (Jer 31,3) und dass Gott der Vater ihn mit besonderer Liebe liebt: »Der Vater selbst hat euch lieb, weil ihr mich geliebt und geglaubt habt, dass ich von Gott ausgegangen bin« (Joh 16,27).

»Von Gott geliebt, nicht bloß mit Gottes allgemeiner Liebe, mit der er die ganze Welt liebte, sodass er seinen eingeborenen Sohn gab, sondern [mit] einer besonderen Liebe, mit der sie als Kinder und Freunde geliebt sind.«11 C. O. Rosenius, a. a. O., S. 29, aus der schwedischen Ausgabe übersetzt (in der deutschen Ausgabe Bd. 1, S. 36).

Die »Geliebten Gottes« sind die Erwählten Gottes: Jene, die durch nichts und niemanden je von Gottes Liebe geschieden werden können (Röm 8,38­39), sind »Gottes Auserwählte« (8,33; siehe auch 9,13.25). In Kol 3,12 nennt sie Paulus »Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte«. Die Juden heißen ebendeshalb Geliebte, weil sie zur »Auswahl« gehören (Röm 11,28).

Paulus nennt die Christen in Rom »Heilige«. Was sagt der Apostel damit?

a. Jeder Gläubige ist von Gott dem Vater ausgesondert.

b. Er ist geheiligt worden durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi (Hebr 10,10).

c. Er ist aus der Welt herausgenommen und zu Gott gebracht (Gal 1,4; 1Petr 3,18).

d. Er ist fortan von der Sünde und der Welt getrennt und lebt in der Gemeinschaft mit allen anderen Erlösten für Gott (2Kor 6,14­18).

Alle Christen sind Heilige, ohne Ausnahme, und jeder Christ weiß, dass er es nicht wurde, weil er sich darum bemüht und sich damit als würdig erwiesen hätte. Nein, wir sind »berufene« Heilige, von Gott selbst dazu »berufen mit heiligem Ruf«, und das geschah »nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus vor ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber offenbart worden ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus« (2Tim 1,9­10).

»Die Heiligen heißen ›Berufene Jesu Christi‹. Sie waren ihm vom Vater gegeben (Joh 17) und mit ihm verbunden worden, bevor ihre irdische Geschichte begann: ›Auserwählt vor Grundlegung der Welt‹ … ›Berufene Heilige‹ – das bedeutet nicht, dass sie eingeladen waren, Heilige zu wer­ den – das ist ein Dogma der Römlinge –, sondern sie waren Heilige kraft göttlich souveräner Berufung: Heilige, die gewaschen sind im Blut Christi und geschaffen in Christus Jesus.«12 William Newell, Romans Verse by Verse, S. 3.

»Gnade euch und Friede«: Das ist immer die Reihenfolge in den Brie­ fen des Apostels. Zuerst Gnade; denn aus ihr fließt alles. Ohne Gnade gibt es keinen Frieden; wo aber Gottes Gnade wirksam geworden ist, kann der Friede nicht ausbleiben; und weil Gottes Gnade bleibt, ist die­ ser Friede bleibend (5,1). Wir dürfen diesen Ausspruch nicht ansehen als bloßen Wunsch des Apostels – spricht er ja nicht, was ihm gerade passend erscheint, sondern was der Geist des Herrn ihm eingibt. Der Geist selbst sagt allen Heiligen Gnade und Frieden zu »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus«. Darum sind diese Worte genauso wirksam wie jene, die er am Abend des Auferstehungstages zu seinen verängstigten Jüngern sprach: »Friede euch!« (Joh 20,19). Als er diese Worte sprach, erfüllte Friede ihr Sinnen, wie er wenige Tage zuvor angekündigt hatte (Joh 14,27). Wann immer wir die Worte »Gnade euch und Friede von Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« lesen (1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Eph 1,2; Phil 1,2; Kol 1,2; 1Thes 1,1; 2Thes 1,2; Tit 1,4), sollen wir sie im Glauben aufnehmen als einen direk­ ten Zuspruch Gottes zu unserem Herzen, und tun wir es, werden sie genau das wirken, was sie sagen.

Der Friede kommt »von Gott«, dem »Gott des Friedens« (Röm 15,33). Der Sohn Gottes hat uns seinen eigenen Frieden gegeben (Joh 14,27), und als der »Herr des Friedens« gibt er uns immer neu die­ sen Frieden (2Thes 3,16).

»von Gott, unserem Vater«: Gott ist der Vater, von dem alle guten Gaben kommen, besonders all das, was uns im Evangelium des Sohnes Gottes geschenkt ist (Jak 1,17). So wie alle Gnade vom Vater kommt, so kommt sie auch von »dem Herrn Jesus Christus«. Indem Paulus den Herrn Jesus in dieser Weise mit Gott dem Vater als Quelle allen Segens verbindet, zeigt er, dass er in Christus den wahrhaftigen Gott13 »Dieser ist der wahrhaftige Gott« (1Jo 5,20). sah. Ist Gott unser Vater geworden, ist Jesus Christus notwendigerweise unser Herr geworden. Empfangen wir beständig Gnade von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus, dann geschieht das, damit wir uns Jesus Christus als Herrn ergeben. Und indem wir es tun, werden wir erfahren, wie sein Friede uns immer mehr regiert (Phil 4,7; Kol 3,15).

2. Anlass und Absicht des Briefes (1,8-17) [36]

Die Empfänger des Briefes kennen den Apostel nicht persönlich; darum beginnt Paulus nicht sogleich, das Evangelium darzulegen, sondern erklärt ihnen zunächst, was ihn veranlasst, ihnen diesen Brief zu schreiben: Er hat von ihrem Glauben gehört (V. 8), und ihn verlangt, sie zu sehen, um sie im Glauben zu befestigen und selbst durch ihren Glauben gestärkt zu werden (V. 11­-12). Er wünscht, auch unter den Geschwistern in Rom etwas Frucht zu haben (V. 13); denn er ist allen Menschen ein Schuldner (V. 14), und darum will er auch ihnen das Evangelium ver­ kündigen (V. 15).

Dabei zeigt der Apostel, dass er das Evangelium nicht predigt als einer, der es lediglich als einen gelehrten Gegenstand kennt, sondern als jemand, der selbst durch das Evangelium zum Glaubensgehorsam gebracht worden ist. Zunächst dankt er Gott (V. 8), denn die Undankbarkeit des Men­schen steht am Anfang jener Entfremdung von Gott (1,21), die zu über­ winden das Evangelium die einzige Kraft ist (1,16). Sein Gewissen ist gebunden an Gott, der als der unbestechliche Zeuge weiß, dass er ihm im 13 »Dieser ist der wahrhaftige Gott« (1Jo 5,20). Evangelium seines Sohnes dient (V. 9), und zwar dient er im Geist, denn auf das Innere kommt es bei unserer Beziehung zu Gott an (2,29). Er betet für die Gemeinde in Rom (V. 9b), denn das ist eine weitere Frucht des Evangeliums. Wer durch Glauben gerechtfertigt und mit Gott versöhnt ist, liebt alle, die den gleichen Glauben haben (siehe 12,9­10), und beweist seine Liebe unter anderem damit, dass er für sie betet (12,12). Paulus bittet darum, dass Gott ihm schenke, dass er sie bald besuchen darf (V. 10); denn er hat großes Verlangen nach ihnen (V. 11), weil er sie liebt. Paulus betet, weil er weiß, dass er nichts vermag und nichts in der Hand hat, dass aber Gott vermag und dass alles in Gottes Hand ist. Das wiederum ist eine der grundlegenden Wahrheiten des Evangeliums (siehe 8,3; 11,34­36), die den Gläubigen regieren. Darauf spricht Paulus von der Beziehung der Glaubensgeschwister zueinander (V. 12), an der man ablesen kann, ob das Evangelium im Leben wirksam geworden ist (siehe 12,4­8). Paulus will den Geschwistern in Rom an geistlicher Gnade weiterreichen, was er selbst von Gott empfangen hat, aber er weiß, dass auch er ein Bedürftiger ist: Er will von den Gläubigen in Rom durch deren Glauben getröstet wer­ den. Er will auch in der Gemeinde in Rom einige Frucht haben, aber nicht aus Ehrgeiz, sondern weil er ihnen alles Gute schuldet, was ihm Gott im Evangelium geschenkt hat (V. 13­14). So sehen wir im Leben des Apo­ stels Paulus lauter schöne Früchte, die das Evangelium wachsen lässt. Von den Früchten des Evangeliums wird Paulus in den Kapiteln 12 – 16 aus­ führlich sprechen.

8 Als Erstes danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle, weil euer Glaube verkündigt wird in der ganzen Welt.

Als Erstes dankt der Apostel Gott für den Glauben der Römer, wie er es in fast allen seinen Briefen tut (siehe 1Kor 1,4; Eph 1,15­16; Phil 1,3; Kol 1,3; 1Thes 1,2; 2Thes 1,3). Indem er dankt, erkennt er an, dass der Glaube von Gott kommt, und so gibt er dem die Ehre, dem die Ehre gebührt (siehe 13,7): Gott, der ihnen das Evangelium und durch dieses den Glauben gab.

Indem Paulus Gott dankt für alles Gute, was er dem Menschen gibt, tut er das, was die Gottlosen Gott verweigern (1,21). Seinen letzten Brief beginnt der Apostel ebenfalls mit einer Danksagung an seinen Gott (2Tim 1,3).

»durch Jesus Christus«: Wir können Gott nur nahen durch Chris­ tus; wir können Gott nicht anders Anerkennung und Dank bringen als durch ihn. Paulus dankt »für euch alle«. Es erfüllt die Seele des Dieners Christi mit Freude und Dankbarkeit, wenn er an die von Gott Geliebten und Berufenen denkt. Wie viel Dank schulden wir Gott, dass er Sünder erwählt, berufen, gerechtfertigt und verherrlicht hat!

»weil euer Glaube verkündigt wird in der ganzen Welt«: Pau­ lus dankt Gott dafür, dass alle Welt davon redet, dass in Rom Menschen sind, die an Christus glauben. Sie gleichen den Thessalonichern, von denen Paulus sagt, dass ihr Glaube an jedem Ort ausgebreitet worden ist (1Thes 1,8). Da Rom die Hauptstadt der Welt war und alle Welt dort­ hin reiste, wurde das Zeugnis der Christen durch Menschen, die in Rom gewesen waren, überall bekannt.

9 Denn Gott ist mein Zeuge, dem ich diene in meinem Geist im Evangelium seines Sohnes, wie unablässig ich euch erwähne

10 und allezeit flehe in meinen Gebeten, ob es mir wohl endlich einmal im Willen Gottes gelingen sollte, zu euch zu kommen.

Paulus hat schon lange vom Glauben der Christen in Rom gehört, und er sehnt sich sehr danach, sie zu besuchen, aber seit vielen Jahren ist er daran gehindert worden (Röm 15,23). Aber er betet fortwährend darum, ob er es ihm »endlich einmal im Willen Gottes gelingen sollte«, nach Rom zu kommen. Paulus weiß, dass er Apostel ist »durch Gottes Willen« (1Kor 1 1,; 16,7; 1Thes 3,11; Jak 4,13ff.). Er fleht sogar, und er fleht »allezeit«, und Gott ist »Zeuge« davon (vgl. 9,1; 2Kor 1 23,; 11,31; Gal 1,20). Paulus sagt die Wahrheit, er übertreibt nicht, und er verwendet keine leeren Flos­ keln. Was drängt ihn zum unablässigen Beten? Es ist sein Dienst; er dient »im Evangelium« des »Sohnes« Gottes. Er will auch in Rom das Evan­ gelium verkündigen, denn das ist sein Auftrag; Gott hat es ihm be fohlen, Gott selbst hatte ihn ausgesondert (V. 1), dieses Evangelium zu lehren (1Tim 2,7) und zu verteidigen (Phil 1,7). Darum ist er gewiss, dass er nicht umsonst betet; er weiß, dass Gott es will; er weiß nur nicht, wann es endlich geschehen soll; also fährt er fort zu beten, bis Gottes Wille geschieht und ihm Gott sein Sehnen stillt14 Das erinnert uns an den Beter von Psalm 123, der so lange zum Herrn aufschaut, bis der Herr ihmgnädig ist (V. 2)..

Paulus dient Gott in seinem Geist, nicht in Äußerlichkeiten wie einst, als er ein Eiferer für die väterlichen Überlieferungen war, und er dient Gott »im Evangelium seines Sohnes«. Das Evangelium des Sohnes Gottes war der Inhalt seines ganzen Dienstes. Er hielt nicht Seminare für Missionsstrategie, noch ging es ihm um Methodik des Gemeindewachs­ tums, um Rhetorik oder Psychologie. Er lehrte das Evangelium; er legte den ganzen Heilsrat Gottes aus (Apg 20,27): Alles, was die Bibel sagt über Gott, über den Sohn Gottes, über den Geist Gottes, über die Mensch­ werdung, die Menschheit und Gottheit Christi, über die Erschaffung des Menschen, über die Bestimmung des Menschen als Gottes Geschöpf und über den Menschen als Sünder, über die Sünde, über Gottes ewigen Heilsrat, über die Ausführung des Heilsrates, über die Zueignung des Heils, über die Aneignung des Heils, über Buße und Glauben, über Heiligung, über das Beharren im Glauben und über die Verherrlichung. Man kann Gott nicht anders dienen als im Evangelium, d. h. als jemand, der durch dieses Evangelium gerettet und zum Glaubens­ gehorsam gebracht worden ist und fortan nach diesem Evangelium lebt und dieses Evangelium lehrt (siehe Apg 20,24). Wir können den Mit­ gläubigen und den Ungläubigen mit keiner anderen Sache dienen als mit den Wahrheiten des Evangeliums. Und mit diesem Dienst ist un auflösbar verknüpft das Gebet. Wer wahrhaft im Evangelium dient, der betet »allezeit« und »unablässig« für die Heiligen. Diesen Dienst können, ja, müssen alle Erlösten tun. Nicht alle sind als Lehrer zu einem formalen Lehrdienst berufen, nicht alle sind in besonderer Weise begabte Evangelisten, nicht alle sind zu Hirten der Herde verordnet, aber alle sind Priester und haben das Recht und das Vermögen, vor Gott zu treten. Darum können alle ihre Liebe zu Gott und zu seinen Kindern damit zeigen, dass sie beharrlich für sie beten.

Und noch ein Wort zum »Willen Gottes«: Das Evangelium lehrt den Gläubigen, dass alles durch Gottes Willen geschieht: Gott hat nach sei­ nem Willen alles erschaffen (vgl. Offb 4,11); er hat nach seinem Willen das Heil gewirkt (Eph 1,11), er hat uns durch seinen Willen von Neuem geboren (Jak 1,18; vgl. Röm 9,16). Je klarer der Gläubige erkennt, dass er alles, was er ist, durch Gottes Willen ist, will er diesem Willen leben und gehorchen.

»Diese Grundhaltung, in der Paulus sich beständig dem freien Wohlgefallen Gottes unterwarf, war es, die ihn in allen Prüfungen trug.«15 William Hendriksen, Exposition of Paulʼs Epistle to the Romans, S. 51

11 Denn mich verlangt, euch zu sehen, um euch etwas an geistlicher Gnadengabe mitzuteilen, damit ihr gefestigt werdet,

»Denn mich verlangt, euch zu sehen«: In 15,23 sagt Paulus es noch einmal. Wie hatte das Evangelium diesen Mann verändert! Einst wollte er Christen ausfindig machen, um sie in Gefängnisse zu schleppen; jetzt verlangt er nach ihnen, um ihnen zu dienen. So äußert sich die Kraft des Evangeliums in denen, die es in wahrem Glauben aufgenommen haben16 Charles Screven, einer der baptistischen Erweckungsprediger des Second Great Awakening in Amerika(zwischen 1800 und 1820) sagte vom Evangelium: »Es offenbart nicht allein die unaussprechlicheLiebe Gottes zu einer gefallenen Welt, sondern es erfüllt auch das Herz der Menschen mit heiligenZuneigungen zu ihrem Schöpfer und zueinander. Der Mensch, der kein Mitgefühl und Erbarmenkennt, der auch nicht sagen kann, ›ihn verlange sehr, euch zu sehen‹, ist ganz unpassend, um jenesEvangelium weiterzureichen, dessen Empfindungen allesamt der Liebe entspringen … Die HimmlischeFlamme der Liebe muss alle unsere Arbeiten durchdringen und in einem jedem Opfer brennen.«. An den Erretteten sehen wir, wie ihr Herr ist. Den Herrn verlangte so sehr nach uns (siehe Lk 22,14­15), dass er uns in dieser Welt aufsuchte und alles tat, um uns zu retten, damit er allezeit bei uns sei (Mt 28,20) und wir allezeit bei ihm sein können (Joh 14,3). »um euch etwas an geistlicher Gnadengabe mitzuteilen«: Er sehnt sich nach den Heiligen in Rom, weil er ihnen etwas geben, nicht weil er von ihnen etwas bekommen will. Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die den Menschen frei macht für Gott und frei für den Bruder. So ist Gott, und so ist der Retter, der im Evangelium gepredigt wird: Er kam, um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele (Mk 10,45). Man beachte, dass Paulus nicht sagt, dass er den Römern »eine geistliche Gnadengabe« mitteilen wolle, vielmehr sollen sie Anteil bekommen an der Gnadengabe, die Gott ihm gegeben hat, an seinem Dienst »als Herold und Apostel und Lehrer der Nationen« (2Tim 1,11). Der Herr selbst hatte ihm das Evangelium offenbart (Gal 1,12) und ihm Geheimnisse des Evangeliums enthüllt, die in früheren Geschlechtern verborgen gewesen waren (Eph 3,5), um »den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen und alle zu erleuchten, welches die Verwaltung [dieses] Geheimnisses sei« (Eph 3,8­9). Mit seiner besonderen Gnaden­ gabe wollte er den Christen in Rom dienen, damit sie »gefestigt« wer­ den. Er wusste, dass nichts anderes als die gesunde Lehre den Christen standhaft machen kann. Im Schlusswort des Briefes gibt Paulus Gott die Ehre, der die Gläubigen in Rom »zu befestigen vermag …« (16,25). Pau­ lus war nur ein Gefäß in der Hand des Herrn, doch benutzte er in gro­ ßer Treue das Mittel, das Gott ihm anvertraut hatte, die Lehre des Evan­ geliums. Da Paulus selber nicht hinreisen kann, tut er in diesem Brief, was er unter ihnen anwesend getan hätte: Er lehrt sie die Grundlehren des Evangeliums der Gnade Gottes. Die müssen sie kennen und immer besser verstehen; es ist unerlässlich, wenn sie nicht durch Leiden (siehe 8,18) oder Fleischeslust (siehe 13,13­14) oder durch die süßen Worte der Verdreher des Evangeliums (siehe 16,17­18) vom Weg abgezogen wer­ den wollen.

12 das ist, um mit euch getröstet zu werden unter euch durch den gegenseitigen Glauben, sowohl euren als meinen.

»das ist«: Mit diesen Worten leitet Paulus einen erklärenden Satz ein, in dem er ergänzt, was er in V. 11 gesagt hatte. Wenn er die Christen in Rom unterweist, werden nicht nur sie befestigt, sondern auch er wird »mit euch getröstet … unter euch«. In 15,32 sagt Paulus, dass er zu ihnen kommen will, um sich mit ihnen zu erquicken. Der Heilige, der anderen gibt, empfängt selber auch. »Die segnende Seele wird reich gesättigt, und der Tränkende wird auch selbst getränkt« (Spr 11,25). Der Heilige fin­ det Trost in der Mitte der Heiligen. Sein Herz wird in der Gemeinschaft der Kinder Gottes froh. Auch darin gleicht er dem Gott, der ihn durch seinen Geist wiedergeboren hat. Ihn verlangt, mit den Seinen zusammen zu sein (Lk 22,15). Der Prophet Jesaja sagt, dass der HERR sich an den Be wohnern Jerusalems erfreuen wird wie der Bräutigam an der Braut (Jes 62,5; siehe auch Zeph 3,17).

»durch den gegenseitigen Glauben, sowohl euren als meinen«: Paulus stellt sich nicht über die Römer. Er gibt ihnen nicht zu ver stehen, er sei der Einzige, der anderen etwas mitteilen könne, und alle müss­ ten froh sein, wenn sie etwas von ihm bekämen. Nein, er ist dankbar für den Trost, mit dem die Römer durch ihren Glauben ihn trösten können. Wohl ist es wahr, dass alle Gläubigen durch den Glauben selber stehen (2Kor 1,24), und doch hat der Herr als das Haupt des Leibes diesen so eingerichtet, dass alle Glieder sich gegenseitig stützen (Eph 4,15­16) und alle einander nötig haben. Hier deutet der Apostel nur an, was er in Kapi­ tel 12 ausführlich erörtern wird. Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die nicht nur den einzelnen Glaubenden rettet, sondern die alle Glaubenden zu einem Leib zusammenfügt (12,4­5). Die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen ist ein unveräußerlicher Bestandteil des Evangeliums; das ist im Lauf der Kirchengeschichte zum großen Schaden der Kirche Got­ tes vernachlässigt worden.

13 Ich will aber nicht, dass euch unbekannt sei, Brüder, dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen (und bis jetzt verhindert worden bin), damit ich auch unter euch etwas Frucht erlange17 Der Aorist des Verbums haben, echein, hat hier die Bedeutung »bekommen, empfangen, erlangen«., wie auch unter den übrigen Nationen.

14 Sowohl Griechen als Barbaren, sowohl Weisen als Unverständigen bin ich ein Schuldner.

15 So bin ich meinerseits bereitwillig, auch euch, die ihr in Rom seid, das Evangelium zu verkündigen.

Die Römer sollen wissen, dass Paulus sich »oft vorgenommen« hat, zu ihnen zu kommen (siehe Apg 19,21), aber »bis jetzt verhindert worden« war. Er wäre schon längst zu ihnen gelangt, aber Gott hatte es ihm nicht gewährt.

»Daraus lernen wir, dass der Herr oft die Pläne der Heiligen umstößt, wodurch er sie demütigt und mit solchen Demütigungen dazu erzieht, die Abhängigkeit von seiner Vorsehung zu beachten.«18 Johannes Calvin, Der Brief an die Römer, Band 5.1, S. 67.

Die Römer sollen wissen, dass er als der Apostel der Nationen auch zu ihnen gesandt war, damit er unter ihnen »etwas Frucht« erlange. Es ist aber nicht persönlicher Ehrgeiz, der ihn treibt, so wie ein Trophäen­ sammler hinter immer neuer Beute her jagt. Nein, er schuldet den Christen in Rom das Evangelium. Er ist »sowohl Griechen als Barbaren, sowohl Weisen als Unverständigen«, d. h. allen Menschen, ein Schuld­ ner. Das Evangelium macht den Menschen wahrlich neu, denn nicht mehr beherrscht ihn der Gedanke, was die anderen ihm alles an Aufmerksam­ keit und Anerkennung schulden, sondern umgekehrt: Er erkennt, dass er bei allen Menschen in Schuld steht. Er schuldet ihnen Liebe (Röm 13,8), er schuldet ihnen Ehrerbietung (12,10), er schuldet ihnen materielle Hilfe (15,27), er schuldet ihnen das Evangelium, er schuldet ihnen seine Gebete (zum Aspekt der Schuldigkeit vgl. auch 1Kor 9,16­17). Der Aus­ druck »Griechen … [und] Barbaren« meint alle Völker der Erde, welche die Griechen einteilten in solche, die die Vorzüge der griechischen Kultur kannten, und alle übrigen Nationen. Eine Notwendigkeit liegt dem Apo­ stel auf (1Kor 9,16); das drängt ihn. Er weiß, dieses Evangelium ist pas­ send für alle Arten von Menschen, für »Weise … [und] Unverständige«, für Gebildete und Analphabeten. Alle haben es gleich nötig; jeder kann es verstehen.

In V. 11 spricht Paulus von der Absicht, die Christen in Rom zu be ­ festigen; hier sagt er, dass er »bereitwillig« ist, zu ihnen zu kommen, um »das Evangelium zu verkündigen«. Nicht nur die Ungläubigen müs­ sen das Evangelium hören, sondern auch die Heiligen, an die Paulus die­ sen Brief schreibt (V. 7). Auch sie haben es nötig, im Evangelium unter ­ wiesen zu werden; denn das Evangelium ist das von Gott verordnete Mittel, das sie befestigt.

»meinerseits«: Paulus tut, was er kann, um das Evangelium zu ver­ breiten. Er weiß, dass Gott alles wirkt in der Errettung. Das aber macht ihn nicht passiv, sondern im Gegenteil: »Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche errette. Ich tue aber alles um des Evangeliums willen, damit ich mit ihm teilhaben möge« (1Kor 9,22­23), und: »Ich erdulde alles um der Auserwählten willen, damit auch sie das Heil erlangen, das in Christus Jesus ist« (2Tim 2,10).

16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen.

»Denn ich schäme mich … nicht …«: Paulus ist bereitwillig, auch in Rom das Evangelium zu verkündigen, weil er sich des Evangeliums nicht schämt. Man sollte meinen, dass kein Christ sich dieser wunder­ baren Botschaft schämen könnte; aber dem ist nicht so. Wir alle sind versucht, uns des Herrn zu schämen; darum hat auch der Sohn Gottes davon gesprochen (Mk 8,38). Das Evangelium widersprach in allen entscheidenden Punkten dem philosophischen, sittlichen und religiösen Empfinden der damaligen Zeit. Alles, was das Evangelium lehrte, war Juden wie den Heiden ein Ärgernis, nämlich:

1. die totale Sündhaftigkeit des Menschen; 2. die Errettung allein durch Gnade; 3. die Menschheit und Gottheit Christi; 4. der Kreuzestod des Retters; 5. sein stellvertretendes Leiden; 6. die leibliche Auferstehung; 7. das kommende Gericht; 8. die ewige Verdammnis; 9. die Ausschließlichkeit der Heilsbotschaft.

Die gleichen Punkte, die im 1. Jahrhundert Widerspruch erregten, blie­ ben in allen nachfolgenden Jahrhunderten anstößig. »Das Evangelium Christi streitet in jeder Hinsicht aufs Härteste gegen alles, was in unserer Natur am tiefsten liegt. Das Evangelium greift an, was der Mensch am meisten liebt: seine Unabhängigkeit. Es fordert bedingungslose Unterwerfung sowohl des Verstandes als auch des Willens unter das Wort Christi; da wird alle Einbildung und alles Selbstvertrauen zu Boden geschlagen; hier wird Gott allein groß und der Mensch zum Bettler.«19 Rosenius, a. a. O., S. 38 (aus dem Schwedischen übersetzt; in der deutschen Ausgabe S. 46­47).

Paulus hat es gelernt, sich des Evangeliums nicht mehr zu schämen;20 »Ich schäme mich nicht« ist nach M. Lloyd­Jones Litotes, also jenes Stilmittel, mit dem man in negierter Form ausdrückt, was man positiv meint: »Der Apostel meint eigentlich: Ich rühme mich des Evangeliums; nichts ist in meinen Augen größer als dies« (M. Lloyd­Jones, Romans, Bd. 1, S. 57). er will gern ein Narr um Christi willen sein (1Kor 4,10). Er schämt sich des Evangeliums nicht, »denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden«. Es offenbart Gott, indem es Gottes Kraft offenbart. Das Evangelium vermag, was kein Mensch vermag; es ist ganz einzigartig. Bedenken wir, was es leistet: Es macht aus dem Sünder einen Heiligen, aus einem Verlorenen einen Geretteten, aus einem Sklaven der Sünde einen Sklaven der Gerechtigkeit (Röm 6,18). Es führt uns aus dem Tod zum Leben (Joh 5,24), es versetzt uns aus der Obrigkeit der Finster­ nis in das Reich des Sohnes Gottes (Kol 1,13). Was dem Gesetz »un ­ möglich«, a-dynaton, ist, das hat Gott getan (Röm 8,3), und was kein Mensch leisten kann, das vermag Gottes Kraft, dynamis. Paulus weiß, wovon er spricht. Er selbst, der einstige Saulus, war durch Gottes Kraft um gewandelt worden; er, der einst den Namen Christi und die Chris­ ten bis auf den Tod verfolgt hatte, wurde ein Knecht Christi und damit ein Diener der Christen. Der von vielen Gepriesene und selbstbewusste Schaʼul, »der Er betene« oder »Erwünschte« und überall gern Gesehene, wurde zu Paulus = Parvulus21 parvulus ist die Verkleinerungsform des lateinischen parvus, klein, und das wurde zusammengezogen zu Paulus., »der ganz Kleine«, der von vielen Ver­ achtete. Wer kann einen solchen Wechsel wirken außer Gott? »Gottes Kraft zum Heil«: Was versteht Paulus unter »Heil«? Der Sohn Gottes wurde Mensch, um sein Volk zu retten von ihren Sünden (Mt 1,21). Errettung bedeutet, dass Gott uns von der Sünde befreit, und zwar von der Sünde in ihrer dreifachen Wirkung:.

1. Von der Schuld der Sünde. Von dieser spricht Paulus in 1,19­21. Der Mensch erkennt Gott, aber verweigert ihm den Dank und die Ehre. Damit ist er schuldig. Diese Schuld kann er nie loswerden; er kann sie auf keine Weise abbezahlen.

2. Von der Macht der Sünde. Von dieser spricht Paulus in 1,24.26.28. Wenn Gott den Menschen »dahingibt«, d. h. sich selbst überlässt, erliegt dieser hilflos und hoffnungslos seinen unreinen Trieben, und er verfällt dem schändlichsten Tun. Das zeigt, dass die Sünde ihn vollkommen im Griff hat. Er kann ihr nichts entgegensetzen..

3. Von den Folgen der Sünde. Von dieser spricht Paulus in 1,32. Mit seiner Sünde hat sich der Mensch den Tod verdient, zunächst den leiblichen Tod, der aber nur die erste Station ist auf dem ab ­ schüssigen Weg zum ewigen Tod, zur ewigen Pein, zur ewigen Finsternis.

Beachten wir, dass Paulus nicht sagt, das Evangelium zeuge von Gottes Kraft oder erkläre, wie Gottes Kraft sich gezeigt habe. Nein; das Evangelium selbst ist Gottes Kraft zum Heil. Die gepredigte Heilsbotschaft hat in sich die Kraft, einen Sünder seiner Sünde zu überführen, in sei­nem toten Herzen Glauben zu wecken und ihn gerecht zu machen. Es hat in sich die Kraft, ihn von der Macht der Sünde zu befreien und zu be ­ fähigen, heilig zu leben. Das Evangelium selbst trägt Frucht und wächst in der Welt (Kol 1,6). Es verhält sich also durchaus nicht so, wie man­ che es darstellen: dass im Evangelium lediglich die Möglichkeit zur Errettung angeboten werde und dass der Mensch selbst sich diese Kraft aneignen müsse. Das sagt Paulus hier nicht; er sagt, dass die Botschaft selbst Gottes Kraft ist. Und diese Botschaft wirkt alles, was Gott will. Im Evangelium redet Gott; er befiehlt im Wort des Evangeliums, dass Licht werde, und dann wird Licht (1Mo 1,3; 2Kor 4,6). Er ruft die Toten, und sie stehen auf (Joh 5,25).

Das Evangelium rettet jeden Glaubenden, »sowohl de[n] Juden zuerst als auch de[n] Griechen«. Paulus kündigt hier an, was er in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich darlegen wird: Nicht nur die Heiden, sondern auch die Juden sind gefangen in ihrer Sünde, beide sind gleich hilflos und kraftlos (Röm 5,6). Beide haben gleichermaßen die ganze Kraft Gottes nötig, die sie von der Schuld und der Macht und den ewigen Folgen der Sünde befreit.

17 Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: »Der aus Glauben Gerechte wird leben.«

»Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart«: Mit dem ein­ leitenden »Denn« erklärt Paulus, was er in V. 16 sagte. Wie ist es möglich, wie kann das Evangelium die Kraft haben, jeden Glaubenden zu retten? Es ist möglich, weil es Gottes Gerechtigkeit offenbart. Das hatte der Herr in Jesaja fast wörtlich so angekündigt: »Mein Heil steht im Begriff zu kommen, und meine Gerechtigkeit, offenbart zu werden« (Jes 56,1). Gott wirkt sein Heil damit, dass er seine Gerechtigkeit offenbart. Als Gott zur bestimmten Zeit seinen Sohn sandte, wurde Gottes Gerechtigkeit »offenbart«; man kann sie seither durch die Predigt erkennen und empfangen und damit gerettet werden. In Röm 3,21-­22 sagt es Paulus ein zweites Mal: »Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus zu allen und auf alle, die glauben« (Röm 3,21­22).

Damit gibt das Evangelium dem Menschen, was er zur Errettung nötig hat. Er ist in Ungerechtigkeit gefangen (siehe Röm 1 18,.; 2,8; 3,5); er kann sich nicht selbst gerecht machen; nun aber wird im Evan­ gelium »Gottes Gerechtigkeit« offenbar, oder wie Luther an dieser Stelle übersetzt hat: »die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt« (Luther 1912). Wer diese Gerechtigkeit empfängt, ist gerettet. Luther verstand die Wortfügung »Gottes Gerechtigkeit« als »die Gerechtigkeit aus Gott«, die uns von Gott zukommt und mit der er uns einkleidet, wie Jesaja sagt: »Er hat mich bekleidet mit Kleidern des Heils, mir umgetan den Mantel der Gerechtigkeit« (Jes 61,10). Von dieser geschenkten Gerechtigkeit spricht Paulus in Phil 3,9: »… indem ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz ist, sondern die durch den Glauben an Christus ist, die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben.« Dieser Deutung Luthers haben sich viele Ausleger angeschlossen (Haldane, Rosenius, Zahn22 »Unter … θεου δικαιοσυνη ist also jedenfalls nicht die zum Wesen Gottes gehörige Eigenschaft derGerechtigkeit zu verstehen, sondern … ein von Gott herrührendes, von ihm in die Welt gesandtes, inder Welt wirkendes Etwas, und andrerseits ein den Menschen zugedachtes, zur Aneignung durch dieMenschen bestimmtes Gut« (Der Brief des Paulus an die Römer, S. 81)., Nygren, Lloyd­Jones).

»In menschlichen Lehren wird die Gerechtigkeit der Menschen geoffenbart und gelehrt, d. h. wer und auf welche Weise einer gerecht ist und wird vor sich selbst und vor den Menschen. Einzig im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart (d. h. wer und auf welche Weise einer gerecht ist und wird vor Gott), nämlich allein durch den Glauben, mit dem man dem Worte Gottes glaubt, wie es Marci am Letzten heißt: ›Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wir verdammet werden‹ (Mark. 16,16). Denn die Gerechtigkeit Gottes ist die Ursache des Heils. Wiederum darf man hier unter der Gerechtigkeit Gottes nicht die verstehen, durch die er selbst gerecht ist in sich selbst, sondern die, durch die wir vor ihm her gerecht gemacht werden.«23 Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 41, 43 (WA 56, 171, 27 – 172, 5).

»Was versteht der Apostel hier unter ›Gerechtigkeit Gottes‹? … Gemäß der Erklärung des Apostels selbst (besonders in 3,21-22) ist die Gerechtigkeit Gottes, die im Evangelium offenbart wird, das uns von Gott geschenkte Verdienst Christi, welches dem Glaubenden zugerechnet wird, welches daher Gottes Gerechtigkeit genannt wird, ist sie doch von Gott gegeben und damit die einzige Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.«24 C. O. Rosenius, Romarbrevet, Bd. 1, S. 43, 44 (in der deutschen Ausgabe Bd. 1, S. 53).

»Was versteht Paulus unter der ›Gerechtigkeit Gottes‹? … Es bedeutet nicht Gerechtigkeit als eine Eigenschaft Gottes … Was bedeutet es dann aber? Es bedeutet eine Gerechtigkeit, die von Gott kommt, eine Gerechtigkeit, die Gott zufriedenstellt.«25 M. Lloyd­Jones, Romans, Bd. 1, S. 298­-299.

Nun sagt Paulus in Röm 1,17 nicht »Gerechtigkeit aus Gott«, ek theou (wie in Phil 3,9), sondern »Gottes Gerechtigkeit«, dikaiosynē theou, ohne Präposition (und auch ohne Artikel). Daher fragt sich, ob wir die Gerechtigkeit Gottes nicht zunächst als jene Gerechtigkeit auffassen müssen, die Gott selbst eignet und die ihn in all seinem Wirken regiert. Mit anderen Worten: Gott hat im Evangelium sich selbst, seine Kraft (1,16), seinen Zorn (1,18), seine Gerechtigkeit (3,5), seine Liebe (siehe 5,8) und seine Weisheit (siehe 11,33) offenbart. In allen eben an gegebenen Stellen sind jedes Mal mit der entsprechenden Genitiv­Verbindung Eigenschaften Gottes gemeint. Entsprechend sollte man wohl »Gottes Gerechtigkeit« in 1,17 zunächst als ebendiese Eigenschaft Gottes auf­ fassen: Er ist unwandelbar gerecht und offenbart daher in seinem Heilshandeln seine eigene Gerechtigkeit.

»›Gerechtigkeit Gottes‹ ist zunächst eine Aussage über Gott. Er ist der Gerechte … Er setzt die Norm. Er ist gerecht. Alle Gerechtigkeit muss an ihm gemessen werden (vgl. 2Mo 9,27; Ps 11 7,; 71,15-19; 119,137.142; Jes 41,10; Dan 9,7; Röm 3,26; Offb 16,5). Aus diesem Wissen, dass Gott allein gerecht ist und wir Menschen in unserer Sünde seinem Zorn verfallen sind, dass wir sein Gericht verdienen, entsteht Gottesfurcht.«26 Heiko Krimmer, Römerbrief, S. 48.

In 3,24­-26 meint Paulus eindeutig, dass Gott seine eigene Gerechtigkeit im Evangelium erweist: Gott handelt gerecht und bleibt gerecht, wenn er den Sünder gerecht spricht, weil Christus in seinem Tod alle Gerechtigkeit Gottes erfüllt hat. Und das gehört zum Wunderbarsten am ganzen Evangelium, dass Gott sich nicht verändert, wenn er den Sünder recht­fertigt. Er bleibt gerecht, er handelt gerecht, er offenbart auch in seiner Gnade seine unbeugsame Gerechtigkeit. Er hat sich nicht verändert, um unser Retter zu werden.

»Es besteht ein besonderer Grund, warum das Evangelium die Kraft Gottes zum Heil ist. Der Mensch ist von Gott abgewichen durch Sünde. Nur Gerechtigkeit könnte ihn in Gottes Gegenwart zurückführen und schaffen, dass er in Frieden vor ihm sein könnte. Als Sünder hatte er keine Gerechtigkeit, ganz im Gegenteil, und wenn ein Mensch als Sünder vor Gott treten wollte, müsste Gottes Gericht über ihn kommen. Gerechtigkeit würde sich auf diese Weise zeigen. Aber im Evangelium offenbart Gott eine positive Gerechtigkeit von sich selbst. Wenn der Mensch keine hat, dann hat Gott eine Gerechtigkeit, die ihm gehört, die seine eigene ist, so vollkommen wie er selbst, nach seinem eigenen Herzen. Eine solche Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart. Da war keine menschliche Gerechtigkeit mehr; eine Gerechtigkeit, die Gottes ist, wird offenbart. Sie ist in sich vollkommen, göttlich und vollständig. Damit sie offenbart werden kann, muss sie so sein. Das Evangelium verkündigt sie uns.«27 J. N. Darby, Synopsis of the Books of the Bible, Bd. 4, S. 119.

»Endlich bestimmt Paulus das rettende Evangelium auch inhaltlich. Denn Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart. Die Bibel kennt eine Mehrzahl von Weisen Gottes, aus sich herauszutreten, durch mannigfache Kräfte und Gaben, Worte und Wunder, Hilfen und Strafen. Doch keine dieser Offenbarungen schöpfte aus, was er ist, will und kann, immer blieb da ein Rest … das letzte, ungetrübte Offenbarsein Gottes, sein volles und richtiges Gottsein. Ebendies strahlt nun auf mit dieser Gerechtigkeit Gottes. Es ist zuerst an einen Vorgang zu denken, der an Gott geschieht, und an eine Gerechtigkeit, die die seine ist. ›Gott erwies seine (!) Gerechtigkeit, dass er selbst gerecht ist‹, so legt die maßgebliche Parallele 3,26 den Begriff aus. Dann gilt es allerdings weiterzulesen: ›und dass er gerecht macht den, der an Jesus glaubt‹.«28 A. Pohl, Der Brief des Paulus an die Römer, S. 42.

»Gottes Gerechtigkeit ist ihm eigen. Doch er ist ein handelnder Gott. Seine Gerechtigkeit wird offenbart im Evangelium. Gottes Wesen ist sein Handeln. Seine Gerechtigkeit hängt nicht wie das Richtschwert über allen Menschen, bereit, sie im Endgericht zu vernichten, sondern er macht seine Gerechtigkeit wirksam. In seinem Sohn Jesus Christus bietet er nun Gerechtigkeit an. Er stellt ihn vor uns hin und zeigt damit die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt.«29 Heiko Krimmer, Römerbrief, S. 48.

Indem Gott sich selbst im Evangelium offenbart, wirkt er auch durch das Evangelium, und zwar so, dass der Sünder, der glaubt, von Gott gerecht gesprochen wird. Gott offenbart seine eigene Gerechtigkeit, um diese dem Sünder zu geben, weshalb Paulus in 5,17 von der »Gabe der Gerechtigkeit« spricht: Gott macht den Sünder gerecht, indem er ihm seine eigene Gerechtigkeit schenkt. So sehen wir, wie Gottes eigene Gerechtig­ keit und die dem Glaubenden geschenkte Gerechtigkeit untrennbar mit­ einander verbunden sind30 Eine gute Erörterung samt Belegen von verschiedenen Vertretern der beiden Deutungen des Begriffs»Gerechtigkeit Gottes« in 1,17 bietet Thomas Schreiner, Romans, S. 63­-67; noch ausführlicher:Cranfield, The Epistle to the Romans, Bd. 1, S. 91­-100.. Gottes eigene Gerechtigkeit ist die einzige Gerechtigkeit, »die vor Gott gilt«.

»Die Gerechtigkeit Gottes [ist] die ganze Wohltat Gottes in Jesus Christus zum Heil des Sünders. Gott selbst ist gerecht und macht uns gerecht« (Bengel, Gnomon [zu dieser Stelle]). Das Evangelium ist Gottes Kraft, und diese Kraft geht einher mit Got­ tes Gerechtigkeit; denn Gott kann sich nicht verändern (Mal 3,6). Das bedeutet, dass er nie seine Gerechtigkeit verleugnet, wenn er seine Kraft gebraucht (vgl. 2Tim 2,13). Allmacht und Gerechtigkeit sind ein ganz wunderbares Paar, besonders wenn wir bedenken, dass Gott »für uns« ist (Röm 8,31). Ist nämlich Gott für uns, ist auch seine Gerechtigkeit für uns. Sie wendet sich nicht gegen uns, indem sie uns verdammt; sondern sie wirkt zu unseren Gunsten, und sie wird uns durch Glauben gegeben, wie Paulus in Phil 3,9 sagt. Sie heißt dort »die Gerechtigkeit aus Gott«, weil sie aus Gott kommt und uns von ihm zugeeignet wird. Weil sie aus Gott ist, ist sie vollkommen, und weil sie uns geschenkt ist, sind wir vor Gott vollkommen.

Wie furchtbar wäre es, einem Allmächtigen ausgeliefert zu sein, der nicht gerecht ist. Vor einem Allmächtigen, der nicht gerecht ist, könnten wir nur in bodenlosem Schrecken erstarren. Und wie wäre uns geholfen, wenn Gott seine Gerechtigkeit für sich behielte? Nun aber teilt er sie mit, rechnet sie uns zu, kleidet uns in sie ein (Jes 61,10).

Gottes Gerechtigkeit ist »aus Glauben«, nicht aus Werken. Das wird Paulus von 3,21 an ausführlich erklären. Aber was bedeutet »aus Glauben zu Glauben«? Nach Hodge ist »die Bedeutung dieser Worte sehr zweifelhaft« (Charles Hodge, Romans, S. 32). Gott hat im Evangelium seine Gerechtigkeit offenbart; er hat es aber getan, damit man an diese Offenbarung glaube und fortan ein Leben des Gehorsams lebe. Wir sind aus Glauben gerechtfertigt, um fortan als Gerechte im Glauben zu wan­ deln (2Kor 5,7). Der Glaube steht nicht nur am Anfang der Errettung, sondern damit, dass einer das Evangelium im Glauben angenommen hat, beginnt er, im Glauben zu leben, wie Paulus mit dem Bibelzitat aus Habakuk bekräftigt: »Der Gerechte … wird aus Glauben leben« (vgl. Elb 2003). Er wird aus Glauben gerecht, um fortan im Glauben zu leben.

»Aus Glauben in Glauben heißt so viel als: lauter Glauben; denn die Gerechtigkeit aus dem Glauben bleibt beim Glauben stehen, ohne Werke … Der Glaube, will Paulus sagen, bleibt Glaube; der Glaube ist das Erste und das Letzte« (Bengel, Gnomon [zu dieser Stelle]).

Den Satz »Der Gerechte … wird aus Glauben leben« (Elb 2003), ho de dikaios ek pisteōs zēsetai, kann man auch anders übersetzen: »Der aus Glauben Gerechte wird leben.« Sind wir durch Glauben gerecht ge ­ worden, werden wir leben. So deutet Rosenius diese Stelle:

»Das Wort ›der Gerechte wird aus Glauben leben‹ wird unzweideutig, wenn man es so übersetzt, wie es die Wortfolge im griechischen Text nahelegt: Der Gerechte aus Glauben wird leben – d. h. der aus Glauben Gerechte.«31 C. O. Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 45.

Dieser Erklärung hat sich Anders Nygren angeschlossen:

»Wenn Paulus nun dieses Wort, ›der durch den Glauben Gerechte wird leben‹, als Thema und Überschrift über seinen Brief setzt, führt er die beiden Ausdrücke ›der Gerechte‹ und ›aus Glauben‹ zu einem untrenn- baren Begriff zusammen: ›der durch Glauben Gerechte‹; und von diesem durch den Glauben Gerechten heißt es weiter: ›Er wird leben‹.«32

Nach Nygren enthält dieses Wort das Thema des ganzen Römerbriefes; auf diesem Text habe Paulus seinen Brief aufgebaut:

1. In 1,18 – 4,25 zeigt Paulus, dass der Glaubende gerecht wird.

2. In 5,1 – 8,39 zeigt Paulus, dass der aus Glauben Gerechte lebt.

3. In 12 – 16 zeigt Paulus, wie dieses Leben des aus Glauben Gerechten sich äußert.

»wie geschrieben steht«: Das Evangelium ist keine neue Lehre. Es ist nicht ein theologisches System, das Paulus erstellt hat, noch wurde es später von der christlichen Kirche erfunden. Das Evangelium wurde »durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen« (V. 2). Die in ihm offenbarte Gerechtigkeit Gottes wurde »bezeugt durch das Gesetz und die Propheten« (3,21). Es war der alttestamentliche Pro­ phet Ha bakuk, durch den Gott diese besondere Verheißung gab, dass der Gerechte durch seinen Glauben leben werde (Hab 2,4).

Die Verse 16 und 17 fassen das Evangelium in wunderbarer Weise zu ­ sammen, indem sie auf sieben Eigenschaften desselben hinweisen:

1. Die Herrlichkeit des Evangeliums: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht.«

2. Die Kraft des Evangeliums: »Es ist Gottes Kraft.«

3. Die Wirkung des Evangeliums: Es ist »zum Heil«.

4. Die Bedingung des Evangeliums: Es wirkt in »jedem Glauben­ den«.

5. Die Reichweite des Evangeliums: Es gilt »sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen«.

6. Die Substanz des Evangeliums: »Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart.«

7. Die Richtschnur des Evangeliums: »… wie geschrieben steht.« A. Nygren, Der Römerbrief, S. 67. M. Lloyd­Jones: »›Der Gerechte wird aus Glauben leben‹ – oder eine bessere Übersetzung ist: ›Der aus Glauben Gerechte wird leben‹« (Romans, S. 309). Auch Barnett übersetzt entsprechend: »He who is righteous from faith will live. – Er, der aus Glauben gerecht ist, wird leben« (Paul Barnett, Romans, S. 39).

Teil 1: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in seinem Zorn über alle Ungerechtigkeit des Menschen (1,18 – 3,20)

»Nach diesem Fanfarenstoß, dem Rettung versprechenden Schlüsselsatz des Römerbriefs, muss Paulus zwingend begründen: Warum braucht der Mensch Rettung?«33

Man beachte das einleitende »Denn«: Der Apostel hat eben gesagt, dass das Evangelium die Kraft Gottes zur Errettung ist. Nun erklärt er, warum der Mensch diese Kraft Gottes zur Errettung nötig hat: Er zeigt, wie sün­ dig und wie verloren der Mensch ist. Der Abschnitt, der von 1,18 bis 3,20 reicht, ist eine einzige, lückenlos geführte Anklage gegen den Menschen und damit gegen jedes Kind Adams auf dem Erdenrund. Der Kläger lässt niemanden aus, jeder wird in den Lichtkegel der Wahrheit gestellt, und die lautet: Alle haben gesündigt; die ganze Menschheit, Juden wie Hei­ den, sind dem Gericht Gottes verfallen. Der Kläger reiht, geführt durch den Heiligen Geist, Klage an Klage und stellt jeden Einwand als Aus­ flucht bloß. Diese Klageschrift muss sein; der Mensch muss ins Licht gestellt werden; er muss erkennen, dass er schuldig ist, dass Gottes Zorn zu Recht über ihm steht und dass er nichts tun kann, um das Ver­ dammungsurteil zu wenden. Dazu hat der Sohn Gottes seinen Geist in die Welt gesandt: den Sünder seiner Sünde zu überführen (Joh 16,8). Und dieser Geist hat dem Apostel jedes Wort eingegeben; der Sünder hat es mit Gott selbst als seinem Kläger zu tun. Wie will er dem entkommen, der alles sieht und der in seinem Urteil nicht irren kann? Übersicht über 1,18-32

Paulus sagt als Erstes, dass Gottes Zorn über allen Menschen, Juden wie Griechen, steht (V. 18). Warum beginnt Paulus nicht mit der Liebe, sondern mit dem Zorn Gottes, wo er doch mit diesem Brief sagen will, dass das 33 Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ?, S. 66. Evangelium Gottes Kraft zum Heil ist (1,16)? Ja, es ist zum Heil, aber soll die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes dem Menschen zum Heil wer­ den, muss dieser zuerst erkennen, dass seine Sünde ihn verdammt, eben weil Gott gerecht ist. Erkennt er sich als einen Gottlosen und glaubt er als solcher an den Gott, der in seiner Gerechtigkeit den Gottlosen rechtfertigt, wird ihm dieser Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet (4,5). »Es gebührt einem Prediger des Evangeliums, zuerst durch Offenbarung des Gesetzes und der Sünden alles zu strafen und zu Sünden machen, was nicht aus dem Geist und dem Glauben an Christus gelebt wird, damit die Menschen zu ihrer eigenen Erkenntnis und Jammer geführt werden, dass sie gedemütigt werden und Hilfe begehren. So tut Paulus auch und fängt an im 1. Kapitel und straft die groben Sünden und den Unglauben, die öffentlich sind am Tage, wie es der Heiden Sünden waren und noch sind, die ohne Gottes Gnade leben. Und er spricht, es werde offenbart durchs Evangelium Gottes Zorn vom Himmel über alle Menschen um ihres gottlosen Wesens und ihrer Ungerechtigkeit willen. Denn ob sie gleich wissen und täglich erkennen, dass ein Gott sei, so ist doch die Natur an ihr selbst außer der Gnade so böse, dass sie ihm weder dankt noch ihn ehrt.«34

1. Paulus nennt zuerst die Tatsache, dass der Mensch unter Gottes Zorn steht: »Es offenbart sich Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen« (V. 18a). 2. Paulus nennt dann die Ursache, warum der Mensch unter Got­ tes gerechtem Zorn steht: »… der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen; weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist …« (V. 18b­-23).

3. Paulus zeigt schließlich, worin sich Gottes Zorn offenbart: »Darum hat Gott sie … dahingegeben …« (V. 24­32). Gottes Zorn offenbart sich »über alle Gottlosigkeit«, die sich darin zeigt, dass der Mensch »die Wahrheit« über Gott kennt, sie aber in Ungerech­ tigkeit unterdrückt (V. 18b; zur Wiedergabe des Verbs katechō vgl. Fuß­ note 38), denn Gott ist erkennbar (V. 19), erkennbar an seinen Schöp­ 34 M. Luther, Vorrede auf die Epistel an die Römer (WA DB 7, 12, 27 – 14, 2).

Teil 1: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in seinem Zorn über alle Ungerechtigkeit des Menschen (1,18 – 3,20) [53]

»Nach diesem Fanfarenstoß, dem Rettung versprechenden Schlüsselsatz des Römerbriefs, muss Paulus zwingend begründen: Warum braucht der Mensch Rettung?«33 Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ?, S. 66.

Man beachte das einleitende »Denn«: Der Apostel hat eben gesagt, dass das Evangelium die Kraft Gottes zur Errettung ist. Nun erklärt er, warum der Mensch diese Kraft Gottes zur Errettung nötig hat: Er zeigt, wie sün­ dig und wie verloren der Mensch ist. Der Abschnitt, der von 1,18 bis 3,20 reicht, ist eine einzige, lückenlos geführte Anklage gegen den Menschen und damit gegen jedes Kind Adams auf dem Erdenrund. Der Kläger lässt niemanden aus, jeder wird in den Lichtkegel der Wahrheit gestellt, und die lautet: Alle haben gesündigt; die ganze Menschheit, Juden wie Hei­ den, sind dem Gericht Gottes verfallen. Der Kläger reiht, geführt durch den Heiligen Geist, Klage an Klage und stellt jeden Einwand als Aus­ flucht bloß. Diese Klageschrift muss sein; der Mensch muss ins Licht gestellt werden; er muss erkennen, dass er schuldig ist, dass Gottes Zorn zu Recht über ihm steht und dass er nichts tun kann, um das Ver­ dammungsurteil zu wenden. Dazu hat der Sohn Gottes seinen Geist in die Welt gesandt: den Sünder seiner Sünde zu überführen (Joh 16,8). Und dieser Geist hat dem Apostel jedes Wort eingegeben; der Sünder hat es mit Gott selbst als seinem Kläger zu tun. Wie will er dem entkommen, der alles sieht und der in seinem Urteil nicht irren kann?

Übersicht über 1,18­-32 [53]

Paulus sagt als Erstes, dass Gottes Zorn über allen Menschen, Juden wie Griechen, steht (V. 18). Warum beginnt Paulus nicht mit der Liebe, sondern mit dem Zorn Gottes, wo er doch mit diesem Brief sagen will, dass das Evangelium Gottes Kraft zum Heil ist (1,16)? Ja, es ist zum Heil, aber soll die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes dem Menschen zum Heil wer­ den, muss dieser zuerst erkennen, dass seine Sünde ihn verdammt, eben weil Gott gerecht ist. Erkennt er sich als einen Gottlosen und glaubt er als solcher an den Gott, der in seiner Gerechtigkeit den Gottlosen rechtfertigt, wird ihm dieser Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet (4,5). »Es gebührt einem Prediger des Evangeliums, zuerst durch Offenbarung des Gesetzes und der Sünden alles zu strafen und zu Sünden machen, was nicht aus dem Geist und dem Glauben an Christus gelebt wird, damit die Menschen zu ihrer eigenen Erkenntnis und Jammer geführt werden, dass sie gedemütigt werden und Hilfe begehren. So tut Paulus auch und fängt an im 1. Kapitel und straft die groben Sünden und den Unglauben, die öffentlich sind am Tage, wie es der Heiden Sünden waren und noch sind, die ohne Gottes Gnade leben. Und er spricht, es werde offenbart durchs Evangelium Gottes Zorn vom Himmel über alle Menschen um ihres gottlosen Wesens und ihrer Ungerechtigkeit willen. Denn ob sie gleich wissen und täglich erkennen, dass ein Gott sei, so ist doch die Natur an ihr selbst außer der Gnade so böse, dass sie ihm weder dankt noch ihn ehrt.«34 M. Luther, Vorrede auf die Epistel an die Römer (WA DB 7, 12, 27 – 14, 2).

1. Paulus nennt zuerst die Tatsache, dass der Mensch unter Gottes Zorn steht: »Es offenbart sich Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen« (V. 18a). 2. Paulus nennt dann die Ursache, warum der Mensch unter Gottes gerechtem Zorn steht: »… der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen; weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist …« (V. 18b-­23). 3. Paulus zeigt schließlich, worin sich Gottes Zorn offenbart: »Darum hat Gott sie … dahingegeben …« (V. 24­-32).

Gottes Zorn offenbart sich »über alle Gottlosigkeit«, die sich darin zeigt, dass der Mensch »die Wahrheit« über Gott kennt, sie aber in Ungerechtigkeit unterdrückt (V. 18b; zur Wiedergabe des Verbs katechō vgl. Fuß­note 38), denn Gott ist erkennbar (V. 19), erkennbar an seinen Schöp­fungswerken (V. 20). Das macht die Sünde des Menschen unentschuldbar: Er erkennt Gott, erkennt ihn aber nicht an; er gibt ihm nicht den Dank, der ihm gebührt (V. 21a). Darum wird das Licht, das ihm in der Schöpfung entgegenleuchtet, zur Finsternis (V. 21b), und er versinkt in Torheit (V. 22) und dazu in Schande: Er wendet sich einem unwürdigen Gegen­ stand der Verehrung zu. Weil er das Geschöpf und im Geschöpf sich selbst verehrt statt Gott, übergibt ihn Gott unwürdigen Lüsten (V. 23­24), und diese sind seine Schande. Weil er die Wahrheit Gottes in Lüge verkehrt, übergibt ihn Gott verkehrten Neigungen (V. 25­27); weil er das höchste Gut, das ein Mensch besitzen kann, für nichts geachtet hat, über­ gibt ihn Gott nichtigem Denken, sodass er nur noch das treiben kann, was sich nicht geziemt (V. 28). Er verfällt in seinem Trachten und Tun dem Bösen (V. 29­31). Dabei weiß er die ganze Zeit, dass sein Tun böse ist, und er weiß, dass er damit den Tod verdient hat; aber er will nicht anders, und darum kann er auch nicht mehr anders, als Wohlgefallen zu haben am eigenen Bösen und am gleichen Bösen, das andere tun (V. 32).

18 Denn es offenbart sich Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen;

»Denn« als Bindewort zeigt, dass die vorher gemachte Aussage begründet wird. Paulus hatte eben gesagt, dass der aus Glauben Gerechte leben wird; wer nicht aus Glauben gerecht ist, wird nicht leben, sondern Gottes Zorn bleibt über ihm (vgl. Joh 3,36). Gott wird ihn dem ewigen Tod übergeben.

»Gottes Zorn«: οργη, orgē, ein Wort, das 12­mal vorkommt im Römerbrief (1,18; 2,535 Zweimal in diesem Vers.8; 3,5; 4,15; 5,9; 9,2236 Zweimal in diesem Vers.; 12,19; 13,4.5), 10­mal ist der Zorn Gottes gemeint37 Im ganzen NT findet sich orgē 36­mal; in Mt, Mk, Joh je einmal, in Lk zweimal; in keinem Buch öfterals zweimal, außer in 1Thes (dreimal) und in Offb (sechsmal).. Gottes Zorn entflammt wegen der »Gottlosigkeit« und der »Ungerechtigkeit« der Menschen. »Gottlosigkeit«, asebeia, a-sebeia, ist das Gegenteil von eusebeia, eu-sebeia, Gottesfurcht (1Tim 2 2,; 4,7.8; 2Petr 1,3) oder Gottseligkeit. Das griechische Wort Gottseligkeit bedeutet eigentlich: gut (eu [d. h. gebührend]) verehren (sebomai). Entsprechend ist Gottlosigkeit die Wei­gerung, Gott gebührend zu verehren. In dieser Weigerung besteht die »Ungerechtigkeit der Menschen«. Die Ungerechtigkeit aller Menschen, der Heiden (1,18.29) wie der Juden (2,8; 3,5), erklärt, warum alle Gottes Gerechtigkeit nötig haben.

»welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen38 katechō, wie in Lk 8,15; 1Kor 7,30; 11,2; 15,2; 2Kor 6,10; 1Thes 5,21; Hebr 3 6,.; 10,23. Es kann auch die Bedeutung »niederhalten; aufhalten; unterdrücken« haben wie in Lk 4,42; 2Thes 2,6; Phim 13.«: Der Mensch besitzt die Wahrheit; Gott hat ihn so erschaffen, dass er sie erkennen kann, und diese Fähigkeit verlor der Mensch mit der Sünde nicht, sonst wäre er nach dem Sündenfall nicht mehr Mensch geblieben. Er weiß genug von Gott, von der Erschaffung der Welt, von der Bedeutung des Men­ schen und von Sittlichkeit, aber er besitzt oder unterdrückt diese Wahrheit »in Ungerechtigkeit«, d. h. in ungerechter Weise. Er lässt die Wahrheit über Gott nicht an sich heran. Er unterwirft sich ihr nicht, sondern er behandelt sie im besten Fall wie einen philosophischen Gegenstand oder wie einen moralischen Grundsatz. Er verwendet sie zu seinem Nutzen: der Lehrer in der Erziehung von Kindern und der Regent in der Regierung seiner Untertanen. Um Beamten für den Staat nützliche Gewissenhaftigkeit und Angestellten Fleiß und Ehrlichkeit beizubringen, ist die Lehre von einem gerechten, allwaltenden, belohnenden und be strafenden Gott so nützlich, dass Voltaire befand: »Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer – Existierte Gott nicht, müsste man ihn erfinden.«39 »Epître à l’auteur du livre des Trois imposteurs« (1768), in: Oeuvres complètes de Voltaire, ed. Louis Moland, Paris: Garnier, 1877 – 1885, tome 10, p. 402-­405. So konnte ein Voltaire zu seiner Zeit noch reden; inzwischen haben die meisten unserer Zeit genossen den nächsten Schritt getan, der zwangsläufig auf diesen ersten folgt. Lässt der Mensch die Wahrheit über Gott ihn nicht regieren, wird er früher oder später leugnen, dass überhaupt ein Gott sei. Wie offenbart sich Gottes Zorn über die Ungerechtigkeit und Gott­ losigkeit der Menschen? Im vorliegenden Kapitel sagt Paulus, dass sie sich darin manifestiert, dass Gott den Menschen dahingibt (V. 24.26.28). Er übergibt ihn ganz diesem bösen Drang, die Wahrheit zu unter drücken, und das bedeutet, dass er Leidenschaften unterworfen wird, die seine Schande sind und die ins Verderben führen. Salomo hat das bereits gewusst und gelehrt: »Der Mund fremder Frauen ist eine tiefe Grube; wem der HERR zürnt, der fällt hinein« (Spr 22 14,) Die Laster, denen der Mensch dient, sind die Strafe dafür, dass er sich Gott verweigert hat. Sie sind aber nur der Beginn der Strafe; denn diese geht am Tag des Gerichts über in die ewige Pein.

19 weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist, denn Gott hat es ihnen offenbart,

20 denn das Unsichtbare von ihm ist von Erschaffung der Welt an in dem Gemachten als Begreifbares sichtbar, sowohl seine ewige Kraft als auch seine Göttlichkeit – damit sie unentschuldbar seien,

Paulus begründet die in V. 18 gemachte Aussage, dass Gottes Zorn über dem Menschen offenbar wird: »weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist«. Der Mensch weiß, dass ein Schöpfer ist; er weiß, dass er diesem alles verdankt, aber er unterdrückt dieses Wissen. An den Schöpfungswerken kann man drei Dinge erkennen: Die »Göttlichkeit« und die »ewige Kraft«, d. h. die Ewigkeit und die Allmacht Gottes. So hat Gott das »Unsichtbare von ihm … sichtbar« gemacht40 Paulus verwendet zwei Wörter gleichen Stammes: ta a-orata, das Unsichtbare, kath-orātai, wirdgesehen. Ich habe das in der Übersetzung durch »unsichtbar« und »sichtbar« wiederzugeben versucht.. Das sieht der Mensch, und er ist fähig, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen; denn er ist Mensch; darum ist er »unentschuldbar«, wenn er Gott den Dank verweigert, den er ihm schuldet.

»… damit sie unentschuldbar seien« ist ein sogenannter Finalsatz, d. h., er drückt eine Absicht aus. Das dürfen wir nicht übersehen. Paulus sagt nicht: »… sodass sie ohne Entschuldigung sind«. Gott hat sich durch seine Schöpfungswerke deshalb allen Menschen bekundet, damit sie unentschuldbar seien – nicht, damit sie gerettet würden41 Es wird häufig behauptet, Gott habe sich in der Schöpfung deshalb allen Menschen offenbart, damitein jeder gerettet werden könne. Aber gerade das steht nicht da, und was nicht dasteht, dürfen wir nicht . Es wird häufig behauptet, Gott habe sich in der Schöpfung deshalb allen Menschen offenbart, damit ein jeder gerettet werden könne. Aber gerade das steht nicht da, und was nicht dasteht, dürfen wir nicht hineinlesen.. Das ist eine Wahrheit, die ihre Entsprechung findet in der Gabe des Gesetzes. Durch dieses hatte Gott sich noch deutlicher offenbart als durch die Schöpfung; aber er gab das Gesetz nicht als Mittel zum Heil, sondern er gab es, damit die Empfänger des Gesetzes erkennen sollten, dass sie vor Gott schuldig sind, damit auch »sie unentschuldbar seien«. In 3,19 sagt der Apostel, dass Gott sich den Juden auf diese Weise offenbarte, damit allen Menschen der Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei.

21 weil sie, obwohl sie Gott kannten, ihn weder als Gott verherrlichten noch ihm Dank darbrachten, sondern in ihren Überlegungen der Nichtigkeit42 mataioō, nichtig machen, nur hier belegt, von mataios, nichtig, leer, eitel (wie in 1Kor 15,17; Jak 1,26; 1Petr 1,18). In der LXX stehen ta mataia, die Nichtigkeiten, für die Götzen (Jer 2 5,; 8,19). verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde:

22 Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden

23 und vertauschten die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes mit dem Gleichbild43 Wörtlich »mit dem Gleichnis eines Bildes«. Das von Paulus hier verwendete homoiōma (Gleichnis, Gleichheit) ist das Wort, das in der LXX an Stellen wie 5Mo 4,15­18 verwendet wird, wo Gott seinem Volk verbietet, sich von ihm ein Gleichnis erstellen zu wollen von einem verweslichen Menschen und von Vögeln und von vierfüßigen und kriechenden Tieren.

Die Menschen kennen Gott, weil sie Menschen sind. Die Sünde hat dem Menschen nicht etwa seine Fähigkeiten genommen, zu erkennen und zu verstehen; aber seit er ein Sünder geworden ist, gebraucht er seinen Verstand schlecht. Er verwendet ihn nicht, um in der Erkenntnis Got­ tes zu wachsen, dessen Willen zu verstehen und ihm besser zu dienen, sondern im Gegenteil: Er ersinnt sich immer neue Gründe, warum er recht handle, wenn er sich Gott verweigert. Warum tut er das? Er will Gott nicht »als Gott verherrlichen«; die Ehre, die Gott allein zusteht, will er für sich (siehe Joh 5,44). Gott aber hat alles erschaffen zu seiner Ehre; dass der Mensch sich weigert, ihn durch Glauben und Ge horsam zu ehren, ist seine große Sünde, und dieser Sünde wegen steht Gottes Zorn über ihm.

Als die Menschen Gott den Dank und die Verherrlichung ver­ weigerten, war es unausweichlich, dass sie der »Nichtigkeit verfielen«. Es geschah zwangsläufig, sobald sie anfingen, »ihren Überlegungen« nachzuhängen. Wozu waren da große Überlegungen nötig? Sie wuss­ ten ja, dass ein Gott ist und dass sie diesem Gott Dank und Gehorsam schuldeten. Nun aber begannen sie, Gründe zu suchen, warum die Exis­ tenz eines Gottes nicht zwingend sei, weshalb sie keinem Schöpfer Dank und Dienst schuldeten. Natürlich fanden sie ihre Gründe. Aber wie konnten diese anders als töricht sein,44 Ein Tor ist, wer in seinem Herzen spricht, es sei kein Gott (Ps 14,1). da es nur eingebildete Gründe dafür geben kann? Und so wurde »ihr unverständiges Herz verfinstert«. Die Verfinsterung des Herzens ist nicht ein Naturereignis, das den Wan­derer überfällt wie ein Unwetter, sondern eine von Gott verhängte Folge für die Weigerung, Gott als Gott anzuerkennen. Gott erhascht die Wei­ sen in ihrer List und macht sie »zu Narren«. Richtig sagten die Alten: »Quos Deus vult perdere, dementat prius – Wen Gott verderben will, dem nimmt er zuerst den Verstand.« Und zwar wurden sie gerade damit zu Narren, dass »sie sich für Weise ausgaben«. Sie setzten ihrer Torheit damit erst richtig die Krone auf, dass sie diese als ihre besondere Weis­ heit be wunderten. Denn kann der Mensch gröber irren, als dass er »die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes« mit etwas Verweslichem ver­ tauscht? Hier verwendet Paulus einen Ausdruck aus dem Psalter, der von der gleichen Torheit spricht, die bereits die Juden begangen hatten: Die vertauschten ihre Herrlichkeit, d. h. Gott, gegen das Gleichbild eines Stieres, der Gras frisst (Ps 106,20).

»die Herrlichkeit … Gottes« ist der Sammelbegriff für alle Voll­ kommenheiten Gottes. Er ist vollkommen an Macht, Weisheit, Wahrheit, Heiligkeit, und all das hat der Mensch für nichts geachtet und dem ein von ihm selbst gemachtes Bild vorgezogen, ein Bild, das nicht mehr sein kann als ein Produkt der Fähigkeiten des Menschen – und der ist begrenzt, beschränkt, irrend und verweslich.

Die erste Verirrung des verfinsterten Herzens äußert sich also darin, dass er sich ein Gottesbild macht. Der Gottesfürchtige macht sich kein Gottesbild, er hat auch keines. Er glaubt an den Gott, der sich in der Schrift vollkommen und vollständig offenbart hat, und er glaubt allem, was Gott von sich gesagt hat. Der Tor aber hat ein Gottesbild, einen Got­ tesbegriff. Er schafft sich nach seinem Herzen ein Bild, das er be-greifen, das er im Be-griff einordnen, sodass er es greifen, damit umgehen und es seinem Tun und Trachten unterordnen kann.

Das Bild, das der Mensch sich von Gott macht, kann nie mehr sein als menschlich denkbar und damit menschlich möglich; meist ist es weniger, indem es »Vögeln und … Tieren« gleicht. Sich von Gott eine Vor stellung zu machen, ist eine Ungeheuerlichkeit: Man stellt Gott vor sich, vor sein eigenes Denken. Jemand oder etwas, was man irgend­ wohin stellt, ist ein Götze. Gott können wir nicht stellen, erst recht nicht vor uns stellen. Der Mensch tut es aber doch, und so antwortet ihm der gerechte Gott damit, dass er ihn der Finsternis überlässt. Er gibt ihn sei­ ner Vor stellung von Gott dahin, und so verehrt der Mensch am Ende einen Abgott wie den Mammon oder die Materie oder unreine Geister wie Krischna, den arabischen Wüstendämon Allah, der in einem schwar­ zen Stein wohnt, oder sogenannte Heilige oder die »Mutter Gottes«.

24 Darum hat Gott sie auch in den Gelüsten ihrer Herzen dahingegeben in die Unreinheit, sodass ihre Leiber an sich selbst geschändet werden;

»Darum«, weil sie Gott nicht dankten und ihren verfinsterten Herzen folgten und – statt Gott zu fürchten – sich ein Bild von Gott machten, »hat Gott sie … dahingegeben«. Hier steht das Wort »dahingegeben« zum ersten Mal; es folgt ein zweites und ein drittes Mal in den Versen 26 und 28. Wenn Gott den Menschen dahingibt, tut dieser in der Folge nichts anderes, als was er schon immer wollte. Gott zieht seine Hand zurück, hält ihm vom Bösen nicht mehr ab, sondern überlässt ihn ganz seinen Wünschen – und der Mensch beglückwünscht sich zur Freiheit, die er endlich erlangt hat. Nun kann er ganz seinen Wünschen und Begierden leben; er verfällt ihnen vollends. Er ist ganz frei vom Guten, ist damit endgültig zum Sklaven der Sünde geworden (siehe Kapitel 6,20). »in den Gelüsten«, en tais epithymiais, was man auch übersetzen kann »durch die Gelüste«45 Menge: »Daher hat Gott sie durch die Begierden ihrer Herzen … versinken lassen.« So auch Stier: »Deshalb hat Gott sie durch die Begierden ihrer Herzen an unreines Treiben ausgeliefert.«. Durch das eigene Begehren verfällt der Mensch dem Unflat, dem Unrat, der Unreinheit. Diese Begierden sind im Herzen des Sünders immer da (Mk 7,21­23). Wohl uns, wenn Gott sie zurückhält, sodass sie nicht ungezügelt durchbrechen; wehe uns, wenn Gott sie nicht mehr hemmt und ihnen freie Bahn lässt! Zum zweiten Mal wird hier etwas über das Herz des Menschen gesagt. Es ist nicht nur verfinstert (V. 21), sondern es ist auch voll sündiger Begierden. Darum muss das Herz des Menschen erstens erleuchtet und zweitens erneuert werden. Beides ist nötig. Gibt Gott einem von unreinen Lüsten erfüllten Herzen Licht, wird es dieses Licht unweigerlich und ohne Ausnahme hassen und fliehen (Joh 3,19). Es braucht zum Licht auch einen erneuerten Willen, der dieses Licht nicht abweist, sondern annimmt und befolgt.

Man beachte, dass hier nicht steht »in die Gelüste …«, sondern »in den Gelüsten«; d. h., weil diese Gelüste in ihren Herzen waren, gab Gott sie dahin. Welche Gelüste waren in ihren Herzen? Sich von Gott ab zuwenden, ihm den gebührenden Dank zu verweigern, den eigenen Überlegungen zu folgen, kurz: selber Gott zu sein. »in die Unreinheit«: Da das Herz des Menschen von sündigem Trachten regiert wird, drängt es ihn zur Unreinheit. Gott muss dem Menschen nie etwas Böses eingeben; er muss ihn nur seinem eigenen Wil­len überlassen, und das Ergebnis ist immer das gleiche. Er stürzt sich in Unreinheit. Gott wollten sie nicht ehren; Gott gibt sie dahin, sich selbst zu entehren, indem sie »ihre Leiber an sich selbst« schänden.

25 sie, die die Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauscht und dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht haben statt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen.

Hier werden die Menschen noch einmal zusammenfassend charakterisiert: Sie vertauschten »die Wahrheit Gottes mit der Lüge«. Wenn wir damit beginnen, dass wir die Wahrheit über Gott in ungerechter Weise unterdrücken (V. 19), haben wir gleichzeitig mehr getan, als die Wahrheit nur aufzuhalten. Wir haben sie »mit der Lüge vertauscht«. Haben wir das Selbstzeugnis des Schöpfers aber in die Lüge verwandelt, haben wir den Schöpfer selbst zum Lügner gemacht (vgl. 1Jo 5,10). Kann sich das Geschöpf an seinem Schöpfer schlimmer vergreifen? Sie haben »dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht … statt dem Schöpfer«. Das zeigt uns, dass wir die Wahrheit nicht aus intellektuellem Unvermögen in die Lüge verwandeln und die Herrlich­ keit Gottes durch das Bild von einem Geschöpf ersetzen, sondern wir tun es, weil unser Herz böse ist: Wir wollen das Geschöpf verehren, wir wol­ len den Menschen anbeten, denn wir wollen selber an Gottes statt sein (1Mo 3,5).

26 Deswegen hat Gott sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften46 Wörtlich »Leidenschaften der Schande«.; denn ihre Frauen47 Wörtlich »ihre Weiblichen«, thēleiai. haben den natürlichen Umgang mit dem unnatürlichen vertauscht,

27 und ebenso haben die Männer48 Wörtlich »die Männlichen«, arsenes. den natürlichen Umgang mit der Frau verlassen und sind in ihrer Gier zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande49 Eigentlich »Schamlosigkeit«, a-schēmosynē. trieben und die gebührende Vergeltung50 antimisthia, wie in 2Kor 6,13.51 ihrer Verirrung an sich selbst empfingen.

»Deswegen hat Gott sie dahingegeben«: Zum zweiten Mal steht dieser Ausdruck da, zum zweiten Mal wird begründet, warum Gott den Men­ schen seinen Leidenschaften übergibt. Der Mensch hat es selbst gewählt, er hat es selbst gewollt. Gott lässt ihn finden, was er sucht. Hat noch jemand die Stirn zu sagen, Gott sei hart, wenn er Menschen in die Hölle fahren lässt?

Gott gibt sie dahin in »Leidenschaften«, παθη, pathē, Passionen. Wir sprechen in der Grammatik vom »Passivum«, von der »Leideform«, und umschreiben damit Geschehnisse oder Ereignisse, die dem Betreffenden angetan werden, Dinge, die er eben »erleidet«. Gott gibt den Menschen, der wissend und aktiv das Böse wählt, dem Bösen dahin, sodass dieses ihn beherrscht. Der Mensch wird zum Getriebenen und Geschobenen. Er wird zum Objekt der eigenen Passionen; er ist nicht mehr Herr sei­ner selbst, sondern wird von den Begierden gegängelt und gejagt. Darum nennt der Apostel sie »Leidenschaften«, und diese sind »schändlich«; sie sind nicht zur Ehre, sondern zur Schande des Menschen. Zum zweiten Mal (nach V. 24) verweist der Apostel auf Gottes gerechte Vergeltung dafür, dass sie sich selbst die Ehre geben wollten, die einem anderen gehört. Sich mit fremder Ehre zu schmücken, ist ein sehr verächtliches Tun. Darum ist es recht, dass derjenige, der es tut, Schändlichkeitenver­ fällt und ganz ehrlos wird.

»ihre Frauen haben den natürlichen Umgang51 chrēsis, wörtlich: »Gebrauch« (so in der UELB). mit dem unnatürlichen vertauscht«: Zum dritten Mal nach V. 23 und V. 25 verwendet Paulus das Verb »vertauschen«. Damit stellt er die Analogie her, die zwi­ schen der geistlichen und der leiblichen Perversion besteht. Es lässt sich folgende Reihe erstellen:

1. Die Menschen haben sich von ihrer geistlichen Bindung an Gott gelöst (V. 21); Mann und Frau haben sich von ihrer natürlichen Bindung aneinander gelöst (V. 26) und schänden sich gegenseitig ihre Leiber in unbotmäßigen Beziehungen.

2. Die Menschen beten das Geschöpf an und nicht den Schöpfer (V. 23), welches die größte Perversion ist, die es gibt: Gleiches verehrt Gleiches. Die Männer und Frauen geben sich der analogen Perversion hin, indem Gleiches sich geschlechtlich mit Gleichem verbindet (V. 26-­27).

3. Die Menschen sind Gott­los geworden, d. h. sie haben Gott ver­ lassen. Die Menschen »verlassen« »den natürlichen Umgang« miteinander (V. 27).

»und ebenso … die Männer«: Es ist kein Unterschied, ob Frauen, ob Männer – alle sind vor Gott gleich sündig, gleich töricht, gleich schuldig. Alle drängt es gleichermaßen, Gott zu verdrängen. Von den Männern heißt es, dass sie den natürlichen Umgang »verlassen«, von den Frauen, dass sie ihn »vertauscht« haben. Das zeigt, dass wir unsere Aufgabe nie verlassen und dabei neutral bleiben können. Wer seine Pflicht verlässt, der verändert immer auch. Wer Gott verlässt, wird zum Götzendiener; wer sein vom Schöpfer gewiesenes Tun aufgibt, bleibt nicht untätig, sondern übergibt sich widergöttlichem Tun. So ver­ fielen die Männer der »Gier«, orexis, zu anderen Männern. Das Haupt­ wort orexis ist im Neuen Testament nicht mehr belegt, das entsprechende Verb oregomai begegnet an drei Stellen: 1Tim 3 1,; 6,10; Hebr 11,16. Es steht für ein Begehren, das gut (1Tim 3,1; Hebr 11,16) oder schlecht (1Tim 6,10) sein kann. Gut ist es, Gutes zu begehren, schlecht ist es, Schlechtes zu begehren.

»Männer mit Männern«: Die Griechen sind für ihre Päderastie52 Griechisch für »Knabenliebe«, von pais (Stamm: paid-), Knabe, und eran, lieben. sprichwörtlich geworden. Dass ihr berühmtester und meistzitierter phi­ losophischer Grundsatz lautet, der Mensch sei das Maß aller Dinge, ist daher nicht zufällig. Gaben sie nicht allein aus dumpfem Trieb, sondern aus Überzeugung und mit System dem Menschen den höchsten Platz in all ihrem philosophischen und sittlichen Urteilen, mussten sie zwangs­ läufig zu Päderasten werden; zu Päderasten zudem, die sich dieses Tuns nicht mehr schämen konnten53 »Die Knabenliebe als homoerotische Verhaltensweise war keineswegs verpönt oder ein Grund, sich zuschämen« (Carola Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München:Verlag C. H. Beck, 1989, S. 163).. Im Gegenteil: Sie brachten das Kunststück fertig, der Homoerotik einen höheren sittlichen und geistigen Wert zu geben als der natürlichen Liebe; und wenn ich sage »sie«, dann meine ich auch den gefeierten Platon, der das ausdrücklich lehrte und auch danach lebte54 Platon lässt in seiner Schrift Das Gastmahl den Philosophen Pausanias folgende Worte sprechen:»Daher denn wenden sich zu dem Männlichen die von diesem Eros Angewehten, indem sie das vonNatur Stärkere und mehr Vernunft in sich Habende lieben« (Platon, Das Gastmahl, 181 c­d)..

»die gebührende Vergeltung«: Da der Mensch die Sünde und alle ihre Formen selbst wählt, ist er »unentschuldbar«, und darum hat er alle Folgen der Sünde verdient. Selbstgewählt treibt er »Schande« und heimst sich damit eigenhändig einen Teil des Lohns vorzeitig ein. Den vollen Lohn bekommt er am Ende des Lebens: »Der Lohn der Sünde ist der Tod« (6,23). So wie der Tagelöhner nach einem Tag Arbeit ein Anrecht hat auf den gerechten Lohn, so hat der Sünder nach seinem Tag seinen Lohn redlich verdient. Es wäre nicht recht, bekäme der Tage­ löhner den versprochenen Lohn nicht; und es wäre nicht recht, bekäme der Sünder den vereinbarten Lohn nicht. Die Menschen hatten nach ihrer eigenen Wahl sich ihrem Schöpfer verweigert und »Schande« getrieben; sie bekommen als Lohn, was sie begehrt und wofür sie gearbeitet haben: »ewige Schande« (Dan 12,2).

28 Und wie sie es verwarfen, Gott in [der] Erkenntnis zu haben, so gab Gott sie dahin in eine verworfene Gesinnung, das Ungebührliche zu tun;

In V. 19 sagte Paulus, dass das von Gott Erkennbare unter den Men­schen offenbar ist; hier fährt er fort und sagt, dass die Menschen »es verwarfen, Gott in [ihrer] Erkenntnis zu haben«. Es fehlte nicht am Ver­mögen, die Erkenntnis Gottes zu erlangen und zu behalten; es fehlte am guten Willen, es zu tun. Sie fanden es für sich persönlich nicht gut; sie wollten es nicht.

Nicht allein das Maß der Entlohnung, sondern auch die Art der Entlohnung ist gerecht. Dem Vergehen entspricht die gerechte Vergeltung. »Wie« sie die Erkenntnis Gottes verwerfen, »so« bekommen sie eine »verworfene Gesinnung«: ein Denken und Urteilen, das ihr eigenes Leben und das Leben anderer zerstört. Mit einem Wortspiel wird diese Entsprechung hervorgehoben: »verwarfen« = ouk edokimasan»eine verworfene Gesinnung« = adokimos nous. Es ließe sich auch wie folgt wiedergeben: »Wie es ihnen nicht taugte … hat Gott sie dahingegeben in einen untauglichen Sinn«; oder: »Wie sie es als unnütz ansahen … hat Gott ihnen einen unnützen Sinn gegeben.« Das ungebührliche Sinnen drängt den Menschen, »das Ungebührliche zu tun« tun, und damit verdirbt er sich selbst. Die Sünde ist, wie Salomo sagt (Spr 14,34), der Leute Verderben (Luther 1912 und 1984) und die Schande der Völker (Elb 2003).

29 erfüllt mit aller Ungerechtigkeit, Bosheit, Habsucht, Schlechtigkeit; voll von Neid, Mord, Streit, List, Tücke; Ohrenbläser,

30 Verleumder, Gotteshasser, Gewalttäter, Hochmütige, Prahler, Erfinder böser Dinge, Eltern Ungehorsame,

31 Unverständige, Treulose, Lieblose, Unbarmherzige;

Wir haben wissend die Wahrheit über Gott unterdrückt. Aus dieser ersten und fundamentalen »Ungerechtigkeit« (V. 18) entstehen alle in diesem Lasterkatalog aufgeführten Formen der Ungerechtigkeit. »erfüllt mit aller Ungerechtigkeit«: Dies ist die Zusammenfassung, die als Überschrift über allen hier aufgelisteten Eigenschaften (ca. 20) steht. Diese sind in vier Gruppen gegliedert. Die erste reicht von »Bosheit« bis »Schlechtigkeit«, die zweite von »Neid« bis »Tücke«, die dritte von »Ohrenbläser« bis »Erfinder böser Dinge«, die vierte von »Ungehorsame« bis »Unbarmherzige«. Wer Gott verlässt, bleibt nicht leer, sondern wird »erfüllt«. »Natura abhorret vacuum – Die Natur verabscheut das Vakuum.« Kein Haus bleibt leer, es wird, wenn Gott es nicht bewohnt, böse Geister anziehen (siehe Mt 12,43­45). »Gotteshasser«, qeostugeij, theostygeis (Singular: theostygēs), kann auch passivisch verstanden werden: »Gottverhasste« (UELB). Das ist biblisch begründbar: In Ps 5,6­7 lesen wir, dass Gott alle hasst, die Frevel tun, und dass er den Mann des Blutes verabscheut: In Ps 11,5 heißt es: »Den Gottlosen und den, der Gewalttat liebt, hasst seine Seele.« Im klassischen Griechisch hat das Wort immer passivische Bedeutung, im nach­ klassischen Griechisch kann es auch aktivisch verstanden werden, weshalb viele es an dieser Stelle entsprechend übersetzen: »Gott Hassende« (Elb 2003), »Gotteshasser« (RELB), »Gottesverächter« (Luther 1912, Luther 1984 und Schlachter 2000). Für diese Übersetzung spricht die Tatsache, dass das Wort in einer Reihe von lauter Dingen und Verhaltens­ weisen steht, die dem Menschen eigen sind – Dinge, die er selber tut.

Paulus reiht in V. 31 vier Adjektive aneinander, die alle durch die Vorsilbe a- verneint sind: »Unverständige«, a-synetos, »Treulose«, a-synthetos, »Lieblose«, a-storgos, »Unbarmherzige«, an-eleēmonos. Man kann sie übersetzen mit »verstandeslos, treulos, herzlos, er ­ barmungslos«.

32 Obwohl sie Gottes Rechtsordnung erkennen, dass die solches tun, des Todes würdig sind, verüben sie es nicht allein, sondern haben auch Wohlgefallen an denen, die es tun.

Die Menschen erkennen nicht nur, dass Gott alles erschaffen hat (V. 19­-20), sondern sie erkennen auch »Gottes Rechtsordnung«, δικαιωμα, dikaiōma (was in Lk 1,6 und Hebr 9,1.10 mit »Satzung« übersetzt wird). Das Wort ist von dikaios, »gerecht«, abgeleitet und zu einem Hauptwort gemacht durch das angehängte ­ma. Wörter mit dieser Endung bezeichnen eine Wirkung oder das Ergebnis eines Wirkens55 Z. B. pneuma von pneō, »hauchen; wehen«, also »das Gehauchte« = Geist.. dikaiōma ist also eine Auswirkung des Gerechten und wird entsprechend in Röm 5,16.18 mit Rechtfertigung übersetzt (besser wäre: Gerecht­ machung; Herbert Jantzen übersetzt dikaiōma in 5,16 mit »Recht­ fertigungsurteil«). Es steht auch für die Auswirkung der Gerechtigkeit, die Gott mit Recht vom Menschen einfordert, also für »die Rechts­ forderung«. So verwendet es Röm 2,26 und 8,4.

Die Menschen wissen, dass Gott gerecht richtet; sie verstehen, dass er als Schöpfer auch Richter ist. Ihre sittliche Erkenntnis ist sogar so groß, dass sie das gerechte Strafmaß für den Schuldigen wissen: Er ist »des Todes würdig«. Darum sind sie doppelt »unentschuldbar« (V. 20), wenn sie es dennoch »verüben«.

Weil die Menschen wissen, dass sie sündigen und unter Gottes Urteil stehen, haben sie dabei »auch Wohlgefallen an denen, die es tun«. Sie fühlen sich entschuldigt und sind erleichtert, wenn sie andere sehen, die handeln wie sie, und loben daher deren Tun.

Nachdem Kapitel 1 uns den ausschweifenden Menschen gezeigt hat, ler­ nen wir in Kapitel 2 den moralischen Menschen kennen. Der weiß auch, was Sünde ist und welche Strafe auf die Sünde folgt. Er entrüstete sich über die Unmoral anderer, hat dabei aber seine geheime Freude an deren Unmoral, denn die gibt ihm das erhebende Gefühl, besser zu sein als diese Unmoralischen. Der Pharisäer von Lk 18,10­12 ist ein Beispiel dafür. Das sind die beiden Grundtypen des sündigen Menschen mit dem je eigenen Grundmuster, nach dem sich ein jedes Kind Adams verhält angesichts der Sünde in der Welt.

Anmerkungen zu Kapitel 1

V. 1 – »Paulus, der sich ausgesondert hatte für das Gesetz, war von Gott ausgesondert worden fürs Evangelium. Schon im ersten Vers begeg­ net uns also eine Andeutung des grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Gesetz und Evangelium, der von einem Gesichtspunkt aus das Thema des Römerbriefes ist« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 40). »Wir sehen, wie hier der Name des Apostels Paulus allein steht; da wird kein Silas, kein Timotheus oder sonst ein Bruder mit ihm genannt. Hier ist Paulus nämlich der Apostel Christi an die Nationen, der Ausleger des Evangeliums für unser Zeitalter. Auch im Epheserbrief, wo er den himm lischen Charakter, die Berufung und die ewige Bestimmung der Gemeinde als des Leibes und der Braut Christi und des Hauses Gottes offenbart, steht Paulus allein. Wo grundlegende Lehren und Anweisungen gegeben werden, wird niemand mit Paulus verbunden in der Autorität, die ihm gegeben war« (William R. Newell, Romans Verse by Verse, S. 1­2). »Paulus rühmt sich der Urheberschaft Gottes in Bezug auf das Apostel­ amt, damit niemand glaube, er habe sich dieses durch persönlichen Ehr­ geiz angeeignet. An dieser Stelle gilt es also zu beachten, dass nicht alle zum Dienst der Verkündigung geeignet sind. Dazu braucht es eine spe­ zielle Berufung … Daraus wird klar, wie lächerlich jene stummen Hunde sind, die sich nur mit der Mitra, Krummstab und entsprechender Verkleidung hervortun und dennoch damit prahlen, Nachfolger der Apostel zu sein« (Johannes Calvin, Der Brief an die Römer, Band 5.1, S. 43, 45). »Paulus, ein Leibeigener Jesu Christi … Das ist ein Wunder, wenn ein Mensch im Glauben so von sich sagen kann: »Ich bin ein Leibeigener Jesu!« Denn ein Leibeigener hat es nicht in der Hand, wem er gehört. Wir wollen uns einen Sklavenmarkt vorstellen … Da steht so ein armer Sklave. … Nun geht da ein freundlicher Herr über den Markt. Der arme Sklave hat es nicht in der Hand, dass der Blick dieses Mannes auf ihn fällt. Aber er erschrickt … [vor] Glück, als es geschieht. Wir hatten es nicht in der Hand, dass der Blick des Herrn Jesu auf uns fiel. Aber als es geschah, da verstanden wir das dunkle Wort aus Epheser 1: ›Er hat uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt ward …‹« (Wilhelm Busch, Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Tägliche Andachten, 13. Oktober). V. 3 – »Von seinem Sohn … Eine höchst wichtige Stelle, durch die wir belehrt werden, dass das ganze Evangelium in Christus besteht, sodass jeder, der auch nur einen Fuß von Christus weicht, sich vom Evangelium entfernt« (J. Calvin, a. a. O., Band 5.1, S. 45). »Worin besteht denn dieses Evangelium? Es ist ›über seinen Sohn‹ (den Sohn Gottes), ›Jesus Christus, unseren Herrn‹. Die Person Christi ist das große Thema des Evangeliums; es verkündigt ihn« (J. N. Darby, On the Epistle to the Romans, S. 314).

V. 4 – »Wenn das Evangelium in seiner Ganzheit um ein einziges Zen­trum kreist, um den Sohn Gottes, dann kann Paulus schließlich alles in dessen Namen zusammenfassen: ›Jesus Christus, unser Herr‹. Dass Jesus der Christus, der verheißene Messias, ist und dass Gott seit der Auf­ erstehung ihn als Sohn Gottes in Kraft eingesetzt und ihm den Namen gegeben hat, der über jeden Namen ist, nämlich den Namen Herr – darin ist das ganze Evangelium eingeschlossen … Denn der Name, der Jesus Christus zugeschrieben wird, ist nichts weniger als der alttestament liche Gottesname HERR (Adonaj = JHWH), den die Septuaginta stets mit Kyrios wiedergibt« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 46). V. 7 – »Man darf in diesem Segenswunsch nicht einen kraftlosen Wunsch sehen; vielmehr handelt es sich um die Mitteilung einer geistlichen Wirk­ lichkeit. In diesem Eingangswunsch begegnet uns in verdichteter Form der ganze Inhalt des Evangeliums, den der Brief im Nachfolgenden dar­ legen wird« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 66). V. 11 – »damit ihr gefestigt werdet«, eis to stērichthēnai hymās, passiv, nicht »um euch zu befestigen« (UELB), denn das müsste heißen stērixai hymas, aktiv (wie in 16,25). Das hymās ist in 1,11 das Subjekt des In finitivsatzes (ein A. c. I. = Accusativus cum Infinitivo)« (Wort erklärung des Autors).

V. 16 – »Ein so hartnäckiges Wesen zu bekehren und ein so sündiges Geschöpf zu heiligen und die Toten aufzuwecken, das sind keine Klei­ nigkeiten« (Thomas Manton, Sermons on Psalm CXIX, Bd. 2, S. 253). V. 17 – »Die errettende Kraft ist in der Verkündigung Jesu deshalb ent­ halten, weil durch sie Gottes Gerechtigkeit ans Licht tritt und wirk­ sam wird. Das mag zunächst befremden; es steht auch in der Tat hier das größte Wunder Gottes vor unseren Augen. Dass Gott gerecht ist, erschreckt zunächst … und doch muss sich jeder sofort sagen: Wie sollte sich denn Gott offenbaren ohne seine Gerechtigkeit? Wie könnten wir je die Kraft und Hilfe Gottes empfangen, ohne dass damit zugleich aufs Hellste sichtbar würde, wie gerecht Gott ist? Wir können auf keine un gerechte Hilfe von ihm hoffen. Wir begehren Gnade, aber Gottes Gnade, und Gottes Gnade ist zugleich Gerechtigkeit … Und eben dies ist die Offenbarung, die Vollendung der Gnade, dass uns Gott nicht durch Gesetz und Gericht, sondern in Christus durch das Evangelium seine Gerechtigkeit erweist. Denn dadurch macht Gott seine Gerechtigkeit so wirksam, dass sie uns nicht zerstört, sondern errettet, uns nicht dem Tod überantwortet, sondern ins Leben versetzt … Nichts als eine Tat der gött­ lichen Gerechtigkeit kann uns in die Gerechtigkeit versetzen« (A. Schlat­ ter, Der Brief an die Römer, S. 14­15). V. 18 – »Das Evangelium wäre nichts, wenn die Menschen nicht schuldig wären und die Rettung nötig hätten … Das Evangelium allein enthüllt das Mittel zum Heil, denn überall sonst gibt es keine andere Offenbarung als die des Zornes. Der 18. Vers, der von Zorn spricht, gibt den beiden vorhergehenden Versen über Gnade ihr rechtes Gewicht. Der Größe der Sünde entspricht die Größe des Heils. Nur wer weiß, was es heißt, ver­ loren zu sein, weiß auch, was es heißt, errettet zu werden« (J. M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 22).

Kapitel 2 [70]

In 1,18­32 hatten wir gesehen, wie die Heiden die Wahrheit über Gott unterdrückten und der Torheit des Götzendienstes verfielen, worauf Gott sie dahingab, sodass sie allen Arten von Lastern erlagen. Es fragt sich, ob das auf alle Menschen zutreffe, ob es denn keine Menschen gebe, die nicht in diesen Lastern leben. Die Juden hielten sich für solche Leute; darum muss der Apostel nun zeigen, dass die Juden keine Ausnahme bilden und dass darum auch sie die Wahrheit unterdrückten und deshalb dem Gericht nicht entrinnen werden. Um das zu belegen, erörtert Paulus in V. 1­16 zunächst die Grundsätze, nach denen Gott alle Menschen rich­ , den Juden genauso wie den Heiden; dann wendet er sich in V. 17­24 direkt an den Juden und zeigt, wie diese auch für ihn gelten. In V. 25­29 erklärt er schließlich, was den wahren Juden ausmacht, indem er zeigt, dass es nicht hilft, im Fleisch, also nur äußerlich, beschnitten zu sein, solange das Herz, also das Innere, voll Sünde ist. Gott wird am Tag des Gerichts das Verborgene der Menschen richten (V. 16). So verstehen wir, dass Gott die Juden nicht von seinem Zorn ausnehmen wird. In Kapitel 1 hatte der Apostel gezeigt, dass Gottes Zorn sich offenbart über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen. Er sagte nicht »der Heiden«; denn Gottes Zorn steht auch über der Ungerechtigkeit der Juden. Dieser Tatsache müssen auch diese überführt werden, wenn sie zum Glauben an das Evangelium kommen sollen, das die alleinige Kraft Gottes zum Heil ist – wie für den Heiden, so auch für den Juden (1,16). Der Apostel nennt aber die Juden nicht sogleich, sondern beginnt das Kapitel mit den Worten: »Deshalb bist du unentschuldbar, Mensch, jeder, der da urteilt …« Er fährt also damit fort, seine Aussage von 1,18 zu belegen: Gottes Zorn offenbart sich über alle Gottlosigkeit der Menschen, also auch der Juden.

Die Juden irrten bezüglich der Gerechtigkeit und des Gerichtes Gottes in dreifacher Weise: Sie meinten, sie seien vor Gottes Zorn sicher, weil sie Nachkommen Abrahams waren (siehe Mt 3,7­9), weil sie das Gesetz hatten und weil sie beschnitten waren. Der Reihe nach zeigt Paulus darum in diesem Kapitel:

1. V. 1­-16: Gott wird alle Menschen und damit auch die Juden rich­ ten nach der Wahrheit (V. 2), d. h. nach deren Werken, nicht nach deren Wissen. Er richtet alle Menschen nach ihren Taten ohne Ansehen der Person (V. 6­11). Das wusste der Jude aus der Bibel: »Du vergiltst einem jeden nach seinem Werk« (Ps 62,13). Richtet Gott also die Heiden, muss er auch die Juden richten. Dennoch lebten die Juden in der Illusion, Gott werde sie nicht so streng richten wie die Heiden, da sie sich doch zum allein wahren Gott bekannten. Das müsse Gott doch anerkennen und entsprechend belohnen. Um den Juden diese Illusion zu nehmen, hebt der Apostel in diesem Kapitel mit so großem Nachdruck hervor, dass Gott den Menschen nicht richtet nach dessen Wissen oder nach dessen Bekenntnis, sondern allein nach dessen Taten. Man beachte, wie häufig in den Versen 1.2.3.6.7.9.10.13.14 die Wörter »tun«, »wirken«, »verüben«, »vollbringen«, »Werke« und »Täter« vor kommen.

2. V. 17­-24: Gott wird die Juden richten, weil sie das Gesetz nicht hielten. Es war ein großer Irrtum zu meinen, es genüge, das Gesetz zu besitzen und damit Gott zu kennen (V. 17­20). Damit, dass die Juden sich gegenüber den Heiden ihres überlegenen Wissens und des allein wahren Gottes rühmten, während sie ­ ber alles taten, was sie verurteilten (V. 21­23), gaben sie den Heiden Anlass, den Namen Gottes zu lästern (V. 24).

3. V. 25­-29: Gott wird die Juden trotz Beschneidung richten, weil er die Menschen nicht nach dem Äußeren, sondern nach dem Herzen beurteilt, sei er beschnitten oder nicht.

1. Gott richtet nach der Wahrheit und ohne Ansehen der Person (2,1­-16) [71]

Paulus zeigt in diesem Abschnitt, dass Gott den Menschen nach folgen­ den Grundsätzen beurteilt und richtet:

1. Wer die Sünde der anderen sieht und verurteilt, verurteilt damit sich selbst (V. 1).

2. Gott wird eine jede Person und eine jede Sache nach der Wahr­ heit richten (V. 2).

3. Es ist eine Illusion zu denken, man werde dem Gericht ent rinnen, bloß weil man die Sünde der anderen erkennt und verurteilt (V. 3).

4. Gottes Güte, die der Jude in besonderer Weise erfahren hat, ist kein Versprechen, er werde dem Gericht entrinnen, sondern sie soll ihn umso mehr zur Buße führen (V. 4).

5. Wenn der Jude trotz erfahrener Güte nicht Buße tut, kommt er unter ein umso schwereres Gericht (V. 5).

6. Gott richtet nicht aufgrund des Bekenntnisses eines Menschen, sondern nach dessen Werken, sei er Jude oder Heide (V. 6­10). 7. Bei Gott ist kein Ansehen der Person (V. 11). 8. Gott richtet den Menschen gemäß dem Licht, das er hatte (V. 12­15).

9. Gott wird am Tag des Gerichts nicht das Äußere, sondern das Verborgene des Menschen richten (V. 16).

1 Deshalb bist du unentschuldbar, Mensch, jeder, der da urteilt; denn worin du [über] den anderen urteilst, verurteilst56 du dich selbst; denn du, der du richtest, tust dasselbe. 2 Wir wissen aber, dass Gottes Richtspruch57 nach der Wahrheit ist über die, welche solches tun.

Das einleitende »Deshalb« bezieht sich auf Gesamtaussage von 1,18­32. Die Heiden unterdrückten die Wahrheit, die Gott ihnen offenbart hatte, und pervertierten sie. Weil nun du, »Mensch«, das auch tust, bist auch du »unentschuldbar«, anapologetos (das gleiche Wort wie in 1,20). Jeder Mensch, der Gottes Urteil über die Sünde kennt, aber trotzdem sündigt, ist schuldig – einerlei, ob er sich über die Sünden anderer freut (1,32) oder sie verurteilt. Der Jude hatte größere Erkenntnis von Gott; er hatte die lebendigen Aussprüche Gottes empfangen. Wie der Heide unterdrückte auch er die Wahrheit, die Gott ihm offenbart hatte. Er leug­ nete sie zwar nicht, aber er machte sie unwirksam, indem er sie nicht auf sich selbst anwandte, sondern auf den Nächsten. Gott aber hatte ihm 56 Paulus verwendet hier zuerst das einfache Verb krinein, richten, dann das zusammengesetzte Verb kata-krinein, verurteilen57 krima (wie in 2,3; 3,8; 5,16; 11,33; 13,2).. krima (wie in 2,3; 3,8; 5,16; 11,33; 13,2). die Wahrheit im Gesetz und in den Propheten offenbart, damit er diese auf sich selbst anwende. »Deshalb«, weil er sie in dieser Weise miss­ brauchte, war er ebenso »unentschuldbar« (1,20) wie der Heide. Und indem er die Sünden anderer verurteilte, verurteilte er sich selbst, denn er tat »dasselbe«.

Dass das Gericht über den Nächsten nicht des Menschen, sondern Gottes ist, hatte bereits das Gesetz gelehrt (5Mo 32,35); dass der Mensch nicht den anderen, sondern sich selbst richten soll, bestätigte der Sohn Gottes (Mt 7,1­5), und Paulus lehrt es die Christen (Röm 12,19). 1. Wenn der Mensch richtet, verdammt er sich selbst. 2. Wenn Gott richtet, verherrlicht er sich selbst (Röm 3,5­6). In 1,32 hatten wir gelesen, dass die Heiden Gottes gerechtes Urteil über alle Laster kannten, diesen aber nicht nur frönten, sondern auch Freude daran hatten, wenn andere es auch taten. Die Juden wussten noch genauer, auf welche Sünde welche Strafe folgt, und sie rümpften zwar die Nase über das Treiben der Heiden, hatten aber ebenfalls ihre geheime Freude daran; denn das gab ihnen das erhebende Gefühlt, besser zu sein als diese.

So übel gebrauchten sie die Aussprüche Gottes, die ihnen einen gro­ ßen Vorteil gaben vor allen Nationen (siehe Kap. 3,1­2). Ihre über legene Erkenntnis der Wahrheit verwendeten sie als Waffe, um den anderen zu erniedrigen und sich zu erhöhen (vgl. Lk 18,11). Wie kam der Jude dazu, so verkehrt zu richten? Er irrte in zwei Richtungen: Er nahm ers­ tens Gottes Heiligkeit nicht ernst, obwohl er als Jude von ihr wusste, und er nahm zweitens seine eigene Verkehrtheit nicht ernst, obwohl er sie aus dem Alten Testament hätte kennen müssen. Er hatte eine oberflächliche Erkenntnis von Gottes Wesen, und er hatte eine oberflächliche Erkennt­ nis vom Wesen der eigenen Sünde. Er regte sich über die groben For­ men der Unsittlichkeit anderer auf, weil er nicht die Verdorbenheit sei­ ner eigenen Natur sehen wollte. Gott aber bewertet den Menschen nicht nach dem Äußeren, sondern nach dem Herzen (1Sam 16,7). Er verurteilt nicht erst den offenen Ehebruch, sondern bereits das geheime Begehren (2Mo 20,17; Mt 5,27­28). Am Tag des Gerichts wird er »das Verborgene der Menschen richten« (2,16).

»Wir wissen aber,58 dass Gottes Richtspruch nach der Wahrheit ist …«: Es war dem Juden selbstverständlich, dass Gott entsprechend seinem heiligen Wesen und nach dem wahren Sachverhalt sein Urteil spricht, d. h. entsprechend der Schuld, die Menschen auf sich laden, wenn sie »solches tun«. Nur meinte er, das gelte nicht für ihn. Gott aber nimmt keine Rücksicht auf Geburt, Geschlecht, Alter oder religiöses Bekennt­ nis; er richtet nach der Wahrheit. Sündigt der Jude, wird Gott ihn genauso verurteilen wie jeden anderen Menschen, der gesündigt hat. Er richtet ohne Unterschied alle, »welche solches tun«. Paulus greift damit den Ausdruck auf, den er in 1,32 verwendet hat, und zeigt damit, dass diese Wahrheit für alle gilt, Heiden wie Juden59 Auch Christen können dem irrigen Denken verfallen, Gott werde sie nicht gleich richten wie dieanderen, da sie doch getauft seien und bekennen würden, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Petrusschreibt an Christen: »Das Gericht muss anfangen am Haus Gottes« (1Petr 4,17).. Gott hatte Israel angekündigt, dass er sein Volk richten werde (5Mo 32,36).

3 Denkst du aber dies, o Mensch, der du [über] die urteilst, die solches verüben, und tust dasselbe, dass du dem Urteil60 Gottes entrinnen werdest?

4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Gütigkeit und Geduld und Langmut und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet?61

5 Nach deinem Starrsinn62 und deinem unbußfertigen Herzen aber häufst du dir selbst Zorn auf auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes, »Denkst du«: logizē, eigentlich: »Rechnest du …?«63 Es ist eine fal­ sche Rechnung, die der Selbstgerechte macht, wenn er meint, er werde »dem Urteil Gottes entrinnen«, bloß weil er Sünde beim Namen nen­ nen und sie anderen vorhalten kann. Das dachten die Selbstgerechten in den Tagen Johannes’ des Täufers auch; sie rechneten sich aus, sie würden 58 Die Wortfolge »wir wissen aber« kommt auch in 3,19 und 8,28 vor (auch in 1Tim 1,8; 1Jo 3,2 [vgl. Schlachter 2000]; 5,20).59 Auch Christen können dem irrigen Denken verfallen, Gott werde sie nicht gleich richten wie die anderen, da sie doch getauft seien und bekennen würden, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Petrus schreibt an Christen: »Das Gericht muss anfangen am Haus Gottes« (1Petr 4,17).60 Oder »Richtspruch«.61 Die beiden Verse Röm 2,4­5 hat J. S. Bach in der Kantate BWV 102 zum Arioso »Verachtest du den Reichtum seiner Gnade?« verarbeitet62 sklērotēs, eigentlich Härte, nur hier belegt; das Adjektiv sklēros, hart, steht in Mt 25,24; Joh 6,60;Apg 26,14; Jak 3,4; Jud 15; das Verb sklērynō, hart machen, in Apg 19,9; Röm 9,18; Hebr 3,8.13.15;4,7. Schließlich findet sich in Apg 7,51 das Adjektiv sklērotrachelos, jemand, der einen harten Nacken. sklērotēs, eigentlich Härte, nur hier belegt; das Adjektiv sklēros, hart, steht in Mt 25,24; Joh 6,60; Apg 26,14; Jak 3,4; Jud 15; das Verb sklērynō, hart machen, in Apg 19,9; Röm 9,18; Hebr 3,8.13.15; 4,7. Schließlich findet sich in Apg 7,51 das Adjektiv sklērotrachelos, jemand, der einen harten Nacken hat63 Das gleiche Verb verwendet Paulus in 4,3.4.5.6.8.9.10.11.22.23.24 für »zurechnen«.. Das gleiche Verb verwendet Paulus in 4,3.4.5.6.8.9.10.11.22.23.24 für »zurechnen«. »dem kommenden Zorn entrinnen«64 (Mt 3,7), weil sie auf dem Stuhl des Mose saßen und das Volk lehrten, was es tun und was es meiden müsse (Mt 23,2­4).

Die Juden hatten in einmaliger Weise Gottes Gütigkeit, sogar »den Reichtum seiner Gütigkeit«, crhstothj, chrēstotēs, an sich erfahren. Aus allen Völkern hatte er nur Israel erwählt, und das nicht, weil sie würdiger waren als andere Nationen (5Mo 7,7), sondern weil er ihnen gnädig war. Gott erweist allen Menschen seine Güte; er lässt die Sonne auf gehen und er lässt regnen über alle Menschen, auch über die Bösen und Un ­ gerechten (Mt 5,45). Doch niemand hatte größere Beweise der Güte Got­ tes erfahren als die Juden. Ihnen hatte Gott sein Gesetz gegeben, was er keiner anderen Nation getan hat (Ps 147,19­20). Damit hatten sie eine vollkommene Offenbarung Gottes und damit Erkenntnis seines Willens. Was für ein Vorrecht! Und er hatte schier unendliche »Geduld« mit ihren Sünden. So hätten die Juden alle Ursache gehabt, Gott dafür zu danken, dass sie noch lebten und er sie noch nicht vom Erdboden vertilgt hatte. Und sie hätten alle Ursache gehabt, im Licht der Güte Gottes sich ihrer Untreue zu schämen und Buße zu tun, aber sie missbrauchten Gottes Güte, indem sie aus ihr genau das Gegenteil folgerten: Gott werde sie nicht stra­ fen, er sei ja gütig. Hatte er seine »Langmut« nicht über die Jahrhunderte bewiesen? Ähnlich reden auch viele, die sich Christen nennen. Gott werde niemanden verdammen; er sei ja gütig; er sei Liebe. Mit dem Wesen Got­ tes sei jede Vorstellung von Zorn, Strafe und Ver dammnis unvereinbar. Wenn man schon sagt, Gott sei gütig, dann müsste man sich auch fra­ gen, was das denn bedeutet bezüglich des Menschen. Warum ist es so, dass einzig Gottes Güte erklären kann, warum wir noch am Leben sind und Gottes Wohltaten genießen? Weil wir alle in Sündenschuld verstrickt sind, kann einzig Gottes Güte uns schonen. Also predigt seine Güte laut von unserer Sünde und unserer Schuld.

»verachtest du«, katafronein, kataphronein, heißt wörtlich »herab­ denken«, also gering, niedrig von einer Sache oder von jemandem den­ ken.

Gott will durch seine »Güte« die Menschen zur Umkehr be wegen, denn er ist gut. Wehe uns, wenn wir in unserem »Starrsinn« ver harren und uns von Gottes Güte nicht bewegen lassen. Das ist schlimmer als 64 Das Verb fliehen, pheugein, steht hier im Aoriststamm, phygein, und das bedeutet an dieser Stelle erfolgreich fliehen, d. h. »davonkommen, entrinnen«. jedes Laster; denn damit, dass wir seine Güte verachten, verachten wir Gott selbst. Welche Ungeheuerlichkeit! Und mit ihr häufen wir uns selbst »Zorn« auf. Das Verb »aufhäufen«, thesaurizō65, bedeutet wörtlich »einen Schatz – thēsauros66 – anlegen«. Für jede Sünde, die wir begehen, bekommen wir den vereinbarten Lohn (siehe 6,23). Mit jedem Tag, den wir in der Sünde verharren, vergrößern wir unseren Schatz. Gott hat uns mit den Reichtümern seiner Güte zur Buße leiten wollen; wir aber haben diesen unermesslichen Schatz verachtet und uns einen anderen angelegt: ein Konto von beständig wachsender Schuld. Entsprechend unserem gesammelten Vermögen wird uns Gott am »Tag des Zorns«67 im vollen Umfang vergelten. Dem Heiden bedeutet der Tag des Zorns nichts; er hat nie von ihm gehört. Dem Juden hingegen ist er aus dem Alten Testament wohlbekannt. Dieser Tag wird für ihn ein Tag des Schreckens sein, wenn er in seiner Sünde verharrt und weiterhin die Sünden anderer verurteilt und Gottes Güte verachtet; denn es wird ein Tag »der Offenbarung« sein, ein Tag, an dem alle verborgenen Sünden aufgedeckt werden. Und es wird ein Tag »des gerechten Gerichts Gottes« sein: Gott wird den Unbußfertigen greifen und ihm vor seinem großen Thron das ganze auf­ gehäufte Sündenmaß vor Augen stellen, das Urteil über ihn sprechen und ihn der ewigen Strafe übergeben (Offb 20,11­15). 6 der einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: 7 denen, die mit Ausharren in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; 8 denen aber, die streitsüchtig68 und der Wahrheit ungehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. 65 Wie in Mt 6,19; 1Kor 16,2; Jak 5,3.66 Wie in Mt 6,19­20; 13,44.67 Warum sagt Paulus, dass der Unbußfertige sich Zorn aufhäuft en hēmera, »am Tag« des Zorns? Häuft er sich nicht den Zorn während seines Lebens in der Sünde auf auf den Tag des Zorns? Bengel erklärt das Wörtchen »am« wie folgt: »[Der Tag] ist in Gottes Augen schon vorhanden, während du auf ihn sammelst.« Die einfachere Erklärung ist die, dass das griechische en hēmera gleichbedeutend ist mit eis hēmeran, »auf den Tag«. In der Koine, der Sprache der hellenistischen Zeit (ab ca. 300 v. Chr.), in der auch das Neue Testament geschrieben wurde, ist die Regel, nach der im klassischen Griechisch en mit Dativ »an dem« und eis mit Akkusativ »in/auf den« bedeutet, ganz aufgeweicht. So können wir etwa in Joh 1,18 lesen, der eingeborene Sohn sei eis tēn kolpon = »im Schoß« des Vaters. Gemeint ist keineswegs »in den Schoß des Vaters [hinein]«. Im klassischen Griechisch hingegen müsste hier stehen en kolpō. Weitere solche Beispiele finden sich etwa in Mt 2,23; Mt 10,41.42; Lk 9,61; Joh 21,4; Apg 7,12; Röm 16,5. (Bei der fortlaufenden Lektüre des griechischen Neuen Testaments habe ich mir vor Jahren schon über 40 Belegstellen für diese freie Rektion von en und eis notiert.) A. d. H.: Rektion ist im konkreten Fall die Eigenschaft einer Präposition, den Fall eines abhängigen Wortes im Satz zu bestimmen68 ek eritheias, wörtlich »aus [der] Streitsucht«.. ek eritheias, wörtlich »aus [der] Streitsucht«. In V. 7 spricht Paulus von den guten, in V. 8 von den bösen Werken. Gott richtet den Menschen »nach seinen Werken« (siehe Ps 62,13; Spr 24,12; Jes 3 11,; 40,10; Jer 17,10; Gal 6,7; Offb 20,12­13). Keiner wird beurteilt nach dem überlegenen Wissen, das er vom Guten hatte, auch nicht danach, wie geschickt er sein Wissen anwenden konnte, um andere zu richten. Gott wird jeden danach richten, ob er selbst das Gute getan hat, das er von den anderen forderte, und ob er das Böse gemieden hat, das er an seinem Nächsten verurteilte.

In diesen Versen will der Apostel nicht lehren, wie man ewiges Leben empfängt, also sagen, dass jemand aufgrund der guten Werke gerecht fertigt wird; in 3,20 erklärt er kategorisch, dass »aus Gesetzeswerken … kein Fleisch vor ihm [Gott] gerechtfertigt« wird. Und dass niemand das ewige Leben bekommt als Lohn für sein »Ausharren in gutem Werk«, sagt er ausdrücklich in 6,23: Es ist eine »Gnadengabe Gottes«. In 10,5 formuliert er noch einmal das Prinzip der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist, um daraufhin zu zeigen, dass der Mensch allein durch die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben ist, gerettet werden kann (10,6­13). Paulus will hier lediglich zeigen, dass Gott den Menschen nach seinem Tun richtet, nicht nach seinem Wissen. Doch das Prinzip ist selbstverständlich wahr: Täte jemand nur Gutes und harrte darin aus, würde Gott ihm dafür das ewige Leben geben (siehe 10,5 bzw. 3Mo 18,5; Gal 3,21); denn Gott ist ein gerechter Vergelter wie der bösen, so auch der guten Werke. Das gilt für alle Menschen (siehe dazu Spr 21,21; Jes 3,10; Joh 5,29; 2Kor 5,10; Gal 6,8­9; Offb 22,12). Es gibt aber unter der Sonne keinen Menschen, der gerecht ist und der nicht sündigt. Alle haben gesündigt, und damit ist alles schon verloren. Keiner kann durch sein Bemühen, Gutes zu tun, die Herrlichkeit Gottes erreichen (3,23). »ewiges Leben«, zwh aiwnioj, zōē aiōnios, der erste von vier Be ­ legen im Römerbrief (noch in 5,21; 6,22.23). Wie auf die Sünde der Tod, so folgt auf die Gerechtigkeit das Leben: »Wie die Gerechtigkeit zum Leben, so gereicht es dem, der Bösem nachjagt, zu seinem Tod« (Spr 11,19).

»denen …, die streitsüchtig … sind«, ex eriqeiaj, ex eritheias, wörtlich »aus Streit«, d. h. von Streit bestimmt. Streitsüchtig ist, wer gegen die Wahrheit streitet, statt sich ihr zu unterwerfen. Wer die Wahr­ heit auf andere anwendet statt auf sich selbst (2,1), widersetzt sich der Wahrheit. Niemand kann vor Gott und vor Gottes Wahrheit neutral blei­ ben. Wer sich ihr nicht unterwirft und sich nicht selbst verurteilt, streitet wider sie.

Wer »der Wahrheit ungehorsam« ist, ist »der Ungerechtigkeit … gehorsam«; denn der Mensch hat mit dem Sündenfall nicht seine Fähigkeiten verloren. Er kann gehorchen; aber da er ein böses Herz hat, gehorcht er statt der Wahrheit der Lüge. Auch hier gilt: Kein Mensch kann neutral bleiben; denn kein Mensch ist autonom. Gehorchen wir nicht Gott und seiner Gerechtigkeit, gehorchen wir notwendig der Sünde. Sind wir nicht Sklaven der Gerechtigkeit, müssen wir Sklaven der Un ­ gerechtigkeit sein (Röm 6,17­18); dann aber ist unser Ende »Zorn und Grimm«.

9 Drangsal und Angst über die Seele jedes Menschen, der das Böse vollbringt, des Juden zuerst wie auch des Griechen; 10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, dem Juden zuerst wie auch dem Griechen; 11 denn es ist kein Ansehen der Person bei Gott. Paulus hatte in den Versen 1­8 den Juden noch nicht namentlich genannt; denn er wollte zunächst darlegen, nach welchen Prinzipien Gott das Tun des Menschen richtet, weshalb er einleitend sagt: »Deshalb bist du un ­ entschuldbar, Mensch.« Er hatte aber von Anfang an den Juden im Auge, aber erst in V. 9 nennt er ihn ausdrücklich. Gottes »Zorn und Grimm« bringen »Drangsal und Angst« über jeden Menschen, »der das Böse vollbringt«. Böses tut nicht nur, wer in Ausschweifung lebt, sondern auch, wer die Sünden anderer sieht und sie verurteilt, statt sich selbst zu verurteilen (V. 1). Böses tut, wer die Güte Gottes erfahren hat, aber nicht umkehrt (V. 4). Über jeden, der derartiges oder anderes Böses tut, bringt Gott »Drangsal und Angst«, und zwar über die Seele jedes Menschen, sowohl »des Juden zuerst wie auch des Griechen«. So wie Gott durch das Evangelium jeden rettet, der glaubt (1,16), den Juden wie den Grie­ chen, so richtet Gott ohne Unterschied beide, wenn sie in ihrer Sünde ver­ harren. Die Griechen können sich nicht auf ihre Unwissenheit be rufen, so wenig es den Juden nützt, auf ihr überlegenes Wissen zu pochen. Über beide kommt das gleiche Gericht für alles Böse, was sie tun. Der Jude zuerst und dann der Grieche, das kann zweierlei bedeuten: Gott wird im Gericht beim Juden anfangen und dann alle Nationen rich­ ten, oder: Gott wird die Juden vor allem, in besonderer Weise, nämlich schwerer richten gemäß Lk 12,47­48.

Wer »das Gute wirkt«, dem wird Gott »Herrlichkeit … und Ehre und Frieden« geben. Das gerechte Prinzip gilt: Täte einer Gutes, würde er all das hier genannte Gute empfangen, sei er Jude oder Grieche, »denn es ist kein Ansehen der Person bei Gott«. Dass Gott nicht partei­ isch ist, wird im Alten Testament so deutlich bezeugt (z. B. 5Mo 10,17; 2Chr 19,7; Hi 34,19), dass kein Jude es infrage stellen konnte. »Ansehen der Person«, prosōpolēmpsia, wörtlich: »Gesicht­Anneh­ merei«, von prosōpon, »Gesicht«, und lambanō, »annehmen«. Außer hier kommt das Wort noch vor in Eph 6,9; Kol 3,25 und Jak 2,1. Das Haupt­ wort »Anseher der Person«, prosōpolēmptēs, findet sich in Apg 10,34; das Verb »die Person ansehen«69, prosōpolēmpteō70, in Jak 2,9. Gott rich­tet einen jeden Menschen nach seinen Werken, sei er Jude oder Heide oder Christ; Gott rettet keinen Menschen, weil er Jude oder Heide ist. »Wenn man Metall prüft, um festzustellen, ob es Gold sei, fragt man nicht, woher das Metall kommt oder wem es gehört, sondern einzig nach seiner Beschaffenheit.«71

12 Denn so viele ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen; und so viele unter Gesetz72 gesündigt haben, werden durch Gesetz gerichtet werden, Hier führt Paulus weiter aus, was er in V. 11 gesagt hatte. Dass Gott kein Ansehen der Person kennt, zeigt er damit, dass er alle, die ge sündigt haben, richten wird. Weder wird jemand deshalb geschont, weil er das Gesetz hat, noch geht jemand deshalb verloren, weil er kein Gesetz hat. Der Jude ist also nicht besser dran, noch der Heide schlechter. Beide wer­ 69 Das Wort setzt sich zusammen aus prosōpon, »Gesicht«, und lēmpteō (von lambanō), »annehmen«.70 Mehrheitstext: prosōpolēpteō.71 James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 31. Wir dürfen aus dem Satz, bei Gott gebe es kein Ansehen der Person, nicht mehr machen, als er besagen will. Im vorliegenden Zusammenhang will er sagen, dass die Juden, die das Gesetz haben, dem Gericht genauso wenig entkommen werden wie die Heiden, die das Gesetz nicht haben. Keineswegs will er sagen, Gott mache nie einen Unterschied zwischen Mensch und Mensch. Denn dass er es tut, demonstriert die ganze Geschichte Israels. Gott hat Abraham und seine Nachfahren nicht gleich behandelt wie alle übrigen Menschen. Er hat Israel erwählt; er hat Ägypten nicht erwählt. Er hat Israel Verheißungen gegeben; er hat keiner anderen Nation solche Verheißungen gegeben (Ps 147,20). Durch Amos sagte Gott seinem Volk: »Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt; darum werde ich alle eure Missetaten an euch heimsuchen« (Am 3,2).72 Wörtlich »im Gesetz«, en nomō, d. h. innerhalb des Gesetzes. den gerichtet, weil »[sie] gesündigt haben«.73 Ob man unter Gesetz oder ohne Gesetz ist, ändert nichts daran; denn Gott richtet, wie V. 2 sagt, »nach der Wahrheit«, und er kennt »kein Ansehen der Person«, wie V. 11 sagt.

Heißt das nun, dass er gar keinen Unterschied macht zwischen denen, die das Gesetz haben, und jenen, die ohne Gesetz sind? Nein, das heißt es nicht, nur fällt der Unterschied für den Juden nicht zu seinem Vorteil aus. Gott wird ihn härter strafen als den Heiden, der kein Gesetz hat. Und die Heiden? Können die denn dem Gericht verfallen, wo sie den wahren Gott nicht kennen und seinen Willen doch nicht wissen? Ja, die Heiden sind »unentschuldbar«. Auch wer »ohne Gesetz74 gesündigt« hat, ist schul­ dig, verschließt er sich doch dem Licht, das ihm Gott in der Schöpfung und im Gewissen gegeben hat, und sündigt damit gegen Gott. Der Heide ist in Sünden geboren; er ist ein Mensch, wie auch die Juden Menschen sind, ein Kind Adams, der wie unser aller Vater die Nähe Gottes flieht (siehe 1Mo 3 8,; 17,12; 18,9; 1Kor 1 18,; 15,18; 2Kor 2 15,; 4,3; 2Thes 2,10; 2Petr 3,9 verwendet wird).

In diesem Vers steht das Verb »sündigen«, amartanw, hamartanō, zum ersten Mal im Römerbrief (danach noch in 3,23; 5,12.14.16; 6,15). Es wird damit das Prinzip genannt: Der Mensch wird gerichtet, weil er gesündigt hat, ob er unter dem Gesetz gewesen ist (wie der Jude) oder ohne Gesetz gelebt hat (wie der Heide). In 3,9 hören wir, dass Juden wie Heiden, »alle unter der Sünde« sind, und in 3,23 erfahren wir: »Alle haben gesündigt.« Damit sind alle dem Gericht Gottes verfallen. Wer wie der Jude »unter Gesetz« ist und den Willen des Herrn kennt (siehe V. 18), aber nicht danach tut, wird viele Schläge bekommen; der Heide, der diesen ausdrücklichen Willen nicht kennt, aber tut, was Schläge verdient, wird seine Schläge bekommen, aber nicht so viele wie der Jude (Lk 12,47­48; siehe auch Mt 11,20­24). Wann wird Gott Hei­ den und Juden richten? Paulus beantwortet die Frage erst in V. 16: »… an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird.« 73 »Gesündigt haben« lautet in diesem Vers beide Male hēmarton, Aorist. Es werden damit alle Sünden, die man im Lauf eines Lebens begangen hat, zusammengefasst zu einem geschlossenen Ganzen. Man spricht bei diesem Gebrauch vom komplexiven Aorist.74 Für »ohne Gesetz« verwendet Paulus das Adverb anómōs; in 1Kor 9,21 steht das entsprechende Adjektiv ánomos, wo er von denen spricht, die »ohne Gesetz« sind, d. h. von den Heiden. 13 (denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht vor Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden. Mit dem einleitenden Wort »denn« leitet Paulus die Begründung ein für die in V. 12 gemachten Aussagen über die Juden, die unter Gesetz, und die Heiden, die ohne Gesetz gesündigt haben; diese Begründung bil­ det einen Einschub, der bis zu V. 15 reicht. Zunächst betont er noch ein­ mal, dass Gott nicht nach dem Bekenntnis oder nach der ethnischen Zu ­ gehörigkeit richtet, sondern nach den Taten: Gerechtfertigt wird nicht, wer das Gesetz hört und kennt, sondern wer es tut; so fordert es Got­ tes Gerechtigkeit. In 3,10­12 zitiert Paulus aus dem Alten Testament, um dem Juden zu zeigen, dass es keinen Juden gibt, der das Gute tut, wie es das Gesetz fordert. Daraus folgert er, dass alle Welt dem Gericht Gottes verfallen ist (3,19); denn alle Menschen sind Kinder Adams, die Juden wie die Heiden. Tut kein Jude das Gute, dann tut es auch kein Heide. 14 Denn sooft Nationen, die kein Gesetz haben, von Natur die Dinge des Gesetzes tun, so sind diese, die kein Gesetz haben, sich selbst ein Gesetz.

15 Sie zeigen, dass das Werk des Gesetzes geschrieben ist in ihren Herzen, indem ihr Gewissen mitzeugt und ihre Überlegungen75 sich untereinander anklagen oder auch entschuldigen)

Auch in diesen Versen spricht Paulus nicht etwa von einem Weg, auf dem der Mensch ohne Gottes Wort oder gar ohne Evangelium gerecht­ fertigt werden könne; das ist im ganzen Zusammenhang von 1,18 bis 3,20 nie das Thema. Hier bereitet er das große Thema, wie näm­ lich der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird (das er von 3,21 an ent faltet), immer noch vor, indem er zeigt, dass Juden wie Heiden alle unter Gottes Zorn stehen und Gott sie in seiner Gerechtigkeit des­ halb richten wird. Wenn er also von gewissen Heiden spricht, die je und dann tun, was das Gesetz fordert, will er erneut zeigen, dass Gott den Menschen nach dessen Werken beurteilt und richtet, dass es also stets auf das Tun ankommt. Wir dürfen natürlich nie eine Einzel aussage 75 logismos, eigentlich Berechnung, dann auch Schlussfolgerung, Erwägung; nur noch in 2Kor 10,4 belegt. deuten, ohne die Absicht, d. h. den Zusammenhang der Aussage, zu be ­ rücksichtigen. Das ist ein schwerer Fehler, der unweigerlich zu fal­ schen Deutungen führt.

»Sooft76 Nationen … die Dinge des Gesetzes tun«: Es kommt immer wieder vor, dass Heiden in bestimmten Fällen tun, was das Gesetz ge ­ bietet, ohne dass sie um ein göttliches Gesetz wissen. Dann handeln sie so, wie es ihnen ihr natürliches Rechtsempfinden diktiert; sie sind »sich selbst ein Gesetz«. Warum führt Paulus das im vorliegenden Zusammen­ hang an? Er will damit die Einbildung der Juden brechen. Die rühmen sich der Tatsache, dass sie das Gesetz Gottes haben; aber sie tun nicht danach. Und da gibt es Heiden, die das Gesetz Gottes nicht haben, und doch tun sie zuweilen Dinge, die Gottes Gesetz fordert. Wo ist da die Überlegenheit der Juden, wo es Gott doch nicht auf das bloße Kennen des Gesetzes, sondern auf das Tun ankommt (V. 13)? Die »Natur«, fusij, physis, einer Sache ist die ihr innewohnende Eigenart (siehe Gal 2 15,; 4,8; Eph 2,3; 2Petr 1,4). Das griechische physis leitet sich her vom Verb phyomai (»wachsen, entstehen«). Ein jedes Lebewesen ist so, wie es nach dem Willen des Schöpfers geworden und gewachsen ist. Gemäß der von Gott dem Menschen gegebenen Eigen­ art wissen die Menschen, auch wenn sie »kein Gesetz haben«, in gro­ ben Zügen, was sich gehört und was sich nicht gehört (vgl. 1,26­27; 1Kor 11,14).

»die Dinge des Gesetzes tun«: Das bedeutet nicht, dass sie das Gesetz erfüllen. In 3,9 sagt ja Paulus: »Wir haben sowohl Juden als Griechen zuvor beschuldigt, dass sie alle unter der Sünde [sind].« Sie sind, weil sie Adamskinder sind, der Sünde verfallen und sündigen be ständig. Sie erkennen jedoch, dass Stehlen, Ungehorsam gegen die Eltern, Ehe­ brechen etc. böse ist, und sie halten sich je und dann an diese sittliche Regel. Sie folgen dem Gesetz also höchstens so weit wie ein Paulus, 76 Hier steht nicht ein bedingendes »Wenn«, ei, sondern ein zeitliches Wenn, hotan. Paulus nennt nicht eine Bedingung, sagt also nicht: »Falls die Nationen die Dinge des Gesetzes ausüben …«, sondern er macht eine Zeitangabe. Auf die Zeitpartikel hotan folgt ein Konjunktiv, und das heißt, dass er nicht einen konkreten Fall meint, sondern von den Fällen spricht, in denen solches geschehen mag. Wir müssen den vorliegenden Satz sinngemäß also so verstehen: »Immer, wenn/wenn jeweils [hotan] Nationen die Dinge des Gesetzes ausüben/ausüben mögen, poiōsin (Konjunktiv) …« In Mt 5,11 findet sich die gleiche Satzkonstruktion – hotan mit nachfolgendem Konjunktiv – wie hier: »Wenn immer [hotan] sie euch schmähen/schmähen mögen, oneidiōsin (Konjunktiv) …« Es kann auch ein noch nicht eingetretenes, weil zukünftiges Geschehen mit dieser Satzkonstruktion gemeint sein, wie in Röm 11,27: »Dann, wenn [hotan] ich ihre Sünden wegnehmen werde, aphelōmai (Konjunktiv) …« der von sich sagen konnte, dass er als Pharisäer »im Gesetz tadellos« gewesen sei (Phil 3,6). Die Äußerlichkeiten hielt er, aber gleichzeitig war sein Herz voller Trotz gegen den Himmel, und er schlug aus gegen Gott und verfolgte die Geliebten Gottes – nein, den Christus Gottes selbst (Apg 26,14; 1Tim 1,12­13; Apg 9,4­5).

Die Nationen, »die kein Gesetz haben«, sind zwangsläufig »sich selbst ein Gesetz«. Sie haben nichts als ihr natürliches Rechtsempfinden. Paulus sagt von ihnen, dass sie »das Werk des Gesetzes geschrieben [zeigen] … in ihren Herzen«. Was sagt er damit? Wir müssen sorgfältig lesen, damit wir nicht etwas behaupten, was nicht hier steht. Zwei Dinge gilt es gut zu beachten: Paulus sagt nicht »das Gesetz«, sondern »das Werk des Gesetzes«; und er sagt dabei »Werk«, ergon, nicht »Werke«, erga. Er meint also nicht die Taten, die das Gesetz vorschreibt, denn dann hätte er die Mehrzahl erga verwendet, wie er stets tut, wenn er die vom Gesetz geforderten Werke meint (Röm 3,20.27­28; 4,2.6; 9,12.32; 11,6; Gal 2 16,; 3,2.5.10; Eph 2,9).

Den Heiden, die das Gesetz nicht haben, ist also »das Werk des Gesetzes« – nicht das Gesetz selbst – in ihren Herzen geschrieben. Gott wird nur bei den Menschen, die zum Neuen Bund gehören, sein Gesetz ins Herz schreiben. Solche Menschen sind von Neuem geboren, und Got­ tes Geist wohnt in ihnen (Jer 31,33; Hes 36,26­27). Was ist aber »das Werk des Gesetzes«? Paulus sagt es am Ende die­ ses ersten Teils des Briefes: Das Gesetz klagt an, wenn man gesündigt hat (3,20). Dieses Werk geschieht auch in den Menschen, die das ge ­ schriebene Gesetz nicht haben. Sie haben Erkenntnis Gottes durch die Schöpfung (1,20), und sie wissen, dass Laster eben Laster sind und darum von Gott bestraft werden (1,32). Sie wissen von manchem Guten, dass es gut ist, und sie tun darum zuweilen das eine oder andere Gute, das Gottes Gesetz verlangt (V. 14). Damit, dass sie dieses Wissen haben, haben sie auch ein Gewissen, welches »mitzeugt«, und das führt dazu, dass »ihre Überlegungen sich untereinander anklagen oder auch entschuldigen«. Wenn sie etwas getan haben, was nach ihrem sittlichen Bewusstsein recht ist, wissen sie sich schuldlos, auch wenn andere sie anklagen sollten. Haben sie etwas getan, was diesem Bewusstsein wider­ spricht, wissen sie sich schuldig, auch wenn andere sie für ihr Tun rüh­ men sollten. Dabei dürfen wir auf keinen Fall übersehen, dass das Ge ­ wissen des Menschen kein zuverlässiger Anzeiger ist für das, was in den Augen Gottes recht ist; das gilt sogar für Menschen, die den abso­ luten göttlichen Standard im Gesetz kennen. Paulus diente Gott »von [s]einen Voreltern her mit reinem Gewissen« (2Tim 1,3), auch als er die Gemeinde Gottes verfolgte.

»Während die Kinder Gottes, die sich an Gottes Wort halten, ein rechtes Gewissen (conscientia recta) haben, gibt es auch ein irrendes Ge wissen (conscientia erronea), d. h., der gefallene Mensch hält für erlaubt, sogar für geboten, was Gott verboten hat (Götzendienst, Gal 4,8; Unter werfung unter den Antichrist, 2Thes 2,12; Christenmord, Joh 16,2), und er hält für verboten, was Gott erlaubt hat, z. B. den Genuss gewisser Speisen (Röm 14,1ff.) usw.«77

Das Wort für Gewissen, syneidēsis, bedeutet wörtlich »Mit­Wissen«78. Da ist stets ein verborgener Mitwisser, der die Gedanken, Worte und Taten des Menschen verurteilt oder lobt. Hat er nach seinem Gewissen gehandelt, fühlt er sich schuldlos; hat er gegen sein Gewissen gehandelt, fühlt er sich schuldig79 Siehe zu dieser Stelle: Johann Arndt, Sechs Bücher vom wahren Christentum, Stuttgart, SteinkopfVerlag, 1924, S. 28­31.. Es weiß, dass er immer wieder Böses tut und dass Gott Böses straft. Aus der Schöpfung, aus seiner eigenen Natur und durch die Stimme des Gewissens kann er hingegen nicht erkennen, dass Gott gnädig ist und dem Sünder vergibt. Darum wird er, weil er ge sündigt hat, ohne das Evangelium »verlorengehen« (siehe V. 12). So müssen wir zusammenfassend zu den Versen 12­15 sagen: Beide, Juden wie Heiden, werden verurteilt durch das Wissen, das sie haben, der Jude durch das exaktere und weiter reichende Wissen, das er im Gesetz findet, der Heide durch das Wissen, das ihm Gott durch die Schöpfung und das Gewissen vermittelt. Keiner von beiden lebt nach dem, was er weiß; darum sind beide schuldig. Und wir wollen es uns noch einmal sagen lassen: Die vorliegenden Verse diskutieren nicht die Frage, ob der Heide, der keine göttliche Offenbarung wie das Gesetz oder das Evan­ gelium besitzt, gerettet werden könne, oder ob es neben dem Evangelium einen anderen Weg gebe, auf dem man das Heil erlangen könne. Die ein­ zige Absicht des Apostels ist zu zeigen, dass alle Menschen vor Gott schuldig sind. Lasst uns darum nicht, wie es so häufig getan wird, die­ 77 Franz Pieper, Christliche Dogmatik, S. 265.78 So auf Lateinisch (con-scientia) oder auf Schwedisch (sam-vete [= Zusammen­Wissen]).79 Siehe zu dieser Stelle: Johann Arndt, Sechs Bücher vom wahren Christentum, Stuttgart, Steinkopf Verlag, 1924, S. 28­31. sen Text gegen den Strich bürsten. Lasst uns also nicht behaupten, hier stehe, dass die Menschen, die das Evangelium nicht gehört haben, von Gott angenommen werden, wenn sie dem Licht ihres Gewissens fol­ gen. Der gesamte Abschnitt 1,18 bis 3,20 ist eine einzige geschlossene Beweisführung von der Schuld aller Menschen: Schritt für Schritt führt der Apostel diesen Beweis und kann am Schluss als das unausweichliche Ergebnis verkünden, dass jeder Mund verstopft und die ganze Welt, der Jude samt dem Heiden, dem Gericht Gottes verfallen ist (3,19). Was wäre seine Beweisführung für ein Stümperwerk, hätte er in 2,14­15 gesagt, da seien doch Leute, die nicht unter Gottes Gericht fallen! 16 an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird nach meinem Evangelium durch Jesus Christus. Die Aussage dieses Verses schließt sich an die in V. 12 zuletzt gemachte Aussage an; wir sollten sie also zusammen lesen. Paulus hatte in V. 12 gesagt: »So viele ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen; und so viele unter Gesetz gesündigt haben, werden durch Gesetz gerichtet werden.« Nun fährt er fort, indem er das Wort »richten« wieder aufgreift: »… an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird.« Paulus verkündigte nicht nur das Heil, sondern auch das kommende Gericht. Das Evangelium ist Heilsbotschaft denen, die glau­ ben, aber es ist eine Gerichtsbotschaft denen, die nicht glauben. Das hat auch der Sohn Gottes gelehrt (Joh 12,48).

Von »dem Tag« hatte Paulus bereits in V. 5 gesprochen; nun er fahren wir, dass Gott an jenem Tag »das Verborgene der Menschen« richtet. Das ist besonders dem Juden gesagt, der sich auf seinen äußerlich sau­ beren Wandel berief und sich rühmte, nicht gestohlen, nicht getötet, nicht die Ehe gebrochen zu haben. Am Tag des Gerichts wird er einsehen müs­ sen, dass in seinem Herzen Diebstahl, Totschlag und Ehebruch hausten (siehe Mt 5,21­22.28; 15,19­20); er wird dann verstehen, dass nicht das Äußere den Juden ausmacht, sondern das Innere (siehe Röm 2,28­29). Wenn Gott die inneren Beweggründe des Menschen aufdeckt, dann wird ein jeder zugeben müssen, dass er auch das scheinbar Gute tat, um sich selbst zu gefallen. Er wird sehen, dass alle Frömmigkeit nur eine be ­ sonders listige Form der Selbstanbetung war. Er wird dann zugeben müs­ sen, dass er nie Gottes Ehre, sondern seine eigene Ehre suchte; dass er nicht Gott diente, sondern ein Götzendiener war; denn der Gott, dem er diente, war sein eigenes Ich.

Gott wird nicht richten nach dem Schein,80 hinter dem man sich ver­ bergen kann und der das Ansehen verschafft, man sei ein guter Mensch. Vor Gott wird der Neider genauso offenbar werden wie der Räuber, der Mann, der seinen unreinen Gedanken folgte, wird genauso schuldig dastehen wie sein Nachbar, der in offenem Ehebruch lebte. Dann wird die Frau, die ihre Nachbarin mit ins Ohr geflüsterten Worten verleum­ dete, in der gleichen Verdammnis stehen wie der offene Flucher und Läs­ terer (Lk 12,2­3). Denn »der Herr wird das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren« (1Kor 4,5). Darum wird der Tag, an dem Gottes Gericht offenbar wird, ein »Tag des Zorns« (Röm 2,5) sein. Wenn Paulus sagt »mein Evangelium« (wie erneut in 16,25 und ein drittes Mal in 2Tim 2,8), meint er nicht, er habe andere Dinge gepredigt als die anderen Apostel; denn es gibt nur ein Evangelium und nicht ein pau­ linisches, ein petrinisches und ein johanneisches, wie Theologen verschie­ dentlich behauptet haben. Paulus will einfach sagen: »das Evangelium, das ich predige«. Dass Paulus nichts anderes predigte als eben Petrus und Johannes, sagt er ausdrücklich im Gal 2,2­10, und dass es kein anderes Evangelium gibt als das eine Evangelium Gottes, sagt er in Gal 1,6­7. »durch Jesus Christus«: Gott hat alles Gericht ihm übergeben (Joh 5,22; Apg 17,31), weil er der Sohn des Menschen ist (Joh 5,27). In der Gegenwart des vollkommenen Menschen wird kein Mensch sich selbst rechtfertigen können. Gemessen an ihm wird ein jeder sehen, wie verkehrt, wie verlogen, wie unrein er ist, und er wird bekennen müssen, dass Gott ihn zu Recht verdammt. Wenn Jesus Christus das Verborgene aller Menschen sehen und richten kann, muss er allwissend sein, und das bedeutet, dass er Gott ist.

2. Wer sich Jude nennt und wer Jude ist (2,17-­29) [86]

Paulus hat bis zu V. 16 gezeigt, dass der Mensch (V. 1), ob Jude oder Heide, von Gott verurteilt ist. Im nun folgenden Abschnitt sagt er aus­ 80 Siehe Joh 7,24.

drücklich, dass auch der Jude der Sünde verfallen ist, da er das Gesetz nur äußerlich erfüllt, d. h. nach dem Buchstaben, aber nicht innerlich, d. h. nach dem Geist.

Der Abschnitt beginnt mit dem, der ein Jude genannt wird, und er endet mit dem, der ein Jude ist. Der Apostel hat eben vom Heiden gesprochen, der kein Gesetz hat (V. 14­15), und nun wendet er sich an den Juden, der das Gesetz hat, indem er ihn direkt anspricht: »Wenn du aber Jude genannt wirst …« Er hat, was er diesem nun vorhält, in den vorherigen Versen gut vorbereitet. Das in den Versen 1 und 3 formulierte Prinzip – dass Gott den Menschen richten wird, der die Sünden anderer sieht und verurteilt, während er selbst sie auch begeht – wendet er nun auf den Juden an, indem er ihn mit Namen nennt. Und in Vers 13 hatte er gesagt, dass nicht die Hörer, sondern nur die Täter des Gesetzes gerecht­ fertigt und damit vom Gericht freigesprochen werden. Zunächst führt Paulus die großen Vorzüge der Juden auf (V. 17­18). Dieser kann sich auf das Gesetz stützen, das Gott keinem anderen Volk gegeben hatte (Ps 147,19­20), und er kann sich dessen rühmen, den allein wahren Gott zu kennen (vgl. Jes 48,1­2); er kann das Vorzüg­ lichere unterscheiden, weil er im Gesetz unterwiesen ist. Dies alles gab dem Juden ein Gefühl der Überlegenheit über alle, die keine dieser Vorzüge kannten, und so hielt er sich für berufen, den Blinden ein Leiter und den Unmündigen ein Lehrer zu sein (V. 19­20); schließlich besaß er im Gesetz in klar gefasster Form die Wahrheit (V. 20), welche die Heiden durch die natürliche Offenbarung nur in Umrissen kannten. Paulus fährt in V. 21­23 fort und zeigt, dass die Juden, während sie die an deren lehrten, sich selbst nicht lehrten und dass sie, was sie an den anderen verurteilten, alles selber auch taten. Die Heiden hörten, wie die Juden sie verurteilten, sie sahen, wie sie lebten, und sie sagten sich, ein Gott, der seine Diener zu solchen Heuchlern macht, muss ein furchtbarer Gott sein, und sie lästerten seinen Namen (V. 24). Nachdem Paulus den Juden allen Grund genommen hat, sich des­ sen zu rühmen, dass sie das Gesetz hatten und den allein wahren Gottes kannten, nimmt er ihnen schließlich ihre letzte besondere Auszeichnung, die Beschneidung. Ja, sie waren beschnitten und nannten sich Kinder Abrahams, aber ihre Beschneidung nützte ihnen nichts (V. 25). Und wie­ der verweist er, wie er bereits am Ende des vorhergehenden Abschnittes getan hatte (siehe V. 14­15), am Ende auch dieses Abschnittes auf sol­ che Heiden, die tun, was das Gesetz fordert (V. 26a). Aber jetzt geht er einen Schritt weiter: Das Unbeschnittensein solcher Heiden wird für Beschneidung gerechnet, und diese richten die Juden (V. 26b­27). Er erklärt darauf, wie so etwas überhaupt möglich sein kann: Gott sieht nicht den als wahren Juden an, der lediglich im Fleisch beschnitten ist, sondern den, der es im Herzen ist (V. 28­29).

17 Wenn du aber Jude genannt wirst und auf dem Gesetz ruhst und dich Gottes rühmst

18 und den Willen kennst und das Vorzüglichere unterscheidest, da du aus dem Gesetz unterrichtet bist,

19 und überzeugt bist, ein Leiter der Blinden zu sein, ein Licht derer, die in Finsternis sind,

20 ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer der Unmündigen, der die Ausformung81 der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz hat:

»Wenn du aber Jude genannt wirst«: Erst jetzt spricht Paulus aus­ drücklich zum Juden, der einen wohllautenden Namen trägt. Doch die­ ser Name verpflichtet; von jemandem, der sich Jude nennt, erwartet man einen entsprechenden Lebenswandel.

»und auf dem Gesetz ruhst«: Paulus sagt vom Juden, dass er auf dem Gesetz ruht oder sich ausruht, epanapauomai. Das gleiche Verb kommt nur noch vor in Lk 10,6: »… so wird euer Friede darauf ruhen.« Der Jude stellte sich selbst nicht infrage; er ruhte selbstzufrieden in dem Wissen, dass er das Gesetz Gottes hatte.

»und dich Gottes rühmst«: Da Gott selbst sich im Gesetz offen­ barte, rühmte der Jude sich des allein wahren Gottes (Jes 48,1), und da er von Gott durch das Gesetz unterwiesen war, konnte er »das Vorzüglichere« unterscheiden. Anders als die Heiden wusste er genau, was gerecht und gut und was ungerecht und böse ist. Darum getraute er sich, die Blinden zu leiten, die Unverständigen zu erziehen und die Un mündigen zu lehren. Das alles war nicht falsch; falsch war, dass der Jude sich nicht selbst vom Gesetz erleuchten und erziehen ließ. Er wäre ein tüchtiger »Erzieher«, παιδευτης, paideutēs, gewesen, hätte er 81 morphōsis, nur noch in 2Tim 3,5 belegt (von morphoō, bilden, abbilden, gestalten, Gestalt [morphē] geben). zuerst für sich selbst das Gesetz als seinen Erzieher (oder Zuchtmeister), paidagwgoj, paidagōgos (Gal 3,24), angenommen. Dann hätte das Gesetz zuerst sein Werk an ihm selbst getan, und dann hätte er die Heiden leh­ ren können über Sünde und Gerechtigkeit, über Glauben und Gehorsam, über Gericht und Errettung. Aber er ließ sich nicht vom Gesetz über­ führen und verurteilen, sondern verwendete das Gesetz nur, um andere zu verurteilen und sich selbst zu erhöhen.

Und dass der Jude »die Ausformung der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz« hatte, war gut. Gott hatte tatsächlich seine Wahrheit in eine klar umrissene Form gegossen, um dem Menschen die Wahr­ heit zu vermitteln: Er ließ seine lebendigen Aussprüche aufschreiben und alles in einer genau abgegrenzten Sammlung von Büchern festhalten. Ein hohes Gut war dieser Besitz; nicht gut war, dass der Jude sich damit begnügte, die Form der Wahrheit zu besitzen, ohne die Kraft der Wahrheit zu kennen82 In 2Tim 3,5 sagt Paulus, dass man in der Christenheit in ganz entsprechender Weise sündigen werde.. So wurde er zu einem blinden Blindenführer (Mt 15,14). 21 Der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbst nicht? Der du predigst, man solle nicht stehlen, du stiehlst? 22 Der du sagst, man solle nicht ehebrechen, du begehst Ehebruch? Der du die Götzenbilder verabscheust, du begehst Tempelraub?

Die Juden lehrten die anderen, aber lehrten sich selbst nicht (vgl. Joh 9,34), predigten den Heiden, aber wurden selbst verwerflich (vgl. 1Kor 9,27). Sie begingen selber alle Sünden, die sie den Heiden an lasteten (siehe 2,1), wenn auch in feinerer Form. Die jüdischen Leser mögen sich gefragt haben, wer von ihnen denn gestohlen, wer Ehebruch begangen, wer die Tempel beraubt habe. So fragten die Juden zur Zeit des Pro pheten Maleachi: »Worin haben wir dich beraubt?«, und Gott antwortete: »In dem Zehnten und in dem Hebopfer« (Mal 3,8). Als sie Gott nicht gaben, was ihm gehörte, begingen sie Diebstahl. Als sie sich im Ungehorsam von Gott abwandten, begingen sie Ehebruch. Vierhundert Jahre nach Maleachi verharrten sie noch immer in ihrer Untreue gegenüber Gott, obwohl inzwischen der Messias zu ihnen gekommen war, sie zu erlösen, zu ihrem Gott zurückzuführen und sie auf immer mit ihm zu verbinden. 82 In 2Tim 3,5 sagt Paulus, dass man in der Christenheit in ganz entsprechender Weise sündigen werde. »Der du die Götzenbilder verabscheust, du begehst Tempelraub?«: In Entsprechung zu den vorher verurteilten Sünden der Juden – sie predigten, man solle nicht stehlen, und sie stahlen; sie sagten, man solle nicht ehebrechen, und sie begingen Ehebruch – hätten wir er wartet, dass Paulus sagt: »Der du die Götzenbilder verabscheust, du dienst den Götzen?« Er sagt aber »du begehst Tempelraub«. Das be deutet, dass er etwas meint, was der Sünde des Götzendienstes entspricht. Wer Göt­ zen dient, beraubt Gottes Haus, denn er hat Gott vorenthalten, was er ihm schuldet. Hat Gott den Menschen erschaffen, dann ist dieser schul­ dig, ihm allein zu dienen und ihn über alles zu lieben. Die Juden lehr­ ten, man dürfe keine anderen Götter neben Gott haben (2Mo 20,3), doch selbst entehrten sie Gott – nicht indem sie Bildnisse von Gottheiten auf­ stellten, sondern indem sie in ihrem Gottesdienst mehr ihre eigene Ehre suchten als Gottes Ehre. Sie raubten Gott die Ehre, die ihm allein zusteht. Sie waren alle Tempelräuber.

23 Der du dich des Gesetzes rühmst, du verunehrst Gott durch die Übertretung des Gesetzes?

24 Denn der Name Gottes wird euretwegen gelästert unter den Nationen, wie geschrieben steht.

Zum fünften Mal nennt Paulus in diesen Versen das Gesetz. Der Jude ruhte zufrieden auf dem Gesetz (V. 17), er war aus dem Gesetz unter­ richtet (V. 18), er hatte die Form der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz (V. 20), und er rühmte sich des Gesetzes (V. 23). Man hatte Ur sache, sich des Gesetzes zu rühmen, aber nur, wenn man ihm folgte. Gott hatte seine »Vorschriften gegeben, damit sie fleißig beachtet werden« (Ps 119,4).

Daran dachten die Juden nicht, und darum muss Paulus dem Juden seinen Dünkel nehmen. Nachdem er zunächst eine rhetorische Frage gestellt hat (»Du lehrst dich selbst nicht?«) und dem Juden dann der Reihe nach vorgehalten hat, dass er Diebstahl, Ehebruch und Tempelraub beging, sagt er: »Du verunehrst Gott.« Das aber ist das Schlimmste, was man überhaupt tun kann. Gott hat alles zu seiner Freude (Ps 104,31) und zu seiner Ehre (Ps 19,2) erschaffen, auch das Volk Israel (Jes 43,7), und darum schuldet es Gott alle Ehre. Gott wird denen, die ihn ehren (wie es ein Abraham tat: Röm 4,20; vgl. 1Kor 10,31), ewiges Leben geben, und er wird alle, die ihm die Ehre verweigern (Mal 1,6), richten (Offb 14,9­11; vgl. Apg 12,23).

»Der Name Gottes wird euretwegen gelästert unter den Nationen.«: Die Juden waren gewohnt zu denken, Gott werde durch den Göt­ zendienst und die Ausschweifungen der Heiden gelästert, durch sie – die Juden – werde er hingegen geehrt. Und nun sagt Paulus, dass der Name Gottes »gelästert« wird wegen der Juden! Ist diese Anklage, die Paulus sich erlaubt, nicht eine Ungeheuerlichkeit? Paulus sagt nichts Un rechtes, denn er wiederholt lediglich, was Gott über sein Volk durch die Pro­ pheten gesprochen hat (Jes 52,5; Hes 36,20­23). Dann begründet Paulus seinen Vorwurf im nächsten Vers, den er deshalb mit »denn« einleitet. 25 Denn Beschneidung ist wohl nütze, wenn du das Gesetz tust; wenn du aber ein Gesetzesübertreter bist, so ist deine Beschneidung Unbeschnittenheit83 akrobystia, wörtlich »Vorhaut« (so Luther noch bis zur Revision von 1912 [und auch die UELB und die Elb 2003]). geworden. 26 Wenn nun die Unbeschnittenheit die Rechtsordnungen des Gesetzes beachtet, wird nicht seine Unbeschnittenheit für Beschneidung gerechnet werden,

27 und die Unbeschnittenheit von Natur, die das Gesetz erfüllt, dich richten, der du mit Buchstaben und Beschneidung ein Gesetzesübertreter bist?

»Denn Beschneidung ist wohl nütze, wenn du das Gesetz tust«: Die Beschneidung war von Gott verordnet, und damit war sie »wohl nütze«, aber sie war es nur dann, wenn der Beschnittene das Gesetz tat. Wer beschnitten war, war schuldig, das ganze Gesetz zu tun (siehe Gal 5,3). Tat er es nicht, war die Beschneidung ohne Nutzen, und sogar schlimmer als das: Sie war ein Betrug.

Wir sehen, wie Paulus in diesem Kapitel immer wieder auf die glei che Wahrheit zurückkommt: Beim Gesetz und bei allen in ihm ent­ haltenen Verordnungen kam es auf das Tun an. War der Jude »ein Gesetzes übertreter«, dann war seine »Beschneidung Unbeschnittenheit geworden«. Dann war er nicht besser als ein Unbeschnittener. Paulus geht noch einen Schritt weiter und sagt etwas Unerhörtes: Es ist sogar denkbar, dass ein Unbeschnittener Gott nicht weniger gefällt als ein Beschnittener. Wenn nämlich der Unbeschnittene »die Rechtsordnungen84 des Gesetzes beachtet«, wird vor Gott sein Unbeschnitten­ sein »für Beschneidung gerechnet werden«. Und schließlich versetzt Paulus der Einbildung des Juden den Todes­ stoß, indem er mit einer rhetorischen Frage sagt, der Unbeschnittene, der »das Gesetz erfüllt«, werde den Juden »richten, der … mit Buchstaben und Beschneidung ein Gesetzesübertreter« ist85 Man kann als Unbeschnittener »die Rechtsordnungen« des Gesetzes erfüllen, aber nicht denBuchstaben des Gesetzes, denn dieses forderte die Beschneidung. Für »Rechtsordnungen« stehthier das Wort dikaiwma, dikaiōma. Es kommt schon in 1,32 vor und kann dort auch mit »dasgerechte Urteil« übersetzt werden. Was das Gesetz fordert, ist die Liebe zu Gott und die Liebe zumNächsten: »An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten« (Mt 22,40). Befolgtder Beschnittene »von Natur« diese Forderung, hat er »das Gesetz erfüllt«. In Röm 13,8 sagt es Paulus ausdrücklich: »Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.« Alle Gebote sind »in diesem Wort zusammengefasst: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‹ … So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (13,9­10). Die gerechte Forderung, die dikaiōma (V. 26) des Gesetzes, kanns ich nur im Gläubigen erfüllen, der gerechtfertigt worden ist und nun im Geist wandelt (8,4).. »Buchstabe und Beschneidung«, das waren des Juden liebste Kinder. Er rühmte sich über die Maßen, dass er als Einziger das geschriebene Gesetz Gottes hatte (siehe Ps 147,19­20) und dass er nicht war wie die Unbeschnittenen, diese Sünder aus den Nationen (vgl. Gal 2,15). Und nun muss er hören, dass das alles vor Gott nichts gelten soll. Auch das muss Paulus begründen, und das tut er mit den nächsten Sätzen, die er wiederum mit »denn« einleitet. 28 Denn nicht der ist ein Jude, der es im Sichtbaren86 ist, noch ist die, die im Sichtbaren am Fleisch [geschieht], eine Beschneidung;

29 sondern der ist ein Jude, der es im Verborgenen87 ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben. Dessen Lob ist nicht von Menschen, sondern von Gott. In V. 5 hatte Paulus von einem unbußfertigen Herzen gesprochen; hier sagt er, dass das Herz darum beschnitten werden muss. Damit sagt er nichts Neues. Mose und Jeremia haben bereits davon gesprochen, dass es nicht genügt, am Fleisch beschnitten zu sein; das Herz muss be schnitten werden (5Mo 10,16; Jer 4,4). Und in 5Mo 30,6 kündigte Gott an, dass er einst das Herz der Kinder Israel beschneiden werde. Ein be schnittenes Herz ist ein neues Herz (Hes 36,26), ein gereinigtes Herz (Apg 15,9), 84 dikaiōma, wie in 1,32; 5,16.18; 8,4; Lk 1,6; Hebr 9,1.10; Offb 15 4,; 19,8.85 Man kann als Unbeschnittener »die Rechtsordnungen« des Gesetzes erfüllen, aber nicht den Buchstaben des Gesetzes, denn dieses forderte die Beschneidung. Für »Rechtsordnungen« steht hier das Wort dikaiwma, dikaiōma. Es kommt schon in 1,32 vor und kann dort auch mit »das gerechte Urteil« übersetzt werden. Was das Gesetz fordert, ist die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten: »An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten« (Mt 22,40). Befolgt der Beschnittene »von Natur« diese Forderung, hat er »das Gesetz erfüllt«. In Röm 13,8 sagt es Paulus ausdrücklich: »Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.« Alle Gebote sind »in diesem Wort zusammengefasst: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‹ … So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (13,9­10). Die gerechte Forderung, die dikaiōma (V. 26) des Gesetzes, kann sich nur im Gläubigen erfüllen, der gerechtfertigt worden ist und nun im Geist wandelt (8,4).86 en tō phanerō.87 en tō kryptō. und ein solches muss der Mensch haben, wenn er Gott gefallen will; denn Gott sieht nicht wie der Mensch auf das Äußere, sondern auf das Herz (1Sam 6,7). Diese alttestamentliche Wahrheit bestätigte auch der Sohn Gottes, als er sagte, dass nur der glückselig ist, der ein reines Herz hat (Mt 5,8), und dass der Mensch unrein ist, weil sein Herz unrein ist (Mt 15,18­20). Damit geißelte er die Pharisäer und die Gesetzgelehrten, die sich nur äußerlich reinigten (Lk 11,38­40.45). Wenn nun die Apostel die gleiche Wahrheit verkündeten wie Mose und die Propheten, hatten die Juden alle Ursache, sie anzunehmen und sie nicht als eine angeblich christliche Neuerung von sich zu weisen.

Wahrer Jude ist, »der es im Verborgenen ist«, denn Gott hat, wie David schon wusste, »Gefallen an der Wahrheit im Innern« (Ps 51,8). Das Messer der »Beschneidung« muss ins Herz des Menschen schnei­ den. Was innerlich ist, kann nur Gott sehen und entsprechend loben oder verurteilen.

Mit dem Nachsatz »dessen Lob … nicht von Menschen, sondern von Gott [ist]« gibt Paulus den Grund an, warum die Juden sich gegen diese Wahrheit sträubten: Ihnen war das Lob der Leute wichtiger als alles andere. Hatte der Herr den Juden nicht gesagt, dass sie deshalb nicht an ihn glauben konnten, weil sie Ehre voneinander begehrten, aber »die Ehre, die von Gott allein ist« nicht suchten (Joh 5,44)? Anmerkungen zu Kapitel 2

V. 1 – »Diesen Fehler haben alle, die außer Christus sind. Denn gleich­ wie ›der Gerechte zuerst ein Ankläger seiner selbst ist‹ (Spr 18,17)88, sowohl mit dem Herzen als auch mit dem Mund und mit der Tat, so ist der Un gerechte zuerst immer der Ankläger und Richter des Nächsten, wenigstens im Herzen« (M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 81 [vgl. WA 56, 17, 9ff.]). »Um die Stärke der Argumente des Apostels recht zu würdigen, müs­ sen wir bedenken, dass der Grund, auf dem die Juden erwarteten, dass sie von Gott angenommen seien, der Bund mit Abraham war, in wel­ 88 So lautet dieser Vers in der Vulgata, aus der Luther zitiert. chem er verheißen hatte, dass er dem Abraham und seiner ganzen Nach­ kommenschaft zum Gott sein würde. Sie meinten, diese Verheißung verbürge die Errettung aller, die diese Verbindung mit Abraham aufrecht­ erhielten, indem sie sich an das Gesetz und an die Beschneidung hielten. Sie erwarteten daher, dass Gott sich mit ihnen nicht als Einzelnen nach ihrem persönlichen Charakter befassen würde, sondern als einer Gemein­ schaft, der die Errettung durch die dem Stammvater Abraham ge gebenen Ver heißungen zugesichert war« (Charles Hodge, Romans, S. 46­47). »Außer dem eleganten Wortspiel ›urteilen‹ und ›verurteilen‹ muss man auf die Verschärfung achten, mit der sich Paulus gegen sie wendet. Was er nämlich vorbringt, zählt so viel, als wollte er sagen: ›Du verdienst zweifache Verdammnis, denn du bist derselben Laster schuldig, die du bei anderen aufspürst und unter Anklage stellst‹« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Band 5.1, S. 105).

»Um zu verstehen, welchen Zusammenhang des Apostels Rede vom Richten mit dem eigentlichen Gegenstand des Kapitels haben kann, ist es notwendig, Folgendes zu wissen und zu bedenken: Der Apostel schreibt an die Gemeinde in Rom, in der eine Mischung von Heiden und Juden war. Diese Letzteren waren durch ihre Vorzüge, dass sie das geschriebene Gesetz Gottes und die wahre Kenntnis von Gott besaßen, stets geneigt, alle anderen Völker, die diese Kenntnis von Gott nicht hatten und freier und offener in ihren Sünden lebten, zu richten … und zu verabscheuen. Damit, dass der Apostel im vorhergehenden Kapitel die grobe Blind­ heit und das Sündenleben der Heiden an den Tag gelegt hatte, wurde der alten Vermessenheit und dem Richten der Juden eine neue Anregung ge ­ geben, und da war’s gerade der rechte Augenblick, sie bei diesem ihrem all gemein bekannten Charakterzug zu fassen und zu zeigen, was dieses Richten für sie selber mit sich brachte, nämlich nur einen noch zwin­ genderen Beweis ihrer eigenen Verurteilung, indem sie gerade durch ihr Richten verrieten, dass sie wussten, wie verdammungswürdig die Sünde war, und trotzdem diese selber ausübten, wenn auch in einer feineren Weise als die Heiden« (C. O. Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 71­72).

V. 4 – »Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? So groß ist die Verblendung im Sünder, dass er, was ihm zu seinem Besten geschenkt wird, zu seinem Verderben missbraucht« (M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 91 [vgl. WA 56, 19, 14ff.]). V. 5 – »Denn jetzt türmen die Gottlosen ein noch verborgenes Verderben auf, dann aber wird es aus den Schatzkammern Gottes hervorbrechen« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Band 5.1, S. 113). V. 14­15 – »Paulus belegt seine Aussage: Die bloße Tatsache, dass die Heiden vom mosaischen Gesetz nichts wussten, bedeutet keineswegs, dass sie nicht gerichtet werden können. Der Jude wird danach ge richtet, ob er das Gesetz gehalten hat oder nicht; der Heide wird danach gerichtet, ob er sich nach dem verhalten hat, was er wusste, nach diesem Gesetz, das er sich selbst war, nach diesem sittlichen Bewusstsein« (M. Lloyd­ Jones, Romans, Bd. 2, S. 120). V. 15 – »Es wäre seltsam und spräche kaum für das Christentum, besäßen die Heiden das, was der Hebräerbrief (Kap. 10,15­16) als eine der gro­ ßen und besonderen Segnungen des Neuen Bundes bezeichnet … Aber der Apostel … sagt nicht, dass die Heiden jene unermessliche Barm­ herzigkeit erlangt haben, welche Gott im Neuen Bund auf der Grundlage der Erlösung in Christus darreicht. Was er tatsächlich lehrt, ist, dass die Heiden, wann immer sie von Natur die Dinge des Gesetzes tun … zei­ gen, dass das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist. Er sagt nicht, dass das Gesetz … sondern dessen Werk dort eingeschrieben ist. Da ist ein Heide, der versteht, dass er seine Eltern ehren soll. Obwohl er nie etwas vom Gesetz gehört haben mag, ist ihm das ein Gesetz. In dem Sinn ist das Werk des Gesetzes [nicht das Gesetz selbst] den Heiden ins Herz geschrieben« (William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 34).

»Man beachte, dass es hier nicht heißt, das Gesetz sei geschrieben … Es ist ein Werk, das Gott eingeschrieben hat dem Wesen jener Men­ schen, die er ›auf ihren eigenen Wegen gehen ließ‹ (Apg 14,16) … In ihnen geschieht ein ›Werk‹, das ihnen moralisches Bewusstsein gibt« (W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 64). John Bunyan hat in seinem Werk Der heilige Krieg in der Figur des Stadt­ schreibers wunderbar beschrieben, was das Gewissen leistet: »Bevor die Stadt Menschenseele fiel, war Herr Stadtschreiber in den Gesetzen seines Königs trefflich unterwiesen, und er war auch ein mutiger und treuer Mann mit gut ausgewogener Zunge und einem Kopf von klarem Urteil. Die­ sen Mann konnte Diabolus nicht leiden, weil er zwar seine Zustimmung ge geben hatte, als Diabolus in die Stadt eindrang, aber er konnte ihn mit keiner List, Verlockung oder Drohung sich ganz zu eigen machen. Wohl war er von seinem früheren König sehr weit abgefallen, und es gefielen ihm auch viele der Gesetze und Dienstleistungen von Diabolus. Aber das genügte nicht, solange der Stadtschreiber ihm nicht ganz gehörte. Manch­ mal dachte der an Schaddai, und dann kam die Furcht von Schaddais Gesetz über ihn, und dann redete er so laut wie ein brüllender Löwe gegen Diabolus. Manchmal, wenn seine Anfälle über ihn kamen – denn ihr müsst wissen, dass er zuweilen von schrecklichen Anfällen heimgesucht wurde –, machte er die ganze Stadt Menschenseele zittern mit seiner lauten Stimme. Darum mochte der gegenwärtige Herrscher von Menschenseele ihn gar nicht leiden« (Aus dem Englischen, John Bunyan, The Holy War, Made by Shaddai upon Diabolus for the Regaining of the Metropolis of the World; or, The Losing and Taking again of the Town of Mansoul, in: The Works of John Bunyan, vol. 3, ed. George Offor, The Banner of Truth Trust, Edin­ burgh 1991, Nachdruck der Ausgabe von 1854 [A. d. H.: vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: John Bunyan, Der heilige Krieg, Bielefeld: CLV, 6. über­ arbeitete Auflage, S. 29]).

»So ist es auch zu der außerordentlich verbreiteten Auffassung ge ­ kommen, durch das ›natürliche Gesetz‹ (lex naturalis), das der Apostel hier meint, sei der Mensch in ausreichendem Maß gerüstet, den rech­ ten Weg zu finden. Wir wollen dagegen erwägen, wozu eigentlich dem Menschen diese Gesetzeserkenntnis innewohnt … Das wird auch aus den Worten des Paulus klar, wenn wir nur auf den Zusammenhang achten. Kurz vorher setzt er auseinander: Die unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durch das Gesetz gerichtet; die aber ohne Gesetz gesündigt haben, die gehen ohne Gesetz verloren. Nun konnte es aber widersinnig erscheinen, dass die Heiden ohne alles vorausgehende Urteil verloren­ gehen sollten; deshalb setzt er gleich hinzu, bei ihnen habe das Ge wissen die Wirkung des Gesetzes, und es genüge deswegen zu ihrer ge rechten Verdammnis. Der Zweck des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) ist also der, dass der Mensch unentschuldbar werde. Deshalb wird es (das natürliche Gesetz) auch nicht übel beschrieben, wenn man sagt, es sei die Erkenntnis des Gewissens, das zwischen Gerecht und Un gerecht aus­ reichend klar unterscheidet; es hat also danach die Aufgabe, dem Men­ schen jeden Vorwand der Unkenntnis zu nehmen, da er ja durch sein eigenes Zeugnis überführt wird« (J. Calvin, Institutio Christianae Religionis / Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Aus­ gabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von O. Weber, bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen­Vluyn: Neu­ kirchener Verlag, 2008, 2. Auflage, II,2,22 [S. 147]). »Der Mensch, der durch sein Gewissen seiner Sündhaftigkeit überführt wird, erfährt wohl durch dasselbe, dass Gott das Böse bestraft, aber von dem, was Gott nach seiner Gnade mit dem Sünder will, weiß er durch sich selbst nichts. Die religio naturalis89 ist also nicht salutaris90 und vermag den Menschen, wenn er die (geschriebene) Offenbarung nicht annimmt, nur unentschuldbar zu machen« (Heinrich Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, neu durchgesehen und her­ ausgegeben von Ernst Bizer, Buchhandlung des Erziehungsvereins Neu­ kirchen, Kreis Moers, 1935, S. 1).

V. 15­16 – »Paulus will durchaus nicht sagen, dass jeder Mensch, der sei­ nem Gewissen folgt, zu Gott komme. Er verweist auf das Gewissen und das natürliche Rechtsbewusstsein, um zu zeigen, dass wir alle ohne Ent­ schuldigung sind. ›An dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird‹, wird es sich zeigen, dass keiner genügte, weder Heide noch Jude« (Bo Giertz, Förklaringar till Nya Testamentet, Bd. 2, Jo hannes till Korintierbreven, S. 288­289).

89 Natürliche Religion90 Heilbringend.. Heilbringend.

Kapitel 3 [98]

Paulus hat in Kapitel 1 und 2 ausführlich dargelegt, dass Juden wie Hei­den alle unter Gottes Zorn stehen. Ehe er fortfährt, muss er möglichen Einwänden gegen seine in Kapitel 2 gemachten Aussagen zuvorkommen. Wenn Gesetz und Beschneidung dem Juden keinen Vorteil vor den Heiden verschaffen, was ist dann der Nutzen der Beschneidung? Auf diese Frage antwortet er in den Versen 1­20. Zuerst widerlegt er die Einwände der Juden (V. 1­8), dann zeigt er, dass das Gesetz seinen Zweck sehr wohl erfüllte, auch wenn die Juden durch dasselbe Gott nicht näher kamen. Gott gab nämlich den Juden das Gesetz, um sie der Sünde zu überführen und um damit gleichzeitig zu zeigen, dass alle Welt dem Gericht verfallen ist (V. 19). Entsprechend wiederholt Paulus, dass alle unter der Sünde sind, Juden wie Heiden (V. 9), um darauf diese Behauptung mit einer langen Reihe von alttestamentlichen Zitaten zu belegen (V. 10­18). Hat nämlich das Gesetz die Juden überführt, sind alle Menschen überführt, denn kein Mensch ist vor Gott besser als irgendeiner der Juden, wie auch keiner der Juden besser ist als irgendeiner der Heiden. Paulus fasst das Ergebnis von allem, was er von 1,18 an gesagt hat, zusammen mit den Aussagen: a. Die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen (V. 19). b. Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt (V. 20).

Von V. 21 an beginnt der Apostel zu zeigen, wie Gottes Gerechtigkeit im Evangelium offenbar wird.

1. Die Juden stehen trotz Gesetz und Beschneidung unter Gottes Zorn (3,1­-8) [98]

Paulus ist immer noch dabei zu zeigen, dass die Juden ihrer Sün­ den wegen unter Gottes Zorn stehen und dass die Vorrechte, die sie als erwählte Nation besaßen, sie vor dem Gericht nicht retten konnten. In diesen Versen erklärt Paulus, warum es sich so verhält. Wenn das Evangelium, das Paulus predigt, tatsächlich das »Evangelium Gottes« (1,1) ist und es von Gott »durch seine Propheten in heiligen Schriften … verheißen« (1,2) wurde, dann darf es nicht den Ver ordnungen und den Verheißungen widersprechen, die Gott den Juden im Alten Testa­ ment gegeben hat. Hat nicht Gott selbst die Beschneidung im Fleisch für die Nachkommen Abrahams angeordnet (1Mo 17)? Wie kann dann aber Paulus sagen, diese schütze den Juden nicht vor Gottes ge rechtem Gericht? Und hat nicht Gott selbst gesagt, dass er aus allen Völkern Israel allein erwählt habe (5Mo 7,6), weil er Israel liebt (5Mo 7,8)? Wie kann dann Paulus behaupten, auch die Juden stünden unter Gottes Zorn? Wenn das, was Paulus lehrt, die Wahrheit Gottes ist, dann muss die Frage be antwortet werden, welches denn der Sinn der Vorrechte der Juden und der Nutzen der Beschneidung sei. Kann er diese Frage nicht beantworten, ist die Botschaft des Apostels offenkundig falsch. Paulus antwortet in diesem Abschnitt auf diese Fragen, um von V. 9 an seine große, von 1,18 bis 3,20 reichende Beweisführung zum Abschluss zu bringen. Wir können die Fragen und Antworten dieses Abschnittes91 Vgl. F. Godet, Commentaire sur l’épître aux Romains, tome premier, S. 303. wie folgt zusammenfassen: 1. V. 1­2: Wenn die Juden genauso gerichtet werden müssen wie die Heiden, welchen Vorteil haben dann die Juden? Darauf antwortet Paulus: Sie haben die Aussprüche Gottes empfangen. 2. V. 3­4: Wenn dieser Vorteil nicht zum beabsichtigten Ziel geführt hat, nämlich zur Errettung Israels, ist dann nicht die Treue Gottes gegenüber diesem Volk aufgehoben? Antwort: Keineswegs; die Treue Gottes leuchtet dadurch nur umso heller, denn er handelte gemäß den Bedingungen des Bundes, als er den Juden wegen ihres Unglaubens die in Aussicht gestellten Verheißungen nicht erfüllte.

3. V. 5­8: Aber wenn Gott sich in dieser Weise der Sünde bedient, um sich zu verherrlichen, wie kann er dann den Sünder zum Gegenstand seines Zornes machen? Antwort: Wenn Gott das Böse des Menschen zum Anlass nimmt, seine rettende Gnade zu offenbaren, hindert das ihn nicht daran, die Sünder zu richten. Wäre es so, könnte es kein Endgericht über die Welt geben. Dass aber ein solches bevorsteht, weiß und bekennt jeder Jude. 91 Vgl. F. Godet, Commentaire sur l’épître aux Romains, tome premier, S. 303. 1 Was ist nun der Vorteil des Juden? Oder was der Nutzen der Beschneidung?

2 Viel, in jeder Hinsicht. Denn erstens wurden ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut.

»Was … der Vorteil des Juden« und »was der Nutzen der Be schneidung« sei? »Viel, in jeder Hinsicht.« Der eine über ragende – das ist hier der Sinn von »erstens«, daran erkenntlich, dass kein »zweitens« und »drittens« folgt – Vorzug, den der Jude besaß, waren »die Aussprüche Gottes«, die er empfangen hatte. Durch diese kannte er den Wil­ len Gottes und konnte damit das Vorzüglichere unterscheiden (2,18). Die »Aussprüche Gottes« enthalten nicht nur Gebote und Verbote, sondern auch die Enthüllung von der Entstehung der Welt, der Erschaffung des Menschen und von dem Sündenfall. Ohne dieses Licht ist der Mensch in dieser Welt ratlos. Und dazu finden sich in diesen Aussprüchen Weis­ sagungen vom kommenden Erlöser, vom Gesalbten und vom Heil, das dieser wirken sollte; das alles gab den Juden gegenüber den Heiden einen großen Vorteil. Dass es den Juden nichts nützte, lag nicht daran, dass die Gabe nutzlos gewesen wäre; es lag am Unglauben der Empfänger der Gabe (V. 3).

Und wenn Paulus gesagt hat, es komme auf die Beschneidung des Herzens an (2,29), dann hat er nicht behauptet, die Beschneidung im Fleisch sei überhaupt nutzlos. Sie nützte den Juden deshalb nichts, weil sie nur äußerlich beschnitten waren und nicht auch innerlich. In Kapitel 4 wird Paulus am Beispiel Abrahams zeigen, dass die Beschneidung nütz­ lich war, weil Abraham Gott glaubte (4,3). Zuerst war Abrahams Glaube da; dann gab Gott ihm das Zeichen der Beschneidung als Siegel dafür, dass er durch den Glauben gerecht war (4,9­11). Als solches Zeichen war die Beschneidung von Nutzen. Israel aber verknüpfte die Beschneidung immer mit dem Gesetz (siehe Apg 15,1) statt mit dem Glauben (denn sie hielten die Beschneidung für ein verdienstliches Werk). Es kommt also auf den Glauben an; die Juden aber hatten nicht geglaubt: 3 Was denn? Wenn etliche nicht geglaubt haben, wird etwa ihr Unglaube die Treue Gottes abtun92? 92 katargeō, wie in V. 31; 4,14; 6,6; 7,2.6. 4 Das sei ferne! Gott sei vielmehr wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner, wie geschrieben steht: »Damit du gerechtfertigt werdest in deinen Worten und überwindest, wenn du gerichtet wirst.« »Was denn?«: Wenn Paulus gesagt hat, dass die Juden diesen großen Vor­ zug haben, dass ihnen die Aussprüche Gottes gegeben worden sind, dann stellt sich die nächste Frage: Was soll denn das für ein Vorzug sein, wenn die Aussprüche Gottes sich an den Juden nicht erfüllt haben? Sie sind ja nicht gerettet und gesegnet worden. Darauf stellt Paulus die Gegenfrage: Ist Gott etwa untreu, wenn er den Juden nicht gibt, was er ihnen verheißen hat, weil diese seinen Verheißungen nicht glauben? Wenn »etliche nicht geglaubt haben« und diese die Folgen ihres Unglaubens haben tragen müssen, kann man nicht Gott Untreue vorwerfen. Wenn wir bedenken, was die Substanz aller Weissagungen und was die Mitte aller Aussprüche Gottes ist, begreifen wir, wie schwer das vor Gott wiegt, dass die Juden nicht glaubten. Gott spricht in seinem Wort vom Retter der Welt, vom Samen der Frau, welcher der Schlange den Kopf zertreten wird, von sei­ nem treuen Knecht, der leidet und stirbt, um die Schuldigen zu erlösen. Das Alte Testament ist voll davon – und die Juden glaubten nicht. Sie selbst behaupteten zwar von sich, dass sie an den kommenden Messias glaubten. Aber was galt diese Beteuerung, wenn sie nicht glauben woll­ ten, dass Jesus von Nazareth ebendieser verheißene Messias war? Hätte er sich deutlicher als der Messias erweisen können? Er wurde dort ge ­ boren, wo nach Verheißung der Messias zur Welt kommen sollte; er kam und tat die Werke, die das Alte Testament angekündigt hatte, er starb, wie es die Propheten vorhergesagt hatten, er starb in dem Jahr, sogar an dem Tag, den sie geweissagt hatten93 Aufgrund von Dan 9,24­26 konnte man das Jahr errechnen, in dem der Gesalbte hingerichtet werden. Damit, dass sie nicht glaubten, machten sie mutwillig »in Bezug auf sich selbst den Ratschluss Gottes wirkungslos« (vgl. Lk 7,30). Wegen ihres Unglaubens erlangten die Juden die Ver­ heißungen der »Aussprüche Gottes« nicht; sie waren die Untreuen, nicht Gott. »Ihr Unglaube« hob also »die Treue Gottes« nicht auf94 Siehe dazu 5Mo 32,4; Jes 25,1; Offb 1 5,; 3,14.. Ja, Israel war nicht gesegnet, obwohl Gott ihnen Segen verheißen hatte. Statt im Land lebten die meisten zerstreut unter den Nationen, und jene, die im Land der Väter lebten, waren versklavt unter fremde Herren. Gerade die 93 Aufgrund von Dan 9,24­26 konnte man das Jahr errechnen, in dem der Gesalbte hingerichtet werden sollte94 Siehe dazu 5Mo 32,4; Jes 25,1; Offb 1 5,; 3,14.. Siehe dazu 5Mo 32,4; Jes 25,1; Offb 1 5,; 3,14. Tatsache, dass Gott den verheißenen Segen entzog, weil das Volk untreu geworden war, bewies seine Treue. Er erfüllte die Abmachungen des Bundes. Gott bleibt sich gleich; er verändert sich nicht (Mal 3,6), denn er kann sich selbst nicht verleugnen (2Tim 2,13). Er hatte die Ver heißungen des Bundes mit Abraham vom Glauben (Gal 3,8­9) und die Segnungen des Gesetzesbundes vom Gehorsam abhängig gemacht (5Mo 28). Da das Volk nicht glaubte und nicht gehorsam war, handelte Gott in Treue gegenüber dem Bund, auf den das Volk sich verpflichtet hatte (5Mo 27). Durch Mose hatte er dem Volk angekündigt, dass alle seine Worte sich erfüllen würden, sei es zum Segen, sei es zum Fluch (5Mo 30,15­20), und nun hatten sie sich erfüllt. So wurde Gott »gerechtfertigt … in [s]einen Worten«, auch wenn die Menschen das nicht verstehen und sie deshalb Gott richten, weil sie sich selbst nicht richten wollen. Diesen 51. Psalm, aus dem Paulus zitiert, schrieb David, nachdem er zu Bathseba eingegangen war und der Prophet Nathan ihn seiner Sünde überführt hatte. Nachdem er von Nathan gehört hatte, dass Gott ihn sei­ ner Missetaten wegen mit Strafen heimsuchen werde (2Sam 12,10­12), bekennt er, dass Gott damit gerecht handelt: »Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe getan, was böse ist in deinen Augen, damit du gerechtfertigt werdest in deinem Reden und für rein befunden in deinem Richten« (Ps 51,6).95 Aber auch, indem der Herr dem sündigen David vergab und dieser nicht sterben musste (2Sam 12,13), erwies er sich als treu und gerecht: Wie verheißen, verstieß und ent­ erbte er den König nicht (siehe 2Sam 7,14­15). Auf diese Weise erwies Gott an David, dass seine Worte wahr und seine Taten gerecht waren. So wird Gott auch in seinem Handeln mit den Juden in seinen Worten gerechtfertigt. Er strafte die Juden für ihren Unglauben, wie er in sei­ nem Wort angekündigt hat (3Mo 26,14­39); und er wird sie am Ende der Tage retten, wie er in seinem Wort angekündigt hat (3Mo 26,40­45; siehe Röm 11,26). Er handelte an diesem Volk in Treue gegenüber dem mit Mose geschlossenen Gesetzesbund, und er wird an Israel noch handeln gemäß dem mit Abraham gemachten Gnadenbund, wenn er das Volk zum Glauben erzogen hat (siehe 11,30­32). Was Gott verheißen hat, wird er 95 Paulus zitiert aus der Septuaginta, und die hat das hebräische schåftekā, das aktiv ist (»in deinem Richten« oder »wenn du richtest«), übersetzt mit en tō krinesthai se, und das kann passiv sein (»wenn du gerichtet wirst«) oder auch aktivisch verstanden werden: »wenn man mit dir rechtet« (Menge); das schlägt auch das Wörterbuch von W. Bauer vor, und darauf stützen sich Haubeck/von Siebenthal in ihrem Sprachlichen Schlüssel zum griechischen Neuen Testament. erfüllen, »denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar« (11,29). Was Paulus in diesen Versen nur andeutet, wird er in den Kapiteln 9 – 11 ausführlich behandeln.

Gott blieb und bleibt gegenüber den Juden »wahrhaftig«96, wie es denn unmöglich ist, dass er lügen sollte (Hebr 6,18), während »jeder Mensch« sich als »Lügner« erweist, wie die Schrift sagt (Ps 116,11). Worin und wann haben die Juden sich gegenüber Gott als Lügner er ­ wiesen? Nirgends so deutlich wie bei der Verurteilung Jesu. Sie boten falsche Zeugen auf, um ihn vor dem Synedrium zu fällen; sie belogen Pilatus, damit dieser Jesus als einen Aufrührer verurteile und hinrichten lasse. Sie logen nach der Auferstehung, dass die Jünger den Leib Jesu aus dem Grab gestohlen hätten. Wie die Juden sind alle Menschen. Es sind stets Lügen, welche Menschen gegen Gott, gegen Gottes Wort und gegen Gottes Sohn vorschützen, weil sie nicht glauben wollen. Wenn Gottes Zorn über sie kommt und er sie am Tag des Gerichts verdammt, werden sie einsehen und bekennen müssen, dass Gott wahrhaftig ist. 5 Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was wollen wir sagen? Ist Gott etwa ungerecht, der Zorn auferlegt? (Ich rede nach Menschenweise.) 6 Das sei ferne! Wie wird sonst Gott die Welt richten? 7 Denn wenn die Wahrheit Gottes durch meine Lüge übergeströmt ist zu seiner Herrlichkeit, warum werde ich auch noch als Sünder gerichtet?

8 Und warum nicht, wie wir gelästert werden und wie etliche sagen, dass wir sprechen: Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme? Deren Gericht97 ist gerecht. Nachdem Paulus den ersten Einwand gegen das Evangelium mit dem Verweis auf Davids Bekenntnis zurückgewiesen hat, folgt nun der zweite. Hatten die Juden akzeptieren müssen, dass ihre eigene Sünde bewirkte, dass sie den einst verheißenen Segen nicht erlangten, bauen sie ihren nächsten Einwand gerade auf ihrer Sünde auf, indem sie sagen: Wenn »unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist«, ist es dann nicht ungerecht, wenn Gott uns »Zorn auferlegt«, wo ihm doch 96 Siehe Joh 3,33; Offb 3,7.97 krima, Richtspruch, Urteilsspruch, wie in 2,2.3; 5,16; 11,33; 13,2. gerade unsere Sünde den Anlass bietet, dass seine Gerechtigkeit ge ­ priesen wird? Paulus antwortet auf diese Frage mit dem Ausruf »Das sei ferne!« Die Frage ist sehr töricht, wie denn der Unglaube immer Torheit ist. Gott kann seine Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit ja nur darin erweisen, dass er sie richtet. Ließe Gott sie laufen, würde er sich als ungerecht erweisen. Darum wird er selbstverständlich Zorn auf erlegen, also richten.

Mit der Gegenfrage (»Wie wird sonst Gott die Welt richten?«) setzt Paulus an bei einer Wahrheit, die dem Juden selbstverständlich war: Gott wird alle Nationen, d. h. die nichtjüdischen Völker, richten (Ps 7 9,; 67,5). Warum richtet denn Gott die Nationen? Ihrer Sünden wegen. Ist Gott aber gerecht, muss er Sünde bei allen rich­ ten, auch bei denen, die sich des Gesetzes rühmen. Die Frage, die Abra­ ham an Gott richtete, beantwortete sich dem Juden von selbst: »Sollte der Richter der ganzen Erde nicht gerecht richten?« (1Mo 18,25). Ist Gott der Richter der ganzen Erde, dann auch der Juden, die auf der Erde leben. Gott ist gerecht in seinen Gerichten; er kann nichts tun, was nicht gerecht wäre. Er ist der Gerechte, dessen Werke allesamt gerecht sind (5Mo 32,4).

Das in den Versen 5 und 6 formulierte allgemeine Prinzip wird hier auf eine Einzelperson angewendet: »Wenn die Wahrheit Gottes durch meine Lüge übergeströmt ist …« Gott macht keine Ausnahmen; rich­ tet er die Welt der Sünde wegen, richtet er jeden Einzelnen seiner Sünde wegen. Aber warum richtet Gott überhaupt? Ist es denn nicht so, wie Paulus im Evangelium predigt, dass Gottes Gnade umso mächtiger wird, je mehr die Sünde überhandnimmt (siehe Röm 5,20)? Man unterstellte den Predigern des Evangeliums, sie lehrten, man solle »das Böse tun, damit das Gute komme«. Dass eine solche Maxime jede Sittlichkeit verhöhnt, ist so offensichtlich, dass die Verlästerer des Evangeliums es natürlich nicht im Ernst glaubten; es zeigte vielmehr, dass sie zu allen erdenk lichen Ausflüchten griffen, um nur die Wahrheit nicht an sich heran zulassen. Darum ist »deren Gericht … gerecht«. Nachdem Paulus die genannten Einwände beantwortet hat, kann er seine Beweisführung fortführen und abschließen. Er hat von 1,18 an demons­ triert, dass Heiden und Juden alle ihrer Sünde wegen unter Gottes Zorn stehen. Als Nächstes wird er den Schriftbeweis antreten, indem er aus der Schrift zeigt, dass alle, Juden wie Heiden, unter der Sünde sind. Wir sollen wissen, dass die Sünde unser Verderben ist und dass wir von der Schuld, der Macht und den ewigen Folgen der Sünde nur frei werden können, wenn wir das Evangelium Gottes im Glauben annehmen.

2. Mit den Juden ist die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen (3,9­-20) [105]

Die Juden hatten gegenüber den Heiden große Vorrechte, aber waren sie deshalb besser als die Heiden? Paulus antwortet darauf, dass sie genauso wie die Heiden »unter der Sünde« sind (V. 9), und dann belegt er das mit den Aussprüchen Gottes, die nur sie, die Juden, bekommen hat­ ten. Dass die Heiden der Sünde versklavt waren und damit unter Got­ tes Zorn standen, leugnete kein Jude; nun zitiert der Apostel Gesetz und Pro pheten, von denen die Juden behaupteten, dass sie nur ihnen und nie­ mandem sonst gehörten. Recht so! Also sollen sie jetzt hören, was die aus schließlich ihnen gegebenen heiligen Schriften über sie sagen: In allem Sinnen und Trachten, in allem Reden und Handeln sündigen sie, keiner tut das Gute, keiner sucht Gott, und keiner unter ihnen fürchtet Gott (V. 10-­18). All das sagt das Gesetz denen, die sich rühmen, als ein­ ziges Volk auf Erden »unter dem Gesetz« zu sein (V. 19a); und damit ist den Juden durch Gott selbst der Mund verstopft. Gilt das aber für die Juden, gilt es für alle, denn alle Menschen sind unter die Sünde verkauft. Die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen (V. 19b). 9 Was nun? Haben wir etwas voraus? Durchaus nicht; denn wir haben sowohl Juden als Griechen zuvor beschuldigt, dass sie alle unter der Sünde seien,

Mit der Frage »Was nun?« (V. 9) leitet der Apostel die Zusammen­ fassung ein von allem, was er von 1,18 bis 3,8 über die Sündhaftigkeit von Heiden und Juden gesagt hat. Er beweist diese zwar an lauter Zi taten aus der jüdischen Bibel, aber damit sind die Heiden genauso über­ führt, denn was Gott über die Sünde und Sünden der Juden sagt, ist die Sünde aller Menschen, denn »es ist kein Unterschied« (3,23); alle Kin­ der Adams sind gleichermaßen in Sünden geboren und dem Tod verfallen (was der Apostel in 5,12­19 ausführlich erörtern wird). Der Apostel stellt die Frage, ob der Vorteil der Juden (V. 1) auch bedeute, dass sie vor den Heiden »etwas voraus« hätten, dass sie also besser wären als diese. Nein, sie sind zusammen mit den Heiden alle »unter der Sünde«98 sind. In Gal 3,22 drückt sich Paulus ähnlich aus: »Die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen.« »Das ist die Erklärung und das rechte Verständnis von allem, was zuvor gesagt ist.«99 M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band S. 183.100 M. Luther, Vom unfreien Willen, S. 178 (WA 18, 744, 25­27).

Man bedenke wohl, was das heißt, »unter der Sünde«. Die Sünde haf­ tet uns nicht lediglich an, und sie begleitet uns nicht nur, sodass wir sie abschütteln könnten. Nein, es ist schlimmer: Die Sünde ist unsere Herrin; sie steht über uns, und wir sind ihr verfallen. Wir sind ihre Sklaven, wie Paulus ausdrücklich in 6,17 sagt.

»Wenn Christus das Lamm Gottes ist, das der Welt Sünde trägt (Joh 1,29), dann folgt, dass die ganze Welt unter der Sünde, unter der Verdammnis, unter dem Teufel steht.«100

Wir können gar nicht anders, als der Sünde zu dienen; wir müssen das tun, wozu sie uns drängt. Nur tun wir es nicht gegen unseren Willen, son­ dern willig, wie Paulus in Eph 2,2 erklärt: Wir führten unser Leben »in den Lüsten unseres Fleisches«, und wir taten dabei »den Willen des Fleisches und der Gedanken« (V. 2). Wir tun als Sünder, was wir wollen und was wir denken; darum sind wir schuldig und allein für unser Tun ver­ antwortlich. In den Versen 10­18 belegt Paulus mit Schriftworten sein Urteil, dass alle Menschen unter der Sünde seien. 10 wie geschrieben steht: »Da ist kein Gerechter, auch nicht einer;

11 da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. 98 Menge: »Unter [der Herrschaft] der Sünde«; so auch die Svenska Folkbibeln: »under syndens välde = unter der Herrschaft der Sünde«. 12 Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.« 13 »Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen reden101 sie Trug.« »Otterngift ist unter ihren Lippen.« 14 »Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit.« 15 »Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen; 16 Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen,

17 und den Weg des Friedens erkennen102 sie nicht.« 18 »Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen.« Die hier gesammelten Aussagen verurteilen den ganzen Menschen: sein Wesen, sein Wollen, sein Reden, sein Tun. Das Urteil trifft alle, ohne Ausnahme, wie die auffällige Häufung der Ausdrücke »keiner«, »auch nicht einer«, »alle«, »allesamt« verdeutlicht. Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über diesen Abschnitt, bevor wir die einzelnen Aussagen näher anschauen:

1. »Da ist kein Gerechter, auch nicht einer«: Unser ganzes Wesen ist böse.

2. »Da ist keiner, der verständig ist«: Unser Verstand ist böse. 3. »Da ist keiner, der Gott sucht«: Unser Wille ist von Gott ab ­ gewandt, also böse.

4. »Alle sind abgewichen«: Wir haben den einzig Guten verlassen, haben nichts Gutes mehr.

5. »Sie sind allesamt untauglich«: Keiner von uns vermag, Gottes Forderung zu erfüllen.

6. »Da ist keiner, der Gutes tut«: Tun wir nichts Gutes, kann all unser Tun nur böse sein.

7. »Ihr Schlund ist ein offenes Grab«: Unsere Worte sind böse. 8. »Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen«: Unsere Taten sind böse.

9. »Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen«: Unsere Wege sind böse.

10. »Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen«: Unsere Be ­ ziehung zu Gott ist gebrochen.

101 Der Aorist ist hier gnomisch aufzufassen, d. h. mit Präsens zu übersetzen (wie z. B. in Joh 15,6).102 Der Aorist ist hier am ehesten gnomisch (vgl. Fußnote 101) aufzufassen. Paulus reiht die von ihm ausgesuchten Schriftworte in bezwingender Fol­ gerichtigkeit aneinander: Er beginnt mit dem allgemeinen Zustand des Menschen unter der Sünde: Keiner ist gerecht, keiner ist verständig, kei­ ner sucht Gott (V. 10­11); dann zeigt er in allgemeinen Begriffen, wie sich dieser Zustand äußert: Alle sind von Gott abgewichen; alle sind untauglich geworden; keiner tut Gutes (V. 12). Darauf zeigt er im Einzel­ nen, wie dieser Zustand das Reden, Wandeln und Tun regiert (V. 13­17). Er schließt alles ab mit der Erklärung, woher es kommt, dass der Mensch in diesem Zustand ist und sich so verhält: Er fürchtet Gott nicht (V. 18), d. h., sein Verhältnis zu ihm ist gebrochen.

Paulus beginnt die Reihe dieser alttestamentlichen Zitate mit Ps 14, lässt dabei aber auffälligerweise aus, was dort erklärend zu Gottes Urteil über alle Menschen steht: »Der Herr schaut vom Himmel herab auf die Menschenkinder …« (V. 2). Er kann das auslassen, denn damit hatte die ganze, mit 1,18 anhebende Beweisführung begonnen: »Es offenbart sich Gottes Zorn vom Himmel her.« Messen wir das Trachten, Reden und Tun des Menschen an einem irdischen Maßstab, erscheint der Mensch nicht im rechten Licht. Erst im Licht Gottes, d. h. gemessen an Gott, der im Himmel ist, wird der Mensch in seiner ganzen Verkommenheit offenbar. »kein Gerechter«: Dies steht als Überschrift über dem ganzen Abschnitt, wie in Kapitel 1 zu Beginn des Lasterkatalogs von 1,29­-31 steht: »… erfüllt mit aller Ungerechtigkeit«. Damit niemand denkt, Pau­ lus meine mit »kein Gerechter« die große Masse, aber nicht jeden Einzel­ nen, präzisiert er: »auch nicht einer«. Das Wörtchen »kein« ist also im absoluten Sinn gemeint.

»Da ist keiner der verständig ist«, und das zeigt sich daran, dass »keiner … Gott sucht«. Es gibt keinen größeren Unverstand, als Gott so gering zu achten, dass man ihn nicht sucht. David bestätigt das mit etwas anderen Worten: »Der Tor spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott« (Ps 14,1). Wenn aber keiner so verständig ist, dass er Gott sucht, müssen wir bekennen, dass wir alle Toren sind. Wir müssen David glauben, den Paulus hier zitiert, denn er sagt nicht, was er gelernt hat, weil er die Men­ schen gut beobachtet hat, sondern er sagt es durch göttliche Inspiration: Gott selbst schaut uns alle an, und er urteilt, dass keiner von uns Gott sucht, nicht ein Einziger unter allen Milliarden der Kinder Adams. Und was ist mit denen, die gläubig sind und die daher von Gott geliebte Kin­ der sind? Haben die ihn denn nicht gesucht? Von denen sagt Gott durch einen anderen Propheten, dass er ausschließlich von solchen ge funden worden ist, die ihn nicht suchten (Jes 65,1), und diesen Propheten zitiert Paulus später selbst: »Jesaja aber erkühnt sich und spricht: ›Ich bin gefunden worden von denen, die mich nicht suchten, ich bin offenbar geworden denen, die nicht nach mir fragten‹« (Röm 10,20). »Da ist nicht, der nach Gott frage. Mögen sie sich auch als ›verständig‹ vorkommen und als solche, die ›nach Gott fragen‹ – weil sie sich in ihrer eigenen Weisheit und Gerechtigkeit gefallen, so ist’s doch in Wirklichkeit und vor Gott nicht also.«103

»Alle sind abgewichen«: Wovon sind sie abgewichen? Von Gott. Von der einzigen Quelle des Lebens abgeschnitten, verfallen sie dem Tod. Damit, dass sie abgewichen sind, sind sie »allesamt untauglich geworden«, das heißt, unfähig zum Guten, weshalb Paulus fortfährt: »Da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.« Gott zu suchen, Gott zu lieben und diese Liebe damit zu beweisen, dass man ihm gehorcht, das hieße, Gutes zu tun. Aber keiner tut es, da jeder von Gott abgewandt ist. In Gott findet sich alles Gute; außerhalb von ihm ist daher nur Nicht­ Gutes. Gott allein ist gut (Mk 10,18); außer und neben ihm sind daher nur Nicht­Gute. Gott ist Licht (1Jo 1,5); bei ihm wohnt das Licht (Dan 2,22). Haben wir den verlassen, der Licht ist, haben wir kein Licht mehr. Alles Licht, das Adam hatte, hatte er von Gott, und er hatte es nur so lange, wie er bei Gott blieb. Als er sich gegen Gott wandte und sich damit von ihm abwandte, verfiel er der Finsternis. Alle seine Nachkommen sind von Geburt an in der Finsternis. Diese ist so sehr zu unserem Lebenselement geworden, dass Paulus sagt, dass wir sogar Finsternis sind (Eph 5,8). Der Mensch ist bis ins Innerste, d. h. bis ins Herz, vollständig ver­ dorben; wovon das Herz aber voll ist, davon redet der Mund (Mt 12,34). Das zeigt Paulus mit den folgenden Belegen aus der Schrift: »›Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen reden sie Trug.‹ ›Otterngift ist unter ihren Lippen.‹ ›Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit.‹« Paulus beginnt seine Aufzählung mit dem Schlund, aus dem die Worte kommen; der ist wie ein offenes Grab, aus dem Verwesungs­ 103 M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 191 (vgl. WA 56, 34, 4­6). geruch aufsteigt. Die Zunge bildet Worte, die täuschen und verdrehen, übertreiben und unterschlagen, schmeicheln und entstellen und damit wirken wie tödliches Gift (vgl. Jak 3,8): Sie sät Misstrauen und Verleumdung und zerschneidet wie ein Schermesser Bande der Freundschaft (Ps 52,4). Während der Gaumen Honigseim träufelt wie bei der Ehe­ brecherin (Spr 5,3), ist »Otterngift … unter ihren Lippen«. Schlund, Zunge und Lippen, der ganze »Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit«. Wenn wir bedenken, dass der Mensch, der im Wort nicht strauchelt, ein vollkommener Mensch ist (Jak 3,2), ahnen wir an dieser Beschreibung der Zunge, welch Verderben die Sünde angerichtet hat. Der Mensch war als einziges Geschöpf erschaffen, um mit seiner Zunge Gott zu preisen und dem Nächsten zu dienen. Wie entstellt ist er! Nicht zu er messen sein Schaden! So wie ein böses Herz böse Worte produziert, drängt ein böses Herz zu bösen Taten: »Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen; Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen.« Ist die Beziehung zu Gott gebrochen, ist auch die Beziehung zum Menschen befallen: Die von Gott gewichen sind (Ps 14,3), freveln gegen den Nächsten (Ps 14,4): »Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens erkennen sie nicht.« Sie handeln so, weil »keine Furcht Gottes vor ihren Augen« ist. Mit dieser Bewertung schließt Paulus die Reihe; feh­lende Gottesfurcht, das ist eine Verurteilung, die so umfassend ist wie die erste, mit der Paulus begonnen hatte: Da sei kein Gerechter. Fürchtet der Mensch Gott nicht, hält ihn nichts zurück von allen Torheiten und Lüs ten, zu denen seine Natur ihn drängt. Der Mensch müsste als Geschöpf in Dankbarkeit an seinem Schöpfer hangen, ihn lieben und fürchten. Er ist aber von Gott abgewandt und liebt sich selbst über alles. Er ist, wie Luther sagte, »incurvatus in se – in sich hinein verkrümmt«.104 Walther von Loewenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München: List Verlag, 1983, S. 70 (WA 56, 356, 5). Er hat sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt; er sucht seine eigene Ehre, sein privates Wohl, seinen Ruhm, seinen Nutzen, seinen Gewinn. Er liebt sich selbst und verachtet Gott. Daher können alle seine Gedanken, Worte und Taten nur verwerflich sein. Und auch wenn er von Gottesfurcht reden mag, hat er diese nicht »vor … Augen«. Sie hat keine Wirkung auf sein Denken und Handeln; sie ist für ihn bestenfalls ein religiöser Begriff, ohne Einfluss auf das Leben.

19 Wir wissen aber, dass alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter 105 Wörtlich »in dem Gesetz«, en tō nomō, d. h. innerhalb der Ordnung des Gesetzes: Sie sind zum Gehorsam gegenüber demselben verpflichtet. dem Gesetz sind, damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. 20 Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.

Das Gesetz redet zu denen, die das Gesetz empfingen, zu den Juden. Sind die vom Gesetz als Sünder überführt, sind alle Menschen überführt. Gott hat im Gesetz gesagt, was der Mensch ihm schuldet; damit, dass keiner seine Schuldigkeit erfüllen kann, steht jeder schuldig vor Gott. Beachten wir wohl, wie der Apostel sich ausdrückt. Gott hat alles, was im Gesetz steht, mit einem einzigen Zweck gesagt: »damit jeder Mund verstopft werde«. Er sagt es nicht, um dem Menschen den Weg zur Gerechtigkeit zu zeigen, sondern um ihm jede Ausflucht und Selbstrechtfertigung zu nehmen. Durch das Gesetz erkennt der Mensch, dass Gottes Forderungen gerecht sind, dass er sie nicht erfüllt hat und dass er niemandem dafür die Schuld geben kann als sich selbst. Er steht schuldig vor Gott und kann nichts vorbringen zu seiner Entschuldigung. Damit sind wir am Ende dieses großen Abschnittes, der in 1,18 anfing, wieder an dessen Anfang zurückgekehrt. In 1,18­-20 hatte Paulus gezeigt, dass Gottes Zorn über alle Gottlosigkeit aller Menschen offenbar wird, weil sie Erkenntnis von Gott haben, aber diese unterdrücken, weil sie Gott nicht ehren wollen, und dass sie deshalb »unentschuldbar« sind. Wenn alle, »die unter dem Gesetz sind«, durch das Gesetz als Sünder überführt werden, ist damit bewiesen, dass »die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen« ist.

Für »dem Gericht verfallen« steht das Wort hypodikos, das im NT nur hier belegt ist. Es bedeutet wörtlich »unter Gericht« oder »unter Urteil«, also so viel wie schuldig sein.

Paulus hat also bewiesen, dass die ganze Welt schuldig vor Gott steht. Denn ist ein Volk als schuldig überführt, dann ist alle Welt überführt, denn es ist kein Unterschied zwischen Mensch und Mensch und zwischen Volk und Volk. »Darum«, so kann Paulus fortfahren, ist anhand der Juden hinlänglich bewiesen, dass »aus Gesetzeswerken … kein Fleisch«, kein einziger der Nachkommen Adams, »gerechtfertigt werden« kann. Das Gesetz hat nur einen Zweck, und diesen erfüllt es, so wie Gott es verordnet hat: »Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.« Es ist, wie Jakobus sagt, ein Spiegel, der ein treues Bild von jedem zurückwirft, der hineinschaut. Es zeigt ihm allen Schmutz und alles Verunstaltete, aber es kann vom Schmutz nicht reinigen und es kann das Ver­ bogene nicht gerade machen.

»Der Mensch unter Gottes Urteil braucht deshalb nichts dringender als Rettung. Es geht um die Rettung der Rettungslosen, und das ist die Rechtfertigung der Ungerechten!«106 Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ?, S. 70. Teil 2: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung des Glaubenden (3,21 – 4,25)

Rechtfertigen, das vermag allein Gott. Wie er es ohne Gesetz tut, zeigt Paulus im nun folgenden Teil seines Briefes.

Paulus hat, geführt durch den Heiligen Geist, im ersten Teil seiner Abhandlung über das Evangelium die Verdorbenheit und Verlorenheit aller Menschen aufgedeckt (1,18 – 3,20); er hat gezeigt, dass es keine Ausnahmen gibt. Die Sünde herrscht über alle; keiner ist ohne Schuld vor Gott. Jeder steht unter Gottes gerechtem Zorn; keiner kommt davon. Wem darüber die Augen aufgegangen sind, dem kann der Apostel nun den Weg zeigen, auf dem er trotz allem leben und die Herrlichkeit Gottes erlangen kann. Zunächst erörtert Paulus in 3,21-­31 die von Gott gewählte Methode zur Rechtfertigung und ihre Ergebnisse:

1. Die Methode der Rechtfertigung (3,21­-22a): Sie geschieht ohne Gesetz; sie geschieht durch Offenbarung; sie wird empfangen durch Glauben.

2. Die Universalität der Rechtfertigung (3,22b­-23): Sie gilt für Juden wie für Heiden, weil alle ohne Unterschied gesündigt haben und keiner die Herrlichkeit Gottes erlangt.

3. Die Zueignung der Rechtfertigung (3,24a): Sie wird umsonst aus Gnade gegeben.

4. Die gerechte Grundlage der Rechtfertigung (3,24b-25a): Sie geschieht durch die Sühne, die Christus gewirkt hat, indem er sein Blut vergoss.

5. Die Eigenart der Rechtfertigung (3,25b-­26): In ihr erweist sich Gott in seiner eigenen Gerechtigkeit.

6. Ihre Ergebnisse (3,27­-31): Gott bekommt allen Ruhm; Gott erweist sich als der eine Gott, der Juden und Heiden in gleicher Weise rechtfertigt; das Gesetz wird bestätigt. Nachdem Paulus all das gesagt hat über die Rechtfertigung, verweist er in 4,1­8 auf zwei alttestamentliche Vorbilder – Abraham und David –, die belegen, dass der von Gott bestimmte Weg zur Rechtfertigung immer der Glaube und nie eigene Leistung war. Er fährt fort, indem er in 4,9­-12 am Beispiel der Beschneidung Abrahams die in 3,1 gestellte Frage nach

Teil 2: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung des Glaubenden (3,21 – 4,25) [113]

Paulus hat, geführt durch den Heiligen Geist, im ersten Teil seiner Abhandlung über das Evangelium die Verdorbenheit und Verlorenheit aller Menschen aufgedeckt (1,18 – 3,20); er hat gezeigt, dass es keine Ausnahmen gibt. Die Sünde herrscht über alle; keiner ist ohne Schuld vor Gott. Jeder steht unter Gottes gerechtem Zorn; keiner kommt davon. Wem darüber die Augen aufgegangen sind, dem kann der Apostel nun den Weg zeigen, auf dem er trotz allem leben und die Herrlichkeit Gottes erlangen kann. Zunächst erörtert Paulus in 3,21­31 die von Gott gewählte Methode zur Rechtfertigung und ihre Ergebnisse: 1. Die Methode der Rechtfertigung (3,21­-22a): Sie geschieht ohne Gesetz; sie geschieht durch Offenbarung; sie wird empfangen durch Glauben. 2. Die Universalität der Rechtfertigung (3,22b-­23): Sie gilt für Juden wie für Heiden, weil alle ohne Unterschied gesündigt haben und keiner die Herrlichkeit Gottes erlangt. 3. Die Zueignung der Rechtfertigung (3,24a): Sie wird umsonst aus Gnade gegeben. 4. Die gerechte Grundlage der Rechtfertigung (3,24b­-25a): Sie geschieht durch die Sühne, die Christus gewirkt hat, indem er sein Blut vergoss. 5. Die Eigenart der Rechtfertigung (3,25b­26): In ihr erweist sich Gott in seiner eigenen Gerechtigkeit. 6. Ihre Ergebnisse (3,27­-31): Gott bekommt allen Ruhm; Gott erweist sich als der eine Gott, der Juden und Heiden in gleicher Weise rechtfertigt; das Gesetz wird bestätigt.

Nachdem Paulus all das gesagt hat über die Rechtfertigung, verweist er in 4,1­8 auf zwei alttestamentliche Vorbilder – Abraham und David –, die belegen, dass der von Gott bestimmte Weg zur Rechtfertigung immer der Glaube und nie eigene Leistung war. Er fährt fort, indem er in 4,9­-12 am Beispiel der Beschneidung Abrahams die in 3,1 gestellte Frage nach dem Nutzen der Beschneidung beantwortet: Die Gerechtigkeit wurde dem Erzvater zugerechnet, bevor er beschnitten war. Die Beschneidung war also keine Leistung, durch die Abraham sich vor Gott empfahl, sondern lediglich das Siegel auf seinen Glauben, den er hatte, als er noch unbeschnitten war. In 4,13­25 erfahren wir, woran Abraham glaubte und wie er glaubte, und es geht auch darum, dass der Christ gleich wie Abraham glauben muss, um gerechtfertigt zu werden. Dass Gerechtigkeit aus Glauben das Hauptthema dieses zweiten Teils des Römerbriefes ist, zeigt sich am Vorkommen der entsprechen­ den Begriffe:

25­mal glauben, Glaube; 20­mal gerecht, Gerechtigkeit, rechtfertigen. 1. Gerechtigkeit aus Glauben (3,21-­26) 114

»Dies ist das Hauptstück und der Mittelplatz dieser Epistel und der ganzen Schrift, nämlich: dass alles Sünde ist, was nicht durch das Blut Christi erlöst, im Glauben gerecht wird. Darum fasse diesen Text wohl, denn hier liegt darnieder aller Werke Verdienst und Ruhm, wie er selbst hier saget, und es bleibet allein lauter Gottes Gnade und Ehre. Die Sünde konnte weder das Gesetz noch kein gut Werk wegnehmen; das musste Christus und die Vergebung tun. Der Glaube erfüllt alle Gesetze, die Werke erfüllen kein[en] Tüttel des Gesetzes.«107 Für die Reformatoren war die Lehre von der Rechtfertigung der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt108 Articulus stantis et cadentis ecclesiae (A. d. H.: WA 40 III, 352, 3 [ähnliche Formulierung]).. In seiner Auslegung des 130. Psalms schrieb Luther zur Rechtfertigung:

»Deren reine Erkenntnis allein erhält die Kirche, denn es ist die Erkenntnis der Wahrheit und des Lebens. Dagegen, wenn diese Erkenntnis der Rechtfertigung verloren ist, wird zugleich Christus und das Leben und die Kirche verloren, und es bleibt kein Urteil da, weder über die Lehre 107 Randbemerkung in Luthers letzter Ausgabe des NT vom Jahre 1545/46.108 Articulus stantis et cadentis ecclesiae (A. d. H.: WA 40 III, 352, 3 [ähnliche Formulierung]). noch über die Geister, sondern Finsternis und Blindheit nimmt alles ein.«109

Für Calvin ist die Rechtfertigung durch den Glauben der »hauptsächliche Pfeiler [der christlichen Religion]« (Institutio, a. a. O., III,11,1 [S. 396]). In 1,18ff. hatte Paulus gezeigt, wie Gottes Gerechtigkeit sich im Zorn über alle Ungerechtigkeit der Menschen offenbart; nun zeigt er, wie Got­ tes Gerechtigkeit sich in der Rechtfertigung der Ungerechten offenbart. Er hat eben gezeigt, dass alle unter der Sünde sind, dass das Gesetz einzig dazu gegeben wurde, Erkenntnis der Sünde zu wirken. Und das ist mehr, als nur einzelne Sünden aufzudecken. Es zeigt uns, dass wir Sünden tun, weil wir Sünder sind. Unsere ganze Natur kann gar nichts an deres, als sündige Gedanken, Worte und Taten zu produzieren. Sind wir aber Sün­ der, dann können wir aus uns nie gerecht werden, und das be deutet, dass Gottes Gerechtigkeit uns nur »ohne Gesetz« (3,21) zu kommen kann. In 2,1 – 3,20 hat Paulus am Beispiel der Juden gezeigt, was das Gesetz wirkt; er kommt im Zuge seiner Darlegung des Evangeliums Gottes immer wieder darauf zurück:

1. Das Gesetz kann nur Erkenntnis der Sünde wirken (3,19­20). 2. Das Gesetz bewirkt Zorn (4,15), d. h., es kann den Menschen nicht befreien vom Zorn Gottes, unter dem er steht (siehe 1,18; 2,5), sondern mehrt ihn noch.

3. Das Gesetz macht die Sünde nur mächtiger (5,20). 4. Das Gesetz regt die Leidenschaften der Sünden an (7,5). 5. Das Gesetz macht die Sünde bewusst (7,7).

6. Das Gesetz macht, dass die Sünde auflebt (7,9). 7. Das Gesetz macht (durch ein bestimmtes Gebot desselben) die Sünde überaus sündig (7,13).

Kann das Gesetz nichts anderes bewirken, als nur Sünde aufzudecken und Sünde anzustacheln, ist für uns alles verloren, es sei denn, uns komme Gerechtigkeit von außen zu.

109 Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften, herausgegeben von Joh. Georg Walch, Bd. IV, Groß Oesingen: Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms, 1987 (vgl. WA 40 III, 335, 22­25). »Gott will uns nicht durch unsere eigene, sondern durch fremde Gerechtigkeit selig machen, durch eine Gerechtigkeit, die nicht aus uns kommt und aus uns erwächst, sondern von anderswoher zu uns kommt.«110 Wie diese »fremde Gerechtigkeit« uns zukommt, zeigt Paulus im nun folgenden Abschnitt. Die Verse 3,21­26 bilden das Herz der Recht­ fertigungslehre und damit des ganzen Briefes. Das zeigt sich schon daran, dass Paulus in 3,21­22 die zentralen Begriffe aufgreift aus den beiden Versen, in denen er das große Thema seines Briefes ankündigte (1,16­17):

1. »Jetzt … ist … Gottes Gerechtigkeit offenbart worden« (V. 21a) – »Denn [darin wird] Gottes Gerechtigkeit … offenbart« (1,17). 2. »Bezeugt durch das Gesetz und die Propheten« (V. 21b) – »Wie geschrieben steht« (1,17).

3. »Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben« (V. 22a) – »Jedem Glaubenden« (1,16).

Diese im Evangelium offenbarte Gerechtigkeit erfüllt, was Gott im Alten Testament verhieß (V. 21b); sie ist aber nicht anders zu erlangen als durch Glauben an Jesus Christus (V. 22a). Das gilt für alle, nicht nur für die Juden, die das Gesetz hatten, sondern auch für die Heiden, ohne Unterschied, weil alle gesündigt haben und die Herrlichkeit Gottes nicht er reichen (V. 22b­23). Weil alle in der Sünde und unter der Sünde sind (3,9), kann keiner anders als umsonst gerechtfertigt werden (V. 24a). Das ist aber nur möglich durch die Erlösung in Christus Jesus (V. 24b). Den hat Gott nämlich zum Sühneort hingestellt: Christus hat sein Blut ver­ gossen, um so alle Gerechtigkeit Gottes zu erfüllen, sodass jeder, der an seinen stellvertretenden Tod glaubt, die Gerechtigkeit Gottes emp­ fängt. So beweist Gott, dass er gerecht blieb, als er die vor dem Kom­ men Christi begangenen Sünden hingehen ließ (V. 25b), und dass er gerecht bleibt, wenn er »in der jetzigen Zeit« den Ungerechten, der an Jesus glaubt, rechtfertigt (V. 26). In seiner Gerechtigkeit richtete Gott die Sünde, nur richtete er sie nicht an uns, sondern an seinem Sohn. 110 M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 11 (WA 56, 158, 10ff.). Paulus sagt in diesen Versen über die Rechtfertigung folgende sieben Dinge:

1. Sie geschieht ohne Gesetz (V. 21).

2. Sie geschieht durch Offenbarung (V. 21).

3. Sie geschieht durch Glauben an Jesus Christus (V. 22). 4. Sie geschieht umsonst durch Gnade (V. 24)

5. Sie geschieht durch die Erlösung in Christus (V. 24). 6. Sie geschieht durch den Glauben an das Blut Jesu Christi (V. 25). 7. Sie geschieht zum Erweis der Gerechtigkeit Gottes (V. 26). Diese sieben Punkte bedeuten:

1. Wir sind unfähig sind, etwas Gutes zu tun (siehe 3,12); darum kön­ nen wir die Gerechtigkeit Gottes nur durch Glauben empfangen. 2. Unser Verstand reicht nicht, um Gott und seine Absichten zu ver­ stehen (siehe 3,11); darum muss uns die Gerechtigkeit Gottes offenbart werden.

3. Weil wir nichts vermögen und aus uns Gottes Absichten nicht verstehen, können wir uns nur auf das verlassen, was Gott für uns getan und was Gott uns offenbart hat.

4. Wir können nichts Gutes tun (3,11), darum sind wir verloren, wenn uns Gott nicht ohne Verdienst rechtfertigt. 5. Wir waren unter die Sünde verkauft (7,14); darum musste Chris­ tus uns mit seinem Blut loskaufen.

6. Wir können nur durch Glauben hinnehmen, dass Christus sein Blut für uns vergossen, also an unserer Stelle den Tod erlitten hat. 7. In der Rechtfertigung ist Gott die Hauptsache; in allem verherr­ licht er sich selbst: Er demonstriert in der Rechtfertigung des Sünders seine eigene Gerechtigkeit; alles geschieht zu seinem Ruhm; alles Rühmen des Menschen ist ausgeschlossen. 21 Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: »Jetzt aber«: Das Wörtchen »aber« markiert den großen Gegensatz zu dem, was Paulus in V. 20 gesagt hatte. Durch Gesetzeswerke kann kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt werden, jetzt aber zeigt Gott einen an deren Weg, auf dem der Mensch gerechtfertigt wird. Das »Jetzt« ist auch eine Zeitbestimmung: Jetzt ist Gottes Gerechtig­ keit durch Glauben offenbart worden, nachdem sie während Jahr­ hunderten angekündigt und bezeugt worden war im Alten Testament. Mit dem Erlösungswerk, das der Sohn Gottes wirkte, hat damit ein neues Zeitalter angefangen. Die Haushaltung des Gesetzes ist abgelöst wor­ den durch die Haushaltung der Gnade: Wir werden gerechtfertigt »durch seine Gnade« (V. 24).

Paulus greift den Begriff auf, den er in 1,17 bereits verwendet hatte: »Gottes Gerechtigkeit«. Dort hatte er gesagt, diese werde im Evan­ gelium offenbart; nun ergänzt er und sagt, Gottes Gerechtigkeit sei »ohne Gesetz« offenbart worden. Sie musste dem Menschen auf diese Weise zuteilwerden, da durch Gesetz kein Fleisch vor ihm gerecht fertigt werden kann (3,20). Mit dem Ausdruck »ohne Gesetz« ist das Gesetz vom Sinai gemeint; der Begriff »das Gesetz und die Pro pheten« meint aber nicht nur die Mosebücher und die Schriften der Pro pheten, son­ dern letztlich das ganze Alte Testament (wie in Mt 7 12,; 11,13; 22,40; Lk 16 29,; 24,27). Entsprechend kann Paulus in diesem ganzen Brief aus allen Teilen des Alten Testaments zitieren. Wie das Alte Testa­ ment diese Ge rechtigkeit bezeugt, zeigen Stellen wie 1Mo 15 6,; 45,21.25; 46,13; 51,5­6113; 61,10; 63,1; Jer 23,6). Das musste er zunächst der Juden wegen so deutlich sagen, denn die unterstellten den Christen, sie hätten eine neue Lehre in die Welt gesetzt, und sie warfen den bekehrten Juden vor, sie hätten den Glauben der Väter verleugnet. Beides stimmte nicht. In seiner ganzen Darlegung des Evangeliums verweist er immer wieder auf das Alte Testament, das dieses Evangelium bereits bezeugte (siehe das ganze Kapitel 4 sowie 9,33; 10,6­13.15­21; 11,3­5.26­29). Aber er musste es auch der Heiden wegen tun. Sie müssen wissen, dass es kein Evangelium gibt ohne das Alte Testament und dass Gott dieses den Juden anvertraut hat (3,2); sie müssen wissen, dass alles Heil aus den Juden kommt (9,5; Joh 4,22), damit sie sich nicht überheben (Röm 11,16­18) und bedenken, dass sie diesen deshalb Dank, Anerkennung und Liebe schulden (Röm 15,26­27).

22 Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus zu allen und auf alle, die glauben.

Hier ist mit »Gottes Gerechtigkeit« jene Gerechtigkeit gemeint, die Paulus in 1Kor 1,30 und Phil 3,9 »Gerechtigkeit aus Gott« nennt, denn sie kommt dem Menschen von Gott zu. Es ist nicht unsere, sondern eine fremde, eine von außen auf uns kommende Gerechtigkeit. In 2Kor 5,21 sagt Paulus, dass Christus an unserer Stelle zur Sünde gemacht wurde, damit wir die Gerechtigkeit Gottes würden. Gottes Gerechtigkeit wird zu unserer Gerechtigkeit. Wir werden »umsonst« (V. 24), dōrean, eigentlich »geschenkweise«, gerecht gemacht; die Gerechtigkeit ist ein Geschenk. Gott eignet uns seine eigene Gerechtigkeit zu – frei und ohne Verdienst. Das geschieht »durch Glauben«, wie Paulus bereits in 1,17 gesagt hatte. »Durch Glauben« bedeutet zwingend »ohne Gesetz« (V. 21), denn Glaube und Gesetz sind Gegensätze: »Dass aber durch Gesetz niemand vor Gott gerechtfertigt wird, ist offenbar, denn ›der Gerechte wird aus Glauben leben‹. Das Gesetz aber ist nicht aus Glauben, sondern: ›Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben.‹« (Gal 3,11­12). 113 Jes 51,5­6 verbindet direkt Gerechtigkeit und Errettung, wie es Paulus tut: »Nahe ist meine Gerechtigkeit, mein Heil ist ausgezogen … Meine Rettung wird in Ewigkeit sein, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerschmettert werden.« Hier haben wir sowohl Gottes Gerechtigkeit als auch Gottes Heil miteinander verbunden wie in Röm 1,16­17. Der Glaube, der rechtfertigt, ist der Glaube »an Jesus Christus«. Die Juden hatten auch einen Glauben: dass Gott die Welt erschaffen, dass er Mose sein Gesetz gegeben, dass er zu den Propheten ge sprochen habe, usw. Aber diese Art von Glauben machte sie nicht gerecht; denn es genügt nicht, an das Richtige zu glauben, sondern man muss das, was man glaubt, auch im Glauben ergreifen; man muss sein ganzes Ver­ trauen darauf setzen und damit alles eigene Sinnen, Urteilen und Wol­ len fahren lassen. Hätten die Juden in lebendigem Glauben angenommen, was Gott ihnen in den heiligen Schriften befohlen und sie gelehrt hatte, dann wären sie an sich selbst verzweifelt und hätten alle Hoffnung auf Gott gesetzt, dass er ihnen gebe, was sie nicht besaßen, und dass er an ihnen wirke, was sie nicht vermochten. Dann hätten sie den Sohn Got­ tes, als er endlich kam, mit großer Freude aufgenommen: »Denn wer ihr Mose glaubtet, würdet ihr mir glauben, denn er hat von mir geschrieben« (Joh 5,46). Wir müssen »an Jesus Christus« glauben, d. h. an seine Per­ son und an sein Werk. Er ist der ewige Gott, der Schöpfer aller Dinge; er wurde Mensch. Er war als Mensch sündlos, und er lebte ein sünd loses Leben und gehorchte Gottes Gesetz (Gal 4,4). Dieser Sündlose starb den Tod der Sünder, und er auferstand, um Sünder gerecht zu machen (Röm 4,25; 2Kor 5,21).

Gemäß Joh 5,39 zeugen alle Schriften des Alten Testaments von Christus, dem Erlöser, der diese Gerechtigkeit wirkt und durch den Gott sie uns schenkt. Das sagt auch Petrus und fügt dem hinzu, »dass jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt« (Apg 10,43). Chris­ tus und sein Werk, das ist der Inhalt des rettenden Glaubens; aber wah­ rer Glaube beinhaltet auch das absolute Vertrauen auf alles, was man zu glauben bekennt. Ersteres nennen die Theologen fides quae creditur: der Glaube der Dinge, an die man glaubt. Das ist der Glaubensinhalt. Letzte­ res nennen sie fides qua creditur: der Glaube, mit dem man glaubt; das ist das persönliche Vertrauen auf Christus und sein Werk. Gottes Gerechtigkeit »durch Glauben« kommt »zu allen und auf alle«, die glauben. Die Erlösung ist universal, sie kommt »auf« oder »über«, epi, alle. Damit will Paulus offensichtlich an 1,18 anknüpfen, wo er gesagt hatte, dass sich Gottes Zorn »über alle« Gottlosigkeit der Menschen offenbart. Der Sünde wegen kam Gottes Zorn über alle Men­ schen, denn die Sünde herrscht über alle. Ebenso universal herrscht Got­ tes Gerechtigkeit mitsamt all ihren Folgen »über alle«, die glauben. Sie herrscht, sie bleibt und kann von nichts und niemandem an gefochten werden, weil sie eben von Gott kommt und darum »vor Gott gilt«. Der Sünder wird gerecht gesprochen nicht aufgrund seiner eigenen, son­ dern einer fremden Gerechtigkeit. John Bunyan hat das in seiner auto­ biografischen Schrift Überströmende Gnade für den größten der Sünder folgender maßen beschrieben:

»Eines Tages, als ich über ein Feld ging … fiel dieser Satz auf meine Seele: ›Deine Gerechtigkeit ist im Himmel.‹ Und mir war, als hätte ich mit den Augen meines Herzens Jesus Christus zur Rechten Gottes ge sehen. Dort, sagte ich mir, ist meine Gerechtigkeit. Denn was ich auch war oder auch tat, Gott konnte nicht von mir sagen: ›Diesem fehlt meine Gerechtigkeit.‹ Denn diese war ja gerade vor ihm. Ich verstand auch, dass es nicht meine gute Herzensverfassung war, die meine Gerechtigkeit mehrte, noch meine schlechte Verfassung, die meine Gerechtigkeit minderte, denn meine Gerechtigkeit war Jesus Christus selbst, er, ›derselbe gestern, heute und in Ewigkeit‹. Jetzt fielen mir die Ketten von den Füßen. Ich wurde befreit von meinen Plagen und Ketten … ich kehrte heim voller Freude über Gottes Gnade und Liebe.«114 23 Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes,

24 und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. In der Sünde »ist kein Unterschied«; die Herrschaft der Sünde kennt keine Ausnahmen, »alle haben gesündigt«115 (wie wir in 3,9­18 sahen). Darum ist die Verlorenheit total: Sie »erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes«, wobei das hier verwendete Verb hystēreō bzw. hystēroumai wörtlich »ermangeln, Mangel haben« bedeutet. (Vgl. Mt 19 20,; 12,24; 2Kor 11 5,.; 12,11; Phil 4 12,; 12,15. keit. Er hat sie verloren und kann sie auf keine Weise erlangen117 Damit beweist Paulus in diesem Vers, dass er in 2,7 nicht sagen wollte, dass es Menschen gebe, die mitAusdauer in guten Werken Gottes Herrlichkeit suchen und das Leben und damit auch die Herrlichkeit, doch was der Mensch durch die Sünde verloren hat, schenkt ihm Gott wie­ der. Indem er uns seine Gerechtigkeit schenkt, schenkt er uns auch seine Herrlichkeit. Der Sohn Gottes hat es im Gebet bezeugt: »Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben« (Joh 17,22). Pau­ lus wird später sagen, dass Gott alle, die er zuvorbestimmt und berufen und gerecht fertigt hat, auch verherrlicht hat (Röm 8,30). Dem Apostel Jo hannes wurde im Gesicht gezeigt, dass das himmlische Jerusalem, die Ge meinschaft der Erlösten, Gottes Herrlichkeit hat (Offb 21,9­11). Wir sind gefallen, gesunken in die Schande der Sünde. Weil die Sünde über uns herrscht, sind wir darauf angewiesen, dass Gott alles für uns tut: Wir werden ohne Verdienst gerechtfertigt, »umsonst«, dwrean, dōrean, von to dōron, das Geschenk, also: geschenkweise. »und werden … gerechtfertigt«: Man beachte das Passivum. Wir werden gerechtfertigt; wir tun nichts. Wir sind ganz passiv; Gott ist der allein Handelnde. In der Errettung ist es Gott, »der alles wirkt« (Eph 1,11), wirklich alles. Wir sprechen darum vom Monergismus, von der Alleinwirksamkeit Gottes in allem, was zur Errettung gehört. Nach­ dem Paulus das ganze Evangelium erklärt hat, sagt er zusammenfassend: »Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!« (Röm 11,36).

Hier verwendet Paulus zum vierten Mal das Verb »rechtfertigen«, dikaioō (nach 2,13; 3,4.20 [danach noch in 3,26.28.30; 4,2.5; 5,1.9; 6,7; 8,30.33]). Die griechischen Verben, die auf -oō ausgehen, sind fakti­ tiv, d. h., sie besagen, dass man macht, was das zugrunde liegende Wort bedeutet, z. B. doulos = »der Knecht«; douloō = »zum Knecht machen, knechten«; dikaios = »gerecht«, dikaioō = »gerecht machen«. Wie ist das hier aufzufassen? Werden wir in der Weise »gerecht gemacht«, dass wir in uns gerecht sind? Nein; sondern wir werden von Gott für gerecht deklariert. Es hat die gleiche Bedeutung und Wirkung wie ein Freispruch vor Gericht: Wir werden für nicht schuldig deklariert und damit von der Klage und vom Urteil freigesprochen. Röm 6,7 und 8,33 sind gute Bei­ spiele für diese Bedeutung: »Wer gestorben ist, ist freigesprochen [wörtlich: gerecht gemacht] von der Sünde« (6,7; Elb 2003). Und auf die 117 Damit beweist Paulus in diesem Vers, dass er in 2,7 nicht sagen wollte, dass es Menschen gebe, die mit Ausdauer in guten Werken Gottes Herrlichkeit suchen und das Leben und damit auch die Herrlichkeit erlangen. Frage, wer die Erwählten verklagen könne, lautet die Antwort: »Gott ist es, der rechtfertigt« (8,33). Er hat uns für gerecht deklariert, darum kann uns niemand mehr vor Gericht verklagen.

»durch seine Gnade« ergänzt den Begriff »umsonst«. Bei »umsonst« liegt die Betonung auf uns: Wir haben nichts gegeben, um gerechtfertigt zu werden. Bei »Gnade« liegt die Betonung auf Gott: Er tut uns Gutes aus sei­ nem freien Antrieb heraus. Dabei tut er Gutes und gibt Gutes solchen, die das Gegenteil verdient haben: Wir waren schuldig, waren gegen Gott auf­ gestanden und hatten nur Zorn verdient. Es ist wichtig, dass wir gut ver­ stehen, was Gnade meint. Es drückt eine Haltung aus, die Gott zu uns hat. Er zürnt uns nicht; er steht nicht als der gerechte Richter gegen uns, son­ dern er wendet sich uns zu als der Retter und Erlöser. Warum ist es wichtig, dass wir das verstehen? Weil nach römisch­katholischem Verständnis die Gnade eine Kraft ist, ein Etwas, das Gott dem Menschen spendet (durch die Sakramente). Er gießt Gnade wie einen Kraftstoff in den schwachen Menschen und gibt ihm damit das Vermögen, Gutes zu tun. Gnade heißt also, dass der Beschluss, den Sünder gerecht zu sprechen, von Gott kommt, denn aus uns kann kein Gedanke kommen und kein Wille entstehen, der uns Gott näher brächte. Und Gnade heißt, dass Gott auch alles wirkt, denn wir können nichts tun, um uns gerecht zu machen. Wir sind vollständig kraftlos und gottlos. Doch für solche ist Christus gestorben (Röm 5,6) und wieder auferstanden. Wir werden gerecht fertigt »durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist«. Gott hat in seinem Sohn alles gewirkt, um uns von der Schuld, von der Macht und von den ewigen Folgen der Sünde zu befreien. »Erlösung«, apolytrōsis, kann man auch übersetzen mit »Loskauf«. Paulus verwendet das Wort siebenmal (sonst noch in Röm 8,23; 1Kor 1,30; Eph 1 7,.; 4,30; Kol 1,14), Lukas ver wendet es einmal (Lk 21,28), der Hebräerbrief zweimal (Hebr 9 15,; 11,35). In Eph 1,7 steht: »In ihm [Christus] haben wir die Erlösung durch sein Blut.« Und in Hebr 9,15 steht: »Und darum ist er Mittler eines neuen Bundes, damit, da der Tod stattgefunden hat zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfingen.« Wir wurden von der Schuld der Sünde befreit, indem Christus die Schuld auf sich nahm und für uns bezahlte: Er erlöste uns »durch sein Blut«; sein Tod war »zur Erlösung von den Übertretungen«. Er hat mit seinem Blut für uns bezahlt; darum können wir die Vergebung und Rechtfertigung frei, »umsonst«, empfangen. 25 Den hat Gott hingestellt zu einem Sühneort durch den Glauben an sein Blut, zum Erweis seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden 26 in der Nachsicht118 Gottes; zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass er gerecht ist, auch wenn er den rechtfertigt, der an Jesus glaubt.

In diesen beiden Versen zeigt Paulus, dass die Rechtfertigung aus Glau­ ben vollständig mit Gottes Wesen übereinstimmt. Es muss so sein; denn Gott kann nichts wirken, was seinem Charakter widerspräche. Ist Gott gerecht, muss daher die Rechtfertigung seine Gerechtigkeit bestätigen. Indem Gott seinen Sohn stellvertretend für uns in den Tod gab, legte er die gerechte Grundlage zu unserer Rechtfertigung. Gott kann nun jeden, der an Christus glaubt, für gerecht erklären, weil Christus in seinem Kreuzestod alle gerechten Forderungen Gottes erfüllt hat. Was Gott durch Christus am Kreuz tat, teilt die ganze Mensch­ heitsgeschichte in zwei Hälften. Gott ließ in der Zeit vor dem Kom­ men Christi Sünden hingehen, die vor Golgatha geschahen. Seit Gol­ gatha vergibt und rechtfertigt er Menschen, die an Jesus und an sein Werk glauben. In Kapitel 5 wird Paulus ein zweites Mal zeigen, dass die Geschichte der Menschheit in zwei Zeitalter zerfällt – in ein Zeit­ alter, das von Adam bis zum Kommen Christi reichte, und in ein Zeit­ alter, das mit dem Kommen Christi beginnt. Das gibt uns einen Begriff davon, wie groß das Geschehen von Golgatha ist. Es ist der Wendepunkt aller Zeiten. Das Zeitalter vor Christus ist das Zeitalter des Todes, der als Folge der Sünde Adams über alle und über alles (ja, alles, auch über die Schöpfung, wie wir in Röm 8 erfahren werden) herrschte; das Zeitalter nach Christus ist das Zeitalter der Erlösung; der Tod herrscht nicht mehr über jene, die an Christus glauben, sondern diese herrschen vielmehr im Leben (Röm 5,17).

Auf Golgatha hat Gott Christus »hingestellt zu einem Sühneort«, ilasthrion, hilastērion, das gleiche Wort wie in Hebr 9,5. Das ist in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (in der sogenannten Septuaginta) die Bezeichnung für den Sühnedeckel auf der Bundes­ 118 anochē, wie in 2,4 (Geduld); wörtlich »das Aufhalten«; im klassischen Griechischen wird es verwendet für den Waffenstillstand (Xenophon, Memorabilia 4,4,17). lade (3Mo 16,14­15).119 Das war der Ort, auf den das Blut des Sühne­ opfers gesprengt wurde zum Zeugnis vor Gott, dass Gottes Gerechtigkeit Genüge getan war. Hauptwörter auf ­tērion bezeichnen im Griechischen Orte, wie desmōtērion = Ort der Gefangenen (Apg 5,21), katoiketērion = Ort, da man wohnt (Eph 2,22); thysiastērion = Ort, da man opfert, d. h. Altar (Mt 5,23). Das hilastērion ist also der Ort, an dem hilasmos, Sühne, geschieht. Dieser Ort war im Alten Testament der »Gnadenstuhl« (und entsprechend übersetzen Luther 1912 und die UELB an der vorliegen­ den Stelle). Die Sünden des Volkes wurden auf das Sündopfer gelegt, und dieses wurde geschlachtet, und das Blut wurde auf den Sühnedeckel gesprengt, und so geschah »Sühnung … wegen der Unreinheiten der Kinder Israel wegen ihrer Übertretungen, nach allen ihren Sünden« (vgl. 3Mo 16,15­16). Das war alles nur ein Schatten (vgl. Kol 2,17; Hebr 10,1); der Ort, an dem Gott wirklich Sühne gewirkt hat, ist das Kreuz, an dem Christus, das Lamm Gottes, hing. Christus wurde unter den Augen der Welt gekreuzigt, und gerade das markiert einen auffälligen Unterschied zum Sühneort, zum Gnadenstuhl im Alten Testament. Der war ver borgen im Allerheiligsten; niemand durfte ihn sehen, außer dem Priester, der nur einmal im Jahr dort hineingehen durfte. Christus hingegen wurde in aller Öffentlichkeit hingerichtet und vergoss sein Blut; sein Werk ist allen offenbar, und er ist jetzt als Sühneort »hingestellt«, sichtbar für alle. Pau­ lus will damit zweierlei sagen: Erstens ist Gottes Gerechtigkeit vor aller Welt demonstriert und offenbart, und zweitens ist diese Gerechtigkeit zugänglich für alle, die zu Christus am Kreuz, dem wahren Gnadenstuhl, kommen wollen.

»durch den Glauben an sein Blut«: Das bedeutet, dass wir durch den Glauben empfangen, was Gott am Sühneort, auf Golgatha, getan hat. Wir empfangen es nicht durch Werke; wir empfangen es nicht, indem wir Gott ein Opfer bringen; wir empfangen es einzig und allein dadurch, dass wir an das glauben, was Gott in Christus für uns getan hat. Wir glauben »an sein Blut«. Wir glauben, dass er sein Blut vergoss und damit sein Leben ließ, um unsere Sünden vor Gott zu sühnen. In 3Mo 17,11 steht in der Sprache des Alten Testaments, warum Christus sein Blut lassen musste: »Die Seele des Fleisches ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, um Sühnung zu tun für eure Seelen; denn das Blut 119 Hebräisch kappōræt.

ist es, welches Sühnung tut durch die Seele.« Hier haben wir den Begriff »Sühnung«, der auch in »Sühneort« enthalten ist. Die Sühnung musste durch Blut geschehen, denn das Leben ist im Blut. Damit, dass Chris­ tus sein Blut vergoss, gab er sein Leben dahin. Und es war Gott selbst, der das veranlasste: »Ich habe es … auf den Altar gegeben.« In Jes 53,10 steht: »Es gefiel dem HERRN, ihn [seinen Sohn] zu zer schlagen.« Gott hatte seinem Sohn aufgetragen, sein Leben für Sünder dahinzugeben, und damit, dass der Sohn gehorchte, stellte »seine Seele das Schuld­ opfer«. Er vergoss sein Blut, und damit »schüttete er seine Seele aus in den Tod« (Jes 53,12).

»zum Erweis seiner Gerechtigkeit«: In Vers 22 ist mit »Gottes Gerechtigkeit« jene Gerechtigkeit gemeint, die aus Gott ist und die er dem Glaubenden gibt. Hier ist die Gerechtigkeit Gottes (»seine Gerechtigkeit«) die Gerechtigkeit, die Gott selbst besitzt. Diese musste vor aller Welt demonstriert werden, darum wurde Christus als Sühneort öffentlich hingestellt. Wir dürfen das bei der Erlösung nicht übersehen. Es geht nicht nur darum, dass wir Verlorene erlöst werden, sondern mehr noch darum, dass Gott verherrlicht wird, und das bedeutet, dass seine Gerechtigkeit bezeugt und bewiesen werden muss. Es musste bewiesen werden, dass er gerecht war trotz »des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden«. Es waren Sünden geschehen, bevor Gott seine Gerechtigkeit durch Glauben an Jesus offenbart hatte (V. 21­22), und die hatte er während Jahrhunderten »hingehen lassen« in seiner »Nachsicht«, anochē, von anechomai, ertragen (wie in Mt 17,17; Apg 18,14; 1Kor 4,12; 2Kor 11,1; Eph 4,2; 2Thes 1,4; Hebr 13,22). Wenn Gott Sünden ertrug, wie ver­ trug sich das mit seiner Gerechtigkeit? Darauf antwortet der öffentlich aufgestellte Gnadenstuhl. Dort bewies Gott, dass er alle Sünde in voller Gerechtigkeit gerichtet hat. Er richtete sie an seinem Sohn; und weil sein Sohn nach Gottes Willen die Strafe für die Sünde trug, konnte Gott, ohne seine Gerechtigkeit zu verleugnen, in allen Jahrhunderten davor »Nachsicht« haben und Sünden »hingehen lassen«. »Hingehenlassen«, paresis, steht im Neuen Testament nur an dieser Stelle. Das zu ihm gehörige Verb pariēmi bedeutet wörtlich »vorüberlassen« und wird gebraucht im Sinn von »durchgehen lassen«. Gott ließ die Sünden geschehen und ließ sie »durchgehen«; er bestrafte sie nicht.

Das Kreuz Christi dient auch dem Erweis von Gottes Gerechtigkeit »in der jetzigen Zeit«, in der Zeit, die »jetzt« gekommen ist (V. 21). Für alle Sünde, die je geschehen ist und die noch geschehen wird, ist Christus das vollkommen hinlängliche Sündopfer. So zeigt Gott, »dass er gerecht« ist, wenn er den Schuldigen rechtfertigt, ohne dass der für seine Schuld gesühnt hat.

Gott erweist sich in all seinem Handeln als gerecht. So wie sich Got­ tes Gerechtigkeit in seinem Zorn über alle Ungerechtigkeit der Men­ schen offenbart (1,18), so hat er jetzt seine Gerechtigkeit offenbart in der Weise, in der er den Sünder gerecht macht. Sei es im Zorn, sei es in Gnade, stets bleibt Gott der unwandelbar Gerechte. Christus hat unsere Sünden gesühnt; Gott sieht ihn an, den Gerechten, der sein Blut für die Schuldigen vergoss und damit für ihre Schulden bezahlte. Nun kann Gott die Schuldigen freisprechen, ohne sein eigenes Gesetz zu brechen. Sie standen einst vor dem Richter, und der hatte sein Urteil ge sprochen – »unter der Sünde« (3,9). Nun stehen sie vor Gott, und er sagt: »… frei gesprochen von der Sünde« (6,7; Elb 2003). »auch wenn er den rechtfertigt, der an Jesus glaubt«: Wir soll­ ten den griechischen Satz in dieser zugespitzten Weise verstehen120 Man nennt diesen Gebrauch des griechischen Partizips konzessiv oder einräumend. WeitereBeispiele für diesen Gebrauch des Partizips sind Mt 7,11: »Wenn ihr, obwohl ihr böse seid …«;Apg 18,25: »… obwohl er nur die Taufe des Johannes kannte …«; Röm 1,32: »… obwohl sie GottesRechtsordnung erkennen …«; 1Kor 9,19: »Auch wenn/obwohl ich frei bin von allen …«; Phil 3,4:»Auch wenn/obwohl ich Ursache hätte, auf Fleisch zu vertrauen …«; Hebr 11,4: »… durch diesenredet er, obgleich er gestorben ist«; Jak 3,4: »… die Schiffe, obwohl sie so groß sind …«.. Hier wird das große Wunder der Rechtfertigung durch den Glauben aus­ gesagt: Gott bleibt gerecht – auch dann, wenn er den Schuldigen nicht verdammt, sondern ihn für gerecht erklärt. Er ist der Gott, der schon zum Propheten Jesaja sagte: »Es ist sonst kein Gott außer mir; ein ge rechter und rettender Gott ist keiner außer mir!« (Jes 45,21). Wie herrlich ist das! Gott ist gerecht und gleichzeitig ein Retter. Nur der allein wahre Gott vermag das: Er kann Sündern Gnade erweisen unter Wahrung vollkommener Gerechtigkeit. Wenn ein menschliches Gericht einen Schul­ digen begnadigt, dann hat es Gnade vor Recht ergehen lassen. So etwas tut Gott nie; denn er kann sich selbst nicht verleugnen. Er kann nie auf­ hören, gerecht zu sein und gerecht zu handeln – er müsste denn aufhören Gott zu sein, und das ist ein Unding. Gott lässt Gnade ergehen und wahrt dabei seine absolute und unwandelbare Gerechtigkeit. Das ist das Wun­ der von Golgatha und das Wunder des Evangeliums. 120 Man nennt diesen Gebrauch des griechischen Partizips konzessiv oder einräumend. Weitere Beispiele für diesen Gebrauch des Partizips sind Mt 7,11: »Wenn ihr, obwohl ihr böse seid …«; Apg 18,25: »… obwohl er nur die Taufe des Johannes kannte …«; Röm 1,32: »… obwohl sie Gottes Rechtsordnung erkennen …«; 1Kor 9,19: »Auch wenn/obwohl ich frei bin von allen …«; Phil 3,4: »Auch wenn/obwohl ich Ursache hätte, auf Fleisch zu vertrauen …«; Hebr 11,4: »… durch diesen redet er, obgleich er gestorben ist«; Jak 3,4: »… die Schiffe, obwohl sie so groß sind …«.

2. Die Ergebnisse der Gerechtigkeit aus Glauben (3,27­-31) 128

In diesem Abschnitt nennt Paulus drei Ergebnisse der Rechtfertigung durch den Glauben:

1. Alles Rühmen ist ausgeschlossen (V. 27).

2. Gott erweist sich als der eine Gott, vor dem Juden und Heiden gleich sind (V. 29­30).

3. Das Gesetz wird bestätigt (V. 31).

Dass Gott allen Ruhm bekommen muss, dass alle Menschen vor ihm gleich sind und dass alles, was Gott im Alten Testament offenbart hat, sich als wahr erweisen muss, ist so offenkundig, dass das von Paulus gelehrte Evangelium sofort als falsch erwiesen wäre, wenn es nur einem dieser drei Punkte widersprochen hätte.

1. Die Rechtfertigung aus Glauben bewirkt zwingend, dass Gott allein allen Ruhm bekommt.

2. Die Rechtfertigung aus Glauben zeigt, dass nur ein Gott ist, vor dem alle gleich sind.

3. Die Rechtfertigung aus Glauben bestätigt das Gesetz und damit alles, was Gott im Alten Testament offenbart hat. Es muss so sein, denn Gott kann sich selbst nicht widersprechen. Irgendeine Botschaft, die nur einem dieser Dinge widerspricht, muss falsch sein. An ihnen kann man also ablesen, ob das von Paulus gelehrte Evangelium die Wahrheit Gottes ist.

27 Wo ist denn das Rühmen? Es ist ausgeschlossen worden. Durch was für ein Gesetz? Der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.

28 Denn wir urteilen121 logizomai, rechnen, wie in 4,3., dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. »Wo ist denn das Rühmen? Es ist ausgeschlossen worden.«: Das ist das erste große Ergebnis der Gerechtigkeit aus Glauben. Der Satz ist geradezu programmatisch. Gott handelt in der Schöpfung und in der Erlösung stets so, dass kein Geschöpf sich rühmen kann. Als er dem Propheten Jesaja sein Handeln in Gericht und Erlösung offenbarte, sagte er: »Ich bin der HERR, das ist mein Name; und meine Ehre gebe ich keinem anderen, noch meinen Ruhm den geschnitzten Bildern« (Jes 42,8). Paulus fasst diese Sätze zusammen in den Worten: »Aus ihm aber seid ihr in Christus Jesu, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung; damit, wie geschrieben steht: ›Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn‹« (1Kor 1,30­31). »Durch was für ein Gesetz?«: Die Frage macht deutlich, dass Pau­lus mit »Gesetz der Werke« und »Gesetz des Glaubens« nicht das Gesetz vom Sinai meint. Er verwendet das Wort im Sinne von Grundsatz. Durch welches Prinzip sind wir gerechtfertigt? Durch ein Prinzip der Werke? Nein, sondern »durch das Gesetz« oder das Prinzip »des Glaubens«. Damit, »dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke« ist alles Rühmen ausgeschlossen; und damit ist auch gesagt, dass Glauben und Gesetzeswerke sich gegenseitig aus­ schließen (siehe auch Gal 2,16). Das bedeutet, dass der Glaube im Gegen­ satz zu Gesetzeswerken keine Leistung sein kann. Glauben ist nicht eine Anstrengung, die wir aufbringen, die Gott damit belohnt, dass er uns rechtfertigt. Wäre es so, hätten wir etwas zum Rühmen, aber genau das ist unmöglich, weil Gott es unmöglich gemacht hat. Der Glaube ist lediglich das Mittel, durch das wir die Gerechtigkeit Gottes empfangen. Wir sind errettet »mittels des Glaubens« (Eph 2,8); er ist die Tür, durch welche das Heil eintritt. Der Glaube ist nicht eine Anlage, die wir besitzen und die wir aktivieren und auf Christus richten. Der Sohn Gottes sagte seinen Zeitgenossen, dass sie nicht glauben konnten (Joh 5,44),122 »Der natürliche Mensch kann nicht an den Sohn Gottes und damit an die Wahrheit glauben, wie Johannes in 12,39 wiederum sagt. Das liegt nicht daran, dass er nicht fähig wäre zu glauben; denn er glaubt sehr viele Dinge. Aber er kann die Worte des Herrn nicht hören (8,43) und damit an ihn glauben. Warum kann er nicht? Er kann nicht, weil er nicht will (5,40). Und warum will er nicht? Weil er seine eigene Ehre sucht und ›die Ehre, die von Gott allein ist, nicht sucht‹. … Warum sucht der Gottlose Gottes Ehre und damit Gott selbst nicht (siehe Röm 3,11)? Weil er nicht anders will; und darum kann er nicht. Er ist ein Sünder und damit an das Böse gebunden (8,34)« (B. Peters, Das Evangelium nach Johannes, Bielefeld: CLV, 2015, S. 241). und der Evan­gelist bestätigt es gegen Ende seines Evangeliums noch einmal, indem er von den Juden sagt, dass sie nicht glauben konnten (Joh 12,39). Weil wir nicht glauben können, wird uns der Glaube von Gott ge geben, wie das Neue Testament an mehr als einer Stelle sagt: Uns ist es geschenkt zu glauben (Phil 1,29); der Glaube ist nicht aus uns, er ist eine Gabe Gottes (Eph 2,8). Wie schenkt uns Gott den Glauben? Indem er durch das Evan­ gelium zu uns spricht, weckt er in unseren toten Herzen den Glauben: »Also kommt der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort« (Röm 10,17).

29 Oder ist er der Juden Gott allein? Nicht auch der Nationen? Doch, auch der Nationen,

30 denn Gott ist einer, der die Beschnittenen aus Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben rechtfertigen wird. Das zweite große Ergebnis der Gerechtigkeit aus Glauben ist, dass Gott sich damit als der eine Gott erweist, vor dem alle gleich sind und der alle auf die gleiche Weise rettet. Wäre die Rechtfertigung durch Beschneidung, d. h. durch Halten des Gesetzes, wäre Gott nicht der Gott aller, sondern »der Juden … allein«. Und damit wäre ein Unterschied zwischen Juden und Heiden; es besteht aber keiner, wie Paulus in 2,9­11 und 3,9.19.22­23 gesagt hat. Sie sind gleich in der Sünde und darum glei­chermaßen verurteilt. Wenn Gott »der … eine« und der heilige Gott ist, kann er unter den Menschen, die alle gleichermaßen schuldig vor ihm stehen, nicht nach unterschiedlichen Kriterien richten. Und wenn er als der eine Gott für alle gleicherweise Schuldigen einen Weg zur Errettung bereitet hat, dann kann er nicht einige auf diesem Weg retten und andere auf einem anderen Weg. Sind also Juden und Heiden gleich schuldig vor Gott, sind sie notwendigerweise gleich in der Rechtfertigung und werden darum in gleicher Weise gerettet (siehe auch 10,11­13). Diese Errettung kann nur der eine Gott wirken. Außer ihm »ist kein Retter« (Jes 43,11). Alle sind gleichermaßen auf ihn und sein gnädiges Wirken angewiesen. Dieser alleinige Retter rechtfertigt »die Beschnittenen aus Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben«. Da kein Unterschied zwischen Juden und Heiden in der Methode der Rechtfertigung ist, kann »aus Glauben« und »durch Glauben« nicht bedeuten, dass in der Art der Rechtfertigung irgendein Unterschied zwischen ihnen bestünde. Paulus variiert die Präpositionen, um letztlich zu sagen: Alle, ob Beschnittene oder Unbeschnittene, werden aus Glauben und durch Glauben gerecht­ fertigt. Das wird durch folgende Worte in Gal 2,16 bestätigt: »… dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus, auch wir haben an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt würden, und nicht aus Gesetzeswerken.« Die gleichen Leute sind durch und aus Glau­ ben gerechtfertigt. Und während Paulus in Röm 3,30 von den Heiden sagt, sie seien durch Glauben gerechtfertigt, ist in Gal 3,8 zu lesen, »dass Gott die Nationen aus Glauben« rechtfertigt.

31 Tun wir also das Gesetz ab durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir bestätigen das Gesetz.

Hier nennt Paulus das dritte Ergebnis der Gerechtigkeit aus Glauben: Sie bestätigt das Gesetz. Paulus muss den Vorwurf zurückweisen, der Glaube hebe das Gesetz auf. Wenn das der Fall wäre, könnte das Evan­gelium unmöglich von Gott sein, denn Gott kann sich selbst nicht wider­ sprechen. Er kann nicht ein Gesetz geben, in dem er Forderungen an den Menschen stellt, und dann diese für ungültig erklären. Alle seine Forderungen müssen erfüllt werden. In welcher Weise erfüllt der Glaube das Gesetz?

Gott hatte im Gesetz die Gerechtigkeit aus Glauben angekündigt (V. 21). Der Glaube an das Evangelium ist die Erfüllung dieser Ankündigung und bestätigt damit das Gesetz.

1. Der Glaube ist der Glaube an Jesus Christus (V. 22). Wir glauben, dass Jesus Christus der einzige Mensch ist, der das Gesetz erfüllt und damit bestätigt hat. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott sei­ nen Sohn, und stellte ihn unter das Gesetz (Gal 4,4). Er sagte sei­ nen Zeitgenossen, dass er nicht gekommen sei, Gesetz oder Pro­pheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17). a. In seinem Leben bestätigte er das Gesetz, indem er allem gehorchte, was das Gesetz gebot.

b. In seinem Leiden und Sterben bestätigte er es, indem er alles erlitt, was das Gesetz an Strafen für den Ungehorsam ver­ ordnet hatte.

2. Wer an den stellvertretenden Tod Christi glaubt, nimmt Zuflucht zu dem, der allein alles erfüllt hat, was das Gesetz dem Menschen auferlegt. Nur wer an Christus glaubt, nimmt Gott und damit sein Gesetz ernst; er bekennt, dass das Gesetz heilig ist und dass er als Gesetzesübertreter schuldig vor Gott steht. Sein Glaube ist das Ein­ geständnis, dass Gott gerecht ist, wenn er den Tod des Über treters fordert; mit seinem Glauben bekennt er, dass er den Fluch des Gesetzes verdient hat und nur einen Weg kennt, der ihn vom Fluch des Gesetzes befreien kann: der Glaube, dass Christus alle Gerech­ tigkeit erfüllt hat in seinem Leben und dass er in seinem Sterben an seiner Stelle den Fluch des Gesetzes getragen hat (Gal 3,13). Wer sich hingegen auf Gesetzeswerke beruft, nimmt das Gesetz nicht ernst; er verharmlost dessen Forderungen und ignoriert seine Flü­ che (5Mo 27,15­26), und damit macht er Gott zum Lügner. Und wer meint, als Gerechtfertigter habe er nun die Pflicht, alle Gebote des Gesetzes zu halten, um es zu bestätigen, hat sich von der Herr­ schaft der Gnade wieder unter die Herrschaft des Gesetzes be ­ geben (siehe Röm 6,14; Gal 5,4). Er vertraut wieder auf sich selbst anstatt auf Christus und auf alles, was Christus getan hat.

Anmerkungen zu Kapitel 3

Newell stellt das ganze Kapitel unter folgende Überschriften: »1. Die Juden hatten die Aussprüche Gottes – ein großer Vorteil; ihre Untreue verhindert nicht, sondern beweist vielmehr, dass Gott gerecht ist, wenn er richtet (Verse 1­8).

2. Alles umfassende vierzehnfache Verurteilung aus den Schriften des Alten Testaments: Alle Menschen, Juden wie Heiden, stehen schuldig vor Gott; jeder Mund ist verstopft (Verse 9­20). 3. Gnade für die Schuldigen! Gottes Gerechtigkeit kommt auf einem anderen Weg als durch das Gesetz – durch Glauben an Jesus Christus (Verse 21­31)« (William Newell, Romans Verse by Verse). V. 3­4 – »Der Gedanke, Gott könnte seine Zusagen nicht halten, kann nur entschieden zurückgewiesen werden: Ausgeschlossen! Unvorstell­ bar, dass des Menschen Sünde Gottes Treue beendet, statt dass Gottes Treue die Sünde beendet (11,26)« (A. Pohl, Der Brief des Paulus an die Römer, S. 73).

V. 5­7 – »So denken die Menschen tatsächlich: Wenn das Böse durch Gottes Fügung günstige Folgen erhält, so betrachten sie es damit als ent­ schuldigt; und wenn Gott trotzdem die Sünde straft, empfinden sie das als eine Ungerechtigkeit« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 106). V. 7­8 – »Dass Gott das Böse zwingen kann, Gutes hervorzubrin­ gen, entschuldigt den Sünder nicht, der das Böse tut. An dieser Stelle treiben einige Menschen den größten Missbrauch mit Gottes Güte. Sie sagen: Wenn Gott aus der Sünde schlussendlich etwas Gutes hervor­ kommen lässt und es zum Besten wendet, wenn also Gottes Gnade nur desto größer wird, wenn unsere Sünde überhandnimmt – darf man dann nicht mit gutem Gewissen sündigen? … Paulus erteilt allen, die so reden, eine Abfuhr mit dem Bescheid, dass sie alle ihr wohlverdientes Gericht bekommen werden. Niemand verdreht ungestraft das Evangelium Got­ tes« (Bo Giertz, Förklaringar till Nya Testamentet, Bd. 2, Johannes till Korintierbreven, S. 290).

V. 9 – »Haben wir einen Vorzug? … Man achte auf den heiligen Kunst­ griff (sanctum artificium): Als Paulus den Juden ihre Vorteile zusprach, redete er in der dritten Person (V. 1­4), doch jetzt, da er alles niederreißen will, fügt er sich selbst zu ihrer Zahl, um jeden Anstoß zu vermeiden« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Bd. 5.1, S. 171). V. 21­26 – »Nachdem der Apostel bewiesen hat, dass alle Menschen Sün­ der sind, kehrt er zurück zu dem, was er in 1,17 bereits als das Prin­ zip des Evangeliums dargelegt hat: zur Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Alles, was zwischen 1,18 und 3,21 steht, soll zeigen, dass die Gerechtigkeit Gottes notwendig ist, weil im Menschen keine Gerechtig­ keit ist. Nachdem er das getan, geht der Apostel näher ein auf das Thema der Gerechtigkeit Gottes und erklärt, wie Gott diese dem Menschen zu eignet« (J. N. Darby, On the Epistle to the Romans, S. 324). V. 21 – »Erstens: Gott ist gerecht, und zwar nicht wie einer unter vie­ len, sondern als der, der allein die ganze Fülle der Gerechtigkeit in sich umschließt. Denn das ungeschmälerte und wohlbegründete Lob, das ihm gebührt, wird ihm nur dann zuteil, wenn ihm allein Name und Ehre eines Gerechten vorbehalten bleiben, während das ganze Menschengeschlecht sich der Ungerechtigkeit muss schuldig sprechen lassen. Sodann: Gott gibt uns Anteil an seiner Gerechtigkeit, da er ja seine Reichtümer keines­ wegs bei sich unter Verschluss hält, sondern sie unter die Menschen aus­ schüttet. Darum leuchtet in uns ein Widerschein seiner Gerechtigkeit auf, sofern er uns durch den Glauben an Christus rechtfertigt« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Bd. 5.1, S. 205).

V. 25 – »Sünde gegen Gott ist grenzenloses Böses und erfordert eine grenzenlose Strafe; diese kann aber innerhalb von begrenzter Zeit nicht erlitten werden von Wesen, die nicht fähig sind, die Strafe in grenzen­ losem Umfang zu tragen. Aber sowohl das Leiden als auch der Gehorsam dessen, der grenzenlos ist, gilt für Gott so viel wie ewiger Gehorsam und ewiges Leiden von geschaffenen Wesen. Der Grund dafür liegt im gren­ zenlosen Wert der Person, die das Leiden für uns ausstand« (C. O. Rose­ nius, Der Brief an die Römer, Bd. 1). V. 30 – »Da Gott einer ist, kann es nur einen Weg geben, auf dem Gott die Menschen rechtfertigt. Ein gerechter Richter kann nicht einander wider­ sprechende Urteile fällen, wenn alle, die vor ihm stehen, gleich schuldig sind. Ebenso wenig kann er solche Schiedssprüche fällen, welche einige retten und andere ausschließen würden. Die Einheit Gottes macht die Errettung durch den Glauben zur einzig möglichen Methode« (J. M. Stif­ ler, The Epistle to the Romans, S. 67­68). »Der Jude erkannte die Einheit und die Heiligkeit Gottes an, dennoch hielt er fest an der Rechtfertigung durch Werke. Das tat er, weil er seine Sündhaftigkeit nicht erkannte. Man kann es nicht oft genug sagen: Eine falsche Theologie hat ihre Quelle in einem mangelhaften Verständnis der Verdorbenheit des Menschen« (J. M.Stifler, The Epistle to the Romans, S. 68).123 »Die meisten Ketzereien stammen aus einer verkehrten Einsicht in das Wesen des Menschen. Der Pelagianismus reagiert sofort [wirkt sofort zurück; B. P.] auf die Christologie und Trinitätslehre. Die Monarchianer [welche die Trinität leugneten; B. P.] und Arianer [welche die Gottheit Christi leugneten; B. P.] waren zuallererst Pelagianer vor Pelagius. Je mehr Christus wächst, desto mehr nimmt der Mensch ab, und umgekehrt; unser Wahlspruch sei und bleibe aber: ›Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen‹« (Eduard Böhl, Dogmatik, Hamburg und Bonn: Reformatorischer Verlag und Verlag für Kultur und Wissenschaft, 2004, S. 185).

Kapitel 4 135

Paulus hat in 3,21 gesagt, dass die Rechtfertigung aus dem Glauben in Gesetz und Propheten bezeugt ist. Das demonstriert er im Folgenden an zwei ganz Großen aus der Geschichte der erwählten Nation, an Abra­ham und an David. Abraham war der Vater der jüdischen Nation und David der vorbildliche König, durch dessen Sohn, den Messias, alles Heil und damit aller Segen kommen sollte. Abraham wurde sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet, und David hieß glückselig, weil Gott ihm Gerechtigkeit ohne Werke zurechnete (V. 1­8). In diesem Kapitel beantwortet Paulus auch die in Kapitel 3,1 gestellte Frage, was denn der Nutzen der Beschneidung sei, und zwar tut er das wiederum an Abraham, indem er daran erinnert, dass Gott dem Abraham die Gerechtigkeit zugerechnete, bevor er beschnitten war, und ihn damit zum Vater aller machte, die seinen Glauben haben, seien sie beschnitten oder unbeschnitten (V. 9­12). Es gibt aber noch mehr an Abraham zu ler­ nen: Ihm wurden auch die Verheißungen nicht durch Gesetz, sondern durch Glauben gegeben; es konnte nicht anders sein, weil das Gesetz nichts als Zorn bewirken kann (V. 13­15). Und es musste aus Glauben geschehen, damit alles nach Gnade sei, denn die Gnade allein macht die Verheißungen fest für alle, die den Glauben Abrahams haben (V. 16­17a). Was es für Abraham hieß zu glauben und an wen er glaubte, erläutert der Apostel als Nächstes (V. 17b­22), um schließlich zu erklären, dass alles, was Abraham verheißen und gegeben wurde, für alle gilt, die »glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, aus [den] Toten auferweckte, der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt wurde« (V. 23­25).

1. Abraham wurde die Gerechtigkeit zugerechnet durch Glauben (4,1-8).

2. Abraham wurde gerechtfertigt, als er unbeschnitten war (4,9-12).

3. Abraham empfing die Verheißung des Erbes durch Glauben (4,13-17a).

4. Abraham glaubte an den Gott, der die Toten auferweckt (4,17b-22).

5. Dem ganzen Samen Abrahams wird die Gerechtigkeit zu gerechnet durch Glauben (4,23-25).

Wie Jesaja ruft uns nun auch der Apostel zu, auf Abraham, die große Vatergestalt der Heilsgeschichte, zu schauen, wenn es uns ernst ist mit der Gerechtigkeit und wenn wir verstehen wollen, wie man sie erlangt: »Hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den HERRN sucht! Blickt hin auf den Felsen, aus dem ihr gehauen, und auf die Höhlung der Grube, aus der ihr gegraben seid. Blickt hin auf Abraham, euren Vater, und auf Sara, die euch geboren hat; denn ich rief ihn, den einen, und ich segnete ihn und mehrte ihn« (Jes 51,1­2).

1. Abraham wurde die Gerechtigkeit zugerechnet durch Glauben (4,1-­8)

Wir sollen an Abraham lernen, dass Gott dem Glaubenden etwas zu ­ rechnet, was er nicht verdient hat: Gerechtigkeit (V. 3­4). Als bestätigen­ den Zeugen ruft Paulus David auf; an dem sollen wir lernen, dass Gott dem Glaubenden etwas nicht zurechnet, was er verdient hat: Die Sünde mit der darauf folgenden Strafe (V. 7). Ein wichtiges Verb in diesem Kapitel ist »zurechnen«, logizomai. Das ist ein juristischer124 Theologen sagen gewöhnlich »forensisch«. Begriff; er kommt in folgenden Versen vor: 4,3.4.5.6.8.9.10.11.22.23.24. Dass Gott dem Glaubenden Gerechtigkeit zurechnet, bedeutet: Der oberste Richter spricht uns von der Schuld frei, er rechnet uns die Sünden nicht zu (4,8); stattdessen rechnet er uns seine Gerechtigkeit zu, die Gerechtigkeit Gottes. Wir haben uns nicht verbessert; wir haben keine Gebote gehalten; wir haben keine Schuld abgebüßt. Wir sind in uns unrein, sündig, schul­ dig. Aufgrund der Sühne, die Christus Jesus gewirkt hat (3,25), erklärt uns Gott für rein, heilig und unschuldig. Paulus fasst dieses Wunder der Zurechnung in 2Kor 5,21 in folgende Worte: »Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm« (2Kor 5,21).

1 Was wollen wir denn sagen, dass Abraham, unser Vater, nach dem Fleisch gefunden habe?

2 Denn wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, hat er etwas zum Rühmen, aber nicht vor Gott. 3 Denn was sagt die Schrift? »Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.«

»Abraham«: Bis jetzt hat Paulus von Menschen, von Heiden und Juden, gesprochen, jetzt aber demonstriert er, was er an diesen gelehrt hat, an einer Einzelperson. Damit will er zeigen, dass die Wahrheiten über Sünde, Gericht, Gesetz und Rechtfertigung nicht abstrakte Ideen sind, die etwas mit einer namenlosen Menschheit, aber nicht mit dir und mir, die wir in dieser Welt leben, zu tun haben.

Es fragt sich, wie die Näherbestimmung »nach dem Fleisch« zu verstehen ist. Will Paulus von »Abraham, unserem Vater nach dem Fleisch« sprechen, oder stellt er die Frage, was Abraham »nach dem Fleisch gefunden habe«? Es ist beides möglich. Paulus stellt die Frage, was Abraham aufgrund eigener Leistung gefunden habe, um darauf zu antworten, dass er ohne Leistung gerechtfertigt wurde. Er will hier aber auch den Juden entgegentreten, die sich der Tatsache rühmten, dass Abra­ ham ihr Vater »nach dem Fleisch« war (Mt 3,9). In ihren Überlieferungen galt er als jemand, der sich als gerecht erwiesen hatte, indem er das Gesetz hielt: Das apokryphe Buch Ecclesiasticus (Weisheit Sirachs)125 Entstanden im 2. Jahrhundert vor Christus. sagt über Abraham: »Abraham war der große Vater vieler Völker, und keiner war ihm gleich an Ehre. Er hielt das Gesetz des Höchsten, und Gott schloss einen Bund mit ihm« (44,19­20). Im ebenfalls apokryphen »Gebet Manas­ ses« heißt es: »Du aber, Herr, du Gott der Gerechten, hast die Buße nicht verordnet den Gerechten, Abraham, Isaak und Jakob, die nicht an dir gesündigt haben« (V. 8). Im Neuen Lexikon des Judentums steht: »Er (Abraham) beachtete bereits die Mizwot (= Gebote) und bestand alle Glaubensprüfungen, darunter die Opferung bzw. Bindung Isaaks.«126 Julius H. Schoeps (Hrsg.), Neues Lexikon zum Judentum, Gütersloh/München: Bertelsmann­Lexikon­Verlag, 1992, Stichwort »Abraham«. Abraham sei also ein Mann gewesen, der die Gebote gehalten habe und damit so gerecht gewesen sei, dass er keine Buße nötig gehabt habe. Paulus beweist nun gerade am Beispiel Abrahams in doppelter Weise, dass keiner aufgrund von Werken gerechtfertigt werden kann, sondern allein durch den Glauben:

1. Wäre Abraham aus Werken gerechtfertigt worden, hätte er etwas zum Rühmen (V. 2). 2. Das Alte Testament sagt ausdrücklich, dass Abraham durch Glau­ ben gerechtfertigt wurde (V. 3).

In 3,27 hatte Paulus gesagt, dass die Rechtfertigung durch den Glau­ ben jedes Rühmen ausschließt. Darum ist es ausgeschlossen, dass Abra­ ham durch Werke gerechtfertigt wurde; denn sonst hätte er »etwas zum Rühmen, aber nicht vor Gott«. Gott hat durch ein unwandelbares Gesetz bestimmt, dass sich vor ihm kein Mensch rühmen darf (Jes 42,8; 1Kor 1,29). In 2,29 hatte Paulus gesagt, dass der wahre Jude sein Lob nicht von Menschen hat, sondern von Gott. Wer durch Werke gerecht­ fertigt werden will, sucht Lob von den Menschen, und das wird er auch bekommen. Aber vor Gott bleibt jedes Rühmen ausgeschlossen. Die Schrift (1Mo 15,6) beweist, dass Abraham nicht durch Werke gerechtfertigt wurde: »Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.« Da er nichts geleistet hatte, hatte er nichts zum Rühmen. Der Glaube empfängt nur, was Gott gesagt und was Gott bereitet hat.

»Welch ein Wunder der Gnade ist der Glaube! Welche ›Kraft Gottes zum Heil‹ ist doch das Wort, das einen solchen Glauben schaffen kann in uns Menschen, die wir von Natur nur das glauben, was wir sehen! … Wir merken also auch hier, dass der Glaube nicht aus irgendeinem Vermögen des Menschen oder einer Bemühung des Herzens kommt, sondern allein aus Gottes Zusage: ›Der Glaube ist aus der Verkündigung‹ (10,17).«127 C. O. Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1 (siehe Anmerkungen zu dieser Stelle).

4 Dem aber, der Werke tut128 Wörtlich: »wirkt«, ergazomai., wird der Lohn nicht nach Gnade zugerechnet, sondern nach Schuldigkeit.

5 Dem hingegen, der nicht Werke tut, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.

Paulus hat eben aus der Geschichte Abrahams zitiert (1Mo 15,6) und damit das Wichtigste zuerst genannt, nämlich den Gegenstand des Glau­bens. Ist der Glaube nicht auf Gott gerichtet, ist aller Glaube umsonst. Der Mensch kann Gott aber nur durch Gottes geschriebene Offenbarung erkennen und deshalb an Gott nur glauben, wenn er ein Wort von Gott hat. Abraham glaubte der Verheißung. Das Wort der Verheißung hat in sich die Macht, den Glauben an die Verheißung zu wirken (siehe 10,17). Abraham glaubte an den Gott, »der den Gottlosen rechtfertigt« (V. 5) und an den Gott, »der die Toten lebendig macht« (V. 17). Der Glaube erkennt Gott und erkennt damit sich selbst.

1. Abraham erkennt, dass er ein Gottloser ist, der nur eine Hoffnung haben kann: dass Gott ihn, den Gottlosen, rechtfertigt.

2. Abraham erkennt, dass er tot ist in seinen Sünden und daher nur auf eines hoffen kann: dass Gott aus einem toten Mutterleib Leben erwecken kann.

Gottlos, asebēs, kommt außer hier noch an folgenden Stellen vor: Röm 5,6; 1Tim 1,9; 1Petr 4,18; 2Petr 2,5; 2Petr 3,7; Jud 4. a-sebēs be deutet wörtlich »nicht­Verehrer«, bezeichnet also jemanden, der nicht verehrt, sebomai (wie in Mt 15,9; Apg 19,27). Der asebēs ist von Gott abgewandt, indem er Gott nicht ehrt, ihm nicht dient, ihm nicht gehorcht, ihn nicht liebt. Er ist also ganz buchstäblich ein Gott­loser. Der Gottlose hat …

1. … keine Beziehung zu Gott,

2. … keine Liebe zu Gott,

3. … keinen Willen zu Gott,

4. … keine Kraft zu Gott.

Da aber kein Mensch autonom ist, ist der Mensch nie neutral; er steht nie frei zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Gott und dem Teu­fel:

1. Tut er nicht das Gute, tut er das Böse.

2. Liebt er nicht die Wahrheit, liebt er die Lüge. 3. Ist er nicht ein Kind des Gehorsams, ist er ein Kind des Ungehor­sams.

4. Dient er nicht Gott, dient er dem Teufel.

5. Ist er nicht ein Sohn Gottes, ist er ein Sohn des Teufels (1Jo 3,10). »So steht der menschliche Wille zwischen Gott und dem Satan. Er ist wie ein Pferd, das einen Reiter haben muss. Wenn Gott ihn reitet, geht er, wohin Gott will (vgl. Ps 73,22). Wenn Satan ihn reitet, geht er, wohin Satan will.«129 M. Luther, Vom unfreien Willen, S. 54 (WA 18, 635, 17ff.).

Steht es aber so um den Menschen, verstehen wir, dass er nur gerecht werden kann, indem ihm Gerechtigkeit geschenkt wird, nämlich »die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben« (Phil 3,9).

6 Wie auch David die Seligpreisung ausspricht über den Menschen, dem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet: 7 »Glückselig, deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren Sünden bedeckt wurden!

8 Glückselig der Mann, dem der Herr Sünde nicht zurechnet!« Paulus ruft mit David einen zweiten Zeugen auf, der bestätigt, dass die Rechtfertigung ohne Werke geschieht. Damit sind zwei der drei Namen aus dem Alten Testament genannt, die dem Juden mehr bedeuten als alle an ­ deren: Abraham und David; den dritten, Mose, ruft Paulus damit als Zeu­gen auf, dass er ihn zitiert (4,3.17­18). Mit David haben wir einen Zeugen aus dem Alten Testament, der Abraham bestätigt, sodass niemand sagen kann, es sei eine neutestamentliche Erfindung, wenn man sich auf Abraham als Präzedenzfall für die Rechtfertigung aus dem Glauben beruft. David preist den glückselig, »dem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet«. Gott rechnete dem Sünder David Gutes zu, während er ihm das Böse, seine Sünde, nicht zurechnete: »Glückselig der Mann, dem der Herr Sünde nicht zurechnet!« Wir lernen daraus: »Sünde nicht zurechnen« ist gleichbedeutend mit »Gerechtigkeit zurechnen«; denn »die Sünde ist die Gesetzlosigkeit« (1Jo 3,4). Solange die Sünde uns anhaftet, sind wir in der Ungerechtigkeit gefangen. Wird uns die Sünde nicht zugerechnet, sind wir freigesprochen von der Ungerechtigkeit und damit für gerecht deklariert.

»deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren Sünden bedeckt wurden«: Dieses Zitat aus Ps 32 zeigt, dass die Sünden, die »bedeckt« sind, auch »vergeben« sind. Die beiden Ausdrücke werden hier paral­lel verwendet. David bekam, als er seine Sünden bekannte, die direkte Zusage Gottes durch den Propheten Nathan: »So hat auch der HERR deine Sünde weggetan, du wirst nicht sterben« (2Sam 12,13). Hätte David keine Vergebung empfangen, wäre er verdammt worden. Nun aber wurde ihm vergeben, und darum ist er gerechtfertigt; und weil er gerechtfertigt ist, lebt er, wie geschrieben steht: »Gerechtigkeit ist zum Leben« (Spr 11,19).

2. Abraham wurde gerechtfertigt, als er unbeschnitten war (4,9-­12) 141

Paulus hat in den Versen 1­8 an Abraham und an David gezeigt, dass der Mensch nicht durch Werke, sondern nur durch Glauben gerecht fertigt wird. Da mag jemand einwenden, dass die Beschneidung doch ihre Bedeutung haben muss, da sowohl Abraham als auch David beschnitten waren. Paulus beantwortet den Einwand, indem er nun zeigt, dass Abra­ham das Vorbild ist für alle, die glauben (V. 11­12). Der Apostel argumentiert mit der Geschichte des Erzvaters, indem er die einfache Frage stellt, wann der Glaube dem Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet wurde. Das kann jeder für sich selbst in 1Mo 15 bis 1Mo 17 nach lesen, und er wird dort finden, dass Abraham erst beschnitten wurde, als er schon durch Glauben gerecht gesprochen war. Wurde Abraham aber erst beschnitten, nachdem Gott ihn schon lange davor für gerecht erklärt hatte, kann die Beschneidung unmöglich etwas zur Rechtfertigung beigetragen haben. Damit, dass Abraham durch Glauben allein gerecht fertigt wurde, ist er ein Vater aller, die seinen Glauben haben, ob sie nun beschnitten oder unbeschnitten sind (V. 12).

Mit dieser letzten Deklaration behauptet Paulus etwas für Juden Ungeheuerliches. Nach deren Verständnis hat Gott mit der Berufung Abrahams die Menschheit in zwei ungleich große Lager geteilt: in sol­che, die als Abrahams Nachkommen beschnitten waren, und in alle übrigen, die unbeschnitten sind. Und nun sagt Paulus, dass an Abra­ham gerade offenbar wird, dass kein Unterschied besteht zwischen Beschnittenen und Unbeschnittenen. Der Glaube Abrahams vereint viel­ mehr Beschnittene und Unbeschnittene. Eine Scheidung geht aber noch immer durch die ganze Menschheit, aber das Beispiel Abrahams zeigt, dass es etwas ganz anderes ist, was sie scheidet, nämlich der Glaube. Der ist es, der die Menschheit in zwei Gruppen teilt.

9 Diese Seligpreisung nun, [kommt sie] auf die Beschnittenen oder auch die Unbeschnittenen? Denn wir sagen: Dem Abraham wurde der Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.

10 Wie wurde er [ihm] denn zugerechnet? Als er beschnitten oder unbeschnitten war?130 Wörtlich: »Als er in der Beschneidung oder in der Vorhaut war?«. Nicht beschnitten, sondern unbeschnitten.

11 Und er empfing das Zeichen der Beschneidung als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er als Unbeschnittener [hatte], damit er Vater aller sei, die als Unbeschnittene glauben, damit [auch] ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werde;

12 und Vater der Beschnittenen, die nicht nur beschnitten sind, sondern die auch wandeln in den Fußstapfen des Glaubens, den unser Vater Abraham als Unbeschnittener hatte.

Wer glaubt, wird ohne Werke für gerecht erklärt (V. 5), und wer gerecht­ fertigt ist, ist glückselig (V. 6). David, der die Seligpreisung aussprach, war beschnitten, und das war Abraham auch (1Mo 17). Heißt das, dass nur der Beschnittene glückselig werden kann? Paulus wiederholt die oben gemachte Beteuerung, dass »der Glaube [dem Abraham] zur Gerechtigkeit gerechnet« worden sei, und dann stellt er die Gegenfrage: War Abraham damals »beschnitten oder unbeschnitten«? Die Sache ist eindeutig: Er war »nicht beschnitten, sondern unbeschnitten«. In 1Mo 15,6 steht der Satz, dass Abraham Gott glaubte und dass Gott ihm das zur Gerechtigkeit rechnete. Erst in 1Mo 17 erfahren wir, dass Abraham sich beschneiden ließ. Als Ismael geboren wurde, war Abra­ ham 86 Jahre alt (1Mo 16,16); das Wort von der Rechtfertigung hatte er vor der Zeugung und Geburt Ismaels empfangen. Danach vergingen noch einmal 13 Jahre, bis der HERR dem Erzvater erschien und ihm befahl, er müsse sich beschneiden lassen (1Mo 17,1ff.).

Damals empfing er »das Zeichen der Beschneidung«. Den Aus­ druck »Zeichen« müssen wir gut beachten. Die Beschneidung wirkte an Abraham gar nichts; sie machte ihn nicht gerechter, als er vor­ her gewesen war. Sie war lediglich ein äußeres Zeichen dafür, dass er bereits gerecht war. Dieses Zeichen nennt Paulus ein »Siegel«, das Gott dem Abraham aufdrückte, um ihn als einen Mann zu markieren, den er selbst für gerecht erklärt hatte. Analog dazu können wir sagen, dass keine sogenannten Sakramente am Menschen irgendetwas bewirken. So wenig die Beschneidung Abraham rechtfertigte, so wenig macht die Taufe irgendeinen Menschen gerecht. Diese ist wie die Beschneidung vielmehr ein Zeichen dafür, dass jemand bereits gerechtfertigt ist. Gott berief Abraham aus einer Familie von Götzendienern (Jos 24,2), redete zu ihm und weckte dadurch in seinem toten Herzen den Glauben, der ihn rechtfertigte. In diesem Glauben zog er aus einer Heimat (Hebr 11,8) und hielt sich auf im Land der Verheißung, ohne dort auch nur einen Fuß­ breit Boden zu besitzen (Apg 7,5). Damit, dass Gott dem Abraham den Glauben gab, machte er ihn zum »Vater aller …, die als Un beschnittene glauben, damit [auch] ihnen die Gerechtigkeit zu gerechnet werde«. Und er wurde damit auch zum Vater aller Be schnittenen, nämlich derer, die nicht nur beschnitten sind, sondern dazu »auch wandeln in den Fußstapfen des Glaubens, den unser Vater Abraham als Unbeschnittener hatte«. Damit hat Paulus an Abraham drei Dinge bewiesen:

1. Die Rechtfertigung geschieht nicht durch Werke, sondern durch Glauben. 2. Wer glaubt, wird gerechtfertigt – unabhängig davon, ob er beschnitten oder unbeschnitten ist. 3. Der Beschnittene wird nur dann gerechtfertigt, wenn er auch den Glauben Abrahams hat. 3. Abraham empfing die Verheißung des Erbes durch Glauben (4,13­-17a) 143

Damit, dass Gott Abraham rechtfertigte, machte er ihn und seine Nach­ kommen auch zu Erben. Und so wie die Rechtfertigung nicht von der Beschneidung und damit vom Gesetz abhing, war auch die Verheißung, die Abraham empfing, unabhängig vom Gesetz (V. 13). Paulus erklärt auch, warum das Erbe nicht vom Halten des Gesetzes abhängig sein kann; er nennt zwei Gründe: Erstens wäre damit der Glaube zunichte­ gemacht und damit auch die Verheißung aufgehoben (V. 14), und zwei­tens bewirkt das Gesetz nur Zorn (was der Apostel in den drei ers­ten Kapiteln unwiderlegbar bewiesen hat, weshalb er dazu nichts mehr sagen muss). Ist aber der Empfänger der Verheißung unter kein Gesetz gestellt, kann auch keine Übertretung dem Empfangen der Verheißung entgegenstehen (V. 15). Ferner muss es nach Glauben sein, damit alles nach Gnade sei, denn nur so kann die Verheißung fest sein (V. 16). Gnade bedeutet ja, dass alles von Gott kommt, dass er alles wirkt und alles gibt. Wäre es nicht so, könnte die Verheißung nie fest sein; sie könnte wegen der Schwachheit, Torheit und Blindheit des Menschen nie erfüllt werden. Und es musste auch deshalb durch Glauben und aus Gnade sein, damit die Verheißung nicht nur denen vom Gesetz gelten sollte, sondern dem ganzen Samen Abrahams, d. h. allen, die den Glauben Abrahams haben (V. 16). Abraham sollte nämlich nach Gottes Vorsatz und Zusage ein Vater vieler Nationen sein (V. 17a).

13 Denn nicht durch Gesetz wurde dem Abraham oder seinem Samen die Verheißung, dass er der Welt Erbe sein sollte, sondern durch Glaubensgerechtigkeit.

Paulus begründet und erläutert die eben gemachte Aussage, dass Abra­ ham der Vater aller ist, die in der gleichen Weise glauben wie er: »Denn nicht durch Gesetz wurde dem Abraham oder seinem Samen die Verheißung …«. Wir haben in Vers 1 gelesen, dass Abraham ein Vater ist; in den Versen 11 und 12 haben wir erfahren, wessen Vater er ist, nämlich derer, die den gleichen Glauben haben wie er. Diese sind seine Kinder, und die empfangen zusammen mit ihm die Verheißung: »… damit die Ver heißung aus Glauben … denen gegeben würde, die glauben … Wenn ihr aber Christi seid, so seid ihr denn Abrahams Same und nach Verheißung Erben« (Gal 3,22.29). In Röm 9,7­9 wird Paulus das noch ein­ mal auf greifen.

Die Juden sahen in Abraham hingegen das Vorbild des gesetzestreuen Gerechten, der die Gebote Gottes hielt und darum die Ver heißungen erlangte. Aber gerade das sagt die Bibel nicht, wie Paulus eben gezeigt hat. In Gal 3,15­18 erklärt er, dass das später gegebene Gesetz un möglich den Bund ändern konnte, den Gott mit Abraham eingegangen war. Aus Gnade hatte Gott sich Abraham zugewandt und ihm die Verheißung gegeben, und Abraham hatte diese im Glauben angenommen. Das konnte nicht plötzlich aufgehoben werden, indem Gott die Erfüllung seiner Ver­ heißung davon abhängig machen sollte, dass Abrahams Nachkommen das Gesetz hielten. Paulus wird in den Versen 14­16 erklären, warum die Verheißung unmöglich durch Gesetz gegeben werden kann. »die Verheißung« wird in diesem Kapitel viermal erwähnt (in V. 13.14.16.20), dann noch in 9,4.8.9; 15,8. Dazu steht in 4,21 das Verb verheißen. Verheißung und Gesetz schließen sich gegenseitig aus (siehe Gal 3,18). In Kapitel 9,8 erfahren wir, dass Verheißung und Fleisch, d. h. menschliches Vermögen, sich gegenseitig ausschließen. Was der Mensch selber sich erwerben kann, muss ihm Gott nicht geben; darum muss er es ihm auch nicht verheißen. Was der Mensch hingegen nicht vermag, das gibt ihm Gott; und bevor er es ihm gibt, verheißt er es. Warum tut Gott das? Weil er verfügt hat, dass der Mensch allein aus Gnade durch den Glauben …

1. … gerettet wird (1,16), 2. … gerechtfertigt wird (10,10), 3. … das ewige Leben empfängt (Joh 5,24).

Entsprechend weist Paulus bereits in den einleitenden Sätzen zum gan­ zen Brief darauf hin, dass Gott das Evangelium und damit die Errettung »in heiligen Schriften zuvor verheißen hat« (1,2). Glauben kann man nur, wenn man nichts sieht und nichts in der Hand hat. Genauso ist die Ver­ heißung: Sie wird gegeben, ehe man irgendetwas gesehen hat oder besitzt von der Sache, die verheißen ist. Entsprechend heißt es in Hebr 11,1: »Der Glaube aber ist … eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht«, und in 2Kor 4,18 sagt Paulus, dass der Glaube das ergreift, »was man nicht sieht«. Glauben und Schauen schließen sich gegenseitig aus (2Kor 5,7b).131 »Glaube ist also nur möglich, wenn alles, was geglaubt werden soll, in der Verborgenheit bleibt … Könnte ich mit der Vernunft begreifen, dass Gott barmherzig und gerecht ist, dann brauchte ich keinen Glauben. Ich kann es aber nicht. Darum habe ich Gelegenheit, meinen Glauben zu üben« (M. Luther, Vom unfreien Willen, S. 51­52 [WA 18, 633, 7ff.). Damit, dass Gott zuerst nur eine Verheißung gibt und unsere Augen noch gar nichts sehen vom Verheißenen, bleibt uns nichts anderes übrig, als an die Zusage Gottes zu glauben. Und noch etwas lehrt uns Gott. Eine Verheißung geht ganz von dem aus, der sie gibt. Es liegt ganz an dessen Wohlgefallen, ob er etwas ver­ heißt, was er verheißt und wem er es verheißt. Nur Abraham, nicht einem anderen, wurde verheißen, dass er der Welt Erbe sein sollte, dass er einen Sohn bekommen und eine große Nachkommenschaft haben werde. Abra­ ham hatte keine Macht darüber, dass er die Verheißung bekam, und danach hatte er keine Macht darüber, sie zu erfüllen. Er konnte nur auf Gottes Wir­ ken warten. Damit ist das Wesen der Gnade umrissen. Damit, dass alles Gute von Gott kommt und dass er es in Gnade gibt, wird der Mensch ge ­ nötigt, auf Gottes Handeln zu harren. Er wird genötigt zu erkennen, dass er vollständig auf Gottes Wirken angewiesen ist. Das demütigt ihn; er wird in seinen Augen immer kleiner, immer schwächer; schließlich erkennt er, dass er nichts ist und nichts vermag. Und genau das muss so sein. Wo aber ist dem Abraham verheißen, dass er »der Welt Erbe« wer­ den sollte? In dieser Form findet sich tatsächlich im Alten Testament keine Verheißung. Alle Verheißungen, die Gott Abraham gab, sollten sich in einem bestimmten Nachkommen Abrahams erfüllen, nämlich in Christus, und dieser Nachkomme wurde Abraham ausdrücklich ver­ heißen (1Mo 22,18; Gal 3,16). Christus soll einst die ganze Erde erben (Ps 2,8); er ist »der Erbe aller Dinge« (Hebr 1,2). In diesem einen Samen Abrahams ist der »ganze Same« Abrahams (V. 16) gesegnet, d. h. alle, die den Glauben Abrahams haben. Wer an den Sohn glaubt, wird mit ihm erben (Röm 8,17; vgl. auch Mt 5,5).

14 Denn wenn die vom Gesetz Erben sind, ist der Glaube zunichtegemacht132 Oder »entleert«. und die Verheißung aufgehoben133 Oder »abgetan«, wie in 3,3.. 15 Denn das Gesetz bewirkt Zorn; aber wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung.

In Gal 3,18 bestätigt Paulus, dass Gesetz und Verheißung Gegensätze sind; beide können nicht nebeneinander bestehen. Wenn Gott Abraham Verheißungen des Segens und des Erbes gab, ist das Gesetz als Mit­tel, den Segen und das Erbe zu erlangen, ausgeschlossen. Wäre näm­lich das Erbe durch Gesetz, wäre »der Glaube zunichtegemacht«. So wie Glaube sich mit Gesetz nicht verträgt, verträgt sich Gesetz nicht mit Glauben. Beide können nicht nebeneinander bestehen. Es wäre aber nicht nur der Glaube zunichtegemacht, sondern die Verheißung selbst wäre »aufgehoben« (siehe auch Gal 3,18). Warum ist das so? Weil »das Gesetz … Zorn [bewirkt]«. Solange die Juden sich auf das Gesetz stützen, stehen sie unter dem Zorn Gottes, der über aller Ungerechtigkeit des Menschen offenbar ist (1,18). Im Gesetz fordert Gott Gehorsam; diesen kann der Mensch nicht leisten, und so bleibt er unter Gottes Zorn. Darum muss der Mensch von den Forderungen des Gesetzes loskommen. Denn nur »wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung«. Erst damit, dass Gott den Menschen unter Gesetz stellte, wurde die Sünde, die schon immer da war, zur Übertretung (siehe unten die Auslegung zu 5,13­14). Die Juden, die das Gesetz hatten und sich des Gesetzes rühmten, über­ traten das Gesetz und verunehrten damit Gott (2,23). 16 Darum ist es aus Glauben, damit es nach Gnade sei, damit die Verheißung dem ganzen Samen fest sei, nicht allein dem vom Gesetz, sondern auch dem vom Glauben Abrahams, der unser aller Vater ist,

Hier macht Paulus nach 3,24 und 4,4 zum dritten Mal eine Aussage über Gnade. Fassen wir zusammen, was diese drei Verse über die Gnade leh­ren:

1. Wir werden umsonst gerechtfertigt durch Gnade (3,24). 2. Wer sich auf Werke stützt, dem kann nicht durch Gnade Gerech­tigkeit zugerechnet werden (4,4). 3. Das Heil ist aus Glauben (1,16), damit es nach Gnade sei (4,16a). 4. Es ist aus Gnade, damit die Verheißung fest sei (4,16b).

»damit es nach Gnade sei«: Soll die Rechtfertigung »nach Gnade« sein, dann muss sie »aus Glauben« sein. Das ist die tiefste Erklärung, warum in der Rechtfertigung alles aus Glauben sein muss: Alles muss »nach Gnade« geschehen; die Gnade muss zur Herrschaft kommen (5,21) – wir müssen unter die Herrschaft der Gnade gestellt werden (6,14). Wir sind »errettet aus Gnade durch den Glauben« (Eph 2,8).

1. Gnade hat mit der Herkunft der Rechtfertigung zu tun: Sie kommt von Gott. 2. Der Glaube hat mit der Methode der Rechtfertigung zu tun, d. h. mit dem Weg, auf dem Gott dem Menschen seine Gerechtigkeit zueignet; sie kommt zu ihm durch Glauben. 3. Der Glaube sagt etwas aus über die Unfähigkeit des Menschen, irgendetwas zu tun zu seiner Rechtfertigung: Er kann nur emp­fangen, was Gott ihm bereitet und verheißen hat.

Gott muss dem Menschen in seiner Gnade geben, was dieser nicht auf­ bringen kann: den Glauben. Wir können aus uns nicht glauben, wie der Herr selbst gesagt hat (Joh 5,44). Der natürliche Mensch kann nicht an Gott und an sein Evangelium glauben. Das liegt nicht daran, dass er nicht fähig wäre zu glauben; denn er glaubt sehr viele Dinge. Aber er kann die Worte des Herrn nicht hören (Joh 8,43), und damit kann er nicht an den Herrn glauben. Warum kann er nicht? Er kann nicht, weil er nicht will (Joh 5,40). Und warum will er nicht? Weil er seine eigene Ehre sucht und ihm die Ehre, »die von Gott allein ist« (Joh 5,44), nichts gilt. Und warum sucht er seine eigene Ehre? Weil er ein Sünder ist, und als solcher ist er in der Sünde und damit im Unglauben gefangen. Dass wir an den glau­ ben können, den wir von Natur hassen134 Joh 3,19­20. und dem wir feind sind135 Röm 5 10,; 8,7; Kol 1,21; Jak 4,4., wird uns von Gott geschenkt:

»Denn euch ist es in Bezug auf Christus geschenkt worden, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden« (Phil 1,29). »Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es« (Eph 2,8). In Röm 3 30,; 8,7; Kol 1,21; Jak 4,4. Juden und die glaubenden Heiden empfangen den Segen Abrahams, der »unser aller Vater« ist (vgl. Gal 3,7­9). 17a (wie geschrieben steht: »Ich habe dich zum Vater vieler Nationen gesetzt«)

»Ich habe dich zum Vater vieler Nationen gesetzt«: In Röm 9,23­24 und 15,9 spricht Paulus erneut von den Nationen, die begnadigt werden. Dass Abraham ein Vater vieler Nationen wird, liegt nicht an Abraham, sondern an Gott. Bedenken wir: Als Gott Abraham zum Vater dieser Nationen setzte, waren diese Nationen noch nicht da, ja, Isaak war nicht ein­ mal geboren. Ehe sie waren, hatte Gott verordnet, dass sie sein sollten. Er hatte alle wahren Kinder Abrahams aus allen Nationen bereits vor Grund legung der Welt in dem einen Samen Abrahams, in Christus, erwählt (Eph 1,4). So sehen wir, dass das Heil nicht in den Händen des Menschen, sondern in den Händen Gottes liegt, und damit ist es eben fest (V. 16).

4. Abraham glaubte an den Gott, der die Toten auferweckt (4,17b-­22) [149]

Wir haben gehört, dass alle, die den Glauben Abrahams haben, seine Kinder sind und damit auch Erben. Wie war der Glaube Abrahams? Was bedeutete es für ihn zu glauben? Das erklärt Paulus im vorliegenden Abschnitt. Zuerst sagt er uns, worauf Abrahams Glaube sich stützte, und dann sagt er, welchen Beweggrund sein Glaube hatte.

1. Abraham stützt sich auf Gottes Macht, nämlich auf den, »der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft« (V. 17b). Gott ist nichts unmöglich (vgl. 1Mo 18,14). Gott will, dass wir ihm zutrauen, dass er tun kann, was gegen alle unsere Erfahrung geht und alle Vernunft übersteigt. Abraham wusste, dass er ohn­mächtig war; sein Leib war tot; Saras Mutterleib war tot (V. 19). Aus ihnen konnte kein Leben kommen. Es blieb Abraham nichts, als alles von Gott zu erwarten. 2. Abraham stützt sich auf Gottes Treue »und zweifelte nicht an der Verheißung Gottes«, sondern »war der vollen Gewissheit, dass er mächtig ist, was er verheißen hat, auch zu tun« (V. 20­21). Gott ist eines unmöglich: Er kann nicht lügen; und das bedeutet, dass er sich selbst und damit auch uns nicht untreu werden kann (2Tim 2,13). 3. Abraham »[gab] Gott [die] Ehre« (V. 20) damit, dass er glaubte, weil Gott etwas gesagt hatte, auch wenn es ihm ganz ungereimt erschien (siehe 1Mo 17,17). Mit seinem Glauben bewies er, dass er Gott für absolut vertrauenswürdig hielt. Solcher Glaube ehrt Gott, weil er eben bekennt: Gott ist wahrhaftig (vgl. 3,4), und Gott vermag, während der Mensch ein Lügner ist (siehe 3,4) und nichts vermag. Durch Glauben und nur durch Glauben kann der Mensch Gott die Ehre geben, die ihm für alle seine Werke zusteht. Darum muss die Errettung aus Glauben sein, denn Gott gibt seine Ehre keinem anderen, wie wir schon gesehen haben (siehe 3,27 und 4,2).

17b vor dem Gott, dem er glaubte, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft wie Seiendes;

»vor dem Gott, dem er glaubte«: Abraham war »vor Gott«; vor ihm glaubte er. Der Glaube wird von Gott gewirkt, und solcher Glaube stellt die Seele vor Gott. Wir stehen immer vor Gott; doch wir achten es gewöhnlich nicht – bis Gott durch sein Wort zu uns spricht. Da erwacht unser Glaube, und wir erkennen, dass wir es mit dem zu tun haben, »der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft wie Seiendes«. Das ist der Inhalt des Glaubens Abrahams: Er glaubte an den Gott, der die Toten lebendig machen kann – seinen eigenen, schon er storbenen Leib und den toten Mutterleib Saras (V. 19) und (zu einem späteren Zeit­ punkt) seinen einzigen Sohn, Isaak, den er auf den Altar legte, weil er glaubte, dass Gott die Macht hatte, ihn aus den Toten aufzuerwecken (Hebr 11,17­19). Und er glaubte, dass Gott das Nichtseiende ruft, wie wenn es schon da wäre, nämlich eine unzählbare Nachkommen­ schaft – und dies, obwohl er noch kein einziges Kind hatte. So wie Gott Abraham rief, ruft er alle Söhne Abrahams, die so zahlreich sind wie die Sterne am Himmel. Er ruft sie mit Namen, und wegen seiner großen Macht bleibt keines aus (Jes 40,26; siehe auch Ps 147,2.4). Der Glaube erfasst diese beiden Wahrheiten: Gott macht die Toten lebendig – darin entfaltet Gott seine Macht an Ohnmächtigen. Gott ruft »das Nicht­ seiende« – damit ver wirklicht er seinen Vorsatz an Unwürdigen. Jeder Gläubige weiß um beides:

1. Gott rettete uns nicht nach Werken, die wir getan hatten (Tit 3,5), sondern nach seinem Vorsatz der Gnade: »[Gott], der uns er rettet hat und berufen mit heiligem Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber offenbart worden ist« (2Tim 1,9-10). 2. Wie Gott in der Schöpfung das »Nichtseiende« rief, und es stand da (Jes 48,13), und wie er »die Geschlechter von Anfang an« rief (Jes 41,4), hat er »das, was nicht ist« auserwählt (1Kor 1,28). So rief er auch uns, die wir nicht sein Volk waren, und machte uns zu Söhnen Gottes (Röm 9,25-26­).

18 der gegen Hoffnung auf Hoffnung glaubte, damit er ein Vater vieler Nationen werde, nach dem, was gesagt ist: »So soll dein Same sein.«

Abraham glaubte »gegen Hoffnung auf Hoffnung«; er glaubte, wo sich seinen Augen und seiner Vernunft kein Grund zum Hoffen bot. Er stützte sich nicht auf das Sichtbare und Denkbare, sondern auf die Zusage des unsichtbaren Gottes. Darum glaubte er, dass er einen Sohn haben werde, auch als alles dagegensprach. In ihm und in seiner Frau gab es keinen Grund zur Hoffnung, aber in Gott war aller Grund zur Hoffnung. Wenn Menschen hoffen, warten sie darauf, dass etwas Wünschenswertes in Erfüllung geht; ihre Hoffnung wird genährt von günstigen Umständen und ermutigenden Anzeichen. Wenn der gläubige Mensch hofft, wartet er eben­ falls darauf, dass etwas Wünschenswertes sich erfüllt. Seine Hoffnung beruht hingegen nicht auf günstigen Umständen noch auf er mutigenden Zeichen, sondern sie ist gegründet auf Gottes unwandelbaren Willen, wie er in seinem Wort offenbart ist. Darum kann er hoffen, wo die Umstände gegen alles Hoffen sprechen; sein Glaube an Gott gibt Zu versicht und lässt ihn ausharren, bis die Hoffnung sich erfüllt (Hebr 6,13­15). Paulus nennt den Beweggrund Abrahams: Er glaubte, »damit er ein Vater vieler Nationen werde«. Das zeigt, dass uns Gott den Glau­ ben gibt, damit seine Absichten sich durch den Glauben erfüllen. Wahrer Glaube strebt nach Höherem als nach dem persönlichen Wohl oder Nut­ zen: Abraham glaubte um seiner großen Nachkommenschaft willen. In V. 20 hören wir, dass er glaubte um der Ehre Gottes willen. »nach dem, was gesagt ist: ›So soll dein Same sein.‹«: Gott spricht von der großen Nachkommenschaft Abrahams, bevor sie da ist, denn er hat den ganzen Samen Abrahams zuvorerkannt. »Wer hat es gewirkt und getan? Er, der die Geschlechter ruft von Anbeginn. Ich, der HERR, bin der Erste, und bei den Letzten bin ich derselbe« (Jes 41,4). Weil er die Kinder Abrahams rief, traten sie zur bestimmten Zeit ins Dasein. Gott hatte sie alle als seine Söhne zuvorerkannt; darum wurden sie Söhne Gottes. Gott hat dich und mich zuvorerkannt; darum sind wir jetzt Kinder Gottes. Davon wird Paulus in 8,28-­30 noch ausführlicher sprechen.

19 Und nicht schwach im Glauben, beachtete er nicht seinen eigenen, schon erstorbenen Leib, da er fast hundert Jahre alt war, und das Totsein des Mutterleibes der Sara, 20 und er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt im Glauben, indem er Gott [die] Ehre136 Eigentlich »Herrlichkeit«. gab,

21 und war der vollen Gewissheit, dass er mächtig ist, was er verheißen hat, auch zu tun.

22 Darum wurde es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet. Im Satzteil »beachtete er nicht seinen eigenen … Leib« steht die Ver­ neinung nicht in allen Handschriften. Wenn wir entsprechend lesen: »Er sah seinen eigenen Leib an«, ändert das zwar am Sinn der Aussage nichts, lässt aber den Glauben Abrahams noch deutlicher hervortreten, und wenn wir den Bericht in 1Mo 17 lesen, finden wir dort Hinweise dafür, dass dies die korrekte Lesart ist. Angesichts der Verheißungen, die Gott ihm gab, lachte Abraham, denn er schaute sich und seine Frau an und fragte: »Sollte einem Hundertjährigen geboren werden, und sollte Sara, eine Neunzigjährige, gebären?« (1Mo 17,17).

Dass Abraham sehr wohl seinen eigenen Leib ansah, der schon tot war, und das Totsein137 nekrōsis, von nekros, tot, also »Totsein, Totheit« (2Kor 4,10). In Mk 3,5 steht in einigen Handschriften nicht pōrōsis, Verstockung, sondern nekrōsis, »Totheit«. In Hebr 11,12 heißt es vom Leib Abrahams, dass er »erstorben« war, von nekroō, töten, also eigentlich »ertötet«. »des Mutterleibes der Sara«, und dass er trotz­ dem nicht »an der Verheißung Gottes« zweifelte, lässt seinen Glauben noch dramatischer ans Licht treten. Zudem lernen wir damit an Abraham etwas ganz Entscheidendes: Wer glaubt, verschließt nicht die Augen vor unbequemen Tatsachen; Glaube ist nicht Flucht vor einer beängstigenden Wirklichkeit. Abraham und Sara waren zu alt, um Kinder zu bekommen. So schaut der Glaubende der Wirklichkeit geradewegs in die Augen: Er ist tot in seinen Sünden; er ist hilflos; er steht als Schuldiger unter Gottes Zorn und hat nichts als Verdammnis verdient. Er sieht das alles, aber er glaubt dem bloßen Wort des Evangeliums, weil Gott es gesprochen hat. Er glaubt, dass Gottes Sohn Mensch wurde und als Sündloser am Kreuz hing und für ihn, den Sünder, den Zorn Gottes trug. So verharrt der Blick des Gläubigen nicht bei der Realität der Sünde und der Unmöglichkeit der Errettung, sondern er schaut auf Gott und darauf, was Gott in Christus gewirkt und verheißen hat (vgl. 2Kor 4,18). Genauso schaute Abraham auf Gott und auf die Verheißung. Auf diese Weise »wurde [er] gestärkt im Glauben«. Es heißt nicht: »er stärkte sich«; denn er konnte sich selbst weder den Glauben geben und noch den Glauben mehren. Glaube wird von Gott gegeben, durch den Sohn Gottes bewahrt (Lk 22,32) und, wie wir hier sehen, durch Gott gestärkt. Und indem Abraham glaubte und im Glauben ausharrte (siehe Hebr 6,13­15), gab er »Gott [die] Ehre«.

»Daraus folgt: So wie der, der Gott glaubt, Gott verherrlicht, so nimmt umgekehrt der, der Gott nicht glaubt, Gott seine Ehre: ›Wer dem Sohn Gottes nicht glaubt, der macht Gott zum Lügner …‹ Also macht der, der Gott glaubt, Gott wahrhaftig und sich selbst zu einem Lügner.«138 M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 311 (WA 56, 296, 4ff.).

»Weil er hier hinzufügt, dass er Gott die Ehre gegeben habe, ist hier zu beachten, dass wir Gott nicht mehr ehren können, als wenn wir seine Wahrheit im Glauben versiegeln; ebenso kann man ihm keine größere Schmach antun, als wenn man die von ihm persönlich angebotene Gnade zurückweist oder wenn man seinem Wort die Autorität abspricht. Deshalb ist das Allerwichtigste bei seiner Verehrung, seine Verheißungen gehorsam anzunehmen; die wahre Gottesverehrung fängt mit dem Glauben an.«139 J. Calvin, Der Brief an die Römer, Bd. 5.1, S. 251, 253.

Wir hatten in 3,27 gehört, dass Gott in der Errettung so gehandelt hat, dass alles Rühmen ausgeschossen ist. Wir hatten an Abraham gesehen, dass ihm nichts zu rühmen blieb, weil er ja ein Gottloser war, den Gott rechtfertigte (4,2­5). Hier sehen wir noch einmal, warum die Recht­ fertigung nur durch Glauben geschehen kann: Gott muss alle Ehre be ­ kommen, denn er gibt sie keinem anderen (Jes 42,8). Gott die Ehre geben heißt, dass wir ihn beim Wort nehmen und ihm vertrauen, dass er die Wahrheit sagt und dass er alles vermag, was er verheißt. Entsprechend war Abraham »der vollen Gewissheit, dass er mächtig ist, was er verheißen hat, auch zu tun«. »Darum«, weil Abraham glaubte und mit seinem Glauben Gott die Ehre gab, »wurde es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet«.

5. Dem ganzen Samen Abrahams wird die Gerechtigkeit zugerechnet durch Glauben (4,23-­25) [154]

An Abraham ist bewiesen, dass Rechtfertigung nur durch Glauben geschehen kann. Und was für ihn galt, gilt für alle Kinder Abrahams: Ihnen wird in gleicher Weise die Gerechtigkeit zugerechnet. So wie Abra­ ham glaubte, dass Gott die Macht hat, die Toten lebendig zu machen, glauben wir, dass Gott seinen Sohn aus den Toten auferweckt hat. Und so wie Abraham an den Gott glaubte, der das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre, so glauben auch wir an den, der aus uns, einem »Nicht­Volk«, sein Volk und aus uns, die wir »Nicht­Geliebte« waren, Geliebte machte (9,25). Wir glauben gemäß V. 24­25 …

1. … an den Gott, der Jesus, unseren Herrn, auferweckte, 2. … an den Herrn, der unserer Sünden wegen dem Tod übergeben wurde, 3. … an den Herrn, der auferweckt wurde zu unserer Rechtferti­gung.

23 Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, dass es ihm zugerechnet wurde,

24 sondern auch unsertwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, aus [den] Toten auferweckte,

25 der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt wurde.

»Es ist … nicht allein seinetwegen geschrieben …, sondern auch unsertwegen«: Gott wollte uns mit dem Bericht von Abraham nicht lediglich Informationen geben, sondern uns auch lehren. Abraham wird als Beispiel vor Augen gestellt für alle nachfolgenden Geschlechter, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten (Mt 5,6). Was für ihn galt, gilt für alle. Entsprechend kann Paulus später sagen: »Alles, was vorher geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch das Ausharren und durch den Trost der Schriften die Hoffnung haben« (Röm 15,4). An Abraham sollen wir lernen, dass auch uns Gerechtig­ keit zugerechnet wird, wenn »wir glauben an den«, der alles vermag, an den, der »Jesus, unseren Herrn, aus [den] Toten auferweckte«. Es genügt nicht, in allgemeiner Weise »an Gott zu glauben«. Der recht­ fertigende Glaube stützt sich auf klar formulierte Aussagen, auf Tatsachen und auf ausdrückliche Verheißungen. Ebendarin ist Abraham Vater aller, die glauben: Als er noch keine Kinder hatte, glaubte er der Verheißung, dass Gott ihm eine große Nachkommenschaft geben werde. Wir glauben an alles, was Gott über seinen Sohn gesagt, was dieser für uns getan und was Gott verheißen hat jedem, der an seinen Sohn glaubt. Der Herr wurde »unserer Übertretungen140 Während in 4,15 für »Übertretung« parabasis steht, wörtlich »Danebentreten«, steht hier paraptōma, wörtlich [das Ergebnis von] »Danebenfallen«. Danebengefallen sind alle – die ohne Gesetz und die unter Gesetz. Die unter Gesetz fielen, indem sie dieses übertraten; die ohne Gesetz fielen, indem sie, ihrer sündigen Natur folgend, sich der Offenbarung Gottes in Schöpfung und Gewissen verschlossen. wegen dahingegeben«; er musste wegen unserer Sünden den Lohn der Sünde, den Tod, erleiden. Er musste die Strafe der Sünde auf sich nehmen, damit wir Frieden mit Gott hätten (Jes 53,5), und er musste als der Gerechte für die Ungerechten lei­ den, um uns zu Gott zu führen (1Petr 3,18). Zwar gab er sich selbst dahin (Gal 1 4,; 2,20; Eph 5,25; Tit 2,14) und opferte er sich selbst (Hebr 9,14), doch sagt Paulus hier, er »wurde dahingegeben«, d. h., Gott gab ihn, seinen geliebten Sohn, dahin (Röm 8,32). Petrus sagt daher in der Pfingst­predigt, dass er »dahingegeben [wurde] nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes« (Apg 2,23).

Und er wurde »unserer Rechtfertigung141 dikaiōsis, nur noch in Röm 5,18 (die eine gerechte Tat Christi führte zur Rechtfertigung aller); von dikaios, gerecht, und dikaioō, gerecht machen. Nomina auf ­sis bezeichnen entweder das Tun, das Ausführen oder den Zustand dessen, was die Verbalwurzel besagt, also »das Rechtfertigen« oder das Ergebnis davon, »die Rechtfertigung«. wegen auferweckt«. Nachdem er an seinem Leib auf dem Holz unsere Sünden getragen hatte (1Petr 2,24), wurde er auferweckt. Wer das glaubt, wird gerecht ge ­ sprochen (Röm 10,9). Die Auferstehung Christi war der große Beweis für die Wahrheit seines Zeugnisses, dass er der Sohn Gottes ist. Er ist »als Sohn Gottes in Kraft erwiesen … durch Toten-Auferstehung« (Röm 1,4). Und die Auferstehung ist das Siegel darauf, dass sein sühnendes Opfer von Gott angenommen wurde. Aus 1Kor 15,3­4 verstehen wir, dass es ohne die Auferstehung des Herrn kein Evangelium gibt: Wäre er nicht auferstanden, wären wir noch in unseren Sünden (1Kor 15,17). Er ist als der in sich Gerechte, als der Heilige Gottes, den der Tod nicht halten konnte (Apg 2,24­27), auferstanden. Er hat in seinem Tod den zunichtegemacht, der die Macht des Todes hatte, den Teufel, und damit alle die befreit, die ihr Leben hindurch durch Todesfurcht geknechtet waren (Hebr 2,14­15). Jetzt sind wir frei gemacht von der Sünde (Röm 6,18) und damit auch vom Tod. Und als von Gott Gerecht ­ gesprochene sind wir durch die Auferstehung Christi auch zu Gott gebracht (1Petr 3,18).

»Gott selbst wird uns vorgestellt als der ›Gott, der die Toten auferweckt‹ (2Kor 1,9), dessen Macht sich Eingang verschafft in die äußersten Tiefen der Folgen unserer Sünde, ja, sogar in den Bereich des Todes. Er holt Menschen daraus hervor durch die Kraft eines Lebens, das sie von da an jenseits der unheilvollen Folgen der Sünde versetzt in ein Leben mit Gott.«142 J. N. Darby, Siehe, der Bräutigam kommt, S. 49.

Kleiner Exkurs über die »zugerechnete Gerechtigkeit«

Ein zentraler Begriff in diesem Kapitel ist »zurechnen«, logizomai. Er kommt in folgenden Versen vor: 4,3.4.5.6.8.9.10.11.22.23.24. Dass Gott dem Glaubenden Gerechtigkeit zurechnet, be deutet: Der oberste Richter spricht uns von der Schuld frei, er rechnet uns die Sünden nicht zu (4,8); er erklärt uns für gerecht, denn er hat uns seine Gerechtigkeit gegeben, »die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt« (3,21; Luther 1912 und Luther 1984). Wir haben uns nicht verbessert; wir haben keine Schuld abgebüßt; wir haben keine Gebote gehalten. Wir sind in uns unrein, sündig, schuldig. Aufgrund der Erlösung, die in Christus Jesus ist, erklärt uns Gott für rein, heilig und unschuldig. In 2,26 steht: »Wenn nun die Unbeschnittenheit die Rechts­ ordnungen des Gesetzes beachtet, wird nicht seine Unbeschnittenheit für Beschneidung gerechnet werden …?« Hier steht auch logizomai. Die Zurechnung bedeutet auch hier nicht, dass der Unbeschnittene nun beschnitten wird. Er wird lediglich als ein Beschnittener angesehen, als ein solcher gerechnet, auch wenn er es nicht ist. Paulus fasst dieses Wunder der Zurechnung in 2Kor 5,21 in folgende Worte: »Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm« (2Kor 5,21), oder, wie Luther übersetzt, »… auf dass wir würden in ihm die Gerech­ tigkeit, die vor Gott gilt« (Luther 1912).

Die römische Kirche hat das Evangelium pervertiert, indem es den Menschen zum Mitwirkenden macht und indem es die Rechtfertigung mit der Heiligung vermengt. Nach römisch-katholischem Dogma ist die Rechtfertigung etwas, was im Sünder geschieht, etwas, was er sich aneignet, indem er sich bemüht und Gott ihm hilft. Durch dieses Zusammenwirken komme es zur Rechtfertigung, zu einem Prozess, der keinen Abschluss findet, solange der Mensch noch lebt. Der Mensch wächst ständig in einem Glauben, der durch die Liebe zu Gott immer vollkommener wird. Dieser Glaube, der mit wachsender Liebe zu Gott einhergeht, lässt den Menschen in der Rechtfertigung zu nehmen.

Nach biblischer Lehre ist die Rechtfertigung …

a. … ganz Gottes Werk, b. … dem Menschen zugerechnet, c. … ein für alle Mal geschehen.

Nach der Lehre der Papstkirche ist die Rechtfertigung …

a. … Gottes und des Menschen Werk, b. … etwas, was der Mensch sich aneignet, c. … ein Prozess, der nie abgeschlossen ist.

Im Konzil von Trient (1545 – 1563) formulierte die Papstkirche Lehrsätze, in denen sie sich gegen die Gnadenlehre der Apostel und der Reformatoren wandte, wie folgende Beispiele zeigen: »In dieser Gerechtigkeit, die sie durch Christi Gnade empfangen haben, wachsen sie unter Mitwirkung des Glaubens an ihren guten Werken (Jak 2,22), und sie nehmen zu in ihrer Rechtfertigung nach dem Schrift­ wort … (Offb 22,11).«143 Zitiert in: Josef Neuner, Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, 12. Auflage, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 1971, S. 505-­506.

»Wer behauptet, dass der sündige Mensch durch den Glauben allein gerechtfertigt werde, und darunter versteht, dass nichts anderes … zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade erfordert werde und dass es in keiner Weise notwendig sei, sich durch die eigene Willenstätigkeit zu zurüsten und zu bereiten, der sei ausgeschlossen.«144 Neuner­Roos, a. a. O., S. 514.

»Wer behauptet, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die um Christi willen Sün­ den nachlässt, oder dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerecht­ fertigt werden, der sei ausgeschlossen.«145 Neuner­Roos, a. a. O., S. 515.

»Wer behauptet, die empfangene Gerechtigkeit werde nicht bewahrt und auch nicht vor Gott vermehrt durch gute Werke, sondern die Werke selbst seien nur Frucht und Anzeichen der erlangten Rechtfertigung, nicht aber auch Ursache ihres Wachstums, der sei ausgeschlossen.«146 Neuner­Roos, a. a. O., S. 517.

Anmerkungen zu Kapitel 4

»Durch ein Beispiel geschieht die Begründung, die kräftig genug ist, weil alles übereinstimmt, sowohl in der Sache als auch in der Person. Denn Abraham ist der Vater der Gläubigen, dem wir alle gleich werden sollen, und es gibt nur eine Weise, die Gerechtigkeit zu erlangen, nicht mehrere … Damit weist er die Juden in die Schranken, die sich keiner Sache mehr zu rühmen wussten, als dass sie sich Kinder Abrahams nen­ nen konnten. Sie hätten es nie gewagt, sich selbst größere Heiligkeit zu ­ zuschreiben als dem Heiligen Erzvater. Da nun aber feststeht, dass jener ohne Verdienst gerechtfertigt wurde, müssten seine Nachfahren, die sich Gerechtigkeit aus dem Gesetz anmaßen, vor Scham verstummen« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Bd. 5.1, S. 217). »Paulus gibt zu, dass Abraham gerecht ist, und stimmt dem Typischen in seiner Stellung als Stammvater des auserkorenen Volkes zu, aber er bestreitet, dass die Juden irgendein Recht hätten, sich auf die Gerechtig­keit Abrahams als Vorbild für ihre eigene gesetzliche Gerechtigkeit zu berufen. Was Paulus im 4. Kapitel tut, kann am einfachsten so charakte­risiert werden: Er entreißt Abraham den Vertretern der Gesetzesgerech­tigkeit und stellt ihn stattdessen als den Typus des durch den Glauben Gerechten dar« (A. Nygren, Der Römerbrief, S.127). »In diesem vierten Kapitel illustriert der Apostel diese Wahrheiten [die Rechtfertigung durch den Glauben, B. P.], indem er zuerst den Einwand widerlegt, den die Juden vorbringen konnten bezüglich ihres Stamm­ vaters Abraham, den sie in großen Ehren hielten. Die Lehre des Apo­stels könne man nicht auf Abraham anwenden, denn er sei ein Beispiel dafür, dass man durch Werke gerechtfertigt werde … Paulus verwendet die Geschichte Abrahams und seine zuvor dargelegte Lehre, um zu be ­ weisen: In der Frage der Rechtfertigung vor Gott gibt es keine Aus­ nahmen und damit keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden« (R. Haldane, Exposition of the Epistle to the Romans, S. 159). »Für die Juden war Abraham die Verkörperung des Heils; sein Beispiel war deshalb ein Hauptfaktor in der Lösung der ganzen behandelten Frage. Das war auch die Überzeugung des Paulus. War der Erz vater durch Glau­ ben und durch Glauben allein gerechtfertigt worden, dann war seine These bewiesen. War er es geworden durch irgendeine Leistung, die zu seinem Glauben hinzukam, dann wäre die Lehre des Paulus widerlegt« (F. Godet, Commentaire sur l’épître aux Romains, tome premier, S. 386). V. 9­12 – »Abraham ist der Glaubensvater der Heiden wie der Juden, weil er in der Vorhaut ist gerechtfertigt worden als Heide, und weil er die Beschneidung zum Siegel der Glaubensgerechtigkeit empfangen hat« (J. P. Lange, Der Brief Pauli an die Römer, S. 92). »Man kann hier eine interessante Beobachtung betreffs der Stellung des Paulus zur Beschneidung machen. Er stellt sich ihr nicht, wie man meinen könnte, ohne Weiteres abweisend gegenüber. Es besteht ein gewisser Par­ allelismus zwischen seiner Auffassung von der Beschneidung und seiner Auffassung vom Gesetz. Wie das Gesetz, recht verstanden, der Glaubens­ gerechtigkeit nicht entgegensteht, sondern stattdessen für sie zeugt, so ist auch die Beschneidung, recht verstanden, nichts, was der Glaubensgerech tigkeit entgegensteht, sondern umgekehrt eben, wie es hier heißt, ein ›Sie­gel der Glaubensgerechtigkeit‹« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 131).

V. 18 – »Der Vers 18 betont das Paradoxon von Abrahams Glauben: Abrahams Glaube war ›gegen Hoffnung auf der Grundlage der Hoff­nung‹. Es lässt sich keine bessere Erklärung dieses Ausdrucks finden als die von Chrysostomos: ›Es war gegen die Hoffnung des Menschen in der Hoffnung, welche Gottes ist‹« (Douglas Moo, The Epistle to the Romans, S. 282).

V. 23­-24 – »Der Bericht vom Glauben und der daraus folgenden Recht­ fertigung Abrahams wurde nicht lediglich deshalb in der Bibel über­ liefert, damit wir eine korrekte Geschichte vom Erzvater hätten; er ver folgt ein viel höheres Ziel. Abraham ist eine repräsentative Gestalt; was für ihn galt, gilt für jeden, der im gleichen Verhältnis zu Gott steht. Die Methode, nach der er gerechtfertigt wurde, ist die Methode, nach der andere Sünder gerechtfertigt werden müssen. Dass er aus Glauben gerechtfertigt wurde, steht in der Bibel geschrieben, damit es ein bleiben­ des Zeugnis sei von der wahren Methode der Rechtfertigung vor Gott. Daher fügt der Apostel hinzu: Es ist unsertwegen geschrieben« (Charles Hodge, Romans, S. 128).

Teil 3: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Bewahrung des Glaubenden (5,1 – 8,39) [161]

»Das Werk der Gerechtigkeit wird Frieden sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit in Ewigkeit« (Jes 32,17). In 3,21 – 4,25 haben wir gelernt, wie der Sünder durch Glauben gerecht­ fertigt wird. Aus der Rechtfertigung ergibt sich, was Röm 1,17 sagt: »Der aus Glauben Gerechte wird leben.« Was dieses Leben bedeutet, wird in diesem dritten Teil des Römerbriefes erörtert, und das kann man wie folgt zusammenfassen:

1. »Der aus Glauben Gerechte wird leben«, und das heißt, dass er vom Zorn und Gericht Gottes befreit ist (Kapitel 5), weil Christus für ihn gestorben ist. 2. »Der aus Glauben Gerechte wird leben«, und das heißt, dass er von der Sünde frei ist (Kapitel 6), weil er mit Christus der Sünde gestorben ist. 3. »Der aus Glauben Gerechte wird leben«, und das heißt, dass er vom Gesetz frei ist (Kapitel 7), weil er mit Christus dem Gesetz getötet worden ist. 4. »Der aus Glauben Gerechte wird leben«, und das heißt, dass er vom Gesetz der Sünde und des Todes frei gemacht ist (Kapitel 8), weil er in Christus ist und Christus in ihm. Eine Übersicht der Kapitel 5 – 8</item> <p>1,18 hatte mit der Deklaration begonnen, dass alle Menschen ihrer Sünde wegen unter Gottes Zorn stehen. Sind wir nun gerechtfertigt von der Sünde, ist Gottes Zorn von uns abgewendet; wir haben Frieden mit Gott (5,1), und wir rühmen uns der Hoffnung der Herrlichkeit (5,2). Keine Anfeindungen oder Nöte können unsere Beziehung zu Gott auf­ lösen, weshalb wir uns auch in den Drangsalen noch rühmen (5,3­4), denn die Liebe Gottes ist uns durch Gott den Heiligen Geist in unser Herz aus gegossen (5,5), sodass wir wissen: Unsere Rechtfertigung hat ihren Grund im Wesen Gottes selbst. Er ist Liebe, und er liebte uns, als wir Sünder und Feinde waren (5,6­10), und deshalb liebt er uns erst recht, da die Feindschaft beendet ist und wir nun mit Gott versöhnt sind (5,11).</p> <p>Darauf erklärt Paulus, auf welche Weise wir, mit Adam verbunden, der Sünde und dem Tod unterworfen waren und wie wir durch unser Einssein mit Christus von Sünde und Tod befreit worden sind und daher im Leben herrschen, d. h. nie mehr dem Tod erliegen werden (5,12­-19). Da Paulus in diesen Versen gezeigt hat, dass Sünde und Tod und die Befreiung daraus ganz abhängen von unserer Beziehung zu zwei Men­ schen, zu Adam und zu Christus, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Gesetzes. Es wurde der Sünde wegen daneben eingeführt, damit die Sünde zunehme. Denn wir müssen der Sünde überführt werden, ehe wir verstehen, dass wir Gnade nötig haben, eine Gnade die noch mächtiger ist als die Sünde (5,20-­21).</p> <p>Was Paulus in 5,20-­21 gesagt hat, weckt zwangsläufig die Frage: Wenn die Gnade nur gemehrt wird, wenn die Sünde zunimmt, heißt das nicht, dass wir in der Sünde verharren können, damit die Gnade sich umso mächtiger erweise? Auf diese Frage antwortet der Apostel in Kapitel 6. Aus der Tatsache, dass Gott uns in seiner Gnade mit Christus einsgemacht hat, folgt zwingend, dass wir nicht mehr der Sünde, son­dern der Gerechtigkeit leben. Wir sind in Christus der Sünde gestorben, wir sind in Christus auferweckt worden zu einem neuen Leben, in dem wir der Sünde nicht mehr dienen (6,1­13). Wir werden also gerade des­ halb der Sünde nicht dienen, weil wir nicht mehr unter Gesetz, son dern unter Gnade sind (6,14). So folgt also aus der Rechtfertigung notwendigerweise ein Leben der Heiligkeit: Von der Sünde frei gemacht und Gottes Sklaven geworden (6,18), haben wir Heiligkeit als Frucht und als das Ende das ewige Leben (6,22­-23).</p> <p>Das Kapitel 7 ist eine ausführliche Erläuterung dessen, was Paulus in 6,14 gesagt hatte: Wir dienen der Sünde nicht mehr, weil wir nicht unter Gesetz sind. Der Apostel erklärt den Menschen, die unter Gesetz groß geworden waren (V. 1), warum das Gesetz kein taugliches Mittel ist, um von der Knechtschaft der Sünde loszukommen, weshalb wir not­wendigerweise vom Gesetz befreit werden mussten, um Gott die in 6,22 erwähnte Frucht der Heiligkeit zu bringen (7,5.7). </p> <p>Nachdem Paulus in den Kapiteln 6 und 7 diese Fragen beantwortet hat, fährt er in 8,1 mit dem Hauptthema fort. Es geht um die absolute Sicherheit<note type="x-footnote">147 Sicherheit des Heils ist das Fundament, auf dem die Gewissheit des Heils ruht. Ist das Heil nicht sicher, kann es keine Gewissheit geben.</note> dessen, der durch Glauben gerechtfertigt (5,1) und als sol­cher mit Christus einsgemacht (5,15­-19) ist: Für den, der in Christus ist, gibt es keine Verdammnis (8,1), denn das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat ihn frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes (8,2). Er wandelt nach dem Geist, Gottes Geist wohnt in ihm, leitet ihn, lehrt ihn beten, gibt ihm die Gewissheit, dass er ein Kind Got­tes ist, und als solcher ist er Erbe Gottes und Miterbe Christi (V. 4­-17). Er wird aber, so sicher sein Herr in dieser Welt litt, auf seinem Weg durch die Welt durch Leiden gehen (V. 17­-23); denn wir sind in Hoffnung er ­ rettet, d. h., die Erlösung des Leibes steht noch aus (V. 24­-25). Für den ganzen Weg bis ans Ziel sollen wir wissen, dass der dreieine Gott für uns ist: Der Heilige Geist betet <hi type="italic">für uns</hi> (V. 26), Gott der Vater ist <hi type="italic">für uns</hi> (V. 32), Christus, der Sohn, tritt ein <hi type="italic">für uns</hi> (V. 34). Durch ihn über­ winden wir weit in allen Drangsalen (V. 35­-37), und darum haben wir die Gewissheit, dass nichts – kein Geschöpf und kein Geschehen in der Zeit – uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist (V. 35­-39). Mit dem Rühmen, das in diesen Versen zum Ausdruck kommt, ist der Apostel wieder zurückgekehrt zum Rühmen, mit dem er in Kapitel 5 begonnen hatte (V. 2­3.11).</p> <p>Douglas Moo hat in seinem Kommentar <hi type="italic">»auf die Gefahr hin, einen komplexen Abschnitt zu sehr zu vereinfacht zu haben«</hi> folgendes Schema aufgestellt:<note type="x-footnote">148 Douglas Moo, The Epistle to the Romans, S. 294.</note></p> <list> <item>A. 5,1-­11 Gewissheit der kommenden Herrlichkeit;</item> <list> <item>B. 5,12­-21 Grundlage dieser Gewissheit im Werk Christi;</item> <list> <item>C. 6,1­-23 das Problem der Sünde;</item> <item>C’. 7,1­-25 das Problem des Gesetzes;</item> </list> <item>B’. 8,1­-17 Grundlage der Gewissheit im Werk Christi, durch den Geist vermittelt;</item> </list> <item>A’. 8,18­-31 Gewissheit der kommenden Herrlichkeit.</item> </list> <title>Kapitel 5 1. Das dreifache Rühmen der durch Glauben Gerechtfertigten (5,1-11) 2. In Adam starben wir, in Christus leben wir (5,12-19) 3. Das Gesetz, das daneben einkam (5,20-21)

Dieses Kapitel besteht aus drei Teilen: In den Versen 1­-11 zeigt der Apo­stel, wie der aus Glauben Gerechtfertigte vollkommen gesichert ist; in den Versen 12­-19 spricht er von unserem Einssein mit Christus, weil darin die Sicherheit des Gerechtfertigten liegt; in den Versen 20-­21 erklärt er, welche Aufgabe das Gesetz in Gottes Heilshandeln erfüllen musste. Das große Thema von Teil 2 war die Gerechtigkeit Gottes, die sich in der Rechtfertigung des Sünders offenbart. Das große Thema von Teil 3 ist die Gerechtigkeit Gottes, die sich in der Bewahrung der Gerecht­ fertigten offenbart.

1. Das dreifache Rühmen der durch Glauben Gerechtfertigten (5,1­-11) [164]

Die Ergebnisse der Rechtfertigung sind so groß und wir sind ihrer so gewiss, dass wir uns rühmen können. Und zwar sind es drei Dinge, deren wir uns rühmen:

1. »[Wir] rühmen uns der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes« (V. 2). 2. »Wir rühmen uns … in den Drangsalen« (V. 3). 3. »Wir rühmen uns … Gottes« (V. 11).

Wir haben Frieden mit Gott, wir haben Zugang zur Gnade, in der wir stehen, wir rühmen uns in der Gewissheit der kommenden Herrlichkeit (V. 1­2). Wir müssen zwar durch Leiden gehen, doch diese sind nicht etwa unvereinbar mit unserer Stellung als Gerechtfertigte und mit der Hoffnung der Herrlichkeit, sondern im Gegenteil: Wir rühmen uns in die­sen Leiden, weil diese die Hoffnung stärken und damit unsere Gewiss­heit mehren (V. 3­4), denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns seiner unveränderlichen Liebe versichert (V. 5). Woran können wir erkennen, dass Gott uns liebt? Er bewies seine Liebe, als Christus für uns starb, als wir noch Sünder und damit kraftlos und gottlos waren (V. 6­8). Hat Gott uns durch das Blut seines Sohnes gerechtfertigt, als wir Sünder waren, wird er uns als Gerecht fertigte erst recht vom kommenden Zorn retten (V. 9), und hat er uns durch den Tod seines Sohnes mit sich versöhnt, als wir noch Feinde waren, werden wir erst recht durch das Leben des Sohnes Gottes bewahrt und hindurchgerettet werden, bis wir bei ihm sind (V. 10). Also können wir uns Gottes rühmen, denn wir sind durch unseren Herrn Jesus Christus mit Gott versöhnt worden (V. 11). Wir haben alle Freimütigkeit in dem Wissen, dass der unwandelbare Gott uns nicht mehr zürnt (vgl. 1,18) und seine Gerechtigkeit nicht mehr gegen uns steht, sondern dass er fortan mit seiner nie endenden Liebe für uns ist (siehe 8,31). Die Wahrheiten, die Paulus in diesen 11 Versen entfaltet, nimmt er am Ende dieses dritten Teils des Römerbriefes wieder auf. Gottes Wirken in der Errettung macht alles unerschütterlich fest: Röm 5,1-11 Röm 8,18-39 Wir rühmen uns der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes (5,2). Die Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll (8,18; siehe auch 8,30). Wir rühmen uns in den Leiden (5,3). Leiden wir, werden wir verherrlicht (8,17). Leiden bewirkt Ausharren, Erfahrung und Hoffnung (5,4). Wir harren aus in der Hoffnung auf die Erlösung des Leibes (8,23). Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen (5,5). Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist (8,38-39). Der Geist gibt uns die Gewissheit, dass Gott uns liebt (5,5). Der Geist gibt uns die Gewissheit, dass wir Kinder Gottes sind (8,16). Gott hat seine Liebe darin erwiesen dass er seinen Sohn für uns dahingab (5,8). Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont (8,31). Wir werden durch sein Leben gerettet (5,10). Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich frei gemacht (8,2). Wir sind mit Gott versöhnt (5,11). Gott ist für uns (8,31).

1 Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus,

2 durch den wir mittels des Glaubens auch Zugang erhalten haben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes.

Die Rechtfertigung ist so vollkommen, dass keine Frage bezüglich unse­rer Schuld und unserer Annahme bei Gott mehr offenbleibt. Wir haben als Gerechtfertigte »Frieden mit Gott«, und wir haben als Gerecht fertigte das erreicht, was wir durch die Sünde verloren hatten: »die Herrlichkeit Gottes« (siehe 3,23). Unsere Gewissheit ist so groß, dass wir uns der zukünftigen Herrlichkeit jetzt schon »rühmen«. Dabei sind wir nicht anmaßend; denn unser Rühmen kommt nicht aus unserer Würdigkeit oder aus unseren Werken (siehe 3,27), sondern aus dem Glauben an den unwandelbaren Gott.

»Da wir nun gerechtfertigt worden sind«: Mit dieser Wendung leitet Paulus die Sätze ein, in denen er die Ergebnisse der Rechtfertigung beschreibt. »Wir [sind] … gerechtfertigt.« Das ist nicht ungewiss; es ist geschehen; es ist eine Tatsache. Wer hat uns gerechtfertigt? Gott selbst. Darum ist die Sache fest; darum kann niemand sie anfechten und damit kann sie durch nichts rückgängig gemacht werden (siehe 8,33). »aus Glauben«: Der Glaube ist das Mittel, durch das wir die Gerechtigkeit Gottes empfingen: der Glaube an den Sohn Gottes, der Glaube an das Blut, das er für uns vergoss, der Glaube an das Wort und die Ver­heißung Gottes. Da wir nun gerechtfertigt sind, »haben wir Frieden mit Gott«. Auch das ist eine Tatsache, nicht etwas, was wir er streben müs­sen, denn sonst hätte Paulus geschrieben: »… sollen wir Frieden haben«. Wir haben Frieden mit Gott, und das bedeutet:

1. Gott zürnt uns nicht mehr; sein Zorn stand über uns (1,18), wir waren »Kinder des Zorns« (Eph 2,3), aber Gottes Zorn ist ab ­ gewendet: Wir werden gerettet vom Zorn (5,9). 2. Wir waren Feinde Gottes (5,10), aber wir sind es nicht mehr, son­dern wir sind mit Gott versöhnt. 3. Gott ist nicht mehr unser Richter, und wir stehen nicht mehr unter seinem Verdammungsurteil (8,1); sondern wir sind vom Vater geliebte Kinder. 4. Frieden bedeutet das Ende aller Unsicherheit in unserem Verhält nis zu Gott und damit das Ende aller Ungewissheit. Frieden heißt, dass an diesem Verhältnis nicht gerüttelt werden kann; es bleibt bestehen, solange wie Gott, der uns in dieses Verhältnis gebracht hat, bleibt.

Wir können mit den üblichen Übersetzungen sagen »Frieden mit Gott« oder nach wörtlicher Übersetzung »zu« Gott, προς τον θεον, pros ton theon, wie in 4,2 (wo es heißt, Abraham habe nichts zu rühmen »vor Gott«, eigentlich »zu Gott hin« [wie in Joh 1,1: »das Wort war zu Gott hin«149 Das Wort war nicht nur in dem Sinn »bei« Gott, dass der Sohn und der Vater nebeneinander waren; es war zu Gott hin, d. h., der Sohn war dem Vater wie auch der Vater dem Sohn in Liebe zugewandt., pros ton theon]). Das bedeutet: Paulus spricht hier nicht von einem inneren Frieden, von Frieden in der Seele, sondern von einem Frieden, der sich aus der rechten Beziehung zu Gott ergibt. Wir dürfen das nicht verwechseln mit dem »Frieden Gottes«, von dem Paulus in Phil 4,7 spricht. Der Friede mit Gott meint eine ganz neue Beziehung, in die wir getreten sind. Gott ist nicht mehr der Richter, der uns zürnt, wir sind nicht mehr seine Feinde; wir »[haben] die Versöhnung empfangen« (V. 11). Das ist eine objektive, unveränderliche Tatsache. Wir sind durch die Rechtfertigung in diese neue Stellung hineinversetzt. Der Friede Gottes hingegen, der unsere Herzen bewahren soll, bezieht sich auf unseren Zustand, auf etwas Subjektives, das sich ändert je nach unserer gerade gelebten Abhängigkeit von Gott150 Wenn ich, statt den Sorgen und dem Unfrieden in der Seele Raum zu geben, im Gebet und mit Flehenalles dem Herrn übergebe (Phil 4,6), dann werde ich in der Folge erfahren, wie sein Friede mein Herzregiert. Und beachten wir: Es ist sein Friede, es ist jener Friede, der immer im »Gott des Friedens«(Phil 4,9) wohnt. Gott ist nie unruhig; er ist nie von Sorgen dahin und dorthin geworfen. Er thront in ewig gleichbleibender Glückseligkeit über allem. Diesen Frieden gibt er uns, wenn wir uns ihmüberlassen und uns im Gebet an ihn binden..

»durch unseren Herrn Jesus Christus«: Gott hat uns gerechtfertigt; er tat es, indem er seinen Sohn zum Sühneort machte durch den Glauben an sein Blut (3,25). Alles kommt von Gott dem Vater, alles ist durch Gott den Sohn. Aus mir heraus und durch mein eigenes Tun kann ich nie zum Frieden mit Gott gelangen. Ich kann mich nicht selbst gerecht machen; einzig durch Glauben an das stellvertretende Sterben Jesu Christi werde ich gerecht vor Gott. So habe ich durch den Herrn Jesus Christus Frie­ den mit Gott.

Das ist unser von Gott gegebener Stand. Aber das ist nicht alles. Wir haben »auch Zugang … zu dieser Gnade, in der wir stehen«, d. h. zu allem, was uns in Gnade bereitet und geschenkt ist. Mit »Gnade« ist das Stichwort gegeben, welches das ganze Kapitel 5 dominiert (V. 15-­17.20­-21). In dieser Gnade stehen wir; denn was Gott sich in seiner Gnade vorgesetzt, uns geschenkt und an uns gewirkt hat, ist so fest und unwandelbar wie Gott selbst. Zu dieser Gnade gehört, dass wir Zugang haben zu Gott. Wir dürfen ihm mit Zuversicht nahen, denn unsere Sün­ den stehen nicht mehr zwischen Gott und uns; wir sind gereinigt vom bösen Gewissen (Hebr 10,22), es klagt uns nicht mehr an. Das Wort »Zugang«, prosagwgh, prosagōgē, steht auch in Eph 2,18: »Durch ihn haben wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem Vater«, und dann nur noch in Eph 3,12. Durch den Geist können wir Gott dem Vater freimütig nahen, da wir wissen und auch empfinden, dass wir als seine Kinder von ihm geliebt sind. Darum brauchen wir um nichts besorgt zu sein, sondern wir bringen unsere Anliegen mit Gebet und Danksagung vor Gott, und »der Friede Gottes« bewahrt unser Herz und unseren Sinn (Phil 4,6-7). Gottes Thron ist uns nicht mehr ein Thron des Gerichts (siehe Ps 97,2-3­; Offb 20,11-12­), sondern ein Thron der Gnade (Hebr 4,16). In seiner ganzen Macht – dafür steht der Thron – ist Gott für uns. Darum finden wir vor ihm stets die Hilfe, die wir benötigen. Wie wunderbar!

Da Gott selbst uns gerecht gesprochen und der Sohn Gottes unsere Gerechtigkeit gewirkt hat, ist das Heil sicher. Wir stehen nunmehr in der Gnade, nicht mehr unter Gottes gerechtem Zorn; wir sind nicht mehr unter der Gewalt der Sünde und des Todes, sondern wir haben als Gerechtfertigte Leben, und dieses Leben findet seinen höchsten Aus­ druck und seine letzte Verwirklichung in der »Herrlichkeit Gottes«, in der Teilhabe am Wesen Gottes selbst. Mit der Sünde hatten wir die Herr­lichkeit Gottes verloren (3,23); mit der Befreiung von der Schuld und Macht der Sünde, wird uns die Herrlichkeit wieder gegeben. Da wir nun den Zugang haben zur Gnade und damit zu allem, was uns der Vater in Christus bereitet und mit der Gabe des Sohnes geschenkt hat (8,32), sind wir der Vollendung des Heils so gewiss, dass wir »[uns] rühmen … der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes«.

Da wir als Gerechtfertigte noch in dieser Welt sind und einen langen Weg vor uns haben, bis wir beim Herrn in der Herrlichkeit sind, spricht Paulus von der Hoffnung der Herrlichkeit. Hoffnung steht in der Bibel für die Gewissheit zukünftiger Segnungen. Diese sind gewiss, doch sie sind noch nicht eingetreten; wir sehen sie noch nicht, darum hoffen wir noch (siehe 8,24­25), und während wir in der Hoffnung ausharren, rüh­men wir uns bereits der kommenden Herrlichkeit. Rühmt man sich eines noch unsicheren Besitzes? Paulus zeigt schon im ersten Satz dieser drei Kapitel, dass die Rechtfertigung unfehlbar zur Verherrlichung führt, indem er Rechtfertigung und Verherrlichung direkt miteinander verbindet. Wir sind jetzt gerechtfertigt; wir haben daher jetzt Frieden mit Gott, und wir rühmen uns jetzt der Hoffnung der Herrlich­ keit. In den abschließenden Versen von Teil 3 verbindet Paulus Recht­ fertigung und Verherrlichung noch einmal. In 8,30 lesen wir: »Welche er … zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und welche er be rufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht« (8,30). Gott hat die Rechtfertigung und die Verherrlichung unauflösbar miteinander verbunden. Man kann nicht durch Gott gerechtfertigt sein, ohne auch durch ihn verherrlicht zu sein. Darum sagt Paulus in Röm 8,30: Gott hat uns bereits verherrlicht, obwohl es in unserer Erfahrung noch nicht geschehen ist.

3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch in den Drangsalen, da wir wissen, dass die Drangsal Ausharren bewirkt,

4 das Ausharren aber Erfahrung, die Erfahrung aber Hoffnung;

5 die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.

Damit, dass wir gerechtfertigt sind und somit in einem neuen Verhält­nis zu Gott stehen, hat sich unser Verhältnis zu allem in diesem Leben verändert. Einst waren uns Trübsale nur lästig, nun aber erkennen wir in ihnen Beweise von Gottes Wohlgefallen. Denn er ist unser Vater geworden, der uns als seine Söhne erzieht, indem er uns durch Wider­ wärtigkeiten führt (siehe Hebr 12,6). Darum können wir »auch in den Drangsalen« uns der Hoffnung der Herrlichkeit rühmen. Keine Drang­ sal kann Gottes Werk der Rechtfertigung rückgängig machen und damit die Hoffnung erschüttern (vgl. 8,35), und darum verunsichert diese den Gläubigen nicht; es ist vielmehr umgekehrt: Die widrigen Winde der Trübsal treiben den Erlösten in die Gegenwart Gottes. Rühmen können wir uns, »da wir wissen«. Was wissen wir? Wir wissen, wie Gott mit uns verfährt, um unsere Hoffnung zu stärken; er verwendet Drangsal als ein Mittel dazu. Wer als Christ ein Unwissender ist, verliert alle Freude des Heils, und sein Rühmen in der Gewissheit kommender Herrlichkeit ver­stummt, sobald er Widerwärtiges erdulden muss. Darum ist es so wich­ tig, dass wir alle zum Evangelium gehörenden Wahrheiten gut kennen. Wir müssen in den biblischen Lehren gegründet sein; sonst wird uns jeder Windstoß umwerfen151 Jakobus sagt in 1,2­3 das Gleiche. Wir sollen es für lauter Freude ansehen, wenn Gott Prüfungensendet, »da ihr wisst …«.

»die Drangsal [bewirkt] Ausharren«: Um die Verheißung zu er ­ langen, müssen wir ausharren (Hebr 6,12.15). Nur wer ausharrt bis ans Ende, wird gerettet (Mt 10,22). Ausharren ist also eine Notwendigkeit, und weil es notwendig ist, wirkt Gott es in den Gerechtfertigten. Wie tut er das? Indem er Drangsal sendet. Diese bewirkt Ausharren. Die Recht­ fertigung wirkt kein Ausharren; dieses lernen wir erst durch Schläge, Druck, Widerstand und Schmerzen, indem diese uns nötigen, im Glauben auszuharren, da es nicht in unserer Macht steht, die widrigen Umstände zu ändern. Während wir uns unseres Zieles mit aller Gewissheit rühmen, lernen wir, unter Druck stillzuhalten unter der Hand, die uns gerettet hat und uns vollenden wird.

Das Ausharren wiederum bewirkt »Erfahrung«: Wir haben gemerkt, dass wir stehen können, weil der Herr uns hält; wir haben erfahren, dass unser Glaube und damit unsere Hoffnung gestärkt werden, indem wir zum Wort Gottes flüchten und uns auf die Verheißungen stellen. So ler­nen wir die Sünde, die Welt, uns selbst, und vor allem den Herrn kennen, der bei uns ist und uns nicht verlässt.

»die Erfahrung aber Hoffnung«: Die Erfahrung bewirkt, dass wir uns unserer Hoffnung immer gewisser werden. Die Hoffnung, die dem Christen dämmerte, als er zum Glauben kam, leuchtet jetzt noch heller, seit er die Erfahrung gemacht hat, dass sie ihn besonders in der Trübsal trägt und ermuntert. »Die Hoffnung der Herrlichkeit« ist objektiv; die Hoffnung, die uns die Erfahrung gibt, ist die subjektiv empfundene Hoff­nung: Wir wissen nun, dass unsere Hoffnung uns nicht täuscht. »die Hoffnung aber beschämt nicht«: Sie lässt uns nicht zu schanden werden. In den Drangsalen wächst die Hoffnung, und die Hoffnung täuscht uns nicht: Wir hoffen nicht umsonst. Erstens haben wir im Lauf der Jahre immer wieder erfahren, dass Druck und Leid die Gewissheit des Heils gestärkt haben, und zweitens haben wir Ursache, nicht an ihr zu zweifeln. Warum wissen wir, dass wir nicht umsonst hoffen? »denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen«: Gemeint ist hier die Liebe, die Gott zu uns hat, nicht die Liebe, die wir zu Gott haben (wie in 1Jo 5,3). Gottes Liebe ist uns Gewähr, dass Drangsale uns das Heil und die kommende Herrlichkeit nicht rauben können, denn wir verstehen nun: Die Errettung ist in Gottes unwandelbarem Wesen begründet. Er ist Liebe (1Jo 4,16); er liebte uns, ehe er die Welten er schaffen hatte (siehe Jer 31,3). Er liebte uns, als wir noch Sünder waren; er liebte uns, weil er Liebe ist. Er kann also unmöglich aufhören, uns zu lieben, weil wir uns etwa seiner Liebe unwürdig erwiesen hätten. Warum ist das unmöglich? Weil er mich nie aufgrund meiner Würdigkeit geliebt hat. Dabei haben wir nicht lediglich die objektive Tatsache vor Augen, dass Gott die Seinen liebt, sondern empfinden auch diese Liebe; wir haben die innere Gewissheit, dass er uns liebt. Gott hat nämlich seine Liebe »ausgegossen in unsere Herzen«. Diese Empfindung ist also nicht ein bloßes Gefühl, das auf Wunschdenken beruht; denn die Liebe Gottes ist »durch den Heiligen Geist« in uns ausgegossen. Gott der Hei­lige Geist lässt uns diese Liebe erkennen und kosten, und so wirkt er in unserem Inneren die Überzeugung und lässt uns etwas kosten von dieser Liebe, mit der Gott uns ewig geliebt hat (Jer 31,3) und die nie aufhören wird (Röm 8,35-39­). Wir können sagen, dass es gerade dieses besondere Wirken des Geistes ist, der ihn zum Tröster (Joh 14,16­17) macht. Es wäre uns nicht damit geholfen, lediglich zu wissen, dass Gott uns liebt; wir sind darauf angewiesen, dass wir diese Liebe empfinden, dass sie unsere Seele anrührt. Der Heilige Geist hat das Vermögen, uns davon zu überzeugen, dass Gott wahrhaft der ist, als den die Bibel ihn offenbart: Er ist Licht (1Jo 1,5), und er ist Liebe (1Jo 4,16). Hier spricht Paulus zum ersten Mal vom Wirken des Heiligen Geis­tes in unserer Errettung152 In 1,4 hatte er das Wirken des Heiligen Geistes in der Auferstehung Christi erwähnt.. Der Heilige Geist ist es, der uns befähigt, im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zu verharren. So wie in der Rechtfertigung Gott alles für uns getan hat, so tut Gott wiederum alles, um uns im Glauben zu erhalten.

In den hierauf folgenden Versen 6­10 gibt Paulus folgende Belege für die Liebe Gottes zu uns: Gott gab seinen Sohn für Kraftlose (V. 6a), für Gottlose (V. 6b), für Sünder (V. 8), für Feinde (V. 10). Wenn Gott uns liebte, als wir Gottlose und Feinde waren, wie sollte er aufhören, uns zu lieben – jetzt, wo wir mit ihm versöhnt sind? Das ist die bezwingende Logik im Argument des Apostels.

6 Denn Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben.

»Denn …«: Mit diesem Wort leitet Paulus die nächste Begründung ein, warum wir der bleibenden Liebe Gottes und darum des Heils gewiss blei­ben, auch wenn er uns durch Leiden führt. Das Zeugnis des Heiligen Geistes (V. 5) wird gestützt durch die historische Tatsache: »Christus ist, da wir noch kraftlos waren … für Gottlose gestorben.« Er starb für uns und wirkte unser Heil, als wir keine Kraft hatten, also weder Glauben an Gott noch Erkenntnis seines Heils. Jetzt aber haben wir beides. War sein Tod für uns wirksam, als wir noch nicht glaubten, wie sollten die Ergebnisse seines Todes nicht wirksam bleiben – jetzt, da wir Glauben haben? Und er starb für Gottlose, um Gottlose wie Abraham zu recht­ fertigen (4,5). Der Gottlose heißt, wie wir bereits gesehen haben, a-sebēs, wörtlich: »ohne­ Verehrung«asebēs kommt an folgenden Stellen vor: Röm 4,5; 5,6; 1Tim 1,9; 1Petr 4,18; 2Petr 2,5; 3,7; Jud 4.15; das Abstraktum asebeia, Gottlosigkeit, findet sich in Röm 1,18; 11,26; 2Tim 2,16; Tit 2,12; Jud 15.18; das Verb asebeō, gottlos sein, in 2Petr 2,6; Jud 15.. Das Verb sebomai bedeutet entsprechend »verehren«. Wer a-sebēs ist, verehrt Gott nicht. In ihm ist nichts, was ihn drängt, nach Gottes Willen zu fragen, nichts, was ihn zu Gott zieht und ihm sein Herz zuneigt. Er sucht Gott nicht (3,11) und fragt nicht nach Gottes Gerechtigkeit. Wir waren »kraftlos«, asthenēs, von a = »ohne«, und sthenos = »Kraft«. Wir hatten in uns keine Kraft, um uns Gott zu ­ zuwenden. Wenn wir, durch Gottes Wort und Gottes Geist gelehrt, an ­ fangen, das langsam zu erkennen, dämmert uns auch die Erkenntnis, dass die Errettung ganz aus Gott sein muss. Sie muss sowohl von ihm ihren Ausgang haben als auch von ihm selbst gewirkt werden. Haben wir aber das verstanden, dann ist uns auch klar, dass die Errettung so sicher und so fest ist wie Gott selbst.

Christus starb »zur bestimmten Zeit«, kairos, zum gegebenen Zeit­ punkt. Er wurde geboren, als die Zeit erfüllt war (Gal 4,4), und er starb an dem Tag, den Gott zuvor bestimmt hatte. An welchem Tag im Jahr er sterben musste, war durch die jährliche Passahfeier bestimmt: Am 14. Tag des Monats Abib mussten die Israeliten das Passah schlach­ ten (2Mo 12,6). In welchem Jahr das geschehen sollte, hatte Gott durch Daniel gesagt: 69 Wochen nach dem Ausgehen des Wortes, die Stadt Jerusalem wieder aufzubauen (Dan 9,25), sollte »der Messias ausgerottet werden« (Dan 9,26). Im Jahr 30 waren diese 69 Wochen abgelaufen. Da schlug man am 14. Tag des Monats Abib vor den Toren Jerusalems den Christus Gottes ans Kreuz, während man in der Stadt das Passah beging. Warum sagt aber Paulus das an dieser Stelle? Er will damit hervor­ heben, dass die Errettung von Gott beschlossen und exakt nach seinem zuvor gefassten Rat ausgeführt wurde (wie Petrus in der Pfingstpredigt sagt [Apg 2,23]). Die Errettung ist vom HERRN (Ps 3,9; Jon 2,10); sie ist sein Werk. Und wir müssen sagen: Auch wir, die Erretteten, sind sein Werk (Eph 2,10).

7 Denn kaum wird jemand für einen Gerechten sterben; denn für den Guten wagt vielleicht jemand zu sterben.

8 Gott aber erweist154 synisthēmi (wie in 3,5). seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren.

Unter Menschen kommt es kaum vor, dass einer sein Leben für einen gerechten Mitmenschen lässt; allenfalls mag es vorgekommen sein, dass einer es für einen guten Menschen wagt155 »Paulus kontrastiert nicht einen gerechten mit einem gütigen Menschen, sondern verwendet die beiden Begriffe als Synonyme. Er will sagen, dass es ungewöhnlich ist, dass jemand sein Leben wagen solltezugunsten einer Person von gutem Charakter. Noch weniger würde jemand sein Leben wagen füreinen Schurken. Aber Gott war bereit, das zu tun, und darin liegt unsere Sicherheit und Gewissheit«(J. MacArthur, Romans 1 – 8, S. 285).. »Gott aber« tut, was kein Mensch je getan hat noch tun würde: Er gibt seinen Sohn in die Hände von Sündern; und der Sohn Gottes tut, was kein Mensch je getan hat noch tun würde: »[Er starb] für uns …, als wir noch Sünder waren«. Wir waren nicht gerechte, wir waren nicht gute, sondern wir waren böse Menschen, und doch starb er für uns. Und so »erweist [Gott] seine Liebe zu uns«. Das aber bedeutet, dass seine Liebe bedingungslos ist. In uns war nichts, mit dem wir seine Liebe verdient hätten. 9 Vielmehr nun, da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch ihn gerettet werden vom Zorn. 10 Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden. In den Versen 6­-8 hat Paulus gezeigt, dass Gott uns bedingungslos liebt, liebte er uns doch, als wir Gottlose und Sünder waren, und daraus zieht er in den nun folgenden zwei Versen die logische Schlussfolgerung, dass wir auf immer gerettet sind, dass wir also in unserer Hoffnung nicht beschämt werden. Wir sind durch das Blut des Sohnes gerecht fertigt, d. h. durch seine Hingabe für uns. Diese Tatsache gibt uns die Zusicherung, dass Gott uns nicht mehr zürnen kann (V. 9). Und wir waren Feinde, und dennoch gab Gott seinen Sohn in den Tod, um uns mit sich zu versöhnen, weshalb wir gewiss sind, dass wir für immer gerettet sind (V. 10). Pau­lus argumentiert vom Größeren zum Geringeren: Wenn Gott uns liebte, als wir Sünder und Gottlose waren, wird er uns »vielmehr« vor dem Zorn bewahren, da wir nun versöhnt sind. Der unumschränkte Gottes­sohn wurde gegen seine göttliche Natur ganz Mensch, und er, der selbst das Leben ist, erlitt gegen seine Natur den Tod. Ein größeres Werk ist nie geschehen, ein größeres Wunder lässt sich nicht denken. Als Er gebnis dieses Werkes wurden Sünder und Feinde Gottes gegen ihre Natur zu Gerechten und zu Geliebten Gottes. Wenn der Herr etwas so Großes für uns getan hat, dann wird er »vielmehr« das Geringere für uns tun: Denn er ist das Leben, und es entspricht seiner Natur, Leben zu geben und erhalten; und wir sind jetzt Gerechte und Geliebte, und es entspricht die­ ser Natur, dass wir leben. Uns im Heil zu erhalten, ist offenkundig das geringere Werk; denn hier handelt Gott gemäß seiner eigenen Natur und auch entsprechend unserer neuen Natur, die uns mit der Rechtfertigung gegeben ist.

Erwies Gott seine Liebe zu uns, als wir Sünder waren, wird er »vielmehr nun, da wir jetzt … gerechtfertigt sind«, uns seine Liebe erweisen, und diese Liebe zeigt sich darin, dass er uns errettet »vom Zorn«. Der Zorn, der über alle Gottlosigkeit offenbar wird (1,18), ist von uns ab gewendet, und wir brauchen den Tag des Zorns (2,5) nicht zu fürchten. Damit, dass Jesus Christus »uns rettet von dem kommenden Zorn« (1Thes 1,10), be ­ sitzen wir eine vollständige Errettung: Sie ist in der Vergangenheit geschehen; sie ist täglich wirksam, und sie wird in der Zukunft vollendet. Wir sind errettet worden von der Schuld der Sünde; wir werden täglich errettet von der Macht der Sünde; am Ende werden wir errettet werden von der Gegenwart der Sünde.

Wir sind »durch sein Blut gerechtfertigt«. Gemäß 3,24 sind wir gerechtfertigt durch Gottes Gnade und durch die Erlösung, die in Chris­ tus ist; gemäß 3,28 und 5,1 sind wir gerechtfertigt durch Glauben; gemäß 4,25 sind wir gerechtfertigt durch die Auferstehung Christi; gemäß 5,18 sind wir gerechtfertigt durch eine Gerechtigkeit, d. h. eine gerechte Tat. Wir wurden »mit Gott versöhnt … durch den Tod seines Sohnes«. Dies ist der erste und einzige Beleg des Verbs katallassw, katallassō (»versöhnen«) im Römerbrief156 Es findet sich im NT nur noch in 1Kor 7,11; 2Kor 5,18.19.20.; in 5,11 und 11,15 findet sich das ent­ sprechende Hauptwort »Versöhnung«, katallagē. Wir waren »Feinde«, doch unsere Feindschaft gegen Gott (Kol 1,21) hat ein Ende gefunden; durch den stellvertretenden Tod Christi ist Gott mit uns und sind wir mit Gott versöhnt. Tat er das, als wir seine Feinde waren, werden wir nun als Versöhnte erst recht »gerettet werden«. Und versöhnte er uns durch den Tod seines Sohnes, was ganz gegen dessen Natur ging, wird er uns erst recht ewig im Heil erhalten »durch sein Leben«, ist dieses doch ganz entsprechend seiner Natur göttlich wirk­ sam.

Wie müssen wir das verstehen, dass wir durch das Leben Christi errettet werden? Geschah die Errettung denn nicht durch sein Sterben für uns? Er ist ein für alle Mal für unsere Sünde gestorben, und er ist zu unserer Rechtfertigung auferstanden (Röm 4,25). Nun lebt er immerdar, um für uns vor Gott einzutreten (Hebr 7,25; Röm 8,34). Auf diese Weise werden wir durch sein Leben täglich gerettet und werden so in dieser Welt des Todes bewahrt (Joh 17,11.15) und durch sie hindurch­ 156 Es findet sich im NT nur noch in 1Kor 7,11; 2Kor 5,18.19.20. getragen. Er erhält uns in der Gemeinschaft mit ihm, bis wir verherrlicht sind (Joh 17,22.24).

Statt »durch sein Leben«, en th zwh autou, en tē zōē autou, kann man auch übersetzen »in seinem Leben«. Damit wäre das Stichwort gegeben, das ganz organisch zum Abschnitt 5,12­21 führt, wo Paulus die große Wahrheit von den beiden Häuptern des Menschengeschlechts entfaltet: In Adam waren wir alle der Sünde und damit dem Tod unterworfen, in Christus sind wir gerecht gemacht und kommen damit zum Leben. Wir werden also »in seinem Leben gerettet«. 11 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.

»Nicht allein aber das«, nicht nur, dass wir als Versöhnte nun durch das Leben Christi gerettet werden, sondern »wir rühmen uns auch Gottes«. Damit schließt sich der Kreis, der mit der Aussage eröffnet worden war, dass wir, da wir gerechtfertigt sind, Frieden mit Gott haben. Wir wissen, dass er fortan und in Ewigkeit für uns ist (Röm 8,31). Wir werden durch den Herrn Jesus in dieser Welt bewahrt und hindurchgerettet, bis wir im Vaterhaus sind.

Wir sahen in den Versen 6­8, dass Gott uns das Beste gegeben und das Größte für uns getan hat. Das Ergebnis ist, dass wir das Höchste gewinnen; Höheres kann ein Geschöpf nicht erlangen. Wir sind sein, und er ist unser Gott geworden; wer den HERRN zu seinem Teil hat, begehrt nichts mehr (Ps 16,5).

»durch unseren Herrn Jesus Christus«: Wie in V. 1 hebt Paulus wieder hervor, dass wir alles durch unseren Herrn Jesus Christus emp­ fangen; am Ende dieses Kapitels, am Ende von Kapitel 6 und am Ende von Kapitel 7 sagt er es wieder. Durch ihn haben wir jetzt »die Versöhnung empfangen«. Das Hauptwort katallagh, katallagē, findet sich im NT nur noch in Röm 11,15 und 2Kor 5,18.19. Dass wir versöhnt sind, be deutet, dass die Feindschaft zwischen uns und Gott be endet ist. Wir sind nicht mehr seine Feinde, wie wir einst waren (Röm 5,10; Kol 1,21), sondern Geliebte (Röm 9,25). Gottes Zorn steht nicht mehr über uns, sondern sein Wohlgefallen. Wir wissen nun, dass Gott für uns ist. Wer will dann gegen uns sein (8,31)? Wir wissen, dass Gott seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns dahingegeben hat. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken (8,32)? Wir wissen, dass Gott selbst uns rechtfertigt. Wer will uns dann verdammen (8,34)? Wir wissen, dass nichts und niemand uns je wird scheiden können von der Liebe Got­ tes, die in Christus Jesus ist (8,38­39). So rühmen wir uns seiner ewigen Liebe, mit der er uns geliebt hat (Jer 31,3). Wer sich Gottes rühmen kann, ist zur Ruhe gelangt; denn er sucht nichts mehr; ihm fehlt nichts.

2. In Adam starben wir, in Christus leben wir (5,12­-19) [177]

In diesem Abschnitt lehrt uns der Apostel das biblische Verständnis von Geschichte. Gewöhnlich verstehen wir die Menschheitsgeschichte als ein rein innerweltliches Geschehen, das bestimmt wird von innerwelt­lichen Kräften und Personen. Hier sehen wir, dass die Geschichte des Menschen nur verstanden werden kann als ein von Gott gewirktes und gelenktes Geschehen. Sie hängt an einem zweimaligen Eingreifen Got­ tes: Bei seinem ersten Eingreifen schuf Gott den Menschen; bei seinem zweiten Eingreifen wurde er selbst Mensch. Die Erschaffung Adams und die Menschwerdung Christi, das sind die beiden Angelpunkte, an denen die gesamte Menschheitsgeschichte aufgehängt ist. Wenn wir die nicht kennen und berücksichtigen, werden wir die Geschichte des Menschen nie verstehen. Damit ist auch gesagt, dass die ganze Geschichte in zwei scharf voneinander geschiedene Zeitalter zerfällt: in das Zeitalter Adams und das Zeitalter Christi, oder: in das Zeitalter des ersten Menschen und das Zeitalter des zweiten Menschen. Diese beiden Zeitalter sind nicht bestimmt durch ihre Dauer, sondern durch das jeweilige Verhältnis des Menschen zu Gott; darum ist der Ausdruck »Zeitalter« nicht so glück lich, weshalb einige dafür das griechische Wort »Äon« verwenden, in welchem der Begriff »Zeit« nicht enthalten ist. Weil dieser Begriff wie­ derum gerne von Irrlehrern verwendet wird, verwenden wir am besten das gute deutsche Wort »Ordnung«. Die erste Ordnung ist von Adam und seinem gebrochenen Verhältnis zu Gott bestimmt. Der erste Mensch, Adam, erlag der Sünde, und damit wurde seine Ordnung zur Ordnung des Todes, der ohne Ausnahme über alle herrscht (5,14). Der zweite Mensch, Christus, überwand die Sünde, und damit eröffnete er die Ord­nung des Lebens. Und wiederum anders, als der Ausdruck »Zeit alter« suggeriert, finden diese beiden Ordnungen kein Ende in der Zeit. Die Ordnung Adams mündet in die ewige Gottesferne; die Ordnung Christi mündet in die ewige Gottesgemeinschaft. Und weil diese beiden Ordnungen nie aufhören, bestehen seit dem Ersten Kommen Christi beide nebeneinander. Wir stehen als Menschen im Fleisch noch in der alten Ordnung, und gleichzeitig gehören wir als Erlöste in Christus bereits zur neuen Ordnung.

Daher müssen wir im vorliegenden Zusammenhang »Tod« und »Leben« in ihrem biblisch umfassenden Sinn verstehen. Dass alle, die zur Ordnung Adams gehören, sterben, heißt nicht lediglich, dass ihre Lebensspanne begrenzt ist, sodass eines Tages der Tod eintritt, sondern es heißt auch: In Adam sind alle, und zwar vom Tag ihrer Geburt an, unter der absoluten Herrschaft des Todes – tot in Sünden, tot für Gott, dem wahren Leben entfremdet, gefangen in der Gottesferne, versklavt ohne Aussicht auf Befreiung. Wenn sie sterben, verfallen sie in einer totalen Weise dem Tod, den sie noch nicht empfinden, solange sie noch in dieser Welt mit ihren Augen die liebe Sonne sehen. Dass wir alle, die wir zur Ordnung Christi gehören, leben, heißt nicht, dass wir seit unserer Bekehrung lediglich unseren Lebenslauf anständig gestalten, um am Ende aus der Welt zu scheiden. In Christus sind wir zu Gott gebracht, und in der Erkenntnis Gottes ist uns ein Leben höherer Ordnung geschenkt, das Leben Gottes, das im Neuen Testament »das ewige Leben« heißt. Wahrhaft leben heißt, mit ihm, bei ihm, vor ihm, ja, in ihm zu sein. In Christus ist jetzt schon unser Leben verborgen (Kol 3,3). Christus selbst ist unser Leben (Kol 3,4), ein Leben, das keiner Sünde und keinem Tod unterworfen ist. Wir herrschen mit ihm im Leben (Röm 5,17), und das für immer (Offb 22,5). Das bedeutet, dass unser Sterben in dieser Welt uns befreit von allem, was unseres sündigen Lei­ bes wegen uns an Tod anhaftet, um einzugehen in das grenzenlose Glück des reinen, des unvermischten göttlichen Lebens.

In Teil I und II (1,18 bis 4,25) hatten wir gesehen, wie das Evangelium auf die Tatsache der Schuld der Menschen antwortet, die aus ihren sün­digen Taten erwächst. Im vorliegenden Abschnitt wird uns gezeigt, wie das Evangelium das Problem unserer von Adam ererbten sündigen Natur löst, denn die ist es, die alle Sünden hervorbringt. Man beachte, wie bisher von Sünden (Mehrzahl) die Rede war, während der folgende Abschnitt von Sünde (Einzahl) handelt, also von der Sündennatur. Nach­ dem Paulus erklärt hat, wie wir Vergebung unserer sündigen Taten und Rechtfertigung empfangen, erklärt er jetzt, wie die Befreiung von der Sündennatur geschieht: So wie die Sünde eines einzigen Menschen die Sünde aller seiner Nachkommen war, so ist die Gerechtigkeit des einen Menschen Jesus Christus die Gerechtigkeit aller, die in ihm sind. So wie wir in Adam in der Sünde geboren wurden und in ihr gefangen waren, so sind wir in Christus von der Sünde befreit. So bedingungslos in Adam der Tod herrscht, so bedingungslos herrschen alle, die in Christus sind, im Leben (V. 17­18). So wie in Adam alle dessen Los, das Los des gefallenen Sünders, teilen, so teilen in Christus alle dessen Los, das Los des Gerechten (V. 19). Der Grundsatz, den wir ungerecht und schlimm finden mögen, dass nämlich das Tun des einen die vielen trifft, ist in der Tat zu unserem Heil (V. 15); zudem führt in Adam der Weg abwärts, in Chris­tus führt er aufwärts: in Adam von Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit, in Christus von Ungerechtigkeit zu Gerechtigkeit (V. 16). Wenn die ganze Sache der Erlösung sich aber von Adam und von Christus her erklärt, wozu dann das Gesetz? Es wäre in der Tat nicht nötig gewesen, wäre der Mensch nicht so verstockt; aber das Gesetz musste nebeneingeführt werden, um den Menschen seiner Sünde zu überführen. Das Gesetz hat einzig den Zweck, die von Adam vererbte Sünde bloß­ zulegen. Die Erkenntnis, dass die Sünde übermächtig ist, dient wiederum einzig dem Zweck, den Menschen zu lehren, wie nötig er die Gnade hat und wie mächtig die Gnade ist (V. 20­21).

12 Darum, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt eindrang und durch die Sünde der Tod und so der Tod zu allen Menschen durchdrang, weil alle sündigten;

»Das müssen wir wahr bleiben lassen, dass Adam in diesem Gebot (1Mo 2,17) uns allzumal versündigt hat; denn wir sind allzumal in ihn gepflanzt und sein Fleisch und Blut, dass es uns gehen muss, wie es ihm ergangen ist. Denn Gott hat es so geordnet, dass von diesem einigen Menschen alle Menschen kommen müssen und wir alle seine Kinder sind. Darum, wie er getan hat und was ihm zum Fluch auferlegt ist, dasselbe begegnet uns allen, sodass wir müssen mit ihm für einen Kuchen und Teig gerechnet werden, kurz, alles, was Menschen sind. Darum gibt auch die Schrift dem ersten Menschen und uns allen einen Namen, heißt alles Adam von diesem ersten Adam, von welchem wir alle gemacht sind. Wir sind Adam und bleiben Adam.«157 M. Luther, zitiert von K. A. Dächsel. Luthers Worte gehen höchstwahrscheinlich auf seine Genesis-­Vorlesung zurück.

Paulus beginnt den Abschnitt mit »wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt eindrang …«, führt den Satz aber nicht mit einem durch »ebenso« eingeleiteten Folgesatz zu Ende. Stattdessen schiebt er zuerst eine Reihe erklärender und vorbereitender Gedanken ein (V. 13­17), um die in V. 12 angefangene Aussage erst in V. 18 aufzugreifen und zu Ende zu führen. Die Grundaussage lautet also: Wie die eine Übertretung Adams zur Verdammnis aller Menschen führte, ebenso kommt es durch die eine Gerechtigkeit Christi zur Rechtfertigung aller. So sicher wir in Adam sterben, so sicher leben wir in Christus. So wie die eine Über­tretung Adams unausweichlich den Tod nach sich zieht, so unausweich­lich zieht die eine Gerechtigkeit Christi das Leben nach sich. So wenig wir getan hatten, um in Adam zu sein, so wenig haben wir getan, um in Christus zu sein; und so unmöglich wir unsere Verbindung mit Adam lösen können, ebenso unmöglich können wir unsere Verbindung mit Christus beenden. Das ist, aufs Kürzeste zusammengefasst, das ganze Argument des Apostels.

Wir waren in Adam der Sünde verfallen; wir waren durch die Sünde Adams zu Sündern gemacht worden. Von der Sünde wurden wir befreit dadurch, dass Gott uns in gleicher Weise mit dem Gehorsam Christi ver­band, wie er uns mit dem Ungehorsam Adams verbunden hatte. Gott hat uns also nicht nur von der Schuld und von den Folgen unserer sündigen Taten befreit, sondern er hat uns durch Christus auch befreit von jener, von Adam vererbten Natur, die alle Sünden produzierte und täglich die Schuld vor Gott mehrte. Damit wir das richtig verstehen, beginnt Paulus mit Adam und dessen Sünde, die unser aller Sünde ist. Wir müssen ver­stehen, dass wir geboren wurden mit einer Natur, die nichts als Sünden produziert, und von der mussten wir befreit werden. Wie könnten wir uns sonst der Hoffnung der Herrlichkeit rühmen? Soll eine sündige Natur in die Herrlichkeit eingehen? Es hätte nicht genügt, dass der oberste Richter uns lediglich von der Schuld aller sündigen Taten freigesprochen hätte. Wir müssen auch von unserer ganzen sündigen Art loskommen. Und das ist eben damit geschehen, dass Gott uns mit Christus einsgemacht hat. Wir sind mit ihm der Sünde gestorben, und wir sind mit ihm auferweckt zur Neuheit des Lebens. Das wird der Apostel in Kapitel 6 ausführlich behandeln.

Paulus fängt mit einem »Darum« an und zeigt damit, dass der jetzt fol gende Abschnitt sich ergibt aus dem, was er vorher gesagt hat: Weil Gott den Glaubenden gerecht gemacht hat (5,1), weil Gott seinen Zorn ab gewendet und seine Liebe in unsere Herzen ausgegossen hat durch den Heiligen Geist (5,5), weil wir durch das Blut Christi gerechtfertigt sind und darum vom Zorn gerettet werden (5,9), weil wir als mit Gott Ver­ söhnte im Leben Christi gerettet werden (5,10), weil wir mit Gott ver­söhnt sind (5,11), »darum« kann es nur so sein, wie Paulus es im Fol­genden darlegt.

»wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt eindrang«: Die­ ser eine Mensch ist Adam, dessen Name eben »Mensch« bedeutet. Die Sünde kam nicht aus ihm; sie kam aus dem Teufel; doch indem der Mensch der Lüge des Teufels glaubte, kam die Sünde in ihn und durch ihn in die Welt: Alle Kinder und Kindeskinder Adams wurden mit der Sünde Adams geboren, und damit »[drang] der Tod zu allen Menschen durch«. Das wird in 1Mo 5 bestätigt durch die Kurzbiografien der Kinder und Kindes­ kinder Adams. Sie lebten zwar lange, aber sie starben alle. Paulus ver­ wendet im vorliegenden Vers die zwei Verben »eindringen« und »durchdringen«, eis-erchomai, hineingehen, und di-erchomai, hindurchgehen. Als Adam sündigte, tat er die Tür auf, und der Tod trat ein; aber der blieb nicht bei Adam, sondern er ging, bei Adam beginnend, hindurch zu einem jeden Menschenkind. Das beantwortet die Frage, warum alle sterben. Mit der Sünde Adams war der Tod zur Herrschaft ge kommen, »weil alle sündigten«, als Adam sündigte. Wir dürfen hier nicht übersetzen »weil alle gesündigt haben«, denn dies würde be deuten, dass der Tod nur deshalb über uns herrscht, weil wir im Lauf unseres Lebens gesündigt haben. Pau­ lus sagt aber hier, dass der Tod über uns herrscht, weil wir damals sün­digten, als Adam sündigte. Und darum sind wir von Geburt an von Gott, der Quelle des Lebens, getrennt, und darum können wir mit unseren Gedanken, Worten und Taten im ganz buchstäblichen Sinn nur Gott­Loses denken und tun. Es ist also nicht so, dass der Tod zur Herrschaft über einen jeden Nachkommen Adams kommt, weil er sündigt; sondern es ist umgekehrt: Weil wir im Tod sind, sündigen wir alle: Weil wir damals sün­digten, als Adam sündigte, herrscht der Tod über uns. Nun kann man den Ausdruck »weil«, ephʼ hō158 Die Wortfolge ephʼ hō kommt noch vor in 2Kor 5,4; Phil 3 12,; 4,10., in der Wendung »weil sie alle sündigten« auch anders übersetzen, nämlich ganz wört­ lich »auf welchem« = worauf, »worauf alle sündigten«159 Herbert Jantzen übersetzt in seinem Neuen Testament: »Deswegen, geradeso wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt hineinkam und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise der Tod zu allen Menschen durchdrang, auf welchen [hin] alle sündigten.« Thomas Schreiner übersetzt »on the basis of this death all sinned«.. Aufgrund von Adams Sünde sündigten alle.

Man beachte, wie Paulus in diesem ganzen Abschnitt immer wieder die eine Person und die eine Übertretung nennt, um damit zu zeigen, dass Gott die Sünde Adams uns zugerechnet hat und die Strafe Adams über uns alle verhängte:

a. Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt (V. 12). b. Durch die Übertretung des einen starben die vielen (V. 15). c. Das Urteil war von einer Übertretung zur Verdammnis (V. 16). d. Durch die Übertretung des einen kam der Tod zur Herrschaft (V. 17).

e. Durch eine Übertretung kam es für alle Menschen zur Ver­ urteilung (V. 18).

f. Durch den Ungehorsam des einen Menschen wurden wir zu Sün­ dern gemacht (V. 19).

Nicht nur das 1. Mosebuch zeugt in Kapitel 5 von dieser unerbittlichen Herrschaft der Sünde und des Todes; die lange Geschichte der Menschen beweist es: Keiner hat sich der Herrschaft des Todes entwinden können, weil alle sündigten, als Adam sündigte. Der Tod herrscht (V. 14); wir sit­ zen das Leben lang in der Finsternis und im Todesschatten (Mt 4,16). Wir sind dem Tod hilflos unterworfen; wir sind tot in unseren Sünden (Eph 2,1).

»Der menschliche Widerspruch hat sich sonderlich gegen die Erbschuld gerichtet. Pelagianer, Sozinianer160 Eine humanistisch geprägte Richtung innerhalb des Protestantismus, benannt nach dem Italiener Fausto Sozini (1539 – 1604 [auch Sozzini]). Dieser leugnete die Dreieinheit, die Erbsünde, die totale Verdorbenheit des Menschen und das stellvertretende Opfer Christi. Er verstand die Rechtfertigung als Frucht des Zusammenwirkens von Gottes Willenskundgebung in der Bibel und dem Glaubensgehorsam des Menschen, nicht als Zurechnung fremder Gerechtigkeit, d. h. der Gerechtigkeit Gottes., Arminianer und neuere Theologen behaupten, dem Menschen könne nur das als Sünde zugerechnet werden, was er selbst getan habe … Wir müssen freilich zugestehen, dass das menschliche Gefühl gemäß der Blindheit, die in uns ist (Eph 4,18), sich gegen die Tatsache der Erbsünde geradezu empört; aber das ändert an der in der Schrift gelehrten Tatsache der Erbschuld nicht das Geringste (Röm 5,18-19). Die Lehre der Schrift ist: Durch eines Menschen Sünde kam es zu einem Verdammungsurteil über alle Menschen. Als Beweis für die Zurechnung der Sünde Adams ist auch das Erbverderben (cor­ ruptio hereditaria) anzusehen, in dem alle Menschen nach Adams Fall, die auf natürliche Weise gezeugt und geboren werden, sich befinden. Endlich parallelisiert die Schrift die Zurechnung der Sünde Adams mit der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi an die gesamte Menschheit (Röm 5,18-19). Wer daher die Zurechnung der Sünde Adams abweist, muss auch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi abweisen und damit das Herz des Evangeliums verwerfen.«161 Franz Pieper, Christliche Dogmatik, S. 269-­270.

»Adam ist nicht nur ein einzelnes Individuum, das einmal in der Urzeit existierte, sondern … das Haupt der alten Menschheit … Was mit dem Haupt geschah, das gilt auch vom Leibe. In Adam wurde das Schicksal der Menschheit entschieden. Durch diesen einen Menschen kam die Sünde in die Welt, und durch die Sünde erhielt der Tod Macht über alles, was Mensch heißt. Von Adam an ist es das Los unseres Geschlechts gewesen, Sklave unter den Mächten des Verderbens zu sein. Wenn der Mensch in Sünde lebt, bildet er sich ein, Macht und Freiheit zu haben und in einem Augenblick die Sünde, im anderen Augenblick aber das Gute wählen zu können; in Wirklichkeit aber ist die Sünde, die er begeht, nur ein Zeugnis dafür, dass sie Herrscherin ist und er ihr Sklave.«162 Anders Nygren, Der Römerbrief, S. 158.

13 (denn bis zu [dem] Gesetz war Sünde in der Welt; Sünde aber rechnet man sich nicht an, wenn kein Gesetz ist.

14 Aber der Tod herrschte von Adam bis auf Mose, selbst über die, welche nicht gesündigt hatten in der Gleichheit der Übertretung Adams, der ein Bild des Zukünftigen ist.

Paulus hat in Vers 12 gesagt, dass beim Sündenfall Adams »alle sündigten«, und das begründet er nun im Satz, den er mit »denn« einleitet: Sünde »war … in der Welt«, eben weil Adam sündigte und alle seine Nachkommen in ihm. Die Aussage, dass »bis zu [dem] Gesetz« Sünde in der Welt war, ruft nach einer Erklärung, hatten wir doch in 4,15 gehört, dass keine Übertretung sein könne, wo kein Gesetz ist. Übertretung war nicht da, denn die besteht darin, dass man ein ausdrückliches Gebot über­ tritt, also das Gesetz kennt. Sünde aber war da, bevor das Gesetz ge geben wurde, was sich daran zeigt, dass der Tod »von Adam bis auf Mose« herrschte. Wo Sünde ist, herrscht der Tod, und wo der Tod herrscht, ist Sünde. Beide hängen aneinander wie siamesische Zwillinge. Wenn Paulus hier betont, dass die Sünde schon da war, bevor das Gesetz kam, will er bestätigen, was er wiederholt gesagt hat, dass näm­ lich die Erlösung ohne Gesetz geschieht (3,21) und dass sie allen Men­schen gilt, ganz unabhängig davon, ob sie ohne Gesetz oder unter Gesetz sündigen (siehe 2,12). Und er sagt es auch, um in aller Deutlichkeit zu zeigen, dass die ganze Erlösung an den zwei Menschen Adam und Chris­tus hängt und mit dem Gesetz nichts zu tun hat. Adam und seine Sünde und die Sünde seiner Kinder geschah, lange bevor es ein Gesetz gab; in Adam sind alle verloren, ob sie Juden sind oder nicht; das Gesetz, das Jahrtausende später kam, änderte gar nichts an der Verlorenheit aller Menschen. Und in Christus leben alle, ob sie Juden sind oder nicht. Christus kam, um durch sein Sterben die Sünde Adams wegzunehmen (Joh 1,29; Hebr 9,26); das Gesetz tut nichts dazu. Es spielt im ganzen Heilshandeln Gottes nur eine Nebenrolle, wie Paulus ausdrücklich sagt: »[Das] Gesetz … kam daneben ein« (5,20a). Es wurde nicht gegeben als ein Weg des Heils; es war nur notwendig, weil der Mensch so verhärtet ist, dass er seine Sünde nicht sehen will (3,20; 5,20), bis Gott ihn nötigt, in einen Spiegel zu schauen, der ihm zeigt, wer er in Wahrheit ist. »Sünde … rechnet man sich nicht an, wenn kein Gesetz ist.«: Dass der Sünder sich die Sünde nicht anrechnet, bedeutet natürlich nicht, dass Gott die Sünde übersähe. Er hat sie den Menschen schon vor dem Gesetz angerechnet. Der in 1Mo 2,17 angekündigte Lohn der Sünde wurde allen Kindern Adams heimgezahlt: Sie starben alle (vgl. 1Mo 5). Und Gott kün­ digte Noah an: »Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen … und siehe, ich will sie verderben mit der Erde« (1Mo 6,13). Paulus hat bereits in 2,12 gelehrt, dass der Mensch, der ohne Gesetz sündigt, verlorengeht. Doch der Sünder ist eine wunderliche Kreatur; er erkennt seine Sünde nicht, und deshalb rechnet er sie sich nicht an. Luther übersetzt treffend: »Wo kein Gesetz ist, da achtet man der Sünde nicht« (Luther 1912). Pau­ lus verwendet deshalb an dieser Stelle nicht das Wort, das er sonst für »zurechnen« verwendet (logizomai) wie in Röm 4,3.4.5.6.8.9.10.11.22.2 3.24, sondern das stammverwandte ellogeō163 Das nur noch in Phim 18 vorkommt.. Der Mensch sündigt, er ist unter der Herrschaft der Sünde und des Todes, aber es kümmert ihn nicht. Erst mit dem Kommen des Gesetzes lebt die Sünde auf (siehe 5,20 und 7,7­9), und wir werden aus unserem Schlaf aufgestört. »Aber der Tod herrschte164 basileuō (von basileus, König) = als König herrschen von Adam bis auf Mose, selbst über die, welche nicht gesündigt hatten in der Gleichheit der Über tretung Adams«: Gott hatte Adam ein Gebot und Verbot gegeben; dieses übertrat Adam. Den nachfolgenden Geschlechtern gab Gott kein solches Gebot, und darum sündigten sie zwar, aber nicht in der gleichen Weise wie Adam, der gegen einen ausdrücklichen Befehl verstieß, denn »wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung« (Röm 4,15). Die Israeliten hingegen, die wiederum im Sinaibund unter Gesetz und Gebot gestellt wurden, übertraten diese wie Adam: »Sie haben den Bund übertreten wie Adam, haben dort treulos gehandelt gegen mich« (Hos 6,7).

»der ein Bild des Zukünftigen ist«: Adam ist ein typos165 Das Wort hat im NT folgende Bedeutung: Nägelmale (Joh 20,25); Götzenbilder (Apg 7 43,; 23,25; Hebr 8,5); Bild, Gestalt (Röm 6,17); Vorbild (1Kor 10,6; Phil 3,17; 1Thes 1,7; 2Thes 3,9; 1Tim 4,12; Tit 2,7; 1Petr 5,3). , ein Typus auf Christus, den Kommenden. »Der Kommende« ist eine stehende Bezeichnung für den Messias, auf den Israel wartete, wie wir etwa an der Frage des Täufers erkennen: »Bis du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?« (Mt 11,3). Christus wurde selbstverständlich nicht nach dem Muster Adams ein Mensch, sondern es ist umgekehrt so, dass Gott den Menschen schuf nach dem Vorbild des Sohnes Gottes. Die­ser war und ist »das Bild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15). Als Gott Adam schuf, war dieses Bild das Muster, nach dem er Adam im Bild und Gleichnis Gottes machte (1Mo 1,27).166

Dem Typus Adam entspricht Christus als Antitypus in folgender Hin­sicht:

1. Er ist wie Adam Mensch. 2. Er ist wie Adam Haupt einer ganzen Menschheitsfamilie, d. h., dass sein Tun alle betrifft, die zu ihm gehören, so wie Adams Tun alle betrifft, die als seine Nachkommen zu ihm gehören.

Weil Adam das Haupt der ganzen Menschheitsfamilie ist, wirkte Adams Übertretung zum Unheil für alle. Ebenso ist Christus Haupt der ganzen Familie der Erlösten, und seine Gerechtigkeit wirkt zum Heil für alle Erlösten. Aber zwischen Adam und Christus bestehen auch Gegensätze, und auch von denen spricht Paulus in den nun folgenden Versen. Man kann die Verse 15 und 16 als Fragen verstehen: »Ist nicht … wie die Übertretung so auch die Gnadengabe?« (so Elb 2003), und darauf antworten: Doch, sie ist so; es besteht eindeutig eine Entsprechung zwi­ schen dem, was Adams Sünde für die vielen auslöste, und dem, was Christi Gerechtigkeit für die vielen auslöste. Doch es liegen auch Kon­ traste vor: In Adam geht es von Unschuld zu Sünde und Tod, in Chris­ tus dagegen von Schuld und Sünde zum Leben. Aus diesem Grund kann man mit Recht die beiden Verse auch als Aussage auffassen: »Aber nicht verhält sich’s mit der Gabe wie mit der Sünde« (Luther 1912 und Luther 1984).

15 Nicht aber ist wie die Übertretung so auch die Gnadengabe. Denn wenn durch die Übertretung des einen die vielen starben, strömte vielmehr die Gnade Gottes und die Gabe in Gnade durch den einen Menschen, Jesus Christus, über zu den vielen. 166 Auf diese Weise bereitete Gott die Menschwerdung des ewigen Wortes vor. Der ewige Gottessohn konnte nur deshalb Fleisch, d. h. Mensch werden, ohne dass er sich dabei veränderte, weil der Mensch im Bild Gottes erschaffen war. Das unsichtbare Bild Gottes wurde Mensch und damit in sichtbarer Weise, was er zuvor bereits gewesen war. Das zeigt uns, dass Gott bereits bei der Schöpfung und noch vor dem Eindringen der Sünde in die Welt die Erlösung in dieser Welt schon vorbereitete. Die Worte »Nicht aber ist …« überraschen zunächst, da Paulus eben gesagt hat, Adam sei ein Typus auf Christus. Wir hätten also erwartet, dass er sagt, worin Christus und Adam einander gleichen. Er fährt aber fort und sagt, »die Übertretung« und »die Gnadengabe« sind ein­ ander nicht gleich: Die Gnade Gottes ist stärker als die Sünde (siehe 5,20). Etwas ist indes gleich: Die Folgen der Sünde Adams gingen über auf »die vielen«; ebenso geht die »Gnadengabe«, d. h. alles, was Chris­ tus gewirkt hat, über auf »[die] vielen«. In der »Gnadengabe«, carisma, charisma, wie in der »Übertretung«, paraptwma, paraptōma, ist das Prinzip der Identifikation wirksam. Als Adam das Gebot Gottes über­ trat, »[starben] die vielen«; als Christus, der Sündlose, Gott gehorchte und sein Leben am Kreuz aushauchte, kam die Gnadengabe Gottes – die Rechtfertigung und mit ihr das Leben (siehe V. 17­18.21; 6,23) – »zu den vielen«.

Die Gnadengabe ist jedoch »nicht … wie die Übertretung«: Mit der Sünde Adams ist der Zorn Gottes über uns alle gekommen; Gott verstößt uns und schneidet uns ab vom Leben. »Durch den einen Menschen, Jesus Christus« hingegen wurde Gottes Gnade zu uns überströmend (perisseuō, »übersteigen« [wie in Mt 5,20]; »im Überfluss vorhanden sein« [wie in Lk 12,15]; »reichlich vorhanden sein« [wie in 2Kor 9,12]). Das heißt, dass Gottes Gnade die Folgen der Sünde überwindet. Er wen­ det seinen Zorn von uns ab und wendet uns seine Liebe zu, sodass wir mit ihm ewig leben. Die Sünde Adams reißt uns herab; die Gnade Gottes in Christus hebt uns empor.

Wenn Paulus sagt, dass »die vielen« gestorben sind, meint er nicht, dass zwar die meisten, aber nicht alle dem Tod verfallen seien; denn dass alle der Macht des Todes unterworfen sind, hat er in V. 12 bereits gesagt. Hier geht es ihm um den Kontrast: Einer sündigte, aber viele tragen die Folgen. Analoges gilt bezüglich des Gehorsams Jesu Christi: Einer allein tat das Werk, aber viele empfangen die Frucht dieses Werkes. »Übertretung« und »Gnadengabe« sind nicht direkte Gegensätze. Wir hätten also erwartet, dass Paulus der Übertretung die Gerechtigkeit gegenübergestellt hätte (wie er es in V. 18 tut). Warum aber nennt er statt­ dessen »die Gnadengabe«? Er will in diesem ganzen Abschnitt hervor­ heben, dass die ganze Errettung aus Gnade ist; wir empfangen Gerech­tigkeit als Gnadengeschenk. Der Lohn der Sünde ist der Tod, aber die Gnadengabe, charisma, Gottes ist das ewige Leben (6,23).

16 Und nicht [ist] wie durch [den] einen, der sündigte, auch die Gabe. Denn das Urteil war von einer [Übertretung] zur Verurteilung167 Oder »Verdammnis« (wie in 8,1)., die Gnadengabe aber von vielen Übertretungen zur Gerechtsprechung.

In Vers 15 hatte Paulus gesagt, dass durch die Übertretung Adams die vielen starben, dass aber die Gnade Gottes mehr wirkte als die Über­ tretung. Er sagte aber nicht, was die Gnade mehr wirkte, worin also der Unterschied besteht zwischen allem, was uns in Adam widerfahren ist, und dem, was uns in Christus widerfährt. Hier sagt er es, und dabei hebt er die Verschiedenheit noch deutlicher hervor als in V. 15, indem er von keiner Entsprechung mehr, sondern nur noch vom Gegensatz spricht: In V. 15 ist »Urteil … zur Verurteilung«168 Oder »zur Verdammnis«, katakrima, wie in 8,1. Das Wort entspricht dem Verb katakrinō in Röm 2 1,; 8,3.34., hier ist »Gnadengabe … zur Gerechtsprechung«. Die »Verurteilung« ist der Spruch, den der Rich­ter fällt, nachdem der Schuldige vor Gericht überführt worden ist, und dieses Urteil lautet auf ewigen Tod. Die »Gnadengabe« hingegen führt zur »Gerechtsprechung«, dikaiōma169 Oder »Rechtsordnung«, wie in 1,32; 2,26; 5,18 und 8,4. , zum Freispruch. In Adam standen wir als Verurteilte vor Gott; in Christus stehen wir als Frei gesprochene vor Gott. Dieser Freispruch ist »die Gabe«, dwrhma, dōrēma, die Pau­ lus in der zweiten Vershälfte wie in Vers 15 wiederum »Gnadengabe«, charisma, nennt. Die »Gerechtsprechung« wird aus Gnade ge geben und mit ihr die Befreiung vom Todesurteil. Wenn die Verurteilung gleich­ bedeutend ist mit ewigem Tod, dann ist die Gerechtsprechung gleich­ bedeutend mit ewigem Leben. Wer Gerechtigkeit empfängt »vom Gott seines Heils« (Ps 24,5), wird leben. Das hatte Paulus in 1,17 bereits gesagt, indem er Habakuk zitierte: Der aus Glauben Gerechte wird leben. Das wird er in Vers 17 ausdrücklich sagen: Wem Gottes Gerechtigkeit geschenkt ist, der herrscht fortan im Leben.

Und noch etwas zeigt, dass die Gabe größer ist als die Sünde und ihre Folgen: Adam beging eine Sünde, und diese führte zur Verdammnis. Das Werk Christi vermag von »vielen Übertretungen« zur Gerechtigkeit zu führen. Adam hat mit einer Sünde eine Sturzflut von Sünden ausgelöst, die wie ein gewaltiger Strom alle Geschlechter in die Tiefe reißt; Chris­tus hat mit einer Gerechtigkeit die Sturzflut gewendet, sodass nun ein gewaltiger Gnadenstrom unzählige Seelen von der abschüssigen Bahn der Sünde und des Todes mitreißt und hinaufträgt zur Quelle des unvergänglichen Lebens.

17 Denn wenn durch die Übertretung des einen der Tod durch den einen zur Herrschaft kam170 Der Aorist ebasileusen wird hier am besten ingressiv verstanden: Er hält den Punkt fest, an dem die Herrschaft des Todes anfing. Es ergibt keinen guten Sinn, wenn man sagt, dass der Tod »geherrscht hat«. Herrscht er denn nicht mehr?, werden vielmehr die, welche das Übermaß der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen durch den einen, Jesus Christus.)

Nachdem Paulus in Vers 15 gezeigt hat, dass Gottes Gnade mehr wirkt als Adams Sünde, und dann in Vers 16 gezeigt hat, worin dieses Mehr besteht, sagt er hier schließlich, dass Gottes Gnade dazu führt, dass die Begnadigten im Leben herrschen werden. Sie werden mithin in eine höhere Stellung versetzt als die, welche Adam mit der Sünde verlor. Er lebte, aber er herrschte nicht im Leben; darum konnte er es verlieren. Wer aber Gottes Gnade und mit ihr die Gabe der Gerechtigkeit empfan­ gen hat, herrscht, und das bedeutet, dass er das Leben nie verlieren kann. »Durch die Übertretung des einen« kam der Tod zur Herrschaft und herrscht seither. Er war schon da, als wir – du und ich – geboren wurden; wir waren ihm unterworfen und konnten ihm nicht entrinnen. Wer »das Übermaß der Gnade und der Gabe171 Die »Gabe der Gerechtigkeit«: Dieser Genitiv drückt nicht ein Zughörigkeitsverhältnis aus zwischen Gabe und Gerechtigkeit, sondern sagt, worin die Gabe besteht: in der Gerechtigkeit. So bedeutet auch »die Erstlingsgabe des Geistes« (Röm 8,23) so viel wie »die Erstlingsgabe, nämlich der Geist«. Der Geist ist also diese Erstlingsgabe. der Gerechtigkeit« empfängt, wird »im Leben herrschen«; er wird absolut und ohne Ende herrschen (Offb 22,5) und nie mehr der Sünde und dem Tod erliegen. Lasst uns bedenken, was dieser Vergleich zwischen Adam und Chris­tus besagt. Durch die Übertretung des einen, auf dessen Er schaffung und Sünde wir keinerlei Einfluss hatten, kam der Tod zur Herrschaft. Das bedeutet, dass wir nicht durch unsere Willensentscheidung unter ihre Gewalt kamen. Wir stehen von Geburt an unter ihr, ob das uns lieb ist oder nicht, und ob wir das gerecht finden oder nicht. Nun gilt aber das Glei che auch für die Gerechtigkeit und das Leben. Wir kommen zum Leben und zur Herrschaft in Christus, auf dessen Werk wir keinen Einfluss hat­ ten. Er wirkte die Erlösung, als wir noch nicht lebten; ja, er war vor aller Zeit dazu verordnet, als Lamm unsere Sünden zu sühnen (1Petr 1,20). Und wir wurden von Gott dem Vater in Christus erwählt, bevor die Welt erschaffen war (Eph 1,4). Er fragte uns nicht, ob das uns lieb war, und er versetzte uns, ohne unsere Einwilligung abgewartet zu haben, in seinen Sohn: »Aus ihm seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung« (1Kor 1,30). So sicher in Adam der Tod ist, so sicher ist damit in Christus das Leben. Indem der Apostel uns zu Adam und zu seiner Sünde zurückgeführt hat (V. 12), lässt er uns daran denken, wozu Gott Adam erschaffen hatte, nämlich zur Herrschaft über die Schöpfung (1Mo 1,26) und zum Leben (1Mo 2,7). Durch Christus gewinnt der Erlöste das zurück, was Adam verloren hatte. Doch Gott versetzt uns dabei nicht lediglich in den Stand Adams zurück. Der hatte zwar Leben, aber er konnte es verlieren, und er verlor es tatsächlich. Der Erlöste aber herrscht im Leben; jede Macht, die dieses Leben anfechten könnte, ist Christus unterworfen (siehe Eph 1,22­23). Daher wird der Erlöste das Leben nie verlieren. Adam war als Gottes Geschöpf gut (1Mo 1,31), aber er war wandelbar gut; er konnte sich vom Guten zum Bösen wenden. Wir sind als in Chris­tus Gerechtfertigte unwandelbar gut. Wir können dem Bösen nie ver­ fallen und darum nie aus unserem Stand als Erlöste herausfallen. Das drückt Johannes damit aus, dass er sagt: »Jeder, der aus Gott ge boren ist … kann nicht sündigen« (1Jo 3,9). Mit »sündigen« meint Johannes natürlich nicht einzelne Sünden, die man begeht (denn solche begehen wir alle auch als Christen [siehe 1Jo 1,8]). Er meint jene eine Sünde Adams, die zum Abfall von Gott und vom Leben führte. Beachten wir schließlich, dass Paulus die beiden Aussagen über die Herrschaft des Todes und die Herrschaft des Lebens nicht parallel konstruiert hat. Nachdem er gesagt hat, dass der Tod herrschte, sagt er nicht, dass nun das Leben herrscht, sondern er sagt, dass wir im Leben herrschen. Warum das? Der Tod herrschte als ein Tyrann über uns; wir waren dessen hilflose und blinde Sklaven. In Christus sind wir aber zur Freiheit befreit worden (Gal 5,1); wir sind nicht als Willenlose und Blinde dem Leben unterworfen, sondern erkennend und mit großer Dankbarkeit stehen wir bewusst in der Herrschaft des Lebens.

18 Wie es also durch eine Übertretung für alle Menschen zur Verurteilung172 Oder »Verdammnis« (wie in Röm 8,1). [kam], so auch durch eine Gerechtigkeit für alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens.

19 Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern eingesetzt wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten eingesetzt werden.

Nach dem langen Einschub der Verse 13­-17 greift Paulus den in Vers 12 angefangenen Satz wieder auf. Er hatte dort gesagt: »Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt eindrang und durch die Sünde der Tod«, dann aber den Vergleich nicht zu Ende geführt. Hier setzt er noch ein­ mal an, um auf das »Wie« von V. 12 schließlich das »So« folgen zu las­sen: »Wie es also durch eine Übertretung für alle Menschen zur Verurteilung [kam], so auch durch eine Gerechtigkeit für alle Menschen zur Rechtfertigung173 dikaiōsis, nur noch in Röm 4,25. Das ist ein sogenanntes Nomen Actionis, d. h., es drückt eine Handlung oder ein Geschehen und auch dessen Ergebnis aus, wörtlich also »Gerechtmachung«. des Lebens«. Das ist die große Wahrheit, die Pau­lus verkündigt: In Adam erlagen wir alle der Verdammnis, in Christus haben wir alle die Rechtfertigung des Lebens, und das bedeutet: Gerech­tigkeit, die zum Leben führt174 Erneut hebt Paulus nach den Versen 16 und 17 diese Grundwahrheit hervor: Gerechtigkeit ist zum Leben; wer aus Glauben gerecht ist, wird leben (siehe auch 1,17).. Und dann fügt er einen weiteren wich­tigen Satz an: Wir sind durch die Rechtfertigung in eine neue Stellung vor Gott gebracht worden. Durch die Sünde Adams wurde Adam zum Sünder, und Gott deklarierte damit alle seine Nachkommen »zu Sündern«, noch bevor auch nur ein einziger von ihnen existierte und sel­ber gesündigt hatte. Durch die Gerechtigkeit Christi wurden alle, die in Christus sind, »zu Gerechten« deklariert, noch bevor auch nur ein ein­ziger von ihnen existierte und irgendetwas Gutes oder Böses getan hatte (vgl. Röm 9,11).

Wir wurden zu Sündern und zu Gerechten »eingesetzt«, katestathēsan, von kathistēmi175 A. d. H.: Man beachte die Unterschiede in der Schreibweise, was die gebeugte und die Infinitivform dieses Verbs betrifft. Sie gehen über Änderungen am Wortende hinaus., »hinstellen, zu etwas setzen, ein­ setzen«176 Das ist die Bedeutung in Mt 24,45; Lk 12,14; Apg 6,3; Tit 1,5; Hebr 5,1 u. a.. . Luther übersetzt: »Gleichwie durch eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind …«177 Louis Segond: »beaucoup ont été rendus pécheurs«; La Nuova Riveduta: »i molti sono stati resi. Louis Segond: »beaucoup ont été rendus pécheurs«; La Nuova Riveduta: »i molti sono stati resi peccatori«. (Luther 1912). Wir wurden durch Adams Sünde juristisch der Stellung nach178 Elb 2003: »Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind«; Darbys französische Übersetzung: »plusieurs ont été constitués pécheurs«; La Nuova Diodati: »i molti sono stati costituiti peccatori«; Reina­Valera: »los muchos fueron constituidos pecadores«. zu Sündern, und wir wurden es auch der Natur nach: Wir wurden zu Sündern gemacht, wie man das Verb kathistemi auch übersetzen kann179 King James Bible: »… many were made sinners«; Jantzen: »so werden auch durch das Gehorchen des Einen die Vielen zu Gerechten gemacht werden«; Zürcher: »so werden durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten gemacht werden« (Zürcher 2007). Das ist auch die Bedeutung dieses Verbs in 2Petr 1,8. (Wir werden nicht fruchtlos gemacht, wenn wir als Menschen, die teilhaftig geworden sind der göttlichen Natur, dem Befehl von V. 5­7 gehorchen.) Laut Jak 4,4 macht sich (kathistatai) jener zum Feind Gottes, der sich anfreundet mit der Welt.. Wir sind Sünder und produzieren daher nichts als Sünde. Dieser Satz ist einer der deutlichsten in der ganzen Bibel zur unleugbaren Tatsache der Erbsünde, d. h., dass wir mit einer bösen Natur geboren sind. In 5,12 erfahren wir, dass der Sünde Adams wegen der Tod zu allen durchgedrungen ist; hier wird ausdrücklich gesagt, was in V. 12 unausgesprochen schon enthalten ist, dass nämlich auch die Sünde zu allen durchgedrungen ist. Adams sün­dige Natur hat sich in seinen Nachkommen vererbt; sie werden als Sün­der geboren.

Ebenso werden wir durch den Gehorsam Christi »zu Gerechten eingesetzt«: Wir sind durch Gottes Urteil gerecht gesprochen; und das heißt zunächst, dass wir »in die Stellung von Gerechten gesetzt« wor­ den sind. So übersetzt es die Elb 2003. Aber wir werden auch unserer Natur nach zu Gerechten gemacht, und auch das wird durch die Pa rallele deutlich, die Paulus hier zieht: So wie wir durch Adams Sünde zu Sün­dern gemacht wurden, so werden wir durch die Gerechtigkeit Christi auch zu Gerechten gemacht. Gott macht jene, die er gerechtfertigt hat, »teil haftig der göttlichen Natur« (2Petr 1,4), und diese bringt Frucht für Gott (Röm 7,4), »Frucht zur Heiligung« (6,22). Nur weil wir durch die Teilhabe an der göttlichen Natur auch gerecht sind, haben wir »Freude am Gesetz Gottes« (7,22), wandeln wir im Geist und erfüllen damit »die Rechtsforderung des Gesetzes« (8,4). Wenn unser Leib erlöst wird (8,23), werden wir endgültig und vollständig befreit werden von der sündigen Natur, die wir noch so lange mit uns tragen, wie wir in diesem sterb­ lichen Leib sind (siehe 7,22­-24), um dann nur noch die göttlich voll­kommene Natur zu besitzen.

3. Das Gesetz, das daneben einkam (5,20-­21) [193]

Wenn es stimmt, was Paulus eben dargelegt hat – dass nämlich die ganze Menschheitsgeschichte sich von zwei Häuptern her erklärt, von Adam und von Christus, und dass am Verhältnis zu einem von diesen beiden Sünde oder Gerechtigkeit, Tod oder Leben hängen –, dann schuldet uns Paulus eine Antwort: Was ist dann mit dem Gesetz? Seine Antwort lau­ tet, dass es nur eine untergeordnete Aufgabe erfüllt; dass es mit der Frage von Unheil und Heil nur mittelbar verbunden ist. Das ist für Juden eine unerhörte Behauptung, war doch für sie die Gabe des Gesetzes der große Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte. Ohne Gesetz könne der Mensch nie von der Sünde und damit vom ewigen Tod loskommen.

20 [Das] Gesetz aber kam daneben ein, damit die Übertretung zunehme. Wo aber die Sünde zunahm, wurde die Gnade überreich,

21 damit, wie die Sünde herrschte180 Hier muss man den Aorist ebasileusen komplexiv auffassen: Die Jahrtausende andauernde Herrschaft der Sünde wird als geschlossener Sachverhalt mit einem Blick erfasst. im Tod, so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.

Der Tod kam in die Welt, eis-erchomai, durch die Sünde Adams; und von ihm ging er durch, di-erchomai, zu allen Menschen (V. 12). »[Das] Gesetz … kam daneben ein«, par-eis-erchomai. Es kam nur nebenher (para) hinein in die Welt, es wurde »hinzugefügt« (Gal 3,19), denn das Gesetz war nie als ein Heilsweg vorgesehen. Gott gab es nur, weil der Mensch ohne Gesetz seine Sünde nie erkannt hätte, wie Paulus von sich sagt: »Die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz« (Röm 7,7). Gott gab das Gesetz, »damit die Übertretung zunehme«. An anderer Stelle sagt Paulus: »Warum nun das Gesetz? Es wurde der Über tretungen wegen hinzugefügt …« (Gal 3,19). Und in Röm 7,9 sagt er: »Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf.« Hat Gott denn Lust an der Übertretung? Nein, er hat Lust an Gerech­tigkeit und tut darum alles, damit er dem Menschen seine Gerechtig­ keit schenken kann. Aber diese begehrt der Mensch nie, bis seine Sünde anfängt, ihn zu plagen, und darum muss Gott die Sünde, die im Men­schen haust, ans Licht bringen. Wenn Paulus sagt, dass die Sünde durch das Gesetz zunimmt, also tatsächlich mehr wird, dann wollen wir wissen, wie denn das Gesetz die Übertretungen mehrt.

1. Erstens macht es die Sünde größer; denn die Sünde, die bisher nicht ganz bewusst geschah, wird zur bewussten Sünde, näm­ lich zur Übertretung. Von Übertretung kann man erst reden, wenn man von einem entsprechenden Gebot weiß, das man über­ tritt. Übertretung aber bedeutete vermehrte Schuld. So wird die Sünde, die schon schlimm genug ist, erst durch das Gebot »überaus sündig« (7,13).

2. Zweitens macht das Gesetz die Übertretungen zahlreicher, denn die sündige Natur ist so böse, dass der Sünder Dinge, die er ohne Erkenntnis der Gebote Gottes nicht getan hätte, nun erst recht tut. In 7,5 sagt Paulus, dass »die Leidenschaften der Sünden« durch das Gesetz erregt werden. Warum ist das so? Die Natur des Sün­ders kann es nicht leiden, dass ihm jemand befehlen sollte, was er tun und was er lassen müsse, denn er will selber bestimmen und über sich verfügen. Darum drängt es ihn, sobald er von einem Gesetz weiß, dieses zu übertreten. Entsprechend sagt Paulus, dass die Sünde gerade das Gebot zum Anlass nahm, ihn zum ver­ mehrten Sündigen anzustacheln: »Die Sünde … nahm das Gebot zum Anlass und bewirkte jede Lust in mir« (Röm 7,8), damit auch Lüste, die sich bei ihm nicht geregt hatten, bevor das Gebot kam.

In Vers 13 hatte Paulus gesagt, dass der Sünder sich die Sünde nicht anrechnet, wenn kein Gesetz vorliegt. Nun aber beginnt er zu erkennen, wie groß und wie mächtig die Sünde ist. Im Spiegel des Gesetzes sieht er jeden Fleck, jeden Makel, jede Verunstaltung an Gesicht und Gliedern. Und weil das Gesetz geistlich ist (7,14), verurteilt es nicht bloß die sün­ digen Taten, sondern es leuchtet auch sein Herz aus und legt die Beweg­ gründe zum sündigen Tun bloß (siehe Mt 5,28). So erkennt der Sünder, dass seine ganze Natur verdorben ist. Der ganze Aussatz der Sünde wird ihm offenbar, sodass er zuerst entsetzt und schließlich bekümmert ruft: »Unrein, unrein!« (3Mo 13,45­46; siehe auch Jes 64,5 und Ps 38,4­8). Und er erkennt, wie er trotz dieser Erkenntnis weiter sündigt; ihm däm mert, dass er der Sünde hilflos unterworfen ist. »Wo aber die Sünde zunahm, wurde die Gnade überreich«: Wäre die Sünde nicht, hätte der Mensch keine Gnade nötig; jetzt ist er ein Sün­der, und darum hat er sie nötig, und je mehr er erkennt, wie groß die Sünde ist und welche Macht sie über ihn hat, desto klarer sieht er, dass nur jemand, der stärker ist als die Sünde, diese überwinden kann. Die­ser Stärkere kann nicht er selbst sein, denn sonst hätte er die Sünde ja längst abgeschüttelt. Sie hat stattdessen, je mehr er sie loswerden wollte, immer mehr zugenommen. So versteht er: Ohne Gottes Eingreifen muss er für immer »unter der Sünde« (Röm 3,9) bleiben. Auf diese Weise hat das Gesetz das Wirken der Gnade Gottes vorbereitet; es hat sich er wiesen als der Zuchtmeister, der die Seele an die Hand nimmt und zu Christus schleift (Gal 3,24).

Da der Sünder sich als Gottes Feind erwiesen hat, zürnt ihm Gott zu Recht, sodass er von Gott keine Hilfe erwarten kann und sein Fall hoff­ nungslos erscheint – wäre nicht der Sohn Gottes für ihn in den Riss getreten. Wenn nun einer kommt und ihm erklärt, wie Gott in seiner Gerechtigkeit die volle Strafe der Sünde auf seinen Sohn gelegt hat und dass er jeden, der an ihn glaubt, freispricht (Röm 3,24­25), sieht er ein Licht auf­ gehen in seiner Finsternis, den »Lichtglanz des Evangeliums« (2Kor 4,4). Das Evangelium, das ihm gepredigt wird, wirkt in ihm den Glauben (Röm 10,17), und er geht aus dem Tod hinüber ins Leben (Joh 5,24). Gott gab das Gesetz, damit »die Übertretung zunehme«. Das konnte jedoch nicht der endgültige Zweck sein, sondern vielmehr gab es Gott, »damit … die Gnade herrsche«; das war die wirkliche Absicht, die Gott verfolgte. Und wenn die Gnade herrscht, dann kann sie es nicht anders tun als »durch Gerechtigkeit«; denn Gott kann nie etwas tun, was nicht gerecht ist. Dass wiederum die Gnade durch Gerechtigkeit herrscht, wurde nur möglich »durch Jesus Christus, unseren Herrn«. Er erfüllte in seinem Leben und Sterben alle Gerechtigkeit Gottes, sodass Gott Ungerechten Gnade erweisen und gerecht bleiben kann. Das hat Paulus in 3,23-­26 gründlich dargelegt.

Weil Gott gerecht ist, »[herrschte] die Sünde … im Tod«, und sie herrschte unerbittlich, weil Gott, der ihre Herrschaft verhängte, all ­ mächtig ist. Niemand konnte und niemand kann dem Urteil Got­tes entrinnen. Doch so, wie die Sünde herrschte, ebenso absolut und un entrinnbar, herrscht nun »die Gnade«. Die Gnade ist nicht lediglich ein Prinzip; sie steht zunächst für alles göttliche, aus Liebe angetriebene Wollen, aber sie steht auch für das daraus folgende göttliche Handeln. Gott hat in Christus gehandelt; und Gott wirkt in seiner Gnade an Sün­ dern, sodass sie alles, was Christus für sie erworben hat, empfangen. Die Gnade herrscht »durch Gerechtigkeit«: Die gleiche Gerechtig­ keit, die den Tod über Adam und alle seine Nachkommen brachte, bringt die Gnade zur Herrschaft und mit ihr »ewiges Leben«. Weil die Gnade in Gerechtigkeit herrscht, ist das Heil unumkehrbar; denn Gott müsste ungerecht werden, wenn er Vergebung, Rechtfertigung und das Leben denen wieder entzöge, für die Christus alle Gerechtigkeit erfüllt hat. Um das zu tun, müsste er sich verändern. Da er sich aber nicht verändert (Mal 3,6; Jak 1,17), bleibt der Gerechtfertigte unverändert gerecht.

Anmerkungen zu Kapitel 5

»Es stellt sich eine neue Frage: die Frage der Hoffnung: Wird der Glaube endgültig retten? … Um die Frage zu bejahen, führt Paulus drei Punkte an, um zu zeigen, dass die Hoffnung (Vers 1) gewiss ist: 1. Trübsale können sie nicht zerstören, sondern sie stärken sie vielmehr (Verse 2­4); 2. Sie hat eine feste Grundlage in Gottes Liebe zum Gerechtfertigten (Verse 5­11); 3. So wie der einen Sünde Adams wegen die Verbindung des Men­ schen mit Adam unfehlbar zu seinem Tod führt, so führt wegen der einen gerechten Tat Christi … seine Verbindung mit Christus zu ewigem Leben (Verse 12­-21)« (James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 87). »Nach der universalen Notwendigkeit der Rettung (1,18 – 3,20) und dem einzigen Weg der Rettung (3,21 – 4,25) begründet der dritte Argumenta­ tionsgang dann die garantierte Gewissheit der Rettung für jene, die im Glauben der Gerechtigkeit Gottes teilhaftig geworden sind (5,1 – 8,39). Die Gerechtfertigten wird Gott mit Gewissheit eschatologisch verherr­ lichen (8,30). Deshalb haben jene, ›die aus Glauben gerechtfertigt sind‹, bereits jetzt ›Frieden mit Gott‹ und damit ›Zugang zu der Gnade‹, wel­ che sich der ›Hoffnung auf die [zukünftige] Herrlichkeit rühmen‹ kann (5,1­2) – da die Gerechtfertigten ›weder Hohes noch Tiefes, noch irgend­ ein anderes Geschöpf … zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn‹ (8,39). Damit umrahmt Paulus den Abschnitt über die Gewissheit des zukünftigen Heils durch die Klammer [inclusio] der Verse 5,1­2 und 8,39« (Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ?, S. 74).

V. 1­11 – »Die Frucht der Rechtfertigung: Der Friede mit Gott und die Entwicklung des neuen Lebens bis zur Bewährung der christlichen Hoff­ nung [d. h., bis sie sich bewahrheitet; B. P.]. Der neue Gottesdienst der Christen: Sie haben den freien Zugang zur Gnade ins Allerheiligste. Daher rühmen sie sich der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes, der Offenbarung der realen Schechina Gottes in dem realen Aller heiligsten – und selbst auch der Trübsale, durch welche diese Hoffnung vollendet wird. Die Liebe Gottes in Christo als Bürgschaft der Verwirklichung der christlichen Hoffnung, Christi Tod unsere Versöhnung, Christi Leben unsere Seligkeit. Die Blüte der christlichen Hoffnung: das feste Rühmen, dass Gott unser Gott sei« (J. P. Lange, Der Brief Pauli an die Römer, S. 104).

V. 1 – »Nun wir denn sind gerechtfertigt worden durch Gottes Ansehung durch den Glauben, nicht aus Werken, so haben wir Frieden mit Gott im Gewissen und dem Geist, wenn auch nicht mit den Menschen und dem Fleisch, der Welt und dem Teufel; vielmehr haben wir hier desto mehr Anfechtung« (M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 315 [WA 56, 49, 4­6]).

»Der Apostel beginnt diesen neuen Teil in charakteristischer Weise, indem er das Wort ›daher‹181 In der englischen Authorized Version, die M. Lloyd­Jones verwendet, lautet Röm 5,1: »Therefore being justified by faith, we have peace with God through our Lord Jesus Christ.« verwendet. Ich denke manchmal, dass das ganze Geheimnis des Christenlebens darin liegt, dass wir lernen, dieses Wort ›daher‹ recht zu gebrauchen. Das Leben des Christen ist in man­ cherlei Hinsicht eine Sache der Logik, eine Sache der rechten Schluss­ folgerungen. Die Christen, die im Lauf der Jahrhunderte am hellsten geleuchtet haben, waren immer Leute, die dieses ›Daher‹ zu gebrauchen wussten. Entsprechend muss man sagen, dass das meiste Zu­kurz­ Kommen im Leben des Christen daran liegt, dass er dieses Wort nicht zu gebrauchen weiß, um aus der großartigen Lehre, die wir studiert haben, die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen« (M. Lloyd­Jones, Romans, Chapter 5, S. 1). V. 3­5 – »Ist es nicht eine wundervolle Gnade, dass Gott dir Frieden in Christus gegeben hat, ehe er dich aufs Krankenlager legte? … Erfährst du die Wahrheit von Röm 5,3? Du kannst nicht Trübsal um ihrer selbst willen gern haben; bitter muss stets bitter bleiben, und Schmerz stets Schmerz. Gott weiß, dass du Trübsal nicht mögen kannst. Doch um der Segnungen willen, welche die Trübsal bringt, kann er dich lehren, darum zu beten. Wirkt die Trübsal in dir Ausharren? Führt sie dazu, dass du dich inniger an den Herrn klammerst, dich tiefer im Felsen verbirgst? Lässt sie dich still sein und erkennen, dass er Gott ist? Macht sie dich ganz er geben in seiner Hand und dass du von keinem anderen Willen wissen willst als seinem? So wirkt das Ausharren Erfahrung, eine durch Er fahrung gewonnene Vertrautheit mit Jesus. Führt sie dazu, dass du größere Wonne hast an seiner Lieblichkeit, sodass du weißt, wem du geglaubt hast? Und stärkt diese Erfahrung deine Hoffnung der Herrlich­ keit – ein weiterer Anker, der in das Innere des Vorhangs hineingeht? Und gibt dir diese Hoffnung ein Herz, das nicht beschämt werden kann, da du überzeugt bist, dass Gott dich geliebt hat und bis ans Ende lie­ ben wird? Wenn ja, dann hast du den Nutzen der Trübsal empfangen« (Andrew Bonar, Memoir and Remains of R. M. M’Cheyne, London: The Banner of Truth Trust, 1966, S. 277­-278).

»Wer sein Leben nur in diesem Zeitalter lebt und für wen diese Welt die ganze ist, kann in den Leiden, die ihn treffen, nur etwas Negatives sehen. Für den Christen dagegen wird das Leiden gerade zum Punkt, an dem sich die Macht der Hoffnung am deutlichsten erweist. Er weiß, ›dass die­ ser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sind, die an uns soll offenbart werden‹ (Kap. 8,18). Das Leiden erhält einen neuen Sinn, es wird ein Mittel in der Hand Gottes, uns zur Vollendung hindurch zu führen. Wenn Gott den Menschen unter die Leidenspresse legt, so tut er es, um ihn in Geduld und Standhaftigkeit zu üben. Gerade das Leiden macht es, dass der Christ mit noch größerem Eifer seine Hoffnung auf die Herrlichkeit richtet, die Gottes Verheißung ihm vorhält … Wenn es die Leiden nicht gäbe, könnte die Hoffnung niemals Gelegenheit erhalten, ihre Stärke zu entwickeln« (Anders Nygren, Der Römerbrief, S. 145). V. 5 – »Der Heilige Geist tut sein Werk der Heiligung, indem er den Gläubigen Erfahrungen gibt von der Wahrheit, Realität und Vorzüglich­ keit der Dinge, die er glaubt … Ich behaupte: Wer nichts davon weiß, wie der Glaube gestärkt wird, indem er an seiner Seele die Kraft erfährt von den Dingen, die er glaubt, der hat nie teil an diesen Dingen gehabt« (John Owen, The Holy Spirit, S. 233). V. 12 – »Darum, d. h., weil wir mit Gott durch Jesus Christus so versöhnt sind, wie kürzlich (5,10 u. 11) gesagt ist, dass, obzwar wir alle unter der Sünde sind (Kap. 1 u. 2), wir dennoch durch den Glauben an Jesus Chris­tus gerecht sind (Kap. 3 u. 4), Frieden mit Gott und die Hoffnung auf seine Herrlichkeit haben, ja, uns auch Gottes selbst rühmen, so geht dies in der folgenden Weise zu, es gründet sich auf den folgenden Ratschluss Gottes: ›Wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde … also ist auch durch eines Gerechtigkeit [d. h. die Gerechtigkeit des einen] die Rechtfertigung des Lebens gekommen.‹« (Carl Olof Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 270). »›… weil alle sündigten‹. Das ist die Grundaussage: Alle handelten, als Adam handelte: alle sündigten … Wenn wir hier übersetzen ›alle haben gesündigt‹, verdunkeln wird die Aussage gänzlich, indem wir das Sün­ dersein des Menschen abhängig machen von seinen eigenen Taten anstatt von dieser einen Tat Adams« (William Newell, Romans Verse by Verse, S. 181).

V. 14 – »Welcher ist ein Bild des, der zukünftig war. Also ist das Abbild der Übertretung Adams in uns, weil wir sterben, als hätten wir in glei­ cher Weise gesündigt. Und das Abbild der Rechtfertigung Christi ist uns, weil wir leben, als hätten wir in gleicher Weise die Gerechtigkeit erfüllt« (M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, erster Band, S. 353). V. 20 – »Sobald das Gesetz recht offenbart wird, ist es auch sogleich ein Verbot und Hindernis für die Begierde, die dann das Gesetz hasst, wel­ ches dem Menschen verbietet und ihn plagt. Da wird dann die gehinderte Lust erbittert und zornig, wächst und vermehrt sich. Also ist das Gesetz die Kraft der Sünde (1Kor 15,56), denn es stärkt und mehrt die Sünde. Darum heißt es auch ein ›Gesetz des Todes‹, weil es tötet, indem es die Sünde größer macht« (Luther, Sämtliche Werke XII, S. 13-39, zitiert von Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 307). »Dass man des Gesetzes auf solche Weise eigentlich und vornehmlich zu gebrauchen wisse, ist überaus nützlich und hoch vonnöten. Denn einer, der nicht offen ein Mörder, Ehebrecher oder Dieb ist, sondern hält sich vor der Welt für einen frommen Mann, der würde einen Eid darauf schwören, er sei durchaus gerecht und fromm; denn er ist vom Teufel verblendet und besessen, dass er seine Sünde, Elend und Jammer nicht sieht und fühlt. Darum träumt er solche Gedanken, als wäre er fromm und gerecht, und überhebt sich seiner guten Werke und Verdienste. Einen solchen Heuchler und stolzen Heiligen kann Gott, unser Herr, freilich durch keine andere Kunst weich machen und demütigen, dass er sein Elend und Verdammnis erkenne, denn durch das Gesetz. Denn dasselbe ist die rechte Keule oder Hammer, der rechte höllische Don­ner, und die Art göttlichen Zornes, die dreinschmeißt, zu Boden schlägt und zerschmettert die verstockten und verhärteten Heuchler … dass es die Leute soll erschrecken, wie die Kinder Israel erschreckt wurden vom Blitz, Donner und dem Hall der Posaune am Berg Sinai, als sie das Gesetz empfingen. So bereitet nun das Gesetz auf solche Weise der Gnade einen Weg, auf dem sie zu uns kommt. Denn Gott ist ein Gott derer, die betrübt, arm, elend, niedergedrückt, verzweifelt und gänzlich zu nichts gemacht sind. An denen kann Gott sein recht natürlich182 D. h. seiner Natur entsprechend. Werk tun, das da ist: die Niedrigen erhöhen, die Hungrigen speisen, die Blin­ den erleuchten, die Armen und Elenden trösten, die Sünder gerecht, die Toten lebendig und die Verdammten und Verzweifelten selig machen« (Luther zu Gal 3,19; zitiert von Rosenius, Der Brief an die Römer, Bd. 1, S. 307­308 [WA TR 6, 130, 1ff.]).

»Um der Gnade Gottes Raum zu schaffen, lehrt Paulus, dass die Men­ schen über ihr Verderben besser in Kenntnis gesetzt werden müssen. Sie hatten ja schon vor dem Gesetz Schiffbruch erlitten. Da sie sich jedoch bei ihrem Untergang eingebildet haben, schwimmen zu können, wur­ den sie in die Tiefe gezogen, damit ihre Erlösung umso bemerkens werter erscheine, wenn sie gegen alle menschliche Erwartung wieder auf­ tauchen« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Band 5.1, S. 295).

»[Das Gesetz] wurde zu einem bereits bestehenden Plan hinzugefügt zu einem untergeordneten, wenngleich notwendigen Zweck. Es war nicht sein Zweck, Leben zu geben, sondern die Menschen zu bereiten, Christus als die einzige Quelle der Gerechtigkeit und des Lebens aufzunehmen« (Charles Hodge, Romans, S. 177).

Kapitel 6 [202]

Das Thema des Kapitels 5 ist, wie wir gesehen haben, die Gewissheit der Errettung; es wird erst in Kapitel 8 fortgesetzt und zum Abschluss gebracht. Die dazwischenliegenden Kapitel 6 und 7 führen das Thema nicht weiter, sondern widerlegen falsche Schlussfolgerungen, die aus den Worten von Kapitel 5 gezogen werden könnten. Schon in 3,7­8 hatte Pau­lus sich gegen den Einwurf gewandt, das Evangelium fördere das Böse. Die Gegner beriefen sich dabei offensichtlich auf die apostolische Lehre, dass die Gnade dort übermächtig werde, wo die Sünde mächtig geworden ist (5,20). Man solle nur in der Sünde verharren, weil ja dann die Gnade umso mehr überströmen müsse (6,1). Diese Verdrehung der Gnadenlehre weist Paulus in diesem Kapitel zurück. In Kapitel 7 geht er näher ein auf zwei Aussagen, die gerade für Juden anstößig waren, nämlich, dass das Gesetz in Gottes Heilsplan nur eine untergeordnete Bedeutung hat (5,20) und dass man nur dann von der Herrschaft der Sünde freikommen kann, wenn man nicht mehr unter Gesetz ist (6,14).

Im vorhergehenden Kapitel hat uns der Apostel gezeigt, dass wir in zwei Menschen eingebunden sind: in Adam und in Christus. Als Adam sündigte, waren wir in ihm und sündigten mit ihm; als der Herr seine Gerechtigkeit wirkte, waren wir in ihm und wurden gerecht in ihm. Als Adam sündigte, sündigten alle (5,12), die in Adam waren; als Christus seine Gerechtigkeit wirkte, wurden alle gerecht, die in Christus sind. Das ist die Grundwahrheit, auf der alles im vorliegenden Kapitel Gesagte ruht: Wir sind mit Christus einsgemacht; wir sind mit ihm verbunden. Das nennen wir Identifikation. Die Identifikation mit Christus ist die Ursache, warum aus der Recht­fertigung notwendigerweise ein Leben der Heiligkeit fließt. In 4,25 heißt es, dass wir durch die Auferstehung Christi gerechtfertigt sind. Er starb für uns und auferstand für uns; aber das ist nicht alles. Hier sagt uns Pau­lus, dass wir mit ihm starben, als er starb, und mit ihm auferstanden, als er auferstand (6,5). Das Ergebnis ist, dass wir fortan »in Neuheit [des] Lebens wandeln« (6,4) – in einem Leben, das nicht mehr von der Sünde beherrscht ist. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Recht­fertigung die Heiligung beinhaltet. Man kann nicht gerechtfertigt sein, ohne auch geheiligt zu sein.

So wie Christus ein für alle Mal der Sünde gestorben ist (6,10), sind auch wir der Sünde gestorben (V. 2), und so wie Christus auferstanden ist und lebt, leben auch wir (V. 8). Wir werden »durch sein Leben« gerettet (5,10). Das Leben Christi ist nun auch unser Leben, und dieses Leben trium phiert über die Sünde.

»Der Hauptgedanke dieses Abschnittes ist der, dass das Einssein des Christen mit Christus so vollständig ist, dass es nicht nur inkonsequent wäre, lebte er noch in Sünde, sondern es wäre ein Widerspruch in sich. Es wäre so viel, als ob wir von einem lebenden toten oder von einem guten schlechten Menschen sprächen. Das Einssein mit Christus … kann nicht der Ausgangspunkt zur Sünde sein.«183 Charles Hodge, Romans, S. 191.

Zuerst zeigt Paulus, dass Gnade nie dazu führen kann, dass der Gerecht­ fertigte in der Sünde verharren kann, denn er ist mit Christus eins gemacht (V. 1­11); dann zeigt er, dass die Sünde gerade aus dem Grund nicht über uns herrscht, weil wir nicht mehr unter Gesetz, sondern unter Gnade sind (V. 12­14). Der dritte Teil dieses Kapitels beginnt wie der erste mit der Frage, ob wir sündigen sollen, weil wir unter Gnade sind (V. 15), und er antwortet darauf, dass der aus Gnade Gerechtfertigte von der Sünde frei gemacht und damit Gottes Sklave geworden ist (V. 16­-19), woraus als Frucht Heiligkeit erwächst (V. 21­-22). Paulus schließt seine ausführ­liche Antwort auf die in V. 1 gestellte Frage mit der Aussage, dass das ewige Leben eine Gnadengabe ist (V. 23). Er hat gründlich bewiesen, dass das ewige Leben, welches die Gnade dem Gläubigen gibt, ein Leben der Gerechtigkeit und Heiligkeit ist.

Wir können die vom Apostel angeführten Gründe, warum wir als von Gott Begnadigte nicht mehr der Sünde leben, in folgender Weise ordnen:

1. Wir starben mit Christus und auferstanden mit ihm; daher können wir nicht mehr in der Sünde verharren (6,1­-11). 2. Wir sind nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade; daher müssen wir nicht mehr der Sünde dienen (6,12­-14). 3. Wir sind von der Knechtschaft der Sünde befreit worden und sind Sklaven Gottes; daher wollen wir nicht in der Sünde verharren (6,15-­23). 1. Die Tatsache: Identifikation mit Christus. Das ist der tiefste Grund, warum wir nicht mehr sündigen können. Hier lautet das Stichwort »Taufe«. 2. Die Befähigung: Kraft von Gott. Das ist der wahre Grund, warum wir nicht mehr sündigen müssen. Hier lautet das Stich­ wort »Gnade«. 3. Die Wahl: Loyalität zu unserem Herrn und Meister. Das ist der wahre Beweggrund, warum wir nicht mehr sündigen wollen. Hier lautet das Stichwort »Sklave«. 1. Der Gerechtfertigte ist mit Christus einsgemacht, weshalb er nicht mehr in der Sünde verharren kann (6,1­-11) [204]

Um diesen Text recht zu verstehen, müssen wir gut beachten, was Pau­lus sagen will. Er will nichts anderes, als die Frage zu beantworten, die er in V. 1 gestellt hat: »Sollen wir bei der Sünde bleiben, damit die Gnade zunehme?« Die Frage stellte sich ja im Anschluss an das, was er in 5,12­-21 gelehrt hatte, namentlich an die letzten Sätze, mit denen er das wunderbare Ergebnis unseres Einsseins mit Christus zusammenfasst: Wo die Sünde mächtig geworden ist, ist die Gnade noch mächtiger ge worden; und statt dass die Sünde herrscht, herrscht fortan die Gnade.

Paulus beantwortet also die in V. 1 gestellte Frage, indem er an wendet, was er in 5,12­21 über unser Einssein mit Adam und mit Christus gesagt hat. Er sagt gar nichts Neues; er beginnt nicht ein neues Thema, indem er etwa die Methode der Heiligung lehrt. Das ist nicht seine Absicht. Sondern er will nur verdeutlichen, was aus unserem Einssein mit Christus notwendig folgt: So wie wir in Adam waren und darum den Ungehorsam Adams samt allen Folgen dieses Ungehorsams ernteten, so hat Gott uns in Christus hineinverpflanzt (so steht es wörtlich in 6,5), weshalb wir in Christus alle Folgen seines Gehorsams ernten: seines Gehorsams bis in den Tod und seiner Auferstehung. Wie wir in Adam der Herrschaft der Sünde und des Todes unterworfen wurden, so sind wir mit dem Tod und der Auferstehung Christi in ein neues Leben verpflanzt worden, das dem Tod nicht mehr unterworfen ist. Wir sind aus dem Tod in das Leben hin­ übergegangen (Joh 5,24). Wir sind versetzt worden aus der Gewalt der Finsternis in das Reich des Sohnes Gottes (Kol 1,13) und stehen damit unter seiner Herrschaft. Wer in Christus ist, ist der Sünde gestorben (6,2), freigesprochen von ihr (6,8), und ist auferweckt zu einem Leben, das kei­ner Sünde mehr unterworfen ist (V. 3.10). So beantwortet Paulus die in V. 1 gestellte Frage, ob der durch Gnade Gerechtfertigte in der Sünde verharren könne. In V. 14 fasst er diese ausführliche Antwort in dem Satz zusammen: Die Sünde wird gerade deshalb nicht über uns herrschen, weil wir unter Gnade sind. Das ist nichts anderes, als was er ebenfalls schon in Kapitel 5 gesagt hat: Wie die Sünde geherrscht hat im Tod, so herrscht jetzt die Gnade durch Gerechtigkeit (5,21). Die Herrschaft der Gnade ist das Ende der Herrschaft der Sünde.

Etwas müssen wir sehr gut beachten, um das Argument des Apostels recht zu verstehen: Er spricht in diesen Versen von Tatsachen – von Din­ gen, die an uns geschehen sind. Er spricht nicht von Pflichten; er fordert uns nicht auf, mit Christus zu sterben; er sagt nicht, wir müssten uns in das Sterben Christi versenken, um es an uns selbst zu erfahren. Es geht in diesem ganzen Abschnitt nicht um Erfahrungen; es geht um Werke, die Gott in Christus gewirkt hat; es geht um Fakten. Als Christus starb, star­ben wir mit ihm; als Christus auferstand, auferstanden wir mit ihm. Wir sollen wissen, dass wir mit ihm starben, dass wir mit ihm begraben wur­den, dass wir mit ihm auferstanden. Es ist nicht eine Erfahrung, die wir machen müssen, um in Adam zu Sündern zu werden; das geschah vor etwa 6000 Jahren an dem Tag, da Adam sündigte. Da wurden wir in ihm zu Sündern. Genauso wenig ist es eine Erfahrung, die wir machen müs­sen, um der Sünde zu sterben. Wir starben der Sünde vor etwa 2000 Jah­ren, als Christus am Kreuz starb. Beides, dass wir in Adam zu Sündern wurden und dass wir in Christus der Sünde starben, sind Tatsachen, die uns Gott offenbart hat. Wie hätten wir sie sonst wissen können? Und er hat sie offenbart, damit wir ihnen glauben – glauben, nicht erfahren; glauben, auch ohne zu verstehen; glauben wider allen Schein. Wir wis­ sen, dass es geschah, weil Gott es gesagt hat, und weil er es gesagt hat, glauben wir es. Darauf folgt die Aufforderung: »Haltet euch der Sünde für tot!« (V. 11). Man kann sich aber nur für etwas halten, was man tat­ sächlich ist. Daher muss jeder zuerst wissen, was er in Christus

ist. 1 Was sollen wir nun sagen? Sollen wir bei der Sünde bleiben, damit die Gnade zunehme?

Während bei der Rechtfertigung der Glaube im Zentrum steht, steht bei der Befreiung des Gerechtfertigten die Gnade im Mittelpunkt. Man beachte, wie häufig das Wort »Gnade« und »Gnadengabe« in den Kap. 5 und 6 vorkommt – allein in 5,12­-21 siebenmal (in V. 15 [3x], 16.17.20.21); dann in Kap. 6 viermal (V. 1.14.17.23). Zum Vergleich: In 1,18 bis 5,11 kommt »Gnade« nur viermal vor (3,24; 4,4.16; 5,2). Hin­ gegen kommt »Glaube« oder »glauben« in 3,21 – 4,25 25­mal, in den Kapiteln 5 – 8 lediglich 3­mal vor (5,1.2; 6,8). »Sollen wir bei der Sünde bleiben …?«: Die hier gestellte Frage erhebt sich bei Menschen, die sich keinen anderen Weg des Heils denken kön­nen als den des Gesetzes. Der Mensch müsse etwas leisten; er müsse an sich arbeiten. Wenn er genug geleistet habe, werde Gott ihn von seiner Schuld freisprechen und ihn erlösen. Es ist das faustische Streben: »Wer immer strebend sich bemüht, / den können wir erlösen.« Hört nun der religiöse Mensch das Evangelium der Gnade Gottes, so wie es der Apo­ stel in diesem Brief darlegt, kommt reflexartig der Einwand: »Was ist dann mit unserem Streben nach Vervollkommnung? Ist das alles wert­ los? Wenn Gott alles getan hat, wie Paulus behauptet, dann können wir, ja, dann müssen wir uns ja geradezu gehen und allen Lüsten die Zügel schießen lassen.«

2 Das sei ferne! Wir, die wir der Sünde starben, wie sollen wir noch in ihr leben?

»Das sei ferne!«, mē genoito! Das Verb steht im sogenannten Optativ, bedeutet also wörtlich: »Es möge nicht sein!« Man könnte den Ausruf so umschreiben: »Auf keinen Fall!«, oder: »Nur das nicht!« Dieser hef­tige Ausruf zeigt, dass diese ganze Vorstellung eine sittliche Ungeheuerlichkeit ist: Ein von den Sünden Erlöster, der in der Sünde lebt? Aus­ geschlossen! Paulus begründet die Unmöglichkeit damit, dass der Christ der Sünde starb, als Christus starb. Diese Wahrheit muss von außer ordentlichem Gewicht sein, wiederholt sie doch der Apostel in den fol genden Versen wieder und wieder:

Wir sind auf den Tod Christi getauft worden (V. 3). Wir sind mit Christus begraben worden durch die Taufe auf den Tod (V. 4). Wir sind mit Christus in seinen Tod eingepflanzt worden (V. 5). Unser alter Mensch ist mit Christus gekreuzigt [also getötet] wor­den (V. 6). Wir sind gestorben (V. 7). Wir sind mit Christus mitgestorben (V. 8).

Sind wir aber der Sünde gestorben, können wir nicht in ihr leben. Das geht gar nicht. Es ist ein Unding von jemandem zu sagen, er sei tot und begraben, aber er lebe noch unter uns.

»die wir der Sünde starben«: Einst waren wir für Gott tot (Eph 2,1); jetzt sind wir der Sünde tot. Wie wir damals, als wir für Gott tot waren und Gott nicht leben konnten, so können wir jetzt, da wir der Sünde star­ben, der Sünde nicht leben. Wann starben wir? Als Christus starb, star­ben wir mit ihm.

Paulus spricht nicht von wünschenswerten Dingen, sondern von tat­ sächlichen Dingen. Als Heilige leben wir Gott, als Heilige sind wir der Sünde gestorben. Es ist nicht so, dass wir uns eines Tages dafür ent­ schieden haben, mit Christus sterben zu wollen. Gott hat uns mit Christus einsgemacht (1Kor 1,30), und damit hat er uns in seinen Tod eingepflanzt (Röm 6,5); das ist eine Tatsache. Aufgrund dieser Tatsache halten wir uns für tot und geben uns nicht mehr der Sünde hin (V. 11­12). »starben«: apeqanomen, apethanomen. Der Aorist zeigt, dass Paulus hier nicht davon spricht, dass wir gestorben und daher jetzt tot sind; sonst hätte er das Perfekt gebraucht. Er verweist vielmehr auf einen bestimm­ ten Punkt in der Vergangenheit, an dem das geschah. Wann war das? Wir starben, als Christus vor den Toren Jerusalems am Kreuz starb, also Jahr­ tausende, bevor wir geboren waren. Damit bindet der Apostel die beiden Dinge zusammen, die man zwar unterscheiden, nicht aber voneinander trennen kann. Wenn Christus dort für uns starb, dann starben wir alle mit ihm. Das sagt Paulus direkt so in 2Kor 5,14: »Wenn einer für alle starb, dann starben alle.«

Wenn wir durch das Werk Christi Vergebung der Sünden haben, sind wir durch das Werk Christi auch von der Herrschaft der Sünde befreit, und damit sind wir zu einem heiligen Leben befreit worden: Frei gemacht von der Sünde, sind wir Sklaven der Gerechtigkeit geworden (V. 18). Oder wiederum mit den Worten des 2. Korintherbriefes: »Wenn einer für alle starb, dann starben alle, und er starb für alle, damit die Le benden nicht mehr sich selbst lebten, sondern dem, der für sie starb und auferstand« (2Kor 5,14­15). Es kann keine Rechtfertigung ohne nach­ folgende Heiligung geben, denn es gibt keine Rechtfertigung, die nicht zur Verherr lichung führt (siehe 5,1­2 und 8,30). Rechtfertigung ist kein Selbstzweck, vielmehr legt sie nur den Grund für ein Leben der Heilig­ keit, und dieses wiederum endet im ewigen Leben (6,22­23), in der Herr­ lichkeit Gottes.

3 Oder wisst ihr nicht, dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft wurden, in seinen Tod getauft wurden?

»wisst ihr nicht«: Das ist eine rhetorische Frage. Die Empfänger des Briefes waren getauft worden, und man hatte ihnen erklärt, was das bedeutet: Sie bezeugten damit, dass sie mit Christus gestorben waren; es war ihnen erklärt worden, dass die Wassertaufe ein Symbol einer wirk lichen Sache war: Gott hatte sie in seinen Sohn hineinverpflanzt. Das müssen wir wissen. So ist denn die Reihenfolge der Geschehnisse diese: Gott machte uns mit Christus eins; das geschah ohne unser Wis­ sen. Im Evangelium erfahren wir, dass Christus für uns starb und dass wir auch starben. Wer an das Evangelium glaubt, lässt sich taufen und bezeugt damit, dass er mit Christus gestorben ist. Weil wir das nun wis­ sen (V. 6.9), halten wir uns für das, was wir sind, nämlich für tot (V. 11); wir starben mit Christus der Sünde, wir wurden mit ihm als Gestorbene auch ordnungsgemäß begraben, und dann wurden wir mit ihm, dem Sie­ ger über Sünde und Tod, auferweckt (V. 4­5.8). »auf Christus Jesus [getauft]«: Damit ist das griechische eis Christon angemessen übersetzt. Das gilt auch für Apg 19,5. »Als sie es aber gehört hatten, wurden sie auf den Namen des Herrn Jesus getauft« (Apg 19,5; siehe auch Gal 3,27). Das in beiden Stellen ver wendete griechische baptizein eij, baptizein eis, sollte man so übersetzen. In 1Kor 10,2 heißt es, dass die Israeliten »auf Mose«, eis ton Moysen, getauft wurden. Damit wurden sie auf seine Gefolgschaft verpflich­ tet. Sie mussten ihm gehorchen, und sie mussten ihm als dem von Gott bestimmten Führer folgen. Ebenso sind wir eis Christon (»auf Christus«) getauft. Damit haben wir gesagt, dass wir fortan Christus nachfolgen. Aber wir haben mit der symbolischen Handlung der Taufe noch etwas bezeugt, und das sagt Paulus als Nächstes: Wir wurden »in seinen Tod getauft«. Mit der Taufe bezeugten wir, was Gott längst getan hatte: Als Christus starb, waren wir in ihm; wir starben mit ihm.

4 So wurden wir nun mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, gleichwie Christus aus den Toten auferweckt wurde durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in Neuheit [des] Lebens wandeln.

5 Denn wenn wir mit [ihm] eingepflanzt worden sind in die Gleichheit seines Todes, so werden wir es auch in der seiner Auferstehung sein,

Paulus fährt fort und erörtert im Einzelnen, was es heißt, dass wir auf den Tod Christi getauft wurden. Da wir starben, als Christus starb, wurden wir gleich ihm begraben. Auf die »Taufe in den Tod« folgt ganz zwin­ gend, dass wir »mit ihm begraben [wurden]«. Das Begräbnis ist der öffentliche Beweis dafür, dass jemand wirklich gestorben ist. Christus ist am Kreuz wahrhaft gestorben; er war nicht nur scheintot. Darum wurde er ins Grab gelegt.

Wir wurden mit Christus auch einsgemacht in der Auferstehung: »gleichwie Christus aus den Toten auferweckt wurde … so auch wir«. Die Auferstehung war der öffentliche Erweis, dass Jesus der Sohn Gottes ist (siehe 1,4). Durch die Auferstehung sind wir gerechtfertigt, ja, mehr noch: Wir sind in den zweiten Menschen, in Christus, hineinversetzt und mit ihm eines neues Lebens teilhaftig geworden, das keiner Sünde und keinem Tod erliegen kann:

»Die Lehre von der Auferstehung ist in vieler Hinsicht wichtig … Sie lässt uns verstehen, dass wir in Christus ganz frei gemacht sind. Wir haben nämlich an einem Leben teil, das uns befähigt, ihn sogar jetzt schon zu verherrlichen, weil es uns mit ihm vereint.«184 J. N. Darby, Siehe, der Bräutigam kommt, S. 46­-47. »damit … auch wir in Neuheit [des] Lebens wandeln«: Man beachte das Bindewort »damit«, hina. Paulus will also sagen, dass Gott uns mit dieser Absicht mit Christus verbunden hat in Tod und Auferstehung: Wir sollen in Neuheit des Lebens wandeln. Dass wir sterben und im Tod blei­ben, war nicht der Zweck, den Gott verfolgte, als er uns mit Christus ver­ band. Der Tod sollte nur der notwendige Durchgang sein zum eigent lichen Zweck – dass wir zur »Neuheit [des] Lebens« durchdringen. Wir wurden zusammen mit Christus in den Tod versenkt, um für immer von Sünde und Tod befreit zu werden, um für immer »im Leben [zu] herrschen« (5,17). Und wir sollten nicht die Kraft dieses Absichtssatzes über­ sehen. Gott hat uns nach seinem Vorsatz mit Christus einsgemacht in Tod und Auferstehung. Gottes Vorsatz kann aber nicht fehlschlagen. Es wird unweigerlich geschehen, dass wir, wenn wir tatsächlich mit Christus einsgemacht worden sind, auch in einem neuen Leben wandeln. Ergibt sich aber bei jemandem, der sich als gläubig bekennt, kein erneuerter Wandel, muss man annehmen, sein Glaube sei tot. »Christus [wurde] aus den Toten auferweckt … durch die Herrlichkeit des Vaters«: Alle Vollkommenheiten des Vaters – seine Macht, seine Treue, seine Wahrheit, seine Weisheit – wurden wirksam und offen­ bar, als er seinen Sohn aus den Toten auferweckte. Welch herrlicher Sieg! Und eben so, wie der Sohn auferweckt wurde, werden auch wir auf­ erweckt. Die gleiche Macht, die den Sohn aus dem Grab rief und erhöhte, wirkte in uns, die wir des Christus sind. Paulus betet für die Christen in Ephesus, dass sie erkennen möchten; und auch wir sollen darum beten, dass wir erkennen »die überragende Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, in der er gewirkt hat in dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte« (Eph 1,19­20).

Lasst uns dieses wunderbare »so auch wir« recht beachten und uns daran freuen! Wir wurden mit dem Sohn einsgemacht im Tod; wir wur­den mit ihm auferweckt. Sind wir aber mit ihm auferweckt, dann zeigen sich an uns ebenso die Herrlichkeiten des Vaters. Welche Demonstration der Vollkommenheiten unseres Gottes und Vaters ist dann aber das neue Leben des Christen! Wie leuchten alle Wesenheiten des Vaters aus denen, die in Neuheit des Lebens wandeln! Darum wollen wir die Wahrheit unserer Identifikation mit dem Herrn in Tod und Auferstehung in einfälti­gem Glauben annehmen, damit sie in unserem Leben sichtbar wird.

»Denn wenn wir mit [ihm] eingepflanzt worden sind …«: Pau­lus zieht mit diesen Worten die einfache Schlussfolgerung aus dem eben Gesagten. Wurden wir mit Christus »eingepflanzt«, symphytos185 Von syn-phyō, zusammenwachsen; vom gleichen Wortstamm wird phyteuō, pflanzen, gebildet (z. B. 1Kor 3,6)., »in die Gleichheit seines Todes, so werden wir es auch in der seiner Auferstehung sein«. Gott hat uns so unauflöslich mit Christus verbunden, dass Christi Tod unser Tod und seine Auferstehung unsere Auferstehung war. Paulus sagt hier, wir »werden« auch in der Auferstehung mit ihm verbunden sein. Er will damit nicht auf die zukünftige Auferstehung zur Herrlichkeit verweisen; denn diese ist hier nicht sein Thema. Es geht ihm im ganzen vorliegenden Abschnitt nur um eine Sache: Weil wir mit Christus eins sind, können wir nicht in der Sünde weiterleben186 Dass hier nicht die zukünftige Auferstehung gemeint ist, zeigt sich an Vers 6, der den Vers 5 erläutert:Wir sind mit Christus gekreuzigt (und auferstanden), damit wir jetzt der Sünde nicht mehr dienen., sondern wir werden hier und jetzt in einem neuen Leben wandeln (V. 4), wir wer­ den Gott leben (V. 11).

6 indem wir dies erkennen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, damit der Leib der Sünde abgetan werde, dass wir nicht mehr der Sünde Sklaven seien.

»indem wir dies erkennen«: Paulus erörtert die eben gemachte Aussage noch einmal und macht sie damit noch deutlicher, indem er sagt, »dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde«, als wir mit Christus eins­ gemacht wurden in seinem Tod (V. 5). Was er damit meint, ver stehen wir aus 5,12.15: Als Adam sündigte, sündigten wir. Adam ist der alte Mensch; Adam ist ein Typus auf Christus (5,14), den letzten Adam. Als Christus, »der letzte Adam« (1Kor 15,45), starb, brachte er die Geschichte Adams, des alten Menschen, an ihr Ende, und damals starb eben »unser alter Mensch«. Als Christus auferstand, wurde er, der »zweite Mensch« (1Kor 15,47), zum Urheber und Haupt einer neuen Menschheit, die nie mehr unter die Macht der Sünde und des Todes ge raten wird (siehe Röm 6,9). Man beachte, wie präzise der Apostel die Titel Christi ver­ wendet: Er ist »der letzte Adam« (1Kor 15,45) und »der zweite Mensch« (1Kor 15,47). Er ist nicht »der zweite Adam«, wie zuweilen in un genauer Weise gesagt wird. Das ist er eben nicht, denn von dieser Art soll es kei­ nen zweiten mehr geben. Es gibt nur einen Adam mitsamt einem gan­ zen adamitischen Geschlecht, und Jesus war in seinem irdischen Leben und vor allem in seinem Tod der letzte Adam. Wie sehr danken wir Gott dafür, dass er die unselige Geschichte Adams und seiner Nach­ kommen be endet hat! Und Christus ist der zweite Mensch, der Mensch vom Himmel (1Kor 15,47), der seine Erwählten zu Himm lischen macht (1Kor 15,48). »Der alte Mensch«, der mit Christus ge kreuzigt wurde, ist mein altes Ich. Ich bin nicht mehr der Gleiche wie zuvor. In Christus bin ich eine neue Schöpfung (2Kor 5,17).

Der alte Mensch musste mitgekreuzigt werden, »damit der Leib der Sünde abgetan werde«, katargēthē. Das Verb katargeo kommt auch in 3,3.31; 4,14; 7,2.6 vor. Die Grundbedeutung ist »außer Wirkung setzen«. Es findet sich u. a. auch in Lk 13 7,; 13,8; 2Tim 1,10; Hebr 2,14.

Wir müssen wiederum die finale Bedeutung von hina, »damit«, wohl beachten. Der alte Mensch wurde gekreuzigt, damit »der Leib der Sünde« abgetan werde. Mit dem Leib der Sünde meint Paulus unseren Leib, den wir noch tragen, der nicht gestorben ist und der noch nicht erneuert ist. In V. 12 spricht Paulus vom »sterblichen Leib«, in V. 13 und V. 19 von den Gliedern unseres Leibes; in 7,5 sagt er, dass die Leiden­ schaften der Sünde in unseren Gliedern herrschten, und in 7,23 sagt er, dass das Gesetz der Sünde in unseren Gliedern ist, und in 7,24 nennt er den Leib einen »Leib des Todes«. Im Leib mit seinen Gliedern bleibt die Sünde so lange, bis dieser erlöst wird (8,23). »Unser alter Mensch« ist aber nicht mehr; wir sind nicht mehr in Adam; wir sind nicht mehr die­ jenigen, die wir waren, als wir ohne Glauben und ohne Christus unser Leben führten (siehe Eph 2,12), sondern wir sind in Christus eine neue Schöpfung geworden (2Kor 5,17). Wir sind ein neuer Mensch, unsere Seele ist erlöst; doch unser Leib ist nicht neu geworden. Dieser neue Mensch ist es, der mit Christus auferweckt wurde (Eph 2,6). Weil wir neu gemacht und mit ihm verbunden sind, sind wir befähigt, die Sünden, die in den Gliedern (Röm 7,5) des unerlösten Leibes (Röm 8,23) sind, außer Kraft zu setzen. Durch den Geist müssen und können wir »die Hand­ lungen des Leibes« töten (8,13). Wir müssen es nicht mehr hinnehmen, dass die Sünde noch in unserem sterblichen Leib herrscht wie vor unserer Bekehrung. Darum sagt Paulus, dass wir unseren Leib mit allen seinen Gliedern (6,13; 12,1) Gott hingeben müssen; darum sagt er, dass der Leib nicht für die Hurerei sein darf, sondern dem Herrn ausgeliefert werden muss (1Kor 6,13), und dass wir uns hüten müssen, dass nicht der Bauch unser Gott wird (Phil 3,19).

»… der Leib der Sünde abgetan«: Was für eine Antwort auf die Frage, ob wir in der Sünde verharren sollten, damit die Gnade über­ ströme! Kann ich sagen, ich glaube an Christus, kann ich sagen, ich sei auf den Tod Christi getauft worden, und dann mit meinen Gliedern der Sünde dienen? Dann bin ich kein Christ, dann ist mein Bekenntnis ein Schwindel und meine Taufe ein Betrug.

7 Denn wer gestorben ist, ist gerechtfertigt von der Sünde.

Das »Denn« zeigt, dass die vorher gemachte Aussage begründet wird. Wer mit Christus gestorben ist, kann nicht mehr der Sünde die­ nen. Warum nicht? Weil er von der Sünde »gerechtfertigt«, d. h. frei­ gesprochen ist, wie das auch übersetzt werden kann. Auf dem Kreuz von Golgatha wurde das volle Strafmaß für die Sünde von Gott verhängt und auf den Sohn Gottes gelegt. Darum ist der Glaubende frei von der Strafe der Sünde. Und er ist gleichzeitig frei von der Macht der Sünde. Mit dem Tod Christi ist beides geschehen:

1. Unsere Schuld, die sich aus der Summe all unserer sündigen Gedanken und Taten ergibt, ist gesühnt.

2. Christi Tod hat uns von der Macht der Sünde befreit.

Wir sehen es wieder: Vergebung und Befreiung können nicht voneinander getrennt werden. Rechtfertigung und Heiligung sind untrennbar miteinander verwoben.

8 Wenn wir aber mit Christus starben, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden,

9 da wir wissen, dass Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; [der] Tod ist nicht mehr Herr über ihn.

10 Denn was er starb, starb er ein für alle Mal der Sünde; was er aber lebt, lebt er Gott.

Unser alter Mensch ist gekreuzigt worden; wir sind mit Christus gestorben, wir sind damit befreit von der Sünde. Wenn Christi Tod unser Tod war, dann ist auch sein Leben unser Leben. Sagte er nicht den Jüngern, als er mit ihnen im Obersaal versammelt war: »Weil ich lebe, werdet auch ihr leben« (Joh 14,19)? Durch dieses Leben und mit diesem Leben haben wir das Vermögen, der Sünde abzusagen, ihr unseren Dienst zu versagen, denn dieses Leben ist ein Leben, das keiner Sünde er liegen und das darum kein Tod mehr antasten kann; denn »wir wissen, dass Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; [der] Tod ist nicht mehr Herr ist über ihn«. Und warum kann der Tod nicht mehr über ihn herrschen? Das erklärt der Apostel in V. 10: »Denn was er starb, starb er ein für alle Mal der Sünde«: Chris­ tus kam, um uns, die wir der Sünde und dem Tod verfallen waren, zu erlösen. Deshalb musste er unsere Sünde auf sich nehmen und unseren Tod erleiden. Doch er war der Heilige Gottes, den der Tod nicht hal­ten konnte (Apg 2,24). Gott erweckte ihn, »damit er nicht mehr zur Verwesung zurückkehre« (Apg 13,34). Die Herrschaft des Todes ist an ihr Ende gekommen. Kein Tod kann den Herrn herabziehen, kein Tod kann ihn binden. Und so wie der Tod nicht mehr über ihn herrscht, so herrscht er auch nicht mehr über die, die in Christus sind; vielmehr herrschen sie im Leben (5,17). »Durch sein Leben« – oder eigentlich: in seinem Leben – sind sie von der Macht und von den Folgen der Sünde gerettet (Röm 5,10). Was Christus als Auferstandener lebt, »lebt er Gott«, und so lebt auch der Gerechtfertigte nicht mehr der Sünde, sondern Gott.

11 So auch ihr, haltet euch187 logizesthe, eigentlich: »Rechnet euch für tot«. der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christus Jesus.

»So auch ihr«: Gleichwie Christus durch seinen Tod von jeder Ver­ bindung mit Sünde getrennt ist, sind auch wir von jeder Verbindung mit Sünde gelöst, und darauf folgt der Imperativ: »Haltet euch der Sünde für tot!« Diese Aufforderung erfolgt erst hier; denn bevor wir uns für tot halten können, müssen wir wissen, dass wir tot sind. Man kann sich ja nur für etwas halten, was man wirklich ist. Paulus hat in den Versen 2­-10 ausführlich und in Einzelheiten gezeigt, was es heißt, dass wir mit Chris­ tus starben. In V. 3 fragte er: »Wisst ihr nicht …«, und in V. 6 sagte er: »… indem wir dies erkennen«, und in V. 9: »… da wir wissen«. Weil wir wissen, dass wir tot sind, können wir dieses Wissen anwenden. Und je gründlicher wir wissen, was Gott getan hat, desto besser können wir uns auch dafür halten, dass wir mit Christus gestorben und auferweckt sind. Das heißt, dass wir von den Heilstatsachen her urteilen und handeln müssen: Wir sind mit Christus der Sünde gestorben; wir sind mit ihm auf erweckt worden zu einem neuen Leben. Wir sind mit dem Tod aus der alten Ordnung herausgenommen und mit der Auferstehung in die neue Ordnung versetzt worden. Das ist unsere Stellung in Christus. Aber solange wir noch in dieser Welt sind, bleiben wir mit unserem Leib noch in der alten Ordnung. Aus dieser Spannung erwächst der Kampf gegen die Sünde, den wir kämpfen müssen. Davon spricht der nächste Abschnitt.

2. Der Gerechtfertigte ist nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade, weshalb er nicht sündigen muss (6,12-­14) [215]

Wir sind in Christus bereits in die neue Ordnung der Gerechtigkeit und des Lebens eingetreten; wir sind aus der Gewalt der Finsternis befreit und in das Reich des Sohnes Gottes versetzt worden (Kol 1,13). Aber wir leben noch auf dieser Erde; unser Leib der Sünde (V. 6) lebt noch in der alten Ordnung. Wir sind mit Christus auferweckt worden, und unser Leben ist verborgen in Christus, der zur Rechten Gottes sitzt (Kol 3,1­3). Wir werden eines Tages offenbar werden in Herrlichkeit, dann nämlich, wenn Christus offenbar wird (Kol 3,4). Aber bis dahin sind wir noch in dieser Welt in unserem sterblichen Leib, und während dieser Zeit müssen wir »die Glieder, die auf der Erde sind« töten (Kol 3,5).

12 Also herrsche nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, um seinen Lüsten zu gehorchen;

Auf die Indikative der Verse 2­10 war in Vers 11 ein erster Imperativ ergangen; nun folgt ein zweiter: »Also herrsche nicht die Sünde!« Mit dem »Also«, oun, zieht Paulus die Schlussfolgerung aus allem, was er bis­ her gesagt hat: Da wir mit Christus gestorben, begraben und auf erweckt wurden, soll die Sünde nicht mehr herrschen, βασιλευω, basileuō, »König sein«, in unserem sterblichen Leib. Diese Aufforderung ergeht an uns, weil die Sünde noch in unserem Leib ist (weshalb Paulus ihn in V. 6 »Leib der Sünde« nennt), und diese drängt danach, uns zu beherrschen, aber das sollen wir auf keinen Fall geschehen lassen. Die Sünde hat ihre Macht über uns verloren, da wir mit Christus vereint sind. Da der Tod nicht Herr ist über ihn (V. 9), sollen wir der Sünde die Herrschaft über unseren sterblichen Leib verweigern. Die Aufforderung zeigt, dass wir nun die Verantwortung haben, der Sünde die Herrschaft zu verweigern; wir müssen gegen sie ankämpfen (siehe Hebr 12,4). Tun wir es nicht, wird sie uns beherrschen.

»in eurem sterblichen Leib, um seinen Lüsten zu gehorchen«: Die Sünde ist besiegt; wir sind durch das Kreuz von der Sünde frei; aber unser Leib ist noch sterblich, weil die Sünde noch in unseren Gliedern ist (7,5.17); der Leib ist noch nicht erlöst (8,23). Daher benötigen wir die Aufforderung, den Begierden in unseren sterblichen Gliedern nicht zu gehorchen, die uns noch immer locken und abziehen wollen. Vergessen wir nicht: Unser Leib ist das Gefäß, in dem wir Gott dienen; unser Leib ist das Gefäß, in dem unsere Seele wohnt. Darum sollen wir das Wort des Apostels beherzigen: »Verherrlicht Gott in eurem Leib!« (1Kor 6,20).

13 gebt auch nicht eure Glieder der Sünde hin zu Waffen [der] Ungerechtigkeit, sondern gebt euch selbst Gott hin als Lebende aus [den] Toten, und eure Glieder Gott zu Waffen [der] Gerechtigkeit.

In V. 12 hatte Paulus gesagt, die Sünde solle nicht herrschen in unserem sterblichen Leib; nun wendet er das auf die einzelnen Glieder des Leibes an: »… gebt auch nicht eure Glieder der Sünde hin«. Wir sollen weder Hände noch Füße, weder Augen noch Ohren in den Dienst der Sünde stellen. Da wir wissen, was mit uns in Christus geschehen ist (V. 3.6.9), halten wir uns dafür, dass wir der Sünde tot sind und Gott leben (V. 11). Gott aber leben wir, indem wir unsere Glieder dem Dienst der Sünde ent­ ziehen und sie Gott hingeben (siehe auch 12,1). Das müssen wir tun, denn Gott hat es uns befohlen; hat er es aber befohlen, wird er uns auch befähigen.

»gebt euch selbst Gott hin als Lebende aus [den] Toten«: Tote können Gott nicht dienen. Da wir nun aber Leben aus Gott empfangen haben, können wir uns Gott hingeben. Gott hat uns gegeben, was wir benötigen, daher können wir ihm jetzt gehorchen. Der Sünder kann nichts Gutes tun (3,10­12); der Mensch im Fleisch kann Gott nicht ge ­ fallen (8,8). Der Erlöste aber ist von Gott erneuert worden; er ist auf­ erweckt worden zur »Neuheit [des] Lebens« (6,4). In ihm wirkt Gott sowohl das Wollen als auch das Wirken nach seinem Wohlgefallen (Phil 2,13). Darum wollen wir das auch tun. Darum wollen wir unsere Verantwortung wahrnehmen.

»und eure Glieder Gott zu Waffen [der] Gerechtigkeit«: Wir wol­ len unsere Hände, unsere Füße, unsere Augen, unsere Ohren, unseren Bauch und unseren Verstand – alles – Gott ausliefern.

Was schaust du? Unreines oder Reines? (4Mo 15,39; Hi 31,1; Mt 5,28). Wie schaust du? Mit einem bösen Auge? (Mt 6,23; Offb 3,18). Was hörst du? Böses? Klatsch in den Medien? Üble Nachrede? Gottes Wort? (Spr 5 1,; 18,15; Ps 15,3; Jes 33 15,; 59,13). Wie hörst du? Willig oder widerwillig? (Mk 4,24; Lk 8,18). Was redet deine Zunge? Lästerung? Lobpreis? Schmeicheleien? Verleumdung? (Ps 52,4; Jes 33,15; Röm 3,13­14; Eph 4,29; 1Petr 3,10). Was tun deine Hände? Stehlen? Oder arbeiten, um dem Armen zu helfen? (Eph 4,28). Wohin gehen deine Füße? Ins Haus Gottes (Ps 122,1­2)? Zu den Sündern mit der Botschaft des Friedens? (Röm 10,15). Oder gehen sie Wege, die sie nicht gehen sollten? (Spr 1,16; Röm 3,15).

14 Denn die Sünde wird nicht Herr sein über euch, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade.

»denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade«: Wir er ­ fassen das Unerhörte dieses Verses erst, wenn wir bedenken, worauf er antwortet. Die Feinde des Evangeliums der Gnade Gottes hatten be ­ hauptet, die Gnade könne den Menschen nur zur Ausschweifung ver­ leiten. Diese Leute konnten sich gar nichts anderes denken, als dass Gesetze und Drohungen nötig seien, um die sündigen Neigungen des Menschen in Schranken zu halten. Paulus geht jetzt von der Ver teidigung zum Angriff über und sagt den Verfechtern des Gesetzes, dass sie es sind, die der Sünde dienen und ihr Vorschub leisten; denn solange der Mensch unter Gesetz ist, sündigt er fortlaufend und mehrt beständig die Sünde (siehe 5,20a und 7,9). Das Einzige, was von dieser Tyrannei befreien kann, ist die Gnade. Denn niemals können wir uns selbst von der Sünde befreien; niemals können wir mit Willenskraft und eigener Leistung das Böse überwinden. Warum ist es so, dass das Gesetz unser Sündigen mehrt? Weil ein jedes Gesetz von uns fordert und uns stets auf uns selbst zurückwirft. Wir aber vermögen nichts (Joh 15,5) – außer zu sündigen. Nun aber sind wir unter Gnade, und das heißt, dass Gott uns gibt, was wir nicht haben, und dass Gott in und an uns wirkt, was wir nicht wir­ ken können. Die Gnade macht mich stark: »Du nun, mein Kind, sei stark in der Gnade, die in Christus Jesus ist« (2Tim 2,1). Gottes Gnade macht mich ganz abhängig von ihm, und damit stellt sie mich unter seine Herr­ schaft. Wo er aber herrscht, kann die Sünde nicht herrschen.

3. Der Gerechtfertigte ist ein Knecht Gottes geworden, weshalb er nicht sündigen will (6,15-­23) [218]

In diesem Abschnitt greift Paulus die Frage von V. 1 noch einmal auf, formuliert sie aber ein wenig anders. In V. 1 war die Frage, ob wir in der Sünde verharren sollen, hier lautet sie, ob wir uns nicht je und dann eine Sünde leisten können, wo wir doch nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind. Auch das schließt der Apostel aus, und diesmal argumen­tiert er damit, dass der Erlöste ein Knecht Gottes und der Gerechtigkeit geworden ist und darum in keiner Form der Sünde dienen will. Wir waren einst Sklaven der Sünde (V. 17a), unser Wille war an die Sünde gebunden. Nun aber sind wir zum Glaubensgehorsam gebracht worden (V. 17b). Wir sind von der Sklaverei der Sünde befreit worden, und als Freie sind wir Sklaven der Gerechtigkeit (V. 18). Als Sklaven gehorchen wir unserem Meister, und sein Befehl lautet, dass wir unsere Glieder, mit denen wir einst der Unreinheit und der Gesetzlosigkeit dien­ten (V. 19a), in den Dienst der Gerechtigkeit stellen. Als Sünder hielten wir uns für frei, und das waren wir auch: frei von der Gerechtigkeit (V. 20), und diese Art Freiheit erzeugte Früchte, über die wir uns heute nur schä­men, und das Ende davon ist ewiger Tod (V. 21). Nun sind wir frei, Gott und seiner Gerechtigkeit zu dienen, und die Frucht davon ist Heiligkeit, die höchste Zierde des Menschen; und das Ende davon ist ewiges Leben (V. 22). Einst herrschte die Sünde, nun herrscht die Gnade (5,21) über uns. Diese macht uns also nicht autonom, sodass wir als Erlöste leben könn ten, wie es uns gefällt; vielmehr erzieht uns die Gnade, die weltlichen Begierden zu verleugnen (Tit 2,11­12), und drängt uns zum Gehorsam gegen den Gott, der uns in seiner Gnade das ewige Leben gibt (V. 23).

15 Was nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind? Das sei ferne!

»Sollen wir sündigen?«: In V. 1 war die Frage gestellt worden, ob wir in der Sünde verharren sollen, damit die Gnade umso größer werde. Hier ist die Frage eine andere, und darum verwendet Paulus anders als in V. 1 den Aorist: αμαρτησωμεν, hamartēsōmen (Konjunktiv). Im Gegensatz zum durativen epimenōmen von V. 1 ist der Aorist von V. 15 punktuell: Sollen wir uns etwa zu einer sündigen Tat verlocken oder hinreißen lassen, weil wir wissen, dass Gott gnädig ist und uns vergibt? Die Antwort ist wieder um ein entschiedenes »Das sei ferne!« Wir sind ja Knechte Gottes (V. 22). Ein Knecht will den Willen seines Meisters tun, in jedem einzelnen Fall. Er spekuliert nicht, indem er sich etwa sagt: Ich diene ja meinem Herrn nor­malerweise; diesmal darf ich mir eine Ausnahme leisten. Paulus nennt folgende Gründe, warum wir als Gerechtfertigte nicht sündigen wollen:

1. Wem ich mich hingebe, dessen Sklave bin ich (V. 16). 2. Ich war einst ein Sklave der Sünde, durch Gottes Gnade bin von Herzen der Heilslehre gehorsam geworden (V. 17). 3. So wie ich einst meine Glieder der Sklaverei der Sünde hin­ gab, übergebe ich sie jetzt der Sklaverei der Gerechtigkeit (V. 18-­19). 4. Als wir Freie von der Gerechtigkeit und Sklaven der Sünde waren, produzierten wir nur Früchte, deren wir uns jetzt schä­men; da wir nun von der Sünde frei gemacht und Gottes Skla­ven geworden sind, haben wir als Frucht Heiligkeit und als Ende davon das ewige Leben (V. 20­-22). 5. Das Ergebnis der Gnade ist nicht Sünde mit darauf folgendem Tod, sondern Gerechtigkeit mit daraus fließendem ewigem Leben (V. 23).

16 Wisst ihr nicht, dass, wem ihr euch hingebt als Sklaven zum Gehorsam, ihr dessen Sklaven seid, dem ihr gehorcht? Entweder [der] Sünde zum Tod oder [des] Gehorsams zur Gerechtigkeit?

»Wisst ihr nicht?«: Paulus baut sein Argument wie in den voran­ gegangenen Versen auf den Dingen auf, die wir wissen. Aus diesem Wis­sen sollen wir die rechten Schlüsse ziehen.

»dass … ihr dessen Sklaven seid, dem ihr gehorcht«: Wer sündigt, weist sich als Sklave der Sünde aus. Sind wir denn Sklaven der Sünde? Nein, wir sind gerechtfertigt und geheiligt worden, wir sind Sklaven der Gerechtigkeit. Es widerspricht unserer neuen Identität, und es ist Untreue gegen unseren Herrn, der Sünde zu gehorchen.

Seien wir vorsichtig und lassen wir uns nicht dazu verleiten, einer süßen Verlockung nachzugeben, nur weil wir unter Gnade und nicht unter Gesetz sind. Jedes Mal, wenn ich sündige, diene ich der Sünde. Wer sagt mir, dass ich aus der Kette dieses Dienstes wieder loskomme? Das ist gar nicht sicher; vielmehr kann eine einzige Sünde mir zum Fallstrick wer­ den und mich in eine Sklaverei hineinziehen, der ich mich nicht mehr entwinden kann. Es mag einer nur ein einziges Mal versuchen wollen, wie Heroin schmeckt. Jetzt hat er Blut geleckt, jetzt muss er den Genuss noch einmal und dann noch einmal und schließlich wieder und wieder haben; er ist süchtig geworden. Gott nennt Hiob seinen Knecht (Hi 1,8). Ein Knecht kann von sich sagen: »Ich habe mit meinen Augen einen Bund gemacht, und wie hätte ich auf eine Jungfrau geblickt!« (Hi 31,1). König David gab der Versuchung in einer schwachen Stunde nach und schielte nach einer Frau, die ihm nicht gehörte. Seinen Blicken folgte die Lust, die Lust empfing die Sünde, und die Sünde gebar den Tod (2Sam 11; Jak 1,14­15): Das im Ehebruch gezeugte Kind starb; in der Folge star­ ben zwei weitere Söhne Davids in ihrer Jugend, und schließlich raffte ein Bürgerkrieg unzählige Israeliten dahin.

Simson war ein Mann, den Gott mit großer Kraft und mit großen Vor rechten ausgestattet hatte. Doch sündige Taten wurden zur sündigen Gewohnheit. Er wurde am Ende Sklave der Sünde, der er gehorchte, schlief ein im Schoß einer liederlichen Frau und wurde von den Feinden überwältigt, gefesselt und geblendet. Er konnte nur durch den Tod befreit werden von der Macht der Sünde (Ri 16).

»Entweder [der] Sünde zum Tod oder [des] Gehorsams zur Ge rechtigkeit«: Es fällt auf, dass die beiden Aussagen nicht parallel sind. Wir hätten ein ebenmäßiges Paar erwartet: »entweder der Sünde zum Tod oder des Gehorsams zum Leben«. Das sagt Paulus aber nicht, sondern: »des Gehorsams zur Gerechtigkeit«. Es kommt zwar auf dasselbe heraus, denn Gerechtigkeit ist zum Leben (wie wir in 1,17 er fahren haben: »Der aus Glauben Gerechte wird leben.«). Doch in diesem Ka pitel will Paulus der Sünde die Gerechtigkeit entgegenhalten, war doch der Anlass zu allem, was er hier sagt, die Frage gewesen, ob wir in der Sünde nicht fortfahren sollen, damit die Gnade überströme (V. 1). Es ist gerade um gekehrt: Die Gnade erzeugt ein Leben im Sklavendienst der Gerechtigkeit.

17 Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam wurdet der Gestalt der Lehre, der ihr übergeben wurdet!

Die Christen in Rom waren »Sklaven der Sünde« gewesen, aber sie waren es nicht mehr. »Gott« gebührt dafür der »Dank«, charis, eigent­lich Gnade. Wir verdanken es Gottes Gnade, dass wir der Lehre ge horsam werden konnten. Ja, es ist seine Gnade, die zum Gehorsam führt (siehe 1Petr 1,1­2 [wir sind »auserwählt zum Gehorsam«]). Wie gnädig war uns Gott! Wie groß war sein Erbarmen über uns! Wie dankbar waren wir damals, als wir glauben konnten und die Last der Schuld uns genommen wurde und wir von der Unreinheit der Sünde reingewaschen wurden! Sooft wir daran denken, können wir nicht anders, als ihm unseren Dank zu stammeln.

»von Herzen gehorsam … der Gestalt der Lehre«: In 1,5 hatte Pau­lus gesagt, dass er zum Apostel berufen sei, um das Evangelium zu ver­ kündigen, ein Evangelium, das zum Gehorsam des Glaubens führt. Wer glaubt, wird gehorsam; wer nicht zum Gehorsam gebracht worden ist, ist nicht wirklich zum Glauben gekommen; denn wahrer Glaube beweist sich in einem Leben des Gehorsams, und dieser Gehorsam ist »von Herzen«. Das Herz ist die Zitadelle des Menschen; ist diese erobert, ist der ganze Mensch erobert. Das Herz ist das Zentrum seiner Persönlichkeit, der Sitz seines Willens, der Ort, an dem die Entscheidungen fallen, die Stelle, an der es in ihm Ja oder Nein sagt. Wie sollte das Herz eines Sün ders gehorsam werden, da es doch seine Lust ist, seinem eigenen Willen zu leben? Es muss zuvor verändert werden; es muss zuvor neu werden. Gottes muss es umgestalten, so umpolen, dass es nunmehr begehrt, was es einst verabscheute, und verabscheut, was es einst begehrte. Dann erst wird der ehemalige Sünder von Herzen gehorsam werden, und er bindet sich willig an Gott.

Der Christ ist gehorsam »der Gestalt der Lehre«, einer dem Inhalt nach klar umrissenen Summe von Wahrheiten über Gott, den Menschen, den Retter und die Errettung. Diese Form der Lehre, dieses »Bild ge sunder Worte« (2Tim 1,13) besteht aus allem, was das Alte Testament lehrt, zusammen mit der Lehre der Apostel, so wie sie uns heute im Kanon der Heiligen Schrift geschlossen vorliegt. Gemäß Röm 2,20 besaß der Jude »die Ausformung der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz«, hatte aber darin keine Kraft, dieser Form zu gehorchen. In der »Gestalt der Lehre« des Evangeliums findet sich mit der Erkenntnis der Wahrheit auch die Kraft (Röm 1,16), die zum Gehorsam befähigt.

18 Frei gemacht aber von der Sünde, wurdet ihr zu Sklaven der Gerechtigkeit.

»Frei gemacht … von der Sünde«: Christus machte uns frei von der Sünde, indem er am Kreuz das Gericht über die Sünde trug. Haben wir das verstanden, verstehen wir auch, dass wir damit »zu Sklaven der Gerechtigkeit« wurden188 So muss die Passivform edoulōthēte wörtlich übersetzt werden. Das aktive douloō bedeutet »zum Sklaven machen«. Das Gleiche gilt für das Passivpartizip doulōthentes in 6,22.. Wir sind frei von etwas, und wir sind frei für etwas: Frei vom Eigenwillen und frei für Gottes Willen. So wie wir frü­her nicht anders konnten, als der Sünde zu dienen, so wollen wir jetzt auch nicht anders, als dem Herrn und seiner Gerechtigkeit zu dienen. Als Sünder standen wir unter Einflüssen und Wirkungen, die stärker waren als wir. Darum konnten wir gar nicht anders als sündigen. Als Heilige stehen wir ebenfalls unter Einflüssen und Wirkungen, die stärker sind als wir. Es besteht allerdings ein unendlicher Unterschied zwischen den bei­ den Arten der Knechtschaft: Die Knechtschaft der Sünde ist eine Knecht­ schaft, die wir nicht erkennen und anerkennen wollen. Es ist uns ver borgen, wer uns gängelt; und wir wollen es auch nicht wahrhaben, dass wir nicht unsere eigenen Herren sind. Die Knechtschaft der Gerechtig­ keit ist uns ganz bewusst; wir wissen, dass wir nicht uns selbst gehören; wir wissen, dass ein Stärkerer über uns verfügt, uns lehrt und uns lei­tet. Und wir erkennen das mit Freude und mit Dankbarkeit an. Wir sind Knechte Jesu Christi geworden; wir rühmen uns dieser Knechtschaft. Wir begehren nichts inniger, als von der Sünde und ihren Handlungen immer mehr loszukommen und immer enger an Christus gebunden zu werden. Er hat unsere Herzen beschlagnahmt, seit wir ihn im Glauben geschaut und uns ihm ergeben haben.

19 Ich rede menschlich, wegen der Schwachheit eures Fleisches. Denn wie ihr eure Glieder hingabt zu Sklaven der Unreinheit und der Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit, so gebt jetzt eure Glieder hin zu Sklaven der Gerechtigkeit zur Heiligkeit.

»Ich rede menschlich«: Das heißt, Paulus verwendete einen Vergleich aus der täglichen Erfahrung der Empfänger des Briefes. Es war ein Ver­ gleich, den jeder Mensch verstehen konnte, und zwar musste er so ein­ fach reden »wegen der Schwachheit eures Fleisches«. Unser Geist ist durch die Sünde so stumpf geworden, dass wir Gottes Werke und Wege nicht verstehen ohne Vergleiche aus unserem Leben. »wie ihr eure Glieder hingabt zu Sklaven der Unreinheit«: Ja, wir waren Sklaven der Sünde und konnten darum nicht anders, als dem Dik­tat der Sünde zu folgen. Aber wir taten es nicht widerwillig. Wir taten, als wir der Sünde dienten, »den Willen des Fleisches und der Gedanken« (Eph 2,3).

»Gerechtigkeit zur Heiligkeit«: Die Gnade hat uns gebunden in eine Knechtschaft, die nicht Unreinheit und Gesetzlosigkeit bedeutet, sondern Gerechtigkeit. Es ist ein Sklavendienst in einer gerechten Sache für einen gerechten Herrn. Das Ergebnis dieses Dienstes ist die gelebte Heiligkeit. Das ist die liebliche Frucht der Gnade. Wie oben in V. 16 verwendet Paulus auch hier zwei nicht parallele Ausdrücke. Wir hätten erwartet, dass er die Sklaverei der Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit der Sklaverei der Gerechtigkeit zur Gerechtigkeit gegenüberstellt. Was will Paulus erreichen mit seiner Ausdrucksweise? Er will zeigen, dass die Gesetzlosigkeit nur zu weiterer Gesetzlosig­keit führt. Die Sünde hält den Menschen gefangen in einer Spirale des Bösen, die vom Argen zum Ärgeren herabzieht (vgl. 2Tim 3,13). Das Ende, die Verdammnis, ist nichts anderes als ein grenzenloses Absinken in das Böse. Die Gerechtigkeit ist hingegen bereits vollkommen; da es die Gerechtigkeit Gottes selbst ist, kann sie nicht gemehrt werden. Doch von dieser Gerechtigkeit aus wird der Gerechtfertigte stets höher hinauf­ geführt: Von Gerechtigkeit zur Heiligkeit, und von Heiligkeit schließ­lich zur Herrlichkeit, und in der Herrlichkeit zu stets höherer Herrlich­ keit (vgl. 2Kor 3,18).

20 Denn als ihr Sklaven der Sünde wart, da wart ihr Freie von der Gerechtigkeit.

Wir sind als Menschen nie autonom; sind wir nicht Sklaven der Gerech­tigkeit, sind wir Sklaven der Sünde. Als solche waren wir »Freie von der Gerechtigkeit«: Das war die Freiheit, die wir als Sünder begehrten. Wir wollten frei sein von Gott und von seinen Geboten; und das waren wir auch. Wir waren frei von der Gerechtigkeit und damit »frei« zur Sünde, d. h., wir waren an diese gebunden. Wir konnten nicht anders, als dem Eigenwillen zu dienen. Damit waren wir – wie George Whitefield in einem Brief an John Wesley schrieb – frei, in die Hölle zu fahren. So ver­dreht war unser Urteilen, dass wir Gottes Herrschaft und seine gerechten Forderungen für Knechtschaft hielten und nur eines wollten – jedes Band abwerfen, von dem wir den bloßen Verdacht hatten, es könnte uns an Gott und an den Himmel binden (Ps 2,3).

21 Welche Frucht hattet ihr also damals von den Dingen, deren ihr euch jetzt schämt? Denn ihr Ende ist der Tod.

Paulus bringt nun ein weiteres Argument, um uns zu zeigen, was wir wählen, wenn wir die Sünde wählen. Wir taten einst Dinge, für die wir uns jetzt nur noch schämen; wir wünschen, wir hätten sie nie getan. Sol­len wir jetzt, da Gott uns reingewaschen hat von unseren schändlichen Taten, wieder Dinge tun, deren wir uns wieder schämen müssen? Als Gerechtfertigte wissen wir, was die Frucht und das Ende der sündigen Taten ist. Es ist der Tod. Das wussten wir als Gottlose zwar auch (siehe 1,32), aber wir scherten uns nicht darum, denn wir sahen die Tragweite dieses Endes nicht. Aber jetzt sehen wir es. Können wir dann noch mit der Sünde spielen? Können wir den Dienst am Höchsten als etwas Läs­tiges ansehen und damit sagen, dass der Dienst der Sünde nicht bitter und dass die Unreinheit nicht schändlich war?

22 Jetzt aber, von der Sünde frei gemacht und zu Gottes Sklaven gemacht geworden, habt ihr eure Frucht zur Heiligung, als das Ende aber ewiges Leben.

Noch einmal: Wir sind als Menschen nie autonom; wir dienen immer einem Meister, der über uns ist. Entweder sind wir unter der Herrschaft der Sünde (3,9) oder unter der Herrschaft Gottes. In V. 20 hatten wir gehört, was die Freiheit des Sünders ist; hier hören wir, was die Freiheit des Gerechten ist. Der Sünder ist frei von der Gerechtigkeit, und damit ist er gebunden an die Sünde. Der Heilige ist frei von der Sünde und damit ist er gebunden an die Gerechtigkeit.

»Wenn wir nicht dem wahren Gott, sondern dem Gott dieser Welt unterstehen, sind wir Gefangene und Sklaven des Teufels (2Tim 2,26) … Wenn der Eine, der stärker ist als der Satan, diesen angreift und über windet, geraten wir in die Gewalt dieses Stärkeren. Dann sind wir ebenfalls unfrei, Gefangene des Heiligen Geistes, trotzdem und eben darum – königlich frei. Wir wollen und tun dann mit Lust, was Gott will.«189 M. Luther, Vom unfreien Willen, S. 54 (WA 18, 635, 7­-17). Der Christ hat verstanden, was wahre Freiheit ist: »Von der Sünde frei gemacht«, ist er zu »Gottes Sklaven gemacht geworden«. Die rechte Freiheit besteht nicht darin, dass wir tun können, was wir wollen, son­dern darin, dass wir tun können, was wir sollen. Wenn unser Leib einst erlöst ist (Röm 8,23), wird keine Sünde mehr in uns wohnen, dann wird keine Versuchung zum Eigenwillen mehr da sein. Dann werden wir Gott vollkommen ergeben und in allem und in jedem Augenblick gehorsam sein. Sein Wille wird uns vollständig beherrschen; unser ganzes Wollen wird mit ihm eins sein. Das ist die »Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes« (8,21), nach der wir uns sehnen. Und die Frucht eines Lebens in dieser Freiheit ist »Heiligung«, hagiasmos, oder »Heiligkeit«. Weil es hier um ein Leben in Heiligkeit geht, ist »Heiligung« wohl die bes­sere Übersetzung190 So übersetzen Zürcher 2007, Schlachter 2000 und Menge; Luther 1912 und Luther 1984 übersetzen:»… dass ihr heilig werdet«; UELB und Elb 2003 »Heiligkeit«; die englische King James Bible »holiness«,die New American Standard und die English Standard Version »sanctification«. hagiasmos kommt vor inRöm 6,19.22; 1Kor 1,30; 1Thes 4,3.4.7; 2Thes 2,13; 1Tim 2,15; Hebr 12,14; 1Petr 1,2 (wo es in beiderleiSinn verwendet wird). Bezugnehmend auf Röm 6,19 schreibt Vincent: »Das Neue Testament verwendethagiasmos sowohl für den Prozess als auch für den aus ihm resultierenden Stand … Es ist schwer zuentscheiden, was hier gemeint sei.« Bezüglich V. 22 sagt er: »Es vielleicht besser, es als den Prozess zuverstehen« (Marvin R. Vincent, Word Studies in the New Testament, Bd. 3, S. 72).. Hebr 12,14 fordert auf zum Jagen nach »Heiligkeit« (Hebr 12,14), und ebendieses Streben nennen wir »Heiligung«. Das »Ende« des Lebens in Heiligung ist »ewiges Leben«. Man halte sich die Gegensätze noch einmal vor Augen: Das Ende des Lebens in der Sünde ist der ewige Tod; das Ende des Lebens in der Heiligung ist ewi­ ges Leben.

»Die Reihenfolge dieser Begriffe muss beachtet werden: Gottes Sklaven, Heiligkeit, ewiges Leben. Das mittlere Glied der Kette darf nicht fehlen (Hebr 12,14).«191 James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 120.

Dieser Vers nennt vier große Tatsachen über den, der gerechtfertigt wor­den ist durch den Glauben und der Frieden mit Gott hat:

1. Er ist von der Sünde frei gemacht. 2. Er ist ein Sklave Gottes geworden. 3. Sein Leben hat als Frucht Heiligung. 4. Das Ende der Heiligung ist das ewige Leben.

Diese vier Dinge bilden eine zusammenhängende Kette, deren erstes Glied die in Christus gewirkte Errettung ist. Hat er uns aus Gnade er rettet, dann geschah das mit dem Ziel, uns von der Sünde frei zu machen. Wir sind von der Sünde frei, damit wir uns Gott als Sklaven hingeben. Die­ser Sklavendienst hat als Frucht die Heiligkeit und als Ende das ewige Leben. Aus dieser Kette dürfen wir so wenig ein Glied herauslösen wie aus der goldenen Kette von 8,30.

23 Denn der Lohn192 Vgl. 2Kor 11,8 [Lohn] bzw. Lk 3,14; 1Kor 9,7 [Sold]. der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.

Zum Schluss seiner Beweisführung zeigt der Apostel noch einmal, dass der Empfang der Gnade und ein Leben in der Sünde sich nicht vertragen. Der Lohn der Sünde ist der Tod; das Ergebnis der Gnade ist ewiges Leben. Das Ziel dieser beiden Wege liegt in gänzlich entgegen gesetzter Richtung. Wie kann der Gläubige, der zum Himmel unterwegs ist, auf dem gleichen Weg gehen wie der Ungläubige, der auf dem Weg in den Tod ist? Es ist unmöglich. Errettung durch Gnade und ein Verharren in der Sünde schließen sich gegenseitig aus.

Mit diesem »Denn« beginnt Paulus einen Satz, der die in V. 22 gemachte Aussage begründet. Wir haben unsere »Frucht zur Heiligung«, weil das ewige Leben eine Gnadengabe ist. Das aber bedeutet, dass die Gnade, die uns dieses Leben gab, diese Frucht wachsen lässt. Aus der Gnade wächst nie Ausschweifung, sondern Heiligkeit. Es ist die Verkehrung der Gnade, die zu Ausschweifung führt (Jud 4), niemals »die wahre Gnade Gottes«, in welcher der Gerechtfertigte steht (1Petr 5,12). »Der Lohn der Sünde ist der Tod«: Der Tod ist immer verdient, es folgt in ordnungsgemäßer Weise auf die Sünde so wie der Lohn auf die Arbeit oder der Sold auf den Waffendienst. Wer arbeitet, bekommt seinen gerechten Lohn, und es wäre ungerecht, ihm den Lohn nicht zu bezahlen. Genauso wäre Gott ungerecht, bezahlte er dem Sünder nicht seinen ver­dienten Lohn.

»die Gnadengabe Gottes … [ist] ewiges Leben«: Das ewige Leben ist nicht verdient; es ist eine Gnadengabe. Aus Gnade gab uns Gott sei­nen Sohn; in seiner Gnade gab Jesus Christus sich selbst für uns dahin; aus Gnade erließ uns Gott unsere ganze Schuld. Das ewige Leben beruht ganz auf dem Verdienst eines anderen. Gott gibt es allen, die an das Evangelium glauben.

»in Christus Jesus, unserem Herrn«: Das ewige Leben ist in Chris­ tus, unserem Herrn. Paulus sagt hier nicht »in Christus Jesus, unserem Heiland«. Haben wir das gut verstanden? Wer zu Christus als dem Retter kommt, erkennt, dass sein Retter Herr ist; ja, er versteht, dass Errettung genau darin besteht, dass wir von der Herrschaft der Sünde frei gemacht und unter die Herrschaft Jesu Christi gestellt werden. Ewiges Leben heißt, aus ihm, in ihm und für ihn zu leben: »Denn das Leben ist für mich Christus« (Phil 1,21).

Anmerkungen zu Kapitel 6

»In diesem Kapitel spricht der Apostel davon, dass jene Christum in falscher Weise zerreißen, welche sich einbilden, er gewähre uns seine freie Gerechtigkeit ohne Neuheit des Lebens« (J. Calvin, Der Brief an die Römer, Band 5.1, S. 301).

V. 1­-2 – »Sin, and man for sin, is the object of the wrath of God. If the object of the wrath of God, then his case is most dreadful; for who can bear, who can grapple with the wrath of God? – »Sünde und der Mensch wegen der Sünde sind der Gegenstand des Zornes Gottes. Wenn er der Gegenstand des Zornes Gottes ist, dann ist sein Fall furchtbar. Denn wer kann Gottes Zorn ertragen, mit ihm ringen?« (John Bunyan, Light for them that Sit in Darkness, in: The Works of John Bunyan, vol. I, S. 408).

V. 2 – »Wir wenden uns von der Sünde ab und Gott zu, wenn wir Chris­ tus als Retter aufnehmen. Es ist daher nach den Worten des Apostels ein Widerspruch in sich zu sagen, dass die Rechtfertigung durch die Gnade ein Freibrief zur Sünde sei, ebenso sehr wie zu sagen, Tod sei Leben, oder zu sagen, einer Sache sterben, heiße einer Sache leben« (Charles Hodge, Romans, S. 192).

V. 14 – »Dass ein Mensch der Gewalt der Lust unterworfen ist und nichts als das Gesetz hat, um ihr zu widerstehen … zeigt in aller Klarheit, dass die Sünde seinen Willen und seine Zuneigungen im Griff hat … Das Hauptargument des Paulus, dass die Sünde nicht über die Gläubigen herrschen wird, lautet, dass sie nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind« (John Owen, The Mortification of Sin, S. 101).

Kapitel 7 [229]

Im vorhergehenden Kapitel erfuhren wir, dass wir von der Sünde befreit worden sind, und wir verstehen gut, dass das notwendig ist. Hier ver ­ nehmen wir nun, dass wir auch vom Gesetz befreit werden müssen. Wir hatten in 4,15 gelesen, dass das Gesetz Zorn bewirkt. Sollen wir vom Zorn befreit sein, müssen wir daher auch vom Gesetz befreit sein; und wir hatten in 6,14 gelesen, dass die Sünde nicht über uns herrscht, weil wir nicht mehr unter Gesetz sind. Das aber bedeutet, dass wir so lange unter der Herrschaft der Sünde bleiben, wie wir unter dem Gesetz sind. Die Rechtfertigung von der Sünde geschah »ohne Gesetz« (3,21); mit der Rechtfertigung wurden wir gleichzeitig von der Sünde befreit (6,1­10), und das heißt, dass auch die Befreiung von der Macht der Sünde zu einem Leben der Heiligung (6,22) ohne Gesetz geschah. Das Gesetz hat in keiner Weise mitgewirkt an der Errettung; es kam nur daneben ein (5,20), um dem Sünder zu zeigen, dass er ein Sünder ist, und mehr nicht.

Nun stellt sich aber die Frage, ob Gott den Menschen entbinden könne von den Forderungen, die er selbst ihm einst auferlegt hatte, ohne sich selbst zu widersprechen? Wird der Mensch, der das Gesetz empfing, dem Gesetzgeber nicht untreu, wenn er das Gesetz aufgibt, nachdem er sich feierlich vor Gott zum Gehorsam auf dasselbe verpflichtet hat (siehe 2Mo 19,7­8)?

Als Erstes zeigt Paulus, dass wir nicht durch Untreue, sondern auf einem ordentlichen Weg von unserer Bindung an das Gesetz befreit wur­den – nämlich, indem wir starben (V. 1­4a). Darauf erklärt er, warum wir vom Gesetz frei werden mussten: Solange wir unter Gesetz waren, pro­duzierten wir nur Sünde, wie Paulus in diesem Kapitel zeigt. Das Gesetz wirkt folgende Dinge:

Es reizt die Leidenschaften zur Sünde: 7,5a. Es bringt dem Tod Frucht: 7,5b. Es hält uns fest, sodass wir nicht im Geist dienen können: 7,6. Es offenbart Sünde: 7,7. Es veranlasst jede Lust: 7,8. Es lässt die Sünde aufleben: 7,9. Es führt zum Tod: 7,10­-11.

Erst damit, dass wir vom Gesetz frei und an Christus gebunden werden, bringen wir gute Früchte (V. 4b­6). Wenn Paulus gesagt hat, dass das Gesetz die Leidenschaften der Sünde erregt und damit zum Tod führt, erhebt sich die Frage, ob denn das Gesetz Sünde sei (V. 7a), worauf er antwortet, dass das Gesetz Erkenntnis der Sünde wirkt (V. 7b) und dass es uns tötet wegen der Sünde, die in uns ist (V. 8-­11). Das aber be deutet, dass das Gesetz heilig und gut sein muss (V. 12). Es ist also nicht das gute Gesetz, das schuld ist an meinem Tod, sondern meine Sünde (V. 13). In den Versen 14­23 fährt Paulus fort und zeigt, dass das Gesetz, so göttlich und so wirkungsvoll es ist, niemanden befähigen kann, sich des Bösen zu enthalten (V. 14-­-7) oder das Gute zu tun (V. 18­-23). Diese Erkenntnis weckt die Frage danach, wer uns denn befreien könne von dieser Macht, die in unseren Gliedern, die in diesem Leib des Todes ist (V. 24). Die Antwort hat er bereits in V. 4 gegeben, und in V. 25 gibt er sie noch einmal: Wir finden Befreiung »durch Jesus Christus, unseren Herrn«. Damit hat Paulus demonstriert, dass das Gesetz, das zur Recht­fertigung nicht taugt, auch zur Heiligung untauglich ist. In Gal 2,19 sagt Paulus darum, dass man Gott nur leben kann, wenn man nicht mehr unter Gesetz ist: »Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott leben kann.«

Wenn wir befreit werden wollen von der Schuld und von der Herrschaft der Sünde und wenn wir befähigt werden wollen, das Gute zu tun, müs­sen wir eine bessere Hilfe finden als das Gesetz. In 8,3 wird Paulus sagen, dass Gott das getan hat, was dem Gesetz unmöglich ist: Er hat die Sünde an Christus gerichtet und uns damit befreit von der Schuld und von der Macht der Sünde, und er hat uns mit seinem Geist begabt, durch den wir dem Willen Gottes leben können (8,4-­16).

Was ist die Beziehung des Christen zum Gesetz? 1. »Ihr seid nicht unter Gesetz« (Röm 6,14). 2. »Ihr [wurdet] … dem Gesetz getötet« (Röm 7,4). 3. »Wir [sind] vom Gesetz losgemacht« (Röm 7,6). 4. »Das Gesetz [ist] … durch das Fleisch kraftlos« (Röm 8,3). 5. »Christus ist das Ende des Gesetzes, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit« (Röm 10,4). 6. »Ich bin nicht unter Gesetz« (1Kor 9,20). 7. »Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben« (Gal 2,19). 8. »Da der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister [dem Gesetz]« (Gal 3,25). 9. »Wider solche gibt es kein Gesetz« (Gal 5,23). 10. »Für einen Gerechten ist das Gesetz nicht bestimmt« (1Tim 1,9). 11. »Das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht« (Hebr 7,19). 1. Vom Gesetz kann ich nicht anders frei werden als durch Sterben (7,1­-6) [231]

Paulus vergleicht die Bindung des Juden an das Gesetz mit der Bindung der Ehefrau an ihren Mann. Nur der Tod kann diese Bindung auflösen: Wie die Ehefrau dann frei ist, einen anderen zu heiraten, wenn der Mann gestorben ist, so kann der Jude nur dann frei werden vom Gesetz, wenn er stirbt193 »Vgl. … das rabbinische Wort: ›Wenn ein Mensch gestorben ist, ist er frei geworden vom Gesetzund Gebotserfüllungen‹ (Billerbeck III, S. 232 [vollständige Angabe: Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. III, München:C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck, 1926], zitiert von A. Pohl, Der Brief des Paulus andie Römer, S. 140).. Christus erfüllte in seinem aktiven Gehorsam im Leben und in seinem passiven Gehorsam im Leiden und Sterben das ganze Gesetz. Mit seinem Tod ist das Gesetz erfüllt. Als Christus den Fluch des Gesetzes auf sich nahm und starb (siehe Gal 3,13), starb der Gläubige mit ihm (Röm 6,4­6); er wurde im Tod Christi dem Gesetz getötet (7,4a). Damit, dass Christus das Gesetz in seinem aktiven wie auch in seinem passiven Gehorsam erfüllte und der Gläubige mit ihm starb, sind alle Forderungen des Gesetzes an den Gläubigen ausgeschöpft worden; Gott kann ihn aus der Bindung an dasselbe entlassen und ihn nun an einen anderen bin­ den – an Christus, den aus den Toten Auferweckten. Solange der Mensch an das Gesetz gebunden ist, bringt er nur böse Früchte und steht damit unter dem Fluch (Gal 3,10); wenn er an Christus gebunden ist, bringt er nur gute Früchte (7,4b).

1 Oder wisst ihr nicht, Brüder (denn ich rede zu denen, die Gesetz kennen), dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt?

In Kapitel 6 zeigt Paulus, dass wir der Sünde sterben müssen; ent­sprechend beginnt er im ersten Vers mit einer Aussage über die Sünde, und er verwendet bis zum Ende des Kapitels das Wort »Sünde« 16­mal. In Kapitel 7 lehrt Paulus, dass wir auch dem Gesetz sterben müssen; ent­ sprechend eröffnet er das Kapitel mit einer Aussage über das Gesetz, und er verwendet bis zum Ende des Kapitels das Wort »Gesetz« 23­mal. Er stellt die Situation, in welcher der Mensch sich befindet, gleich an den Anfang seiner Erörterungen: »Wisst ihr nicht … dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt?« Von dieser Tatsache aus gehend, erklärt er, wie der Mensch von dieser Herrschaft frei werden kann (V. 2­4a), dann sagt er, warum das notwendig ist (V. 4b­6). Unter »Brüder« versteht Paulus wie üblich die Glaubensgeschwis ter; sie waren Leute, die das »Gesetz kennen«, und besonders galt das für ehemalige Juden194 Man kann nicht gleichzeitig Jude und Christ sein, d. h., es gibt keine »Judenchristen«; es gibt in der Gemeinde nur Christen, von denen einige einst Juden waren, so wie andere einst Heiden waren. In Christus sind die ehemaligen Juden und Heiden »ein neuer Mensch« (Eph 2,15; siehe auch Gal 3,28;Kol 3,11)., die mit dem Gesetz aufgewachsen waren und für die es besonders schwer war zu begreifen, dass es seine Aufgabe erfüllt hatte und abgelegt werden musste. Sie wussten, dass »das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt«. In 6,14 hat Paulus gesagt, dass sie nicht mehr unter Gesetz seien. Aber sie lebten ja noch. Wie konnte er dann so etwas behaupten?

2 Denn die verheiratete Frau ist durch Gesetz an den Mann gebunden, solange er lebt; wenn aber der Mann stirbt, ist sie losgemacht vom Gesetz des Mannes.

3 So wird sie denn, während der Mann lebt, eine Ehebrecherin geheißen, wenn sie einem anderen Mann [zu eigen] wird; wenn aber der Mann stirbt, ist sie frei vom Gesetz, sodass sie nicht eine Ehebrecherin ist, wenn sie einem anderen Mann [zu eigen] wird.

Wie die Ehefrau durch das Gesetz an den Ehemann gebunden ist, ist der Mensch an Gottes Gesetz gebunden. Entzieht er sich den Forderungen des Gesetzes, ist er schuldig wie eine Ehefrau, die ihren Mann verlässt und sich einen anderen nimmt. Stirbt aber der Mann, ist durch den Tod die Bindung an den Mann gelöst, und sie ist frei (1Kor 7,39). Anhand dieser einen Verordnung des Gesetzes zeigt Paulus den einzigen Weg, auf dem der Mensch von den Forderungen des Gesetzes frei werden kann. »die verheiratete«, hypandros (nur hier belegt), wörtlich: »unter einem Mann seiend«. Das entspricht ganz dem hebräischen beʻulāh, einem baʻal, einem Besitzer, unterstellt (1Mo 20,3; 5Mo 22,22; Jes 54 1,; 62,4). Das entsprechende Verb bāʻal bedeutet »besitzen, Herr sein« (Jes 26,13).

4 Somit wurdet auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet durch den Leib des Christus, um einem anderen [zu eigen] zu werden, dem aus den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht brächten.

Wenn Paulus »somit« sagt, bezieht er sich auf das, was er in Kapitel 6 sagte: Damit, dass die »Brüder« mit Christus gekreuzigt wurden, starben sie, und damit, dass sie starben, wurden sie »dem Gesetz getötet«. Auf diese Weise hat der Tod sie von der Bindung an das Gesetz befreit. Aber warum sagt Paulus nicht, dass es »durch Christus« oder »durch den Tod Christi« geschah, sondern »durch den Leib des Christus«? Er will daran erinnern, dass der ewige Gottessohn Mensch werden und damit einen menschlichen Leib annehmen musste. Gott bereitete seinem Sohn einen Leib (Hebr 10,5), damit er uns »durch das ein für alle Mal ge schehene Opfer des Leibes Jesu Christi« heiligen konnte (Hebr 10,10). Gott hat uns »versöhnt im Leib seines Fleisches durch den Tod« (Kol 1,22). Er wurde als Mensch in seinem menschlichen Leib unter Gesetz getan (Gal 4,4); er wurde am Leib beschnitten (Lk 2,21). Er erfüllte in seinem Leben des Gehorsams aktiv alle Forderungen des Gesetzes. Anders als in uns wirk­ ten in den Gliedern seines Leibes nicht die Leidenschaften der Sünden (V. 5).

Diesen Leib, in welchem er nie gesündigt hatte, opferte er am Ende sei­ nes irdischen Weges Gott (Hebr 9,14), um so auch passiv alle For derungen des Gesetzes zu erfüllen: Er trug die vom Gesetz geforderte Strafe für die Übertretung des Gesetzes; er erlitt den Tod des Gesetzes übertreters. So wurde er zum Stellvertreter von uns allen, die wir an ihn glauben. Und auf diesem Weg hat er uns von jeder Forderung des Ge setzes befreit, oder wie Paulus sich ausdrückt: Wir sind »dem Gesetz getötet« worden. Ist einer tot, hat das Gesetz seine Forderungen an ihn aus geschöpft. Es kann ihn nicht mehr belangen. Sind wir mit Christus ge storben (Röm 6,8; Gal 2,20), sind wir von der Bindung an das Gesetz frei.

Dass wir von der Herrschaft des Gesetzes wegstarben, ist aber nicht das Ende. Vielmehr sind wir dem Gesetz getötet worden, »um einem anderen [zu eigen] zu werden«, nämlich »dem aus den Toten Auferweckten«. Wir sind nun an Christus gebunden, der aus dem Tod auf­ erstand und mit dem auch wir auferweckt wurden zu einem neuen Leben (6,4). Gott hat uns mit ihm verbunden als »Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen« (Eph 5,30), »damit wir Gott Frucht brächten«. Bin ich mit ihm verbunden, bringe ich Gott Frucht (Joh 15,4­5).

5 Denn als wir im Fleisch waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tod Frucht zu bringen.

»Als wir im Fleisch waren«, als wir in der Sünde lebten und kein Leben im Geist kannten, »wirkten die Leidenschaften«, pathēma195 (wie Gal 5,24), in uns. Meistens wird das Wort verwendet im Sinne von »Lei­ den« wie in Röm 8,18; 2Kor 1,5.6.7 etc. Leidenschaften sind Dinge, die wir erleiden, Dinge, die an uns geschehen, die stärker sind als wir. Lei­ 195 Von pascw, paschō (sprich: pas-chō), leiden, Aorist-Stamm: path­. denschaften »der Sünden« bedeutet demgemäß, dass der Drang zum Sündigen so stark ist, dass wir ihm erliegen. Die Leidenschaften der Sünden sind »durch das Gesetz«. Die Feinde des Evangeliums behaupteten, das Evangelium verleite Men­ schen zur Sünde, indem es sie vom Gesetz wegruft. Paulus dreht hier den Spieß um und sagt: Gerade damit, dass man unter dem Gesetz bleibt, unterliegt man der Sünde und sündigt beständig; denn das Gesetz ist, wie Paulus in 1Kor 15,56 sagt, »die Kraft der Sünde«. Es fördert die »Leidenschaften der Sünden« (Röm 7,5), es treibt sie an und macht sie über­ strömend (siehe oben Auslegung zu 5,20).

Die Leidenschaften »wirkten … in unseren Gliedern«, in unserem Leib der Sünde (siehe Auslegung zu 6,6), und so brachten wir »dem Tod Frucht«. Das war die Frucht, die wir damals hatten von den Dingen, deren wir uns jetzt schämen (6,21). Jakobus sagt: Die Lust empfängt die Sünde, und die Sünde, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod (Jak 1,15).

6 Jetzt aber sind wir vom Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, worin wir festgehalten wurden, sodass wir dienen in [dem] Neuen [des] Geistes und nicht in [dem] Alten [des] Buchstabens.

Das »Jetzt aber«196 Siehe auch Röm 3,21. markiert den Wechsel vom Alten zum Neuen, vom Leben in Knechtschaft zum Leben in Freiheit (vgl. Gal 5,1), vom Leben im Fleisch zum Leben im Geist. Wir »sind … vom Gesetz losgemacht«, denn wir sind »dem gestorben …, worin wir festgehalten wurden«. Das Gesetz hielt uns fest, es band uns an die Sünde. Frei gemacht vom Gesetz, dienen wir »in [dem] Neuen des Geistes und nicht in [dem] Alten [des] Buchstabens«. In 8,3­4 sagt Paulus das Gleiche mit an deren Worten.

2. Ist das Gesetz Sünde? Nein: Ich bin sündig (7,7-13) [235]

Das Gesetz ist »Anlass« zur Sünde (V. 8), nicht Ursache der Sünde. Das illustriert Paulus in diesen Versen an seinem eigenen Beispiel: Als das Gebot zu ihm kam, lebte die Sünde auf (V. 9), und gerade damit wurde offenbar, dass das Gesetz heilig und gut ist. Und die Sünde wurde damit gleichzeitig offenbar als überaus sündig, indem sie durch dieses Gute den Tod bewirkte (V. 10-­13).

7 Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Keineswegs! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nicht gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: »Du sollst nicht gelüsten!« .

8 Die Sünde aber nahm das Gebot zum Anlass und bewirkte jede Lust in mir; denn ohne Gesetz [ist die] Sünde tot..

Auf die Frage »Ist das Gesetz Sünde?« antwortet Paulus: »Keines­wegs!« Nicht das Gesetz ist Sünde, sondern er selbst ist sündig; aber das hätte er »nicht erkannt als nur durch Gesetz«. Beachten wir, dass Pau­lus hier nicht sagt, dass er lediglich seine sündigen Taten erkannte, son­dern »die Sünde«, d. h. die Sünde in ihrem ganzen Wesen. Das Gesetz ist zunächst wie ein Spiegel, der mir zeigt, dass ich einen Flecken im Gesicht habe; aber das Gesetz leuchtet tiefer; denn es ist »geistlich«, und darum hat es die Kraft, mir zu zeigen, dass ich »fleischlich« bin (V. 14), dass meine ganze Natur Feindschaft ist gegen Gott (siehe 8,7). »Denn auch von der Lust hätte ich nicht gewusst …«: Der Sün­ der ist so gefangen in der Sünde, dass er sie nicht erkennt. Er dient sei­nen Lüsten und merkt nicht, dass das eine böse Sache ist. Darum ist das Gesetz so heilsam. Er zeigt mir, dass Sünde Sünde ist und dass die Sünde in mir ist; und zwar zeigt es das durch das Gebot: »Du sollst nicht gelüsten!« Erst wenn jemand ernst macht mit diesem Gebot, beginnt er zu erkennen, dass sein ganzes Wesen beständig Dinge begehrt, die er nicht begehren darf: »Die Sünde … nahm das Gebot zum Anlass und bewirkte jede Lust in mir.« Das Wort »Anlass« ist hier wichtig (es erscheint wieder in V. 11). Das Gesetz ist nicht die Ursache, sondern der Anlass zur Sünde. Und gerade daran muss ich erkennen, dass die Sünde mich ganz beherrscht und wie übel die Sünde ist: Sie nimmt Gottes hei­ liges Gebot zum Anlass, beständig Dinge zu begehren, die Gott ver boten hat. Paulus wurde das Gesetz mit seinen Geboten zum Anlass, Ruhm und Ansehen zu begehren, Dinge, die der Mensch nicht begehren darf, weil alle Ehre und aller Ruhm Gott gehören (Jes 42,8). Man kann dieses Wort »Anlass«, aphormē, auch mit »Auslöser« übersetzen197 aphormē ist zusammengesetzt aus apo­, »weg, weg von«, und hormaō, »losstürzen« (von derSchweineherde gesagt in Lk 8,33 und von den Obersten in Apg 7,57); es begegnet im NT noch inRöm 7,11; 2Kor 5 12,; 11,12; Gal 5,13; 1Tim 5,14.. Durch das Gebot wird die Sünde in mir ausgelöst; die Sünde bekommt durch das Gebot ihre verderbliche Kraft. Paulus sagt in 1Kor 15,56: »Der Stachel des Todes ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber das Gesetz.« Der Tod ist wie der Skorpion, der einen Stachel hat, mit dem er schlägt und Tod bringt. Dieser Stachel ist die Sünde; aber die Sünde muss wie der Stachel des Skorpions durch eine Kraft bewegt werden. Was der Sünde die Kraft gibt zuzuschlagen, ist das Gesetz.

»ohne Gesetz [ist die] Sünde tot«: Sie war tot für mich, d. h., ich empfand die Sünde nicht. Nichts störte sie auf, denn da war kein Gebot, das die Sünde sofort zum Widerspruch gereizt hätte. .

9 Ich lebte einst ohne Gesetz, als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf,

10 ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben gegeben, dieses erwies sich mir zum Tod.

11 Denn die Sünde nahm Anlass durch das Gebot, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe.

Man beachte in diesen drei Versen die Ausdrücke »ich … starb« (V. 10a), »zum Tod« (V. 10b), »tötete mich« (V. 11). Damit ist mit Nachdruck gesagt, was das Gesetz dem Menschen zufügt.

Paulus hatte als Jude natürlich nie »ohne Gesetz« gelebt in dem Sinn, dass er es weder gekannt noch beachtet hätte. Er beachtete es sogar sehr genau, wie er in Phil 3,3­6 von sich sagt. Und dennoch lebte er ohne Gesetz, nämlich in dem Sinn, dass er mit sich ganz zufrieden war. Das Gesetz beunruhigte ihn nicht; denn er richtete sich nach dem Buch­staben des Gesetzes und hielt äußerlich, was es von ihm verlangte. Auch wenn er vielleicht Einzelsünden beklagt haben mag, empfand er nicht die Macht der Sünde, dieses Böse, das in ihm wohnte. Das änderte sich erst, »als … das Gebot kam«, als es ihn in geistlicher Kraft traf und er begriff, dass das Gesetz geistlich ist (siehe V. 14), das heißt, dass es das Herz und die inneren Beweggründe allen Handelns ausleuchtet. Solange das Gesetz nicht in göttlicher Kraft auf ihn traf, ahnte er nicht die Macht der Sünde. Das böse Begehren, das ihn beherrschte und steuerte, hatte sich ihm noch nie gezeigt; er hatte noch keine Ahnung von der furcht­ baren Macht, die ihn im Griff hatte, bis ihn das göttliche Gebot traf. Da »lebte die Sünde auf«; sie wurde ihm plötzlich zu einer furcht baren Rea­ lität, und die Folge war, dass er »starb«. Sie erschlug den selbstbewussten und mit sich zufriedenen Saulus von Tarsus. Und er begriff: »Das Gebot, das zum Leben gegeben198 Siehe 3Mo 18,5 und Röm 10,5., dieses erwies sich mir zum Tod«. Er begriff, dass er das Gesetz nie wirklich gehalten hatte, sondern im Gegenteil: Er hatte es in allen Stücken gebrochen, indem er gegen das oberste Gebot sündigte (5Mo 6,5) und in wildem Hass gegen Gottes geliebten Sohn anrannte (siehe Apg 9,4­5). Er stand damit unter dem Todesurteil. Und als er verstand, was das Gesetz wirklich ist und was es fordert, begriff er erst, wie sündig die Sünde ist, wie vollständig er sich von der Sünde hatte täuschen lassen199 Hebr 3,13 spricht vom »Betrug der Sünde«.: »Denn die Sünde nahm Anlass durch das Gebot, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe.« Die Sünde täuschte mich: Ich rühmte mich des Gesetzes und fand Genugtuung im Gebot, weil die Sünde mir vorgab, ich gefalle Gott, ich sei ein trefflicher Mensch. So stellte ich mich, durch die Sünde geblendet, nicht ohne Selbstgefälligkeit unter das Gesetz – und damit unter das Todesurteil Gottes. So täuschte mich die Sünde und tötete mich durch das Gebot.

12 Somit ist das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut.

13 Wurde also das Gute mir zum Tod? Das sei ferne! Sondern die Sünde, damit sie als Sünde erscheine, indem sie durch das Gute mir [den] Tod bewirkte, damit die Sünde überaus sündig werde durch das Gebot.

Wenn Paulus sagt, dass die Sünde ihn tötete durch das Gebot, soll nie­mand denken, das Gesetz mit seinen Geboten sei demnach etwas Schlech­tes. Daher fährt er fort und sagt, dass das Gesetz, da es von Gott gegeben wurde, so ist wie Gott selbst: Es ist »heilig«, und alle Gebote des Gesetzes, zu dem auch das eben erwähnte zehnte Gebot gehört, sind »heilig und gerecht und gut«. Kann man aber etwas »gut« nennen, wo es uns doch den Tod bringt? Paulus greift die Frage auf: »Wurde also das Gute mir zum Tod?« Er weist das sofort zurück und erklärt, dass nicht das Gebot daran schuld ist, »sondern die Sünde«. Gott lässt die Sünde gerade in dieser Weise das Gebot gebrauchen, »damit sie als Sünde erscheine«. Die Sünde muss als das offenbar werden, was sie ist, sonst wird ein Mensch nie Befreiung von der Sünde begehren. Gott gab also in seiner Heiligkeit das Gesetz und mit diesem auch das zehnte Gebot, das uns zeigt, dass wir in unserem Innersten böse sind, denn wir begehren Dinge, die wir nicht begehren dürfen. Dieses bloße Begehren ist schon Sünde, und diese Sünde bewirkt den Tod. Dass sie aber »durch das Gute … [den] Tod bewirkte«, zeigt erst, wie groß das Übel der Sünde ist. Sie bewirkt, dass der Mensch eine gute Gabe Gottes in so übler Weise verwendet, dass sie nur zu Schlechtem führt. Auf diese Weise wird »die Sünde überaus sündig … durch das Gebot«. Das Gesetz macht Sünde als Sünde sichtbar, wie ein Thermometer die Körpertemperatur angibt. Das Thermometer kann indes nur zeigen, dass ich Fieber habe, aber es kann das Fieber nicht senken. Das Gesetz kann mir zeigen, wie groß die Macht der Sünde in meinem Leben ist, aber ich kann durch das Gesetz der Sünde nicht Herr werden.

3. Wer wird mich entreißen diesem Leib des Todes? (7,14­-24) [239]

Aufgrund dieser Verse hat man seit den ersten Jahrhunderten der christ­lichen Kirche heftig darüber diskutiert, wer das Ich ist, das hier spricht. Spricht hier Paulus von sich, so wie er ist, während er diese Worte schreibt, d. h. als jemand, der durch den Glauben gerechtfertigt und von Neuem geboren ist? Oder spricht hier Paulus von sich, wie er einst als Ungläubiger war? Nun geht es Paulus im vorliegenden Abschnitt nicht um diese Frage. Wir hatten oben zu V. 1 vermerkt, dass er dort ankündigt, was er behandeln wird: Der Mensch steht unter der Herrschaft des Gesetzes, solange er lebt (V. 1), und damit steht er auch unter der Herrschaft der Sünde (wie er in 5,20 und 6,14 bereits gesagt hat). Darum muss er vom Gesetz befreit werden. In den Versen 14 bis 24 will er nun zeigen, in wel­ches Elend man versinkt, wenn man meint, das Gesetz halten zu müssen. Wegen der Sünde, die im Menschen wohnt (V. 17.20), tut er das Böse, das er nicht tun will (V. 15­16), während er das Gute, das er tun will, nicht tut (V. 19). Damit zeigt er noch einmal und belegt es ausführlich, dass wir vom Gesetz befreit werden müssen. Der Christ, der durch Glauben gerechtfertigt ist, ist dem Gesetz gestorben; er darf keinesfalls, nachdem er begriffen hat, dass er nicht durch Gesetzeswerke gerecht fertigt werden konnte, sich jetzt unter das Gesetz stellen, als ob er es erfüllen müsste, um als Gerechter zu bestehen. Warum ist das fatal? Das Gesetz wendet sich an das Vermögen des Menschen; der Mensch kann aber keines tun von den guten Dingen, die das Gesetz fordert und die er, seit er Christ geworden ist, tun will. Damit ist gezeigt, dass das Gesetz, das nicht recht fertigen kann, auch nicht zum guten Tun befähigen kann. Das ist die Hauptaussage des ganzen Abschnittes. Wir wollen dem Argument des Apostels zuerst Vers um Vers folgen, um erst am Schluss auf die untergeordnete Frage einzugehen, was für ein Mensch das sei, der da redet.

14 Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft;

Wenn Paulus »ich aber« sagt, dann stellt er in der ersten Person dar, was für alle Christen gilt (wie etwa auch in Gal 2,17­21). Es ist also der Abschnitt nicht in erster Linie als eine Biografie des Apostels zu ver­stehen.

Am Wort »denn« sollen wir merken, dass der Apostel die in den Versen 12 und 13 gemachten Aussagen begründet und näher erörtert. Er hatte gesagt, dass das Gesetz heilig ist und dass es darum nicht am Gesetzlie­ gen kann, dass es mir zum Tod gereicht, sondern dass es die Sünde ist, die mir den Tod bewirkt. Warum ist das so? Es ist so, weil »das Gesetz geistlich ist, ich aber … fleischlich« bin. Ich bin es, der dem Gesetz nicht entsprechen kann. Das ist die einfache Grundaussage. Aber was meint Paulus genau, wenn er sagt, das Gesetz sei geist­lich? Er meint damit, was er in V. 12 schon gesagt hatte, dass es so ist, wie Gott ist, nämlich heilig und gerecht, und dass es geistlich ist, so wie Gott Geist ist. In Kapitel 2 hatte er den Juden gezeigt, dass sie das Gesetz nur auf das Äußere anwandten: auf die offenkundigen Tatsünden. Damit reduzierten sie das Gesetz auf den bloßen Buchstaben und sahen nicht, dass es auf das Innere zielt, wie Paulus an der vom Gesetz geforderten Beschneidung demonstriert. Den Juden genügte, dass sie am Fleisch beschnitten waren; ein wahrer Jude aber ist, »der es im Verborgenen ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben« (2,29). Das Gesetz fordert ein reines Herz, es richtet die inneren Beweg­ gründe, wie unser Herr in der Bergpredigt lehrte. Nicht erst mit dem vollzogenen Totschlag hat man das göttliche Gebot übertreten, sondern bereits damit, dass man im Herzen den Nächsten verachtet und ihn einen Tor heißt (Mt 5,21­22). Und nicht erst mit dem vollzogenen Ehebruch hat man die Ehe gebrochen, sondern bereits mit dem im Herzen wohnenden Begehren (Mt 5,27­28). Wer sich in dieser Weise im Licht des Gesetzes erkannt hat, muss bekennen: »Ich … bin fleischlich.« Nun müssen wir beachten, dass hier für »fleischlich« nicht sarkikós steht, sondern sarkinós (wie in 2Kor 3,3; Hebr 7,16). Ersteres ist das Gegenteil von geistlich, bedeutet also »fleischlich« im Sinne von »ganz von der Sünde regiert« (wie etwa 1Kor 3,1 zeigt). Wer in diesem Sinn »fleischlich ist«, ist noch »im Fleisch«, d. h., er ist ein Ungläubiger. Der Christ ist aber »nicht im Fleisch, sondern im Geist«, da ja Gottes Geist in ihm wohnt (Röm 8,9). Sarkinós bedeutet wörtlich »fleischern«; das heißt so viel wie »von Menschenart; von solcher Beschaffenheit, wie der Mensch im Fleisch ist, der noch den Umständen und Bedingtheiten des Lebens auf dieser Erde unterstellt ist«. Der Christ ist als Gerechter sei­ ner menschlichen Natur nach noch immer »unter die Sünde verkauft«. Obwohl er zur neuen Ordnung gehört, lebt er als Mensch im nicht er lösten Leib noch in der alten Ordnung. Die Seele des Menschen ist erlöst, und er ist von der Sünde gerechtfertigt, doch steht er als Mensch in seinem »Leib der Sünde« (Röm 6,6) in dieser Welt der Sünde. Er ist der Stellung nach ganz gerechtfertigt in Christus, der Leib mit seinen Gliedern wird aber so lange Sünden produzieren, bis auch der Leib erlöst ist (Röm 8,23). Dann wird er von der Sünde, die in seinem Leib ist, befreit sein. Wir können daher sagen, er sei in dieser Welt stets simul iustus et peccat[or] – Gerech ter und Sünder zugleich (Martin Luther [vgl. WA 56, 347, 3­4]).

15 denn was ich erwirke, erkenne ich nicht; denn nicht, was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus.

16 Wenn ich aber das, was ich nicht will, tue, stimme ich dem Gesetz bei, dass es recht ist.

17 Nun aber erwirke nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde.

18 Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; denn das Wollen ist bei mir vorhanden, das Vollbringen dessen, was recht ist, aber nicht.

In diesem Vers fällt das Stichwort »will« und eröffnet damit eine Reihe von Aussagen über den guten Willen, die bis V. 20 reicht. Zuerst hatte Paulus gesagt, dass er fleischlich sei; nun richtet er den Lichtstrahl auf den innersten Kern des Problems: Es ist der Wille, der zwar bewegt wor­ den ist, das Gute zu wählen, aber die Kraft nicht hat, das gewollte Gute zu tun.

Am Wort »denn« erkennen wir wieder, dass der Apostel den in V. 14 geäußerten Gedanken erläutert. Woran wird offenbar, dass ich »unter die Sünde verkauft« bin (V. 14)? Daran, dass ich »nicht [erkenne]«, »was ich erwirke«, d. h., ich erkenne nicht an, was ich da immer wieder tue200 Das hier verwendete Verb ginōskō bedeutet mehr als nur wissen oder erkennen. Gott erkennt uns,d. h., er wendet sich uns zu, er nimmt sich unser an (Röm 8,28). Umgekehrt, wenn er sagt, er erkennejemanden nicht, dann hat er keine Beziehung zu jenem, sondern wendet sich von ihm ab und verwirft ihn (Mt 7,23). Wenn Paulus also sagt, er erkenne nicht, was er tut, will er sagen, dass er sich damit nicht identifizieren und es nicht gutheißen kann.. Warum kann ich mein eigenes Tun nicht anerkennen? Der nächste Satz erklärt es: »Denn nicht, was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse.« Das zeigt, dass die Sünde stärker ist als das gute Wollen; es hindert mich daran, das Gute, das ich als gut erkannt habe, zu tun. Damit aber wird etwas offenbar, nämlich erstens, dass ich an erkenne, dass das Gesetz »recht ist«. Wenn ich mich selbst dafür verurteile, dass ich tue, was ich nicht will, stimme ich mit dem Gesetz überein, denn dieses verurteilt mein Tun ebenso. Da stellt sich aber die nächste Frage: Wie kommt es denn, dass die Sünde stärker sein kann als mein gutes Wollen? Mit Paulus muss ich einsehen: »Nun … erwirke nicht mehr ich es« – etwas oder jemand ist stärker und vereitelt meinen Vor­satz –, »sondern die in mir wohnende Sünde«201 Wenn es hier heißt, dass »nicht mehr ich« sündige, sondern »die in mir wohnende Sünde«, werdenwir nicht von unserer Verantwortung losgesprochen. Da die Sünde in mir wohnt, bin ich allein schulddaran, dass ich sündige. Es ist mein eigenes sündiges Wesen, das sich durchsetzt, und darum habe ichkeine Entschuldigung.. Der Mann, zu dem das Gebot in geistlicher Kraft gekommen ist (V. 9), wird immer tiefer in die Er kenntnis der Sünde geführt. Er sieht, dass er nicht nur »unter die Sünde verkauft« ist (V. 14), sondern dass es noch schlimmer um ihn steht: Die Sünde wohnt in ihm; sie ist mit seinem ganzen Wesen ver­ woben. Man beachte wohl, dass Paulus sagt: »Nun … erwirke nicht mehr ich es.« Einst war er so eins mit der Sünde, dass er, bevor Gottes Gebot und Gottes Geist ihn erleuchtete, die Herrschaft der Sünde nicht als Sklaverei empfand; sie belog ihn dergestalt, dass er mit der Sünde ganz eines Sinnes war und er nicht merkte, dass er in all dem williger Sklave war: »Wir führten einst alle unseren Wandel in den Begierden unseres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Gedanken und waren von Natur Kinder des Zorns« (Eph 2,3). Das ist »nicht mehr« der Fall; inzwischen ist er aufgewacht; Gottes Geist hat ihm gezeigt, wer er ist und was Sünde und was Gerechtigkeit ist (Joh 16,8­11), und nun begehrt er das Gute und hasst das Böse. Er will nicht sündigen, aber die Sünde wohnt in ihm; immer wieder tut er, was er nicht will. Warum ist das so? Das sagt er im nächsten Vers:

»Denn ich weiß, dass … in meinem Fleisch nichts Gutes wohnt«, nämlich keine Fähigkeit, das Gute, das ich will, zu tun. In mir als Mensch müsste etwas sein, was die in mir wohnende Sünde bezwingen könnte; etwas Gutes, das meinem guten Willen die Kraft gäbe, das Böse, das ich verabscheue, nicht mehr zu tun. Aber da ist nichts; ich bin als Mensch hilflos gegen die Sünde; in mir ist kein guter Rest zurückgeblieben. Wir müssen zu dieser Erkenntnis kommen; denn solange wir wähnen, in uns sei irgendein Vermögen, das Gute zu tun, werden wir nie verstehen, dass wir vom Gesetz loskommen müssen.

19 Denn das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das vollbringe ich.

20 Wenn ich aber das, was ich nicht will, tue, so erwirke nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde.

In den Versen 15 und 16 hatte Paulus gesagt, dass er das Böse, das er nicht will, tut. Hier sagt er, dass er das Gute, das er tun will, nicht tun kann. Dass er fleischlich und unter die Sünde verkauft ist, zeigt sich daran, dass er das Gute, das er will, nicht tut. Und erneut führt er alles zurück auf die Tatsache, dass die Sünde in ihm wohnt. Wenn er also das tut, was er nicht will, ist es die in ihm wohnende Sünde, die das wirkt. Mit dieser Wiederholung will Paulus zeigen, dass die Schlussfolgerung unausweichlich ist. Es gibt keine andere Erklärung dafür, dass alles Ver abscheuen des Bösen und Wollen des Guten stets vergeblich ist. Und damit will er de monstrieren: Wir müssen vom Gesetz befreit werden. 21 Also finde ich das Gesetz: Bei mir, der ich das Rechte tun will, ist das Böse vorhanden.

»Also finde ich das Gesetz«: Mit dem Wort »also« leitet Paulus die Zusammenfassung all dessen ein, was er in den Versen 14 bis 20 über sein gutes Wollen und fehlendes Vermögen gesagt hat. Er hat durch sein Ringen und Seufzen schließlich etwas gefunden, nämlich ein Gesetz, etwas Gesetzmäßiges, das immer gleich verläuft: Er, »der … das Rechte tun will«, muss immer wieder finden, dass »das Böse vorhanden« ist und dass dieses stärker ist als sein gutes Wollen.

22 Denn ich habe Freude am Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen,

23 aber in meinen Gliedern sehe ich ein anderes Gesetz, das Krieg führt gegen das Gesetz meines Sinnes und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.202 Calvin zu diesem Vers: »Paulus … redet hier von dem Kampf des Christen, den er auch [in] Gal 5,17 kurz berührt, jenem Kampf, den die Gläubigen im Widerstreit von Fleisch und Geist immerzu durchleben« (Institutio, a. a. O., II,2,27 [S. 150; Hervorhebungen hinzugefügt]). Paulus sagt in Gal 5,16: »Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen«, und er fährt in V. 18 fort: »Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, seid ihr nicht unter Gesetz.« Der Widerstreit von Fleisch und Geist im Christen führt dazu, dass er nicht tut, was er will, sondern – durch Gottes Geist befähigt – was Gott will. Das stimmt mit Röm 8,4 überein, denn da wandelt einer im Geist, und er vollbringt nicht, wozu die Lust des Fleisches ihn zu drängen sucht.

24 Ich elender Mensch! Wer wird mich entreißen diesem Leib des Todes?

»Denn ich habe Freude am Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen«: Dieser Satz erklärt, woher es kommt, dass Paulus »das Rechte tun will« (V. 21). In V. 16 hatte er gesagt, dass er dem Gesetz beistimmt; hier sagt er, dass er Freude hat am Gesetz Gottes (wie der Gerechte in Ps 1,1­2). Und diese Freude hat er »nach dem inneren Menschen«. Vom inneren Menschen spricht Paulus außer hier noch in 2Kor 4,16 und in Eph 3,16. In 2. Korinther sagt er, dass unser innerer Mensch täglich erneuert wird, während der äußere verfällt. Und er betet für die Chris­ ten in Ephesus, dass Gott sie durch seinen Geist mit Kraft stärken möchte »an dem inneren Menschen«. Das zeigt, dass hier jemand spricht, der um einen inneren Menschen weiß, jemand, der eine neue Natur bekommen hat. Im nächsten Vers sagt er:

»aber in meinen Gliedern sehe ich ein anderes Gesetz, das Krieg führt gegen das Gesetz meines Sinnes«: Ein Gesetz, das in seinen Gliedern ist, stellt er hier dem »Gesetz [seines] Sinnes« entgegen, dem Sinn des inneren Menschen. Gerne wollte er das Gesetz Gottes befolgen, aber da ist in seinen Gliedern ein anderes Gesetz, das stärker ist, und das bringt ihn »in Gefangenschaft … unter das Gesetz der Sünde«. Das ist ein sehr sprechender Vergleich. Die Sünde, die in seinen Glie­dern ist, führt Krieg gegen sein gutes Wollen, und sie besiegt ihn und macht ihn zum Kriegsgefangenen. Das hier verwendete griechische Wort aichmalōtizō bedeutet wörtlich »jemanden mit der Lanze oder dem Speer (aichmē) treiben«. Der Sieger hält dem Besiegten die Spitze des Speeres in den Nacken und treibt ihn so vor sich her. Der Gefangene ist ganz der Willkür des Siegers ausgeliefert. So steht es um den Mann, der in diesen Versen spricht. Wir verstehen, dass er ganz verzweifelt ruft: »Ich elender Mensch!«: Da ist jemand, dessen Wille frei ist, das Gute zu wählen, aber gerade das macht seine Not nur umso größer. Er hat Erkenntnis und auch ein wachsendes Empfinden dafür, wie übel die Sünde ist; er will darum die Sünde meiden und das Gute tun, aber er hat nicht die Kraft, das gute Wollen in die Tat umzusetzen. Die Sünde ist stärker als der Wille zum Guten. Das macht sein Elend aus. Wird er denn nie frei von dieser überlegenen Macht, die er gelernt hat zu verabscheuen? Endlich stellt er die alles entscheidende Frage: »Wer wird mich entreißen diesem Leib des Todes?«203 Diesen Vers hat J. S. Bach zum Eingangschor vertont in der Kantate »Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?« (BWV 48). Der walisische Erweckungsprediger Howell Harris, Freund und Mitarbeiter von G. Whitefield, schrieb einmal in sein Tagebuch folgendes Gebet: »Herr! wenn Du dieses Ding nicht tötest, wird es mich töten. Es mischt sich in alles, was ich tue, es verfolgt mich in meine privaten und öffentlichen Geschäfte. Herr! erschlage, erschlage, erschlage diesen Übeltäter, meinen furchtbaren Feind, mein Ich!« (zitiert bei: Richard Bennett, Howell Harris and the Dawn of Revival). Er fragt nicht nach einer Kraft, die ihn befähigen könnte, sondern er fragt nach einer Person. Mit dem Verb entreißen, rhyomai, verwendet Paulus nach »Krieg führen« (V. 23) und »in Gefangenschaft bringen« (ebenfalls V. 23) zum dritten Mal ein Wort aus der Welt der Kriegsführung. Der Kriegsgefangene hofft auf einen Befreier, der kommt und ihn aus der Gefangenschaft befreit. So fragt irgendwann der Christ nicht mehr: Wie kann ich mich der Übermacht der Sünde entwinden? Sondern er fragt: »Wer?« Damit schaut er weg von sich, und so hört sein Versuchen auf, dem Gesetz Gottes gehorsam zu sein, das ihn auf sich selbst und auf sein menschliches Vermögen zurückwarf.

4. Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn (7,25) [246]

25 Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Also nun diene ich selbst mit dem Sinn [dem] Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber [dem] Gesetz der Sünde.

Wer besitzt die Kraft, die nicht in ihm ist? Es muss eine Person sein, die erstens größer ist als er und die zweitens mächtiger ist als die Sünde und die drittens ihm helfen will. Das alles ist Christus. Er allein kann und er will ihm die Kraft geben, das Gute, das er begehrt, auch zu tun. Chris­ tus ist es ja, der in ihm das gute Wollen gewirkt hat, das früher nie in ihm war; und er wird zum Wollen auch das Wirken geben nach seinem Wohl­ gefallen (Phil 2,13). Das ist ein seliges Wissen, das ist die befreiende Antwort auf den Hilfeschrei, wer ihn retten könne von seinem Leib des Todes: »Ich danke Gott, durch Jesus Christus, unseren Herrn!« Nicht das Gesetz, sondern Christus ist es, der mich befähigt, das Böse zu über­ winden und das Gute zu tun. Solange wir uns unter irgendein Gesetz stel len, lässt Christus uns scheitern. Er duldet es nicht, dass wir, die wir nun unter ihn als unseren Ehemann gestellt worden sind, einen anderen Füh­rer und Helfer suchen.

»Also nun diene ich selbst mit dem Sinn [dem] Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber [dem] Gesetz der Sünde«: Das ändert sich nicht, solange wir noch in diesem Leib der Sünde sind. Da wir neu gemacht sind, dienen wir mit unserem Sinn dem Gesetz Gottes; da wir aber noch in dieser Welt in einem sündigen Leib leben, dienen wir mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde. Wir müssen aber der Sünde im Fleisch nicht die Oberhand lassen; der Apostel hat uns aufgefordert: »Also herrsche nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib« (6,12). Er hat uns auch gesagt, dass die Sünde nicht herrschen wird, weil wir unter Gnade sind (6,14). Wir lassen uns deshalb auf keinen Fall unter das Gesetz bringen, sondern ver­ lassen uns ganz auf alles, was Gott in seiner Gnade gewirkt und was er uns in seiner Gnade gegeben hat. Davon spricht der Apostel in den ersten Versen des nächsten Kapitels.

Fazit des ganzen Kapitels [247]

Im 7. Kapitel des Römerbriefes will Paulus zeigen, was das Gesetz leistet und was es nicht leisten kann: Es kann zur Erkenntnis der inne wohnenden Sünde führen; es kann aber weder rechtfertigen noch heiligen. Darum muss der Christ vom Gesetz befreit werden (V. 1­6). Das Gesetz ist aber deswegen nicht nutzlos; es tut nämlich ein ganz entscheidendes Werk, das zur Errettung und zur Heiligung führt: Der Geist Gottes kann es dem Menschen in solcher Kraft mitteilen, dass er anfängt, die Sünde selbst, also nicht nur einzelne sündige Taten, zu erkennen. Er erkennt, dass das Gesetz geistlich ist und dass es sein Herz, d. h. alle Beweggründe seines Handelns, beurteilt, und diese Erkenntnis lehrt ihn, dass er unter die Sünde verkauft ist (V. 14), dass er, obwohl er das Gute will, stets das Böse tut (V. 15­-16 und 18­-19), dass er nicht nur unter der Sünde ist, son­dern dass diese sogar in ihm wohnt (V. 17.20), dass in ihm gar nichts Gutes ist (V. 18), dass er im Krieg, den die Sünde gegen ihn führt, besiegt und als Gefangener abgeführt wird (V. 23), bis er ganz an sich verzweifelt (V. 24). Da wird ihm der Blick auf Christus gelenkt (V. 25). Er versteht, dass er nur in Christus Gott gefallen und durch Christus der Herrschaft der Sünde entrinnen kann. Es ist keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind (8,1); jetzt kann er sagen, dass das Gesetz des Geistes des Lebens ihn frei gemacht hat vom Gesetz der Sünde und des Todes (8,2); jetzt wandelt er nach dem Geist (8,4).

In den Versen 9­-25 kommt über 40­mal »ich«, »mein«, »mir« oder »mich« vor. Das ist eben die Wirkung des Gesetzes; es lenkt alle Auf­ merksamkeit auf mein Vermögen; es wirft mich auf mich selbst zurück. Die große Befreiung kommt, wenn der Seufzende und Ringende durch Gottes Geist befähigt wird, nicht mehr auf sich zu schauen und von sich etwas zu erwarten, sondern auf Christus zu sehen und auf ihn zu vertrauen. Dann grübelt und klagt er nicht mehr über die eigene Unfähigkeit, sondern rühmt sich der Gnade und der Kraft Christi.

Anmerkungen zu Kapitel 7

V. 14­-25 – »Der Punkt, an dem die große Masse der Leute, die über die­ses Kapitel gepredigt oder geschrieben haben, sich scheidet, ist die Frage, ob hier die Erfahrung eines natürlichen Menschen oder eines Christen beschrieben wird. Auf beiden Seiten wird darauf bestanden, dass es um einen von beiden gehen muss. Aber diese Annahme ist falsch, und der Irrtum beider Lager liegt genau hier. Es ist unmöglich, den Abschnitt zu verstehen, wenn er entweder auf den natürlichen Menschen oder auf den Christen angewendet wird. Denn es gibt einen Zustand des Über­gangs, der sich in Seelen findet, die zwar wiedergeboren, sich aber noch nicht der Befreiung bewusst sind; das ist genau der Zustand, der hier beleuchtet wird. Paulus kann durch diese Erfahrung gegangen sein, als er die drei Tage und Nächte blind war und nichts aß und trank. Er war bereits bekehrt, also darum nicht mehr ein natürlicher Mensch, aber er war noch nicht erfüllt mit dem Heiligen Geist. Er diskutiert und erörtert den Fall ausführlich von V. 7 an bis zum Ende des Kapitels. Es han­delt sich um den Fall eines Erweckten, der sich aber noch nicht der Gerechtigkeit Gottes unterworfen hat. Da er um Gott eifert, aber nicht ver­standen hat, was die Stellung ist, in die die Erlösung den Gläubigen versetzt, stellt er sich unter das Gesetz, und darum wird uns das Wir­ken des Gesetzes vor Augen gestellt. Da ist ein erwecktes Gewissen, aber keine Kraft. Wäre da keine neue Natur, gäbe es keine solche Erfahrung, aber wenn der Heilige Geist da wäre, würde Kraft dargereicht, wie wir in Kapitel 8 sehen; denn dort haben wir den gehörigen Zustand des Chris­ten. Der beschriebene Zustand ist kein bleibender, sondern ein vorüber­ gehender, obwohl durch schlechte und gesetzliche Lehre eine Seele darin gefangen bleiben kann, bis die Gnade ihr vollständiges Werk tut; und das mag erst geschehen, wenn einer auf dem Sterbebett liegt oder etwas, was diesem gleichkommt, erlebt« (W. Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 102­103).

V. 14 – In der Disputation gegen die scholastische Theologie in Witten­ berg im Jahr 1517 sagte Luther vom Menschen: »Peccat non spiritualiter legem implendo – Er sündigt, indem er das Gesetz nicht auf geistliche Weise erfüllt« (These 63204 A. d. H.: Hinsichtlich der einzelnen Thesen weichen die jeweiligen Zählweisen voneinander ab. Diese Quellenangabe richtet sich nach der Weimarer Ausgabe (WA).; WA 1, 227, 16).

V. 18 – »Ich bin durch und durch Sünde. Ob ich denke, ob ich handle, alles ist Sünde« (David Brainerd, Tagebuch, 10. April 1742). Kapitel 8 [249]

Die ersten Verse dieses Kapitels beschreiben das Ergebnis des Ringens, von dem Paulus in 7,14­25 gesprochen hatte; gleichzeitig setzen sie das Thema fort, das Paulus in 5,1­21 behandelt und zurückgestellt hatte, weil er in den Kapiteln 6 und 7 zuerst auf Einwände antworten musste, die man immer wieder gegen die Gnadenlehre vorbrachte. In 5,1­2 fasste Paulus die Ergebnisse zusammen aus der Tatsache, dass wir durch Glauben gerechtfertigt sind: Wir haben Frieden mit Gott, und wir rühmen uns in der Gewissheit der kommenden Herrlichkeit. Am Ende von Kapitel 5 hörten wir: So absolut die Sünde herrschte im Tod, so absolut herrscht auch die Gnade durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn (V. 21). Es geht im vorliegenden Kapitel vom Anfang bis zum Schluss darum zu zeigen, dass alles, was Gott im Gläubigen mit der Rechtfertigung gewirkt hat, unumkehrbar ist. Entsprechend beginnt das Kapitel mit den Worten: »Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind«, und schließt mit den Worten: »Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (8,38-­39).

Wer »in Christus« (V. 1) ist, ist »frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes« (V. 2); denn Gott hat in seinem Sohn die Sünde im Fleisch verurteilt und damit selbst alle Forderungen des Gesetzes erfüllt, damit wir fortan im Geist wandeln können (V. 3­4). Da wir im Geist sind und der Geist in uns ist (V. 9), ist unser ganzes Sinnen geistlich (V. 5­8). Der Heilige Geist, der in uns lebt, ist jetzt schon Leben für unseren Geist (V. 10), und er ist die Gewähr dafür, dass einst auch unser sterblicher Leib auferweckt und verherrlicht werden wird (V. 11). Weil wir im Geist sind und der Geist in uns ist, sind wir nicht mehr schuldig, nach dem Fleisch zu leben (V. 12), sondern wir können viel­ mehr durch den Geist die Handlungen des Leibes töten (V. 13). Das geschieht, indem wir uns als Söhne Gottes durch den Geist leiten lassen (V. 14), und als Söhne rufen wir im Geist zu Gott, unserem Vater (V. 15). Der Geist gibt unserem Geist die Gewissheit, dass wir Kinder Gottes sind (V. 16), und da wir Kinder sind, sind wir Erben Gottes und Miterben Christi, und damit können wir gewiss sein, dass wir, die wir jetzt noch durch Leiden gehen, einst verherrlicht werden sollen (V. 17). Die Leiden sind eines der Mittel, die Gott verwendet, um uns zum Ausharren zu befähigen; ein anderes ist das Wissen, dass die Leiden in keinem Vergleich stehen zur kommenden Herrlichkeit (V. 18): Die ganze Schöpfung wird von den Folgen der Sünde befreit werden, wenn wir, die Söhne Gottes, offenbar werden (V. 19­22). Die Heilige Geist ist uns jetzt schon als Erstlingsgabe jener kommenden Welt des Lichts und des Lebens gegeben worden, und als solcher stärkt er uns in der Hoffnung, sodass wir mit Geduld auf den Tag der Leibeserlösung warten können (V. 23­-25).

Aber nicht nur das, sondern während der ganzen Zeit des Ausharrens in dieser Welt der Sünde ist der dreieine Gott mit und für uns. Der Heilige Geist tritt ein für uns (V. 26­27). Gott der Vater ist für uns (V. 31), Gott der Sohn verwendet sich für uns (V. 34). Daher wissen wir, dass Gott alle Nöte, Kämpfe, Schmerzen und Leiden in dieser Welt zusammenwirken lässt zu unserem Guten (V. 28), d. h. zur Vollendung unseres Heils: Wir sollen einst dem Sohn Gottes selbst gleichförmig sein (V. 29), denn dazu hat Gott uns zuvorbestimmt. Und alle, die er zuvorbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt, und die er gerechtfertigt hat, die hat er verherrlicht (V. 30). In den Versen 31­-39 hebt Paulus seinen alles krönenden Triumph­gesang an. Er fragt, wer gegen uns sein kann, wenn Gott für uns ist (V. 31), und wer die Auserwählten Gottes verklagen will, wo doch Gott sie gerechtfertigt hat (V. 33), und wer verdammen könne, wo doch Christus das Verdammungsurteil auf sich genommen hat und für uns in den Tod gegangen und danach auferstanden ist und nur für uns eintritt vor Gott (V. 34). Wer wird uns scheiden können von der Liebe Christi (V. 35­-36), wo wir doch in Christus sind und durch ihn überwinden (V. 37)? So kann Paulus seinen Triumphgesang abschließen mit den Wor­ten von der Gewissheit, dass nichts und niemand uns je von der Liebe Gottes in Christus Jesus wird scheiden können (V. 38­-39).

1. Der Wandel im Geist (8,1­-11) [251]

Paulus beginnt mit der Aussage, dass keine Verdammnis ist für alle, die in Christus Jesus sind. In den Versen 2 und 3 wird die Aussage er läutert. Es ist der Geist des Lebens in Christus Jesus, der uns aller Macht der Sünde und des Todes enthebt: Darauf erklärt er, dass Gott uns nur des­ halb in dieser Weise von der Macht der Sünde und des Todes befreien konnte, weil er das tat, was dem Gesetz unmöglich war, weil im Fleisch keine Kraft zum Guten wohnt: Er sandte seinen Sohn und richtete an ihm die Sünde im Fleisch (V. 3) und erfüllte damit alle Rechtsforderungen des Gesetzes, damit er uns nun, da wir gerecht gemacht sind, den Geist geben kann, in welchem wir wandeln (V. 4). Solange wir im Fleisch sind, sind wir dem Tod unter worfen. Darum mussten wir befähigt werden, im Geist zu wandeln.

Geist und Fleisch, Leben und Tod, das sind die Begriffe, die den gan­zen Abschnitt regieren. Wer in Christus ist, ist dem Tod nicht mehr unter­worfen, da der Geist des Lebens ihn befreit hat (V. 2). Da Gott im Tod Christi die Sünde im Fleisch gerichtet hat, kann der Gerechtfertigte im Geist und damit im Leben wandeln (V. 3­4). Weil der Geist in ihm ist, ist er nicht mehr vom Sinnen des Fleisches beherrscht, das Tod bedeutet, sondern vom Sinnen des Geistes, das Leben ist (V. 5­6). Weil der Geist im Gerechtfertigten ist (V. 9), ist sein Geist Leben, wenn auch der Leib tot ist der Sünde wegen (V. 10). So wird der Leib zwar dem Tod er liegen und sterben müssen, aber durch den Geist, der im Gerechtfertigten ist, wird Gott ihn beleben, d. h. auferwecken, verwandeln und verherrlichen (V. 11).

1 Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind.205

»Also ist jetzt keine Verdammnis«: Das »Also« bezieht sich auf den näheren Zusammenhang: Da ist keine Verdammnis, weil wir nicht unter Gesetz sind (6,14 und 7,1­6), denn »das Gesetz bewirkt Zorn; aber wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung« (4,15). Es verweist aber auch auf alles, was Paulus von Kapitel 5,1­11 an gelehrt hat: Wir sind 205 Diesen Vers hat J. S. Bach in der Kantate BWV 74 zum Rezitativ verarbeitet. nicht mehr in Adam, sondern in Christus, und damit herrscht nicht mehr mit der Sünde der Tod, sondern die Gnade herrscht zu ewigem Leben (5,20­21). Darum kann es keine Verdammnis für uns geben (vgl. 1,18.32; 2,3.5.6.8.9.16; 3,19). Diese Zusage gilt aber nur »für die, welche in Christus Jesus sind«206. Das Kapitel beginnt mit der Aussage, dass keine Verdammnis ist für alle, die »in Christus Jesus sind«, und es endet mit der Aussage, dass uns nichts scheiden kann von der Liebe Gottes, die »in Christus Jesus ist« (V. 39). Die Wendung »in Christus« drückt den höchsten Grad der Identifikation mit Christus aus. In 5,10 waren wir dem Ausdruck in seinem Leben begegnet, in 5,21 »durch … Christus« und in 6,1­11 »mit Christus« (vgl. V. 8). Hier gehen wir einen Schritt weiter und erreichen den Höhepunkt. Wie passend ist das, befinden wir uns doch im letzten Abschnitt von jenem Teil des Briefes, in welchem Paulus das Evangelium Gottes vollständig dargelegt hat. In den Kapiteln 9 – 11 wird über das Evangelium selbst nichts Neues mehr gesagt, sondern es geht dort lediglich darum, in welcher Weise dieses Evangelium Israel, das alte Bundesvolk, betrifft. In den Kapiteln 12 bis 15 schließlich folgt der große praktische Teil des Briefes, der uns zeigt, welche Aus wirkungen das Evangelium im Leben und Dienst der Christen hat. 2 Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. »Denn« leitet eine Begründung der in V. 1 gemachten Aussage ein. Pau­lus begründet sie nicht damit, dass Gott mich in Christus gerechtfertigt hat, sondern damit, dass »das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus … mich frei gemacht [hat] von dem Gesetz der Sünde und des Todes«. So sicher wir ohne Christus dem Tod unterliegen, so sicher überwinden wir in Christus den Tod und leben mit ihm: »Weil ich lebe, werdet auch ihr leben« (Joh 14,19b). Wir sind mit ihm auf erweckt worden, und unser Leben ist verborgen und damit eingebunden in ihm (Kol 3,1.3). Hier steht der Begriff »Gesetz« jeweils für eine Gesetz­ mäßigkeit, eine feste Ordnung. In Christus ist die Ordnung des Geistes 206 Die Version Schlachter 2000, die sich (im Gegensatz zur ursprünglichen Übersetzung Franz Eugen Schlachters) an den Textus Receptus hält, hat hier einen Zusatz: »So gibt es jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind, die nicht gemäß dem Fleisch wandeln, sondern gemäß dem Geist« (Hervorhebung hinzugefügt). Diesen Zusatz hat man aus 8,4 übernommen und so die Gewissheit, die dem Gläubigen in Christus gegeben ist, relativiert. des Lebens, so wie in Adam die Ordnung der Sünde und des Todes ist. In Adam war ich hoffnungslos der universalen Herrschaft der Sünde und des Todes unterworfen. In Christus bin ich vom Tod zum Leben hinüber­ gegangen und werde durch sein Leben getragen. Als kleines Kind konnte ich nicht schwimmen, aber meine Mutter konnte es. Ich durfte mich auf ihren Rücken legen, und sie schwamm hin­ aus ins tiefe Wasser, und so schwamm auch ich. In uns ist nichts Gutes; in uns ist nur Sünde. Wir können die Sünde, die uns dem Tod unterwirft, nie überwinden. Christus aber hat den Tod bezwungen. Bin ich in ihm, trägt er mich.

3 Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sandte und die Sünde im Fleisch verurteilte,

4 damit die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt würde in uns, die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln.

»Denn«: Paulus hatte in V. 1 gesagt, dass es für alle, die in Christus Jesus sind, keine Verdammnis gibt, und dann begründete er das in V. 2: Der Geist des Lebens in Christus Jesus überwindet die Sünde und den Tod. Nun begründet er, wie denn der Geist des Lebens in solcher Weise in sündigen Menschen wirken könne. Gott hat das Unmögliche mög­lich gemacht, indem er durch das Leiden und Sterben seines menschgewordenen Sohnes uns, die wir der Sünde und dem Tod verfallen waren, gerecht gemacht hat. Sind wir gerecht gemacht, kann der Geist in uns wohnen, und wir werden leben.

»das … Unmögliche … tat Gott«: Er tat bereits etwas Unmögliches, als er im Mutterleib der Jungfrau Maria den ewigen Sohn zeugte und dieser als Mensch geboren wurde (siehe Lk 1,35). Und er tat »das dem Gesetz Unmögliche«, indem sein Sohn alle Gerechtigkeit in seinem vollkommenen Leben und seinem stellvertretenden Sterben erfüllte. Warum war es dem Gesetz unmöglich? Nicht, weil das Gesetz schlecht war, son­dern weil das Fleisch schlecht ist. Rosenius hat das in einem schönen Vergleich zum Ausdruck gebracht:

»Ich stelle einen Tischler an und bitte ihn, mir einen schönen Tisch zu fertigen. Er versteht seine Sache und besitzt treffliche Werkzeuge. Aber ich gebe ihm faules Holz. Da mag er noch so tüchtig sein und die besten Werkzeuge verwenden, aber er wird nichts zustande bringen, weil der Werkstoff so schlecht ist.«207

»das … tat Gott«: Darin ist, auf die knappste Form gebracht, das ganze Evangelium enthalten. Gott hat alles getan, was wir nicht vermochten. Gott tut auch ferner alles: Er kommt im Geist zu mir und führt mich, kräftigt mich und trägt mich.

Gott sandte »seinen eigenen Sohn«, seinen einzigen, der hier »eigener Sohn« heißt, damit wir ihn unterscheiden von den vielen Söhnen (vgl. V. 16), zu denen wir gehören. Und er sandte ihn »in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde«, d. h. als Mensch – dafür steht hier Fleisch. Er ist Gott, »offenbart im Fleisch« (1Tim 3,16). Er »wurde Fleisch« (Joh 1,14). Er kam aber nicht in »sündigem Fleisch«, sondern lediglich »in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde«. Er war nicht im Wesen, doch der Gestalt nach wie ein sündiger Mensch. Als Retter und Befreier der Menschen muss er beides sein: Gott und Mensch, und als Mensch musste er sündlos sein (Hebr 4,15; 2Kor 5,21; 1Petr 1,18­20; 2,22).

»verurteilte«: κατακρινω, katakrinō (wie in Mk 16,16; 1Kor 11,32; 2Petr 2,6), vom gleichen Grundwort wie das in V. 1 verwendete Substan­tiv κατακριμα, katakrima, »Verdammnis«. Also »verdammte« Gott »die Sünde im Fleisch«. Gott vergibt nicht die Sünde, d. h. die Sündennatur, sondern er richtet sie, denn sie kann nicht verbessert werden. Gott muss sie im Gericht wegtun, um dem erlösten Menschen eine neue Natur zu geben. Das Gericht erging nicht über uns, sondern über unseren Stell­ vertreter, über den Gerechten, der von keiner Sünde wusste. Den machte Gott zur Sünde, damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden (2Kor 5,21). Da unser Stellvertreter Gottes Verdammungsurteil über die Sünde getragen hat, ist keine Verdammnis mehr für uns, die wir in Chris­tus Jesus sind (V. 1). Damit hat Gott die Grundlage dafür gelegt, dass wir im Geist wandeln können und der Geist in uns wohnen und er uns eines Tages verwandeln und zu sich in den Himmel erheben kann. »damit die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt würde in uns«: Das Gesetz stellt zwei Forderungen: Es fordert den Gehorsam gegenüber allem, was es befiehlt; es fordert den Tod von jedem, der es bricht. Im Gericht, das Gott über die Sünde im Fleisch verhängte, als der Mensch Christus Jesus für uns zur Sünde gemacht wurde, wurde jede Forderung des Gesetzes erfüllt. Das bedeutet das griechische Wort dikaiōma, das hier mit »Rechtsforderung« übersetzt ist208 dikaiōma steht auch in 1,32. Dort wird Bedeutung und Gebrauch des Begriffs näher erläutert.. Christus hatte zuerst in sei­nem Leben allen Forderungen des Gesetzes Genüge getan; dann hat er im Gericht alle Sanktionen des Gesetzes an sich vollstrecken lassen. Da er unseren Tod starb und wir mit ihm starben, kann keine Sanktion des Gesetzes den Christen treffen. Darum kann Gott den Erlösten sei­ nen Geist geben, sodass sie »nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln«. Wir sehen also: Dieses Wandeln ist nicht die Bedingung, unter der jemand von der Verdammnis befreit wird, sondern es ist das Ergebnis dessen, was Gott in Christus gewirkt hat. Er hat die Betreffenden gerechtfertigt; er hat sie zur Gemeinschaft mit seinem Sohn berufen (1Kor 1,9), und er hat ihnen seinen Geist gegeben. Wir können fortan im Geist wandeln, und auf diese Weise wird die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt »in uns«. Wir können im Geist wandeln, und damit erfüllen wir die Lust des Fleisches nicht mehr (Gal 5,16). In den Versen 3­4 ist die ganze Lehre der Rechtfertigung zusammen­ gefasst:

1. Was das Gesetz nicht vermochte: Es konnte uns nicht recht­ fertigen.

2. Warum es nichts vermochte: Es war durch das Fleisch kraftlos (siehe auch 5,6; 7,18).

3. Was Gott tat: Er richtete die Sünde im Fleisch. In Christi Tod ist die Sünde verurteilt und der Leib der Sünde abgetan (siehe 6,6). 4. Wodurch Gott das tat: Er sandte seinen Sohn.

5. Wie Gott seinen Sohn sandte: in Gleichheit des sündigen Flei­sches.

6. Wozu Gott das tat: um die Sünde nicht an uns, sondern an seinem Sohn zu richten.

7. Wozu er die Sünde in seinem Sohn richtete: um die Rechts­forderung des Gesetzes in ihm und in der Folge in uns zu erfüllen (siehe 3,31).

8. Da sie in uns erfüllt worden ist, kann Gott uns den Geist geben, sodass wir fortan nach dem Geist wandeln.

Beachten wir besonders den letzten Punkt: Es ist nicht so, dass Gott uns den Geist gab, damit wir die Rechtsforderung des Gesetzes er füllen kön­ nen. Es ist vielmehr so: Weil Gott in Christus die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt hat, kann er uns den Geist geben, in welchem wir fortan wandeln. Gott selbst hat also zuerst die Voraussetzungen ge schaffen, damit wir den Geist empfangen können; dann hat er uns den Geist ge ­ geben, und damit bewirkt er selbst – eben durch seinen Geist, der in uns wohnt –, dass wir in seinen Satzungen wandeln. So erfüllt sich »die Rechtsforderung des Gesetzes »in uns«, nicht durch uns. Nicht wir wir­ ken etwas, sondern Gott wirkt durch seinen Geist in uns. Das hat er in Hesekiel für das wiederhergestellte Israel in Kapitel 36,27 angekündigt; in Christus ist uns dieser Segen bereits geschenkt.

5 Denn die, welche nach dem Fleisch sind, sinnen auf das, was des Fleisches ist; die aber, welche nach dem Geist sind, auf das, was des Geistes ist.

In den Versen 5­8 erklärt Paulus, warum es notwendig ist, dass wir im Geist wandeln. Wer nicht im Geist ist, geht auf den ewigen Tod zu (V. 6.13). Er lebt in Feindschaft gegen Gott (V. 7) und kann Gott nicht gefallen (V. 8).

In diesem mit »denn« beginnenden Satz erfahren wir, warum die Rechtsforderung des Gesetzes durch den Tod Christi in uns erfüllt wer­ den musste: Wir sollen nicht mehr nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln: »Denn« alles, was fleischlich ist, kann nur Fleischliches be gehren und in der Folge nur Fleischliches tun. In diesem und in den nachfolgenden Versen werden die nicht Gerechtfertigten und die Ge ­ rechtfertigten einander gegenübergestellt. Alle, die nicht geglaubt haben und darum nicht gerechtfertigt sind, sind »nach dem Fleisch«; die aber nach dem Fleisch sind, »sinnen auf das, was des Fleisches ist«. Das ganze Wollen des Sünders ist Sünde und damit Feindschaft gegen Gott. Wer glaubt und darum gerechtfertigt ist, der ist »nach dem Geist«, und der sinnt »auf das, was des Geistes ist«. Das ganze Sinnen der Ge ­ rechtfertigten entspricht dem Sinnen des Geistes: Er sucht nicht seinen Nutzen, seinen Gewinn, seine Ehre, sondern die Ehre Christi (Joh 16,14) und die Förderung seines Reiches und den Nutzen des Nächsten.

6 Denn das Sinnen des Fleisches ist der Tod, das Sinnen des Geistes aber Leben und Frieden;

Wer auf seine eigenen Fähigkeiten vertraut, wird Gott nie gefallen; denn das, was das Fleisch will und tut, bringt nur »Tod«, während »das Sinnen des Geistes … Leben und Frieden« ist. Das griechische Wort fronhma, phronēma, von phroneo, sinnen, bedeutet eigentlich »Ergebnis des Sinnens«209. Dieses ist entweder Tod oder Leben. Vom Herzen aus sind die Ausgänge des Lebens (Spr 4,23). Darum müssen wir ein neues Herz bekommen, und Gottes Geist und Gottes Wort müssen unser Herz regieren. »Leben und Frieden« entspricht dem Paar »Unverweslichkeit« (Röm 2,7) und »Frieden« (2,10).

7 weil das Sinnen des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn es ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn es vermag es auch nicht.

8 die aber im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen.

Was der Sünder von sich aus will und kann und daher tut, »[ist] Feindschaft … gegen Gott«. Von Natur sind wir »Feinde« (Röm 5,10), »Feinde nach der Gesinnung« (Kol 1,21), und darum wollen und kön­ nen wir »dem Gesetz Gottes nicht untertan« sein. Unser ganzes Wesen trotzt dem Willen Gottes; es will sich ihm nicht unterwerfen, und das bedeutet, dass der Mensch, der noch »im Fleisch« ist, »Gott nicht ge fallen« kann.

Das »Sinnen des Fleisches«, d. h. die menschliche Vernunft, will nicht wahrhaben, dass es Feindschaft gegen Gott ist.

»Nur wer durch Gottes Wort und Geist erkannt hat, wie sein eigen Fleisch voll Empörung und Widerspruch gegen alle Sachen Gottes ist, gibt dem Apostel Recht und pflichtet Luther bei, der von der ›Frau Vernunft‹ sagt, dass sie Gott nicht fürchtet, ihn nicht liebt, ihm nicht vertraut, sondern ihn frei dahin ohne alle Scheu verachtet, sich weder an sein Dräuen noch Verheißen kehrt; dazu hat sie weder Lust noch Liebe zu seinem Wort und Willen, sondern murret und schnurret, zürnet und poltert, sonderlich wenn es übel zugehet, dawider. Summa, sie ist Gottes ärgste Feindin.«210

9 Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn nämlich Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.

10 Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen.

In den Versen 9­-11 spricht Paulus von den Christen. Zwischen Gläu bigen und Ungläubigen geht eine scharfe Trennungslinie. Die Gläubigen sind im Geist, und in ihnen wohnt der Geist (V. 9). Der Ungläubige ist im Fleisch, und in ihm wohnt der Geist nicht (siehe auch Joh 14,17).

Es heißt hier: »Ihr aber« (d. h. die Gläubigen in Rom und damit alle, die deren Glauben haben) »seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn nämlich Gottes Geist in euch wohnt.« Wer im Geist ist, kann auch im Geist wandeln (V. 4; Gal 5,16).

»Wenn … jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.«: Wir aber sind sein, und das heißt, dass Christi Geist in uns wohnt. Wohnt also Gottes Geist in uns, wohnt Christi Geist in uns, und das bedeutet, dass es bei Gottes Geist und Christi Geist um denselben Geist geht. Das wieder um heißt, dass Gott und Christus eins sind. Ist Christi Geist in uns, ist auch Christus in uns, wie V. 10 bezeugt: »Wenn … Christus in euch ist …« Der Sohn Gottes selbst hat gelehrt, dass er in den Seinen ist, wenn der Geist in ihnen ist. In Joh 14,16 sagt er, dass der Heilige Geist zu den Jüngern kommen wird; in 14,18 sagt er, dass er selbst zu ihnen kommt. Das bedeutet, dass der Geist und der Sohn eins sind, und das wiederum 210 Zitiert von K. A. Dächsel. Größtenteils entnommen aus: Martin Luther, Andere Auslegung der Epistel an die Galater. bedeutet, dass der Geist Gott ist. Der Vater ist Gott, Christus ist Gott, der Geist ist Gott. Sie sind immer miteinander verbunden und wirken immer zusammen. Die drei Personen werden in der Bibel unterschieden, aber sie sind nie geschieden.

Der »Leib [ist] … tot der Sünde wegen«. Der Leib ist ein »Leib der Sünde« (6,6), in den Gliedern des Leibes wirken die Leidenschaften der Sünden (7,5). Darum nennt Paulus diesen Leib einen »Leib des Todes« (7,24). Obwohl Christus in uns ist, bleibt der Leib so, wie er war. Hin­ gegen ist »der Geist … Leben«, und zwar der Geist des Erlösten, der »innere Mensch« (7,22; 2Kor 4,16; Eph 3,16). Anders als der Leib, der nicht erlöst worden ist und in dem darum die Sünde noch wohnt, ist der Geist des Gerechtfertigten erneuert.

11 Wenn aber der Geist dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes. Es war der Vater, »der Jesus aus den Toten auferweckt hat«. Wenn nun sein Geist »in [uns] wohnt«, wird er »[unsere] sterblichen Leiber lebendig machen« in der gleichen Weise, wie er seinen Sohn »aus den Toten auferweckt hat«. Das tut er »wegen seines in [uns] wohnenden Geistes«. D. h., dass der Heilige Geist die Gewähr dafür ist, dass wir einst auferstehen werden zur Herrlichkeit. In Eph 1,14 und 2Kor 1,22 sagt Paulus das Gleiche mit etwas anderen Worten: Der Heilige Geist ist das Unterpfand dafür, dass unser Leib eines Tages erlöst werden soll (zur Erlösung des Leibes siehe auch Röm 8,23).

In den Versen 1­-11 hat der Apostel eine dreifache Befreiung beschrieben:

a. Wir werden befreit von der Verdammnis der Sünde (V. 1­3) – das war die Rechtfertigung.

b. Wir werden befreit von der Macht der Sünde (V. 4­10) – das nen­nen wir Heiligung.

c. Wir werden befreit vom endgültigen Lohn der Sünde, dem Tod (V. 11) – das wird geschehen bei der kommenden Verherrlichung.

2. Die Schuldigkeit und die Vorrechte der Söhne und Erben Gottes (8,12-­17) [260]

Hier wird von der Schuldigkeit der Söhne Gottes gesprochen: Wir sind nicht mehr Schuldner dem Fleisch; vielmehr müssen und können wir durch den Geist die Handlungen des Leibes töten (V. 12-­13); denn das tun alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, nämlich die Söhne Got­ tes (V. 14).

Der Heilige Geist befähigt den Christen. In 8,4­-27 hören wir, wie der Geist Gottes, also Gott selbst, im Christen wohnt und wirkt und so den Christen befähigt, die Sünde zu überwinden. Er tut es durch folgende neun Dinge:

1. Der Christ wird befähigt, »nach dem Geist« zu wandeln (V. 4). 2. Der Geist gibt ihm eine neue Gesinnung: Der Christ sinnt auf die Dinge, die des Geistes sind (V. 5­8).

3. Er ist nicht im Fleisch, sondern im Geist (V. 9). 4. Der Geist wohnt in ihm und wird eines Tages seinen sterblichen Leib, diesen »Leib der Sünde« (6,6) und »des Todes« (7,24), auf­ erwecken und damit endgültig von der Gegenwart der Sünde befreien (V. 9­11).

5. Der Geist befähigt den Christen, die Sünde, die in seinen sterb­ lichen Gliedern ist, zu töten (V. 12-­13). 6. Der Geist leitet den Christen (V. 14). 7. Der Geist gibt ihm die Freimütigkeit, zu Gott zu rufen als zu sei­ nem Vater (V. 15).

8. Der Geist gibt ihm das Zeugnis, dass er ein Kind Gottes und damit Erbe Gottes ist (V. 16­17).

9. Der Geist tritt für ihn ein (V. 26­27) »in unaussprechlichen Seufzern«, und weil er sich für die Gläubigen verwendet »Gott gemäß«, ist seine Fürbitte göttlich wirksam. 12 So denn, Brüder, sind wir Schuldner, nicht dem Fleisch, um nach dem Fleisch zu leben,

»So denn«: Wegen all der bis dahin gelehrten Wahrheiten über die Sünde, das Fleisch und den Tod, über die Vergebung und Befreiung, den Geist und das Leben sind wir dem Fleisch nicht mehr »Schuldner«. Hat uns Gott seinen Geist gegeben, sind wir schuldig, nach dem Geist zu leben, und wir sind dazu auch befähigt. Wir müssen dem Fleisch nicht mehr dienen; wir können seinem Locken und Drängen absagen. Fortan können wir statt des Fleisches dem Nächsten gefallen (Röm 15,2). Wir haben den Willen und dazu das Vermögen, dem Nächsten zu geben, was wir ihm schulden: das Evangelium (Röm 1,14), Liebe (13,8), das Tragen seiner Lasten (15,1) und den Dienst an ihm mit unserem Besitz (15,27).

13 denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben, wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben.

14 Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes.

»wenn ihr nach dem Fleisch lebt«: Der Gerechtfertigte ist nicht mehr im Fleisch (V. 9); der nicht Gerechtfertigte kann nicht anders, als nach dem Fleisch zu leben, und deswegen wird er den ewigen Tod »sterben«. Der Gerechtfertigte ist im Geist; Christi Geist wohnt in ihm, und damit ist er frei, »durch den Geist die Handlungen des Leibes« zu töten, thanatoō, eigentlich: »tot machen« (vgl. Kol 3,5). Tötet man ein Lebewesen, hat man die Kraft ausgeschaltet, durch die es wirkt, sich rührt und sich entfaltet. Die Handlungen des Leibes töten bedeutet also nichts anderes, als dass sie unwirksam gemacht werden, sodass sie sich nicht mehr frei regen können in sündigen Gedanken, Wor­ ten und Taten. Das geschieht »durch den Geist«. Das dürfen wir aber nicht so verstehen, dass der Geist die Waffe wäre, die wir gebrauchen; denn der Heilige Geist ist Gott. Ihn können wir nicht wie eine Waffe gebrauchen. Es ist vielmehr so, dass wir, wenn wir im Geist wandeln (V. 4) und uns vom Heiligen Geist führen lassen (V. 14), die Regungen der Sünde im Tod halten. Kol 3,5 sagt, dass wir die Glieder, die auf der Erde sind, töten müssen; doch in 3,8 heißt es, dass wir sündiges Trachten und Reden ablegen müssen. Töten heißt also so viel wie ablegen. Der »Leib« steht hier parallel zu den »Handlungen des Leibes« in der ersten Vershälfte. Mit »Leib« sind also die Sünden gemeint, die in den Gliedern dieses »Leibes des Sünde« (6,6) wirksam sind (7,5). Die Hand­ lungen des Leibes sind die Werke der »Sünde in [unserem] sterblichen Leib« (6,12), also das Gleiche wie »die Werke des Fleisches« (Gal 5,19). »so werdet ihr leben«: Durch den Geist, der in uns wohnt, töten wir die Handlungen des Leibes und leben. »Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns auch durch den Geist wandeln« (Gal 5,25). »Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes.«: Man beachte das »Denn«, das diese Aussage mit V. 13 verknüpft. Das heißt, dass alle, die die Handlungen des Leibes durch den Geist töten, durch den Geist Gottes geleitet sind. Und die durch Gottes Geist geleitet sind, sind »Söhne Gottes«. Sie sind die »Brüder«, an die Paulus den Appell von V. 12 gerichtet hatte. Damit, dass sie nicht nach dem Fleisch leben, sondern »durch den Geist Gottes geleitet werden«, erweisen sie sich als Söhne Gottes. Bedenken wir, was dieser Name bedeutet! Wir sind Söhne Gottes, von Gott gezeugt, nach seinem Willen dazu gemacht. Es ist das erste Mal in diesem Brief, dass die Gläubigen so genannt werden. In V. 15 spricht Paulus von »Sohnschaft«, in V. 16 nennt er die Gerecht­ fertigten »Kinder Gottes«, in V. 17 »Kinder«, in V. 19 wieder »Söhne Gottes«. In V. 29 nennt er sie Brüder Christi, des Erstgeborenen. 15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater! Wieder ein »Denn«, das die eben gemachte Aussage erläutert. Der Geist, der uns leitet, ist nicht ein »Geist der Knechtschaft«, sodass wir wie­ der wie einst in Furcht leben müssten. Unter dem Gesetz war Knecht­ schaft (Gal 4,7); unter dem Gesetz waren wir von der Sünde geknechtet (Röm 6,17). Darum mussten wir vom Gesetz befreit werden (was Pau­ lus in Kapitel 7 erörtert). Die Knechtschaft unter dem Gesetz führte »zur Furcht«, denn unter dem Gesetz wusste man nie, ob man genug geleistet hatte, um vor dem Gesetzgeber zu bestehen. Solange diese Unsicherheit bestand, blieb die Angst. Wir haben aber nicht einen Geist der Furcht­ samkeit empfangen (2Tim 1,7). Wir sind Geliebte Gottes, seine Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist (Röm 5,5). Gottes Liebe mit uns ist vollendet worden, und darum haben wir »Freimütigkeit am Tag des Gerichts« (1Jo 4,17). Wir kennen keine Furcht mehr, denn die vollkommene Liebe hat sie ausgetrieben (1Jo 4,18). Als Söhne sind wir Freie (Gal 4,5­6; 5,1), als Söhne haben wir den Geist der Sohnschaft, der uns zum Vater drängt, sodass wir rufen: »Abba, Vater!« Der Vater hört uns, und wir wissen, dass er uns kräftigen und tragen wird und dass er uns, wo wir versagt haben, vergibt. Wir sind nicht in Un ­ wissenheit gehalten wie Sklaven (Joh 15,15). Wir sind eingeweiht in die Gedanken des Vaters; wir haben teil an den Gütern des Vaters; wir haben das Leben der Söhne des himmlischen Vaters. Darum wenden wir uns freudig und häufig an ihn, und er hilft uns, die Handlungen des Leibes zu töten indem wir uns vom Geist führen lassen.

16 Der Geist selbst zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.

Und der Geist, der uns führt, gibt uns auch die innere Gewissheit, dass wir Söhne sind; er »zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind«. Durch ihn wissen wir, dass wir wahrhaft aus Gott geboren sind. Wir werden »Söhne Gottes« (V. 14) genannt, damit wir uns an unsere Würde und somit an unsere Verantwortung erinnern. Wir heißen »Kinder Gottes«, weil wir mit der Wiedergeburt Gottes Natur empfangen haben (siehe 2Petr 1,4). Sind wir aber Kinder, dann wissen wir, dass wir nie ohne sein Erbarmen und seinen Beistand sind (Ps 103,13; 2Kor 1,3). Fassen wir die vier genannten Äußerungen des Geistes noch einmal zusammen:

1. Wir töten die Handlungen des Leibes (V. 13).

2. Das tun wir, indem wir uns vom Geist Gottes leiten lassen (V. 14).

3. Der Geist drängt uns, zu Gott, unserem Vater, zu rufen. Das heißt, dass wir allezeit beten.

4. Der Geist gibt uns Zeugnis. Das heißt, dass wir Gewissheit haben, dass Gott uns angenommen hat.

17 Wenn aber Kinder, so auch Erben – Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir nämlich mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden.

Paulus sagt, dass wir, wenn wir »Kinder« sind, »auch Erben« sind. Das ist ein rechtlicher Stand, der nicht aufgelöst werden kann. Ein Kind ist damit, dass es Kind ist, Erbe des Vaters. Dann aber präzisiert Paulus: Wir sind »Erben Gottes und Miterben Christi« – Erben Gottes (= wir bekommen das Erbe von Gott) und Miterben Christi (= wir erben zu ­ sammen mit Christus).

Warum diese Präzisierung? Was bedeutet sie? Sie will zeigen, wie groß das Erbe der Erben Gottes ist. Es wäre ja denkbar, dass die Kin­ der als Erben des Vaters je ein Teil vom Erbe bekommen (vgl. Lk 15,12). Nun aber sind sie »Miterben Christi«, und das bedeutet, dass sie alles vom Vater erben (vgl. unten V. 32), so wie Christus vom Vater alles als Erbe empfangen hat.

Warum und wozu musste Christus denn Erbe werden? Er musste Mensch werden, um als Mensch von Gott alles in Empfang zu nehmen, was wir mit der Sünde verloren hatten. Gott schuf uns zur Herrschaft (1Mo 1,26) und zum Leben (1Mo 2,7). Er krönte den Menschen mit Ehre und Herrlichkeit und machte ihm die Schöpfung und alles, was in ihr ist, untertan (Ps 8,6­9). Diese Verse zitiert der Schreiber des Hebräerbriefes: »Du hast ihn ein wenig unter die Engel erniedrigt; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt und ihn gesetzt über die Werke deiner Hände; du hast alles seinen Füßen unterworfen« (Hebr 2,7­8a), und fügt dann hinzu: »Jetzt aber sehen wir ihm noch nicht alles unterworfen« (V. 8b). Als wir in Adam sündigten, verloren wir alles: unsere Herrlichkeit und Ehre; wir wurden zu Knechten der Sünde (Joh 8,34), und wir verfielen dem Tod (Röm 6,23). Wir haben alle gesündigt und erreichen deshalb nie die Herr­ lichkeit Gottes (Röm 3,23). »Wir sehen aber Jesus, … mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Hebr 2,9). Man beachte: Es heißt hier nicht »Herr Jesus«, sondern nur »Jesus«; denn der Schreiber will hervorheben, dass nun ein verherrlichter Mensch im Himmel ist. Dieser eine Mensch hat die Herrlichkeit für den Menschen wieder erlangt. Als er davor stand, seinen Lauf zu vollenden im Leiden und Sterben für Sünder, bat er seinen Gott und Vater: »Verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war« (Joh 17,5). Der Vater hat die­ ses Gebet erhört; er hat seinen Sohn erhöht und verherrlicht (Apg 3,13). Und in Joh 17,22 sagt der Sohn zum Vater: »Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben.« Was er als der Erbe aller Dinge (Hebr 1,2) vom Vater empfing, gibt er uns. Wir erben mit ihm. Wir haben das Erbe noch nicht angetreten; es ist aber für uns im Him­ mel aufbewahrt (1Petr 1,3­4). Und das Erbe ist sicher, das wir mit Chris­ tus erben. Wie sollte Christus, der Erbe aller Dinge, enterbt werden? Wie sollte er sich sein Erbe verscherzen und verlieren? Das ist unmöglich; daher können die Miterben es auch nicht verlieren. Die einzige Frage, die sich nun stellt, ist: Bist du Gottes Kind? Das muss man wissen; das muss geklärt werden. In den Versen 12­16 stehen Merkmale, an denen jeder erkennen kann, ob er ein Kind Gottes ist.

Dass wir als Miterben »mitleiden«, bedeutet, dass wir mit Christus leiden. Wir haben Gemeinschaft mit seinen Leiden (Phil 3,10). So wie die Welt ihn hasste, hasst sie uns; so wie sie ihn verfolgte, verfolgt sie uns (Joh 15,18.20); so wie sie ihn nicht erkannte, erkennt sie auch uns nicht (1Jo 3,1). Die Welt hasste den Herrn, weil er von ihr zeugte, dass ihre Werke böse waren (Joh 7,7); die Welt hasst uns, weil wir »nicht von der Welt sind« (Joh 17,14; vgl. 15,19). Das sind Leiden, die wir mit dem Herrn teilen. Sein sühnendes Leiden am Kreuz, wo er stellvertretend für Sünder litt, kann niemand mit ihm teilen. Das trug er allein. »damit wir auch mitverherrlicht werden«: (siehe Joh 17,22; Offb 21,11; 1Thes 2,12). Beachten wir, dass dies ein Finalsatz ist; er drückt eine Absicht aus. Wir sollen nach Gottes Rat und Vorsatz ver­ herrlicht werden, und gerade dazu sendet er uns Leiden. Paulus sagt nicht, dass wir verherrlicht werden unter der Bedingung, dass wir mit­ leiden. Nein, er sagt den Empfängern, dass sie auch daran als Kinder und Erben Gottes zu erkennen sind, dass sie mitleiden; denn Gott führt seine Kinder und Erben durch Leiden, damit sie mit Christus verherrlicht wer­ den. Gott führte Hiob durch Leiden, damit er am Ende erhöht werden konnte. Es ist durchaus nicht nur so, dass wir einst verherrlicht werden, obwohl wir durch Leiden gehen müssen. Nein, wir werden deshalb einst verherrlicht, weil Gott uns durch Leiden führt. Die Leiden sind eines der Mittel, die Gott verordnet hat und die er verwendet, um uns zu vollenden. Bedenken wir, dass keines der Mittel, die Gott auswählt, e rlässlich ist. Das aber heißt: Leiden wir nicht, werden wir nicht verherrlicht. Führt Gott uns nicht durch Leiden, dann wirkt er nicht an uns, um uns für die Herrlichkeit zuzurüsten. Darum sagt Petrus, dass wir leiden, »wenn es nötig ist« (1Petr 1,6), und darum sagt der Apostel, dass die Bedräng­ nisse, welche die Philipper von den Widersachern erfuhren, ein Beweis ihres Heils (Phil 1,28) waren, wie auch die Drangsale der Thessalonicher bewiesen, dass sie des Reiches Gottes würdig waren (2Thes 1,4­5). Leiden bewirkt Ausharren (Röm 5,3), und Leiden bewirkt Heiligung. Das lernen wir in Joh 17,14­17. Gott verwendet den Hass der Welt, um uns zu heiligen. Wie geschieht das? Indem dieser Hass uns drängt, den Herrn zu suchen. Er redet dann zu uns durch sein Wort, und dieses Wort heiligt uns. Es sondert uns ab von der Welt und bindet uns enger an Gott.

3. Hoffnung und Gewissheit im Leiden (8,18­-30) [266]

Nun greift Paulus das Stichwort auf, das er in den einleitenden Sätzen zu diesem dritten Teil des Römerbriefes (Kap. 5 – 8) gegeben hatte: »[Wir] rühmen uns der Hoffnung der Herrlichkeit« (5,2). In V. 18 nennt er die »zukünftige Herrlichkeit«, in V. 20 kommt nach 5,5 das Wort »Hoff­ nung« erstmals wieder vor. Hoffnung ist Gewissheit kommender Herr­ lichkeit. Mit dieser Gewissheit gehen wir durch die Zeit, die der Sünde wegen böse Zeit ist, und wir gehen durch die Welt, die der Sünde wegen eine Stätte des Leidens und des Todes ist. Kein Böses, kein Leiden und kein Tod – nichts kann die Hoffnung des Kindes Gottes zerschlagen. Dafür sorgt Gott selbst. Sein Wort stellt uns unsere Hoffnung vor Augen, sein Geist hilft unserer Schwachheit auf (V. 26), und er selbst lässt alles, was uns befallen mag, zum Guten zusammenwirken (V. 28). Auf diese Weise führt er seinen Vorsatz aus im Angesicht aller Widerwärtigkeiten und Anfechtungen (V. 29­30).

Dieser Abschnitt (V. 18­30) zerfällt in drei Teile: 1. Leiden und Hoffnung (8,18-25); 2. Leiden und der Beistand des Geistes (8,26-27); 3. Leiden und Gottes Vorsatz (8,28-30).

Im anschließenden Abschnitt (V. 31­39) geht es um Leiden und Liebe. Durch Leiden zur Herrlichkeit, das ist ein Thema, das im Neuen Testa­ ment an vielen Orten behandelt wird, wie folgende Auswahl von Bibel­ stellen zeigen kann: Apg 14,22; 2Kor 4,17; 2Thes 1,4­5.10; 2Tim 2,12; 1Petr 1,6­7; 4,12­13; Offb 1,9.

a. Leiden und Hoffnung (8,18-25)

18 Denn ich rechne, dass die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.

Wir haben eben gehört, dass Leiden ein Mittel ist, das Gott ver wendet, um uns zur Herrlichkeit zu führen (V. 17). Da könnte man versucht sein zu fragen, ob es sich denn lohne, den Druck der Leiden zu tra­ gen, bis wir endlich verherrlicht werden, ob uns Gott da nicht zu viel aufbürde. Da antwortet Paulus gleich zu Beginn: »Ich rechne, dass die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zu künftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.« Er »rechnet« (logizomai [wie in 4,3]), dass alles Leiden in der Zeit nicht zu vergleichen ist mit der kommenden Herrlichkeit. Wir lernen daran den Wert des Leidens: Leiden ist nicht alles; denn es geht vor über; aber Leiden ist wirklich; es nicht etwa »Illusion« oder »Nichts«, sondern es hat sein Gewicht. Doch sein wahres Gewicht erkennen wir erst, wenn wir es gegen die kommende Herrlichkeit aufrechnen. Ver glichen damit sind die Leiden nicht der Rede wert. Und doch hat es großen Wert, denn es erzieht uns für die kommende Herrlichkeit. Welche Er leichterung, das zu wissen! In diesem Licht wird Leiden, so sehr es uns drücken mag, trotz allem leicht (2Kor 4,17­18). Es hat also geringes Gewicht. Hat Gott das nicht wunderbar eingerichtet? Das Leiden hat großen Wert, aber es hat trotzdem nur geringes Gewicht. Was wir als sinnvoll erkennen, können wir tragen. Solange uns eine Sache sinnlos erscheint, ist sie uns unerträglich.

19 Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes.

20 Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden (nicht mit Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat), auf Hoffnung,

Inwiefern erläutert der 19. Vers die Aussage des 18. Verses? Paulus hat eben gesprochen von der »Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll«. Die Söhne Gottes sollen einmal offenbar werden, und darauf war­ tet die ganze Schöpfung, denn dann wird auch sie von den Folgen der Sünde befreit werden.

Wenn die Schöpfung »sehnsüchtig … wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes«, verstehen wir, wie wichtig diese Offenbarung für die ganze Schöpfung sein muss. Wir sind schon Söhne Gottes (8,14), aber es noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden (1Jo 3,2). Da wir noch nicht verherrlicht sind, erkennt uns die Welt nicht, so wenig sie Jesus erkannte, als er in Knechtsgestalt unter ihnen war (1Jo 3,1). Aber wir werden offenbar werden: »Wenn Christus, unser Leben, offenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbart werden in Herrlichkeit« (Kol 3,4). Und erst dann, wenn der Mensch verherrlicht und damit von allen Folgen der Sünde befreit ist, wird auch die Schöpfung befreit werden.

»Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden«, d. h., sie war es zuerst nicht. Und sie wurde »nicht mit Willen«, d. h. nicht aus eigenem Entschluss, der Nichtigkeit unterworfen, sondern »um deswillen, der sie unterworfen hat«, d. h. um des Menschen wil­ len. Obwohl es Gott war, der als Folge der Sünde den Tod und damit Verfall und Verwesung über die Schöpfung verhängte, geschah es doch durch den Menschen. Den hatte Gott zum Herrn über die ganze Schöp­ fung gesetzt (1Mo 1,26). Als der Mensch die Sünde wählte, erlag er dem Tod und riss die ganze Schöpfung, die Gott ihm unterstellt hatte, mit sich hinab in Tod und Vergänglichkeit. Seither ist alles Leben in dieser Schöp­ fung mit Schmerzen und Stöhnen erfüllt; und alles Lebendige endet unausweichlich im Tod.

Halten wir fest, was über den Ursprung von Leiden uns gesagt wird: a. Es ist von Gott verordnet.

b. Es ist vom Menschen verschuldet.

21 dass auch selbst die Schöpfung frei gemacht werden wird von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.

Die Schöpfung folgt dem Menschen: Als dieser fiel, fiel auch sie (1Mo 3,17­18); wenn er einst verherrlicht und damit allen Folgen der Sünde ledig wird, wird auch die Schöpfung »frei gemacht … von der Knechtschaft des Verderbnisses«. Die Propheten des Alten Testaments haben wiederholt angekündigt, dass alles Seufzen der Schöpfung sich dann in Frohlocken wandeln wird (Ps 96 12,; 98,8; Jes 35 1,; 55,12). »Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes« ist die Freiheit, die wir haben werden, wenn wir verherrlicht sind, und das ist noch zu künftig. Wir sind jetzt schon durch den Sohn Gottes frei gemacht worden (Joh 8,36; Gal 5,1), frei von der Schuld und von der Macht der Sünde – frei, ihm und seiner Gerechtigkeit zu dienen. Aber wir sind noch nicht frei von der Gegenwart und von allen Folgen der Sünde. Das wird erst der Fall sein, wenn Christus vom Himmel kommt und auch unseren Leib ver wandelt, sodass er seinem Herrlichkeitsleib gleich­ förmig sein wird (Phil 3,20­21). Wenn Christus, unser Heiland, die Herrschaft über die Erde angetreten hat (Jes 11,1­5), wird die Tierwelt wieder in den Stand zurückgeführt werden, den sie vor dem Sündenfall hatte (Jes 11,6­9).

22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. »Denn wir wissen«: Es ist lebensnotwendig, dass wir wissen (siehe auch 5,3; 6,3.6.9). Beachten wir, wie Paulus in V. 26 von Dingen redet, die wir nicht wissen, um in V. 28 wiederum auf etwas zu verweisen, was wir wissen. Was wissen wir? »… dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt«. Seit dem Sündenfall lastet Gottes Fluch auf dem Erdboden, Dornen stechen und Nesseln brennen, kalte Winde heulen, Hagel schmettert auf goldenen Weizen, und im Staub schleicht die Viper und sucht Beute. Die ganze Schöpfung stöhnt, doch sie stöhnt »in Geburtswehen«. Es sind Schmer­ zen, die eine Geburt ankündigen (vgl. 1Mo 3,16; Mt 24,8; Jer 30,6­7). Wenn das neue Leben geboren worden ist, vergisst man allen vor­ herigen Schmerz (vgl. Joh 16,21). Mit der Wiedergeburt Israels (Mt 19,28) wird Gott den Fluch von dieser Schöpfung weg nehmen. Dann wird man nichts Böses mehr tun und kein Verderben mehr an richten auf Gottes heiligem Berg (Jes 11,9). Dort, wo der Herr dann seine Wohnstätte haben wird (Jes 2,2­3), wird er allen Völkern »ein Festmahl … be reiten« (Jes 25,6), und dann wird er »auf diesem Berg den Schleier ver nichten, der alle Völker verschleiert, und die Decke, die über alle Na tionen gedeckt ist« (Jes 25,7). Die Menschen werden dann sehen, was ihnen jetzt verhüllt ist. Die Erkenntnis des HERRN und seiner Herrlichkeit wird die Erde erfüllen (Jes 11,9; Hab 2,14). Diese erneuerte Schöpfung wird schließlich ver gehen (Mt 24,35; 2Petr 3,10­11), und Gott wird einen neuen Himmel und eine neue Erde er schaffen (Offb 21,1). Das ist das wirklich Neue, und das wird nie ver­ gehen.

23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes.

24 Denn in Hoffnung sind wir errettet worden. Eine Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung; denn was einer sieht, was hofft er es auch?

»Nicht allein aber sie«, die Schöpfung, sondern auch wir seufzen. Das Ergehen von Mensch und Schöpfung und Schöpfung und Mensch hängt aneinander. Seufzt die Schöpfung, seufzen auch wir; und seufzen wir, seufzt auch die Schöpfung. Und wie die Schöpfung »sehnsüchtig … wartet« auf die Offenbarung der Söhne Gottes, so »seufzen« auch wir »und erwarten die Sohnschaft«. In 8,15 hatten wir gelesen, dass Gott uns bereits den »Geist der Sohnschaft« gegeben hat; aber die volle Sohn­ schaft, bei der nicht nur der innere Mensch neu geworden ist, erlangen wir erst bei der »Erlösung unseres Leibes«. Wir haben »die Erstlingsgabe des Geistes«, d. h., wir besitzen als Erstlingsgabe den Heiligen Geist211 »Erstlingsgabe des Geistes«, aparch tou pneumatoj, aparchē tou pneumatos, ist ein sogenanntesGenitivus epexegeticus, d. h., der Genitiv sagt aus, worin die Gabe besteht. Wir können umschreiben:»Wir haben als Erstlingsgabe den Geist.« So ist auch »das Zeichen des Menschensohnes« (Mt 24,30)nicht ein Zeichen, das der Menschensohn gibt, sondern er selbst ist dieses Zeichen für alle Welt, wenner plötzlich erscheint. Dass Abraham »das Zeichen der Beschneidung« empfing (Röm 4,11), meint,dass er »als Zeichen die Beschneidung« empfing. Ähnlich wird der Genitiv verwendet in Röm 5,17(siehe Anmerkungen zu dieser Stelle); Röm 15,16; Lk 4 33,; 11,29; Joh 2 21,; 11,13; Apg 2 33,; 10,45;1Kor 5,8; Hebr 6,1.. Der Geist der Sohnschaft (8,15) und mit ihm die neue, die göttliche Natur (2Petr 1,4), die uns Gottes Geist mit der Wiedergeburt eingepflanzt hat, verbindet uns mit dem zu künftigen Zeitalter. Er ist eine erste Gabe aus jener Welt, die wir bereits in die­ ser Welt besitzen (2Kor 1,22). Der Geist ist das Unterpfand dafür, dass »die Sohnschaft«, die uns mit der Gabe des Geistes schon gegeben ist (siehe oben V. 14­15), zur Vollendung kommen wird: Auch unser Leib wird erlöst werden (siehe Eph 1 14,; 4,30). Wir sind ja »Erben Gottes und Miterben Christi« (V. 17). So wie Gott seinen Knecht Jesus ver herrlichte (Apg 3,13), wird er darum auch uns verherrlichen (Phil 3,20­21). Darum kann Paulus in Kol 1,27 sagen: »Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.« Christus in uns, der Heilige Geist in uns, die göttliche Natur in uns: Das alles sind Erstlingsgaben, die uns die Ge wissheit geben, dass wir ins Vaterhaus eingehen werden, wie der Herr verheißen hat (Joh 14,2­3).

Das alles bedeutet, dass wir, die wir errettet sind, »in Hoffnung … errettet worden [sind]«. Hoffnung bedeutet ja nicht, dass die Sache wünschenswert, aber nicht gewiss wäre. Vielmehr bedeutet Hoffnung im biblischen Sinn Gewissheit über noch nicht verwirklichte Ver heißungen. Abraham war ein Sohn verheißen worden; er hoffte, wo es nichts zu hof­ fen gab (Röm 4,18), in der vollen Gewissheit, dass Gott, was er ver­ heißen hatte, erfüllen würde (Röm 4,21). Die Hoffnung der Errettung ist eben die Gewissheit, dass unsere Errettung in der Verherrlichung zur Vollendung kommt. Entsprechend müssen wir auch verstehen die »Hoffnung der Gerechtigkeit« (Gal 5,5), die »Hoffnung des ewigen Lebens« (Tit 1 2,; 3,7), »die Hoffnung [der] Berufung« (Eph 1,18; vgl. 4,4), die »Hoffnung des Evangeliums« (Kol 1,23). »Eine Hoffnung …, die gesehen wird, ist keine Hoffnung«: Von der Verherrlichung des Leibes und von der Befreiung der ganzen Schöp­ fung von den Folgen der Sünde sehen wir noch nichts. Was wir aber sehen, ist »Jesus … mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Hebr 2,9). Er ist 211 »Erstlingsgabe des Geistes«, aparch tou pneumatoj, aparchē tou pneumatos, ist ein sogenanntes Genitivus epexegeticus, d. h., der Genitiv sagt aus, worin die Gabe besteht. Wir können umschreiben: »Wir haben als Erstlingsgabe den Geist.« So ist auch »das Zeichen des Menschensohnes« (Mt 24,30) nicht ein Zeichen, das der Menschensohn gibt, sondern er selbst ist dieses Zeichen für alle Welt, wenn er plötzlich erscheint. Dass Abraham »das Zeichen der Beschneidung« empfing (Röm 4,11), meint, dass er »als Zeichen die Beschneidung« empfing. Ähnlich wird der Genitiv verwendet in Röm 5,17 (siehe Anmerkungen zu dieser Stelle); Röm 15,16; Lk 4 33,; 11,29; Joh 2 21,; 11,13; Apg 2 33,; 10,45; 1Kor 5,8; Hebr 6,1. uns als unser Vorläufer vorangegangen in den Himmel (Hebr 6,19­20), und wir werden ihm folgen.

25 Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren.

»Wenn wir … hoffen, was wir nicht sehen«: Gott hat uns die kom­ mende Herrlichkeit verheißen, aber er hält sie verborgen, um uns zum Ausharren zu nötigen. »Der Glaube ist eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft, ein Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« (Hebr 11,1). In diesem Überzeugtsein »warten wir mit Ausharren«. Wir müssen noch ausharren, wir müssen durch Widerstand, Aus harren und Leiden. Doch werden wir durch Gott gekräftigt »zu allem Aus harren« (Kol 1,11). Zuerst kräftigt er uns, indem er uns die Hoffnung der kom­ menden Herrlichkeit vor Augen stellt. Solange wir hoffen, können wir ausharren. Aber er kräftigt uns auch selbst. Er kommt im Heiligen Geist und tritt an unsere Seite.

b. Leiden und der Beistand des Geistes (8,26-27) Nicht nur die Schöpfung seufzt zusammen mit uns (V. 22-­23), sondern auch der Geist, der in uns wohnt, seufzt. Er ist für uns, so wie Gott der Vater und Gott der Sohn für uns sind (V. 31.34). Diesen dreifachen Bei­ stand haben wir sehr nötig, weil wir so schwach sind, was sich immer wieder zeigt in den allerlei Prüfungen, denen wir auf dem Weg zur Er ­ lösung des Leibes ausgesetzt sind.

26 Desgleichen aber nimmt auch der Geist sich unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir bitten sollen, wie sichʼs gebührt, aber der Geist selbst verwendet sich für uns in unaussprechlichen Seufzern.

27 Der aber die Herzen erforscht212, weiß, was der Sinn des Geistes ist, denn er verwendet sich für Heilige Gott gemäß. 212 Vgl. Offb 2,23.

»Desgleichen«: Mit diesem Wort knüpft Paulus an die Aussage von V. 25 an. Weil wir hoffen, harren wir aus. Wir haben die Erlösung des Leibes, die kommende Verherrlichung vor Augen, und das gibt uns Kraft zum Ausharren. Dazu kommt nun das Wirken des Heiligen Geistes, der uns ebenfalls kräftigt. Er gibt uns zur objektiven Tatsache, dass wir für die Herrlichkeit bestimmt sind, die subjektive Gewissheit, dass wir einst in die Herrlichkeit eingehen werden. Er »nimmt … sich unserer Schwachheit an«, er weiß, dass wir den Mut und die Zuversicht leicht ver lieren. Darum kommt er uns zu Hilfe und nährt unseren Glauben und hält so die Hoffnung am Leben. Er »nimmt … sich … an«, synantilambanetai, ein Verb, das außer hier nur noch in Lk 10,40 verwendet wird (wo es mit »helfen« übersetzt ist). Das Wort ist zusammengesetzt aus syn = mit, anti = anstelle von, lambanō = annehmen. Der Heilige Geist wirkt etwas mit uns: Wir beten, und er betet. Er wirkt dabei anstelle von uns, d. h., er tut dabei Dinge, die wir, wären wir nicht so schwach, hätten tun sollen, aber nicht können. Auf diese Weise hilft er uns auf (vgl. V. 26 [Luther 1912]).

Wir haben diese Hilfe nötig, »denn wir wissen nicht, was wir bitten sollen«. Da wir als Erlöste unseren Weg durch eine Welt der Sünde und des Todes gehen müssen, geschehen oft Dinge, die wir in unserer Schwachheit nicht erklären können, und dann wissen wir nicht, was wir beten sollen. Mose flehte den HERRN darum an, ins Gelobte Land ein­ ziehen zu dürfen, aber Gott verwies es ihm (5Mo 3,23­26). Paulus wurde von einem Dorn im Fleisch, einem Engel Satans, geplagt und meinte, er müsse Gott darum bitten, dass er von diesem befreit werde. Gott aber gab ihm nicht, worum er bat, sondern etwas Besseres, worum er nicht ge betet hatte (2Kor 12,7­9). Wie oft wissen auch wir nicht, was wir beten sol­ len, wenn etwa jemand krank ist. Sollen wir um Heilung beten oder um Geduld, das Leiden zu tragen? Wenn wir ratlos sind, sollen wir wissen, dass der Geist sich für uns »verwendet … in unaussprechlichen Seufzern«. Wir verstehen zwar nicht, was der Geist dabei sagt, denn seine Seufzer geschehen in Worten, die nicht ausgesprochen werden213 alalhtoj, alalētos, kann beides bedeuten: unaussprechlich und unausgesprochen., aber uns genügt das Wissen, dass er, »der … die Herzen erforscht, weiß, was der Sinn des Geistes ist«. Und so wie der Vater den Sohn allezeit erhört (Joh 11,42), so erhört er auch das Seufzen des Geistes. Wenn es 213 alalhtoj, alalētos, kann beides bedeuten: unaussprechlich und unausgesprochen. heißt, dass er, der die Herzen des Christen erforscht, weiß, was der Sinn des Geistes ist, dann müssen wir daraus schließen, dass der Heilige Geist in unseren Herzen betet. Das sagt Paulus mit anderen Worten auch in Gal 4,6: »Gott hat den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!« Anders als in Röm 8,15 steht dort nicht, dass wir durch den Geist rufen, sondern dass es der Geist selbst ist, der in unseren Herzen ruft. Das bedeutet, dass hier auf der Erde der Geist in uns sich für uns verwendet und dass Christus im Himmel sich vor Gott für uns ver­ wendet (8,34).

Der Geist »verwendet sich für Heilige«, nicht für die Ungläubigen, wie auch der Sohn Gottes nicht für die Welt betet, sondern nur für die Seinigen (Joh 17,9). Und der Geist betet »Gott gemäß«, d. h. nach Got­ tes Rat und entsprechend Gottes Absichten.

Da uns Gottes Geist darüber hinaus auch wachsendes Verständnis über Gottes Wege und Absichten gibt (1Kor 2,12) – denn er lehrt uns, erinnert uns an biblische Wahrheiten (Joh 14,26) und führt uns immer tiefer hinein in Gottes Wahrheit (Joh 16,13) –, können wir trotz häu­ figer Ratlosigkeit doch immer wieder das Rechte erbeten und emp fangen (Mt 7,7).

c. Leiden und Gottes Vorsatz (8,28-30)

Im vorhergehenden Abschnitt hatte Paulus die Leiden der Jetztzeit in Beziehung gesetzt zur kommenden ewigen Herrlichkeit. Jetzt stellt er das Leiden in Beziehung zu Gottes ewigem Heilsvorsatz, also zur vorzeit­ lichen Ewigkeit. Erst damit ist das Bild vollständig. Die Zeit, in der wir leben, ist nur ein Hauch zwischen der vorzeitlichen und der nachzeit­ lichen Ewigkeit. Alles, was in der Zeit geschieht, erklärt sich von Gottes vor der Zeit gefasstem Heilsrat her, der in die ewige Herrlichkeit mündet. 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten zusammenwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind. 29 Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvorbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. »Wir wissen aber«: Was wir bitten sollen, wissen wir nicht (V. 26); was wir hingegen immer wissen, ist, »dass … alle Dinge zum Guten zu sammenwirken«. Wir mögen nur Schmerz empfinden und alles mag ganz dunkel sein, aber alles, was an uns und mit uns geschieht, wirkt mit und trägt bei »zum Guten«, das Gott für uns bestimmt hat. Das gilt aber nur »denen, die Gott lieben«, mit anderen Worten den »Heiligen« (siehe V. 27), denen, die der Vater dem Sohn ge geben hat (siehe Joh 17,9). Denn es kann von niemandem gesagt werden, dass er Gott liebe, außer Gott habe ihn zuerst geliebt (1Jo 4,19) und ihm seine Liebe ins Herz ausgegossen (Röm 5,5). Die Gott von Ewigkeit her geliebt hat (Jer 31,3), die Freunde des Sohnes, die er mit der größten Liebe geliebt hat, die es geben kann (Joh 15,13), die sind es, die Gott lie­ ben. Und für die gilt, dass alle Dinge zum Guten mitwirken. Von denen, die Gott lieben, heißt es als Nächstes, dass sie »nach Vorsatz berufen sind«. Das bedeutet, dass Gott eine ganz bestimmte Absicht hatte mit denen, die er berief. Was diese Absicht ist, sagt er in Vers 29. Beachten wir aber zunächst: Die Berufung geschah nach Vor- satz – hier steht nichts von Nachsatz. Gottes Vor­satz geht voraus; was an und mit uns geschieht, ist Folge davon. Wir dürfen nicht umkehren, was uns Gott durch den Apostel sagt, so gerne wir es tun, und sagen: Wir haben geglaubt, und als Folge davon hat Gott uns berufen. Nein, Gott hat berufen; das Ergebnis war, dass wir zum Glauben kamen. C. E. B. Cranfield führt in seinem gelehrten zweibändigen Kommen­ tar Beispiele von »Kirchenvätern« an, die das anders aufgefasst haben (Wie könnte es anders sein?), um dann etwas weiter unten die Tragweite des richtig verstandenen Vorsatzes Gottes für die Hoffnung des Christen darzulegen:

»Origenes … zieht es vor, prothesis (Vorsatz) auf den Menschen zu be ziehen. Er sagt: ›Jene, die berufen werden gemäß einer guten Wahl und einem guten Willen, den sie bezüglich des Dienstes Gottes haben, diese sind es, von denen es heißt, dass sie nach Auswahl berufen worden sind.‹ Diese Deutung, welche kata prothesin (nach Vorsatz) auf den freien Akt der Wahl durch die Berufenen bezieht, findet sich bei Chrysostomos, Theodoret, Oecumenius und anderen griechischen214 Kommentatoren.«215 214 A. d. H.: Gemeint sind griechischsprachige Kommentatoren bzw. Exegeten215 C. E. B. Cranfield, Commentary on the Epistle to the Romans, Bd. 1, S. 429.. C. E. B. Cranfield, Commentary on the Epistle to the Romans, Bd. 1, S. 429. »Die Verse 28-30 wollen die Gewissheit der Hoffnung hervorheben, von der in den Versen 17-27 gesprochen worden war. Auf diese Gewissheit weist der erste Teil von V. 28 hin; aber hätte Paulus nichts mehr gesagt, wäre dessen Fülle unausgesprochen geblieben. Man beginnt erst dann zu sehen, dass hinter jener Liebe, welche die durch Glauben Gerechtfertigten zu Gott haben … Gottes zuvor geschehene Auswahl von ihnen steht (man vergleiche 1Jo 4,19). Paulus korrigiert sich gewissermaßen: ›denen, die Gott lieben‹ – das heißt, ›jenen, die nach Vorsatz berufen sind‹. Die Liebe, welche sie zu Gott haben, ist Zeichen und Ausdruck dafür, dass Er sie zuerst geliebt hat. Die Gewissheit der Hoffnung, von der Paulus gesprochen hat, ruht auf nichts Geringerem als auf dem Vorsatz Gottes.«216

Den V. 29 leitet Paulus mit einem »Denn« ein; das bedeutet, dass er die Erklärung gibt für das, was er in V. 28 gesagt hatte: Alles wirkt zusammen zum Guten denen, die Gott lieben, die er nach seinem Vorsatz berufen hat. Was dieser Vorsatz oder diese seine Absicht ist, wird hier erklärt: Er hat die Berufenen dazu bestimmt, »dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein«. Das ist das Gute, zu dem jedes Leid und alle Not beitragen müs­ sen, das ist die Absicht, die Gott an den Seinen vorantreibt und erfüllt. So zu sein wie sein Sohn, dazu hat Gott sie »zuvorbestimmt« oder, wie wir mit dem lateinischen Fremdwort sagen, prädestiniert. Wir alle, die wir an den Sohn Gottes glauben, sollen dem Sohn Gottes gleich werden (siehe auch 1Kor 15,47­49; 1Jo 3,2). Dazu gehört auch die Verherrlichung des Leibes (siehe oben V. 23 und 1Kor 15,51­53; Phil 3,20­21). »In Christus, Christus gleich, Brüder mit dem Erstgeborenen! Das ist der höchste Platz, den Gott Geschöpfen überhaupt geben konnte. Gott stellt uns dorthin, und von Christus steht geschrieben: ›Er schämt sich nicht, sie Brüder zu nennen‹, weil wir zusammen mit Christus ›alle von einem sind‹ (Hebr 2,11)! Das ist, in der Tat, die Absicht der Gnade, uns nicht allein durch Jesus zu segnen, sondern uns mit ihm zu segnen.«217 In V. 28 hatte Paulus gesagt, dass das für alle gilt, die Gott lieben; hier sagt er von diesen, dass Gott sie »zuvorerkannt hat«. Wir dürfen wiederum 216 C. E. B. Cranfield, a. a. O., Bd. 1, S. 431.217 William R. Newell, Romans Verse by Verse (siehe Anmerkungen zu 8,29). das Wort »zuvor« nicht überlesen. Ehe wir Gott erkannten, hatte Gott uns erkannt. Petrus sagt von den Erretteten, dass sie auserwählt sind »nach Vorkenntnis Gottes« (1Petr 1,2). Wen Gott erkennt, mit dem verbindet er sich. Von Israel sagt Gott durch den Propheten Amos: »Hört dieses Wort, das der HERR über euch redet, ihr Kinder Israel, über das ganze Geschlecht, das ich aus dem Land Ägypten heraufgeführt habe! Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt« (Am 3,1­2). Adam erkannte Eva, seine Frau (1Mo 4,1). Gott erkannte Abraham, »damit (hebr. lema‘an [ein Bindewort, das stets eine Absicht ausdrückt]) er seinen Kindern … befehle« (1Mo 18,19).218 Christus war als Lamm zuvorerkannt worden vor Grundlegung der Welt (1Petr 1,19), d. h. dazu verordnet219 »Der Sohn Gottes wurde vom Vater ausersehen, das Lamm Gottes zu sein, ehe die Welt war. So, wiePetrus hier den Ausdruck ›zuvorerkannt‹ verwendet, zeigt deutlich genug, dass in V. 2 [in Kap. 1,2]mit ›Vorkenntnis‹ nicht gemeint ist, Gott habe unseren Glauben vorhergesehen. Welche abwegigeVorstellung ergäbe diese Bedeutung von ›Vorkenntnis‹ an der vorliegenden Stelle! Soll Gott lediglichvorher gewusst haben, dass Christus als Lamm Gottes in dieser Welt erscheinen würde? Wenn Gottjemanden erkennt, dann verbindet er sich mit ihm (Am 3,2), dann wirkt er an ihm so, dass derjenigedas wird und das tut, was Gott für ihn vorgesehen hat (siehe 1Mo 18,19). Somit können wir auchsagen: Gott hat seinen Sohn dazu verordnet, das Opferlamm zu werden. Er sollte aber Opferlamm sein,um Erlösung zu wirken« (B. Peters, Der erste Brief des Petrus, Bielefeld: CLV, 2013, S. 41­42).. In Röm 11,2 sagt der Apostel, dass Gott sein Volk, das er zuvorerkannt hat, nicht verstoßen wird. Zur vorliegenden Stelle schreibt der englische Bibelausleger William Kelly, Weggefährte und Mitstreiter von J. N. Darby:

»Es ist wichtig zu beachten, dass der Apostel nicht von einem passiven oder bloßen Vorherwissen spricht, als ob Gott lediglich vorhergesehen hätte, was einige sein oder tun oder glauben würden. Seine Vor kenntnis gilt Personen, nicht ihrem Zustand oder Benehmen; es geht nicht um das, was, sondern um ›die, welche‹ er zuvorerkannt hat. Ferner: jene, die er zuvorerkannte, alle jene und keine anderen, die hat er auch zuvor verordnet, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein. Es ist offensichtlich, und wir tun gut daran, es zu beachten, dass das Ende mit dem Anfang zusammengebunden ist.«220

Der bekannte Bibellehrer William MacDonald schreibt: »Gott hat uns vor aller Zeit zuvorerkannt. Das war nicht ein bloßes Wissen oder Zur-Kenntnis-Nehmen. Selbstverständlich kannte Gott seit jeher 218 Die Elb 2003 hat leider »auf dass« (UELB) in »dass« verändert219 »Der Sohn Gottes wurde vom Vater ausersehen, das Lamm Gottes zu sein, ehe die Welt war. So, wiePetrus hier den Ausdruck ›zuvorerkannt‹ verwendet, zeigt deutlich genug, dass in V. 2 [in Kap. 1,2]mit ›Vorkenntnis‹ nicht gemeint ist, Gott habe unseren Glauben vorhergesehen. Welche abwegigeVorstellung ergäbe diese Bedeutung von ›Vorkenntnis‹ an der vorliegenden Stelle! Soll Gott lediglichvorher gewusst haben, dass Christus als Lamm Gottes in dieser Welt erscheinen würde? Wenn Gottjemanden erkennt, dann verbindet er sich mit ihm (Am 3,2), dann wirkt er an ihm so, dass derjenigedas wird und das tut, was Gott für ihn vorgesehen hat (siehe 1Mo 18,19). Somit können wir auchsagen: Gott hat seinen Sohn dazu verordnet, das Opferlamm zu werden. Er sollte aber Opferlamm sein,um Erlösung zu wirken« (B. Peters, Der erste Brief des Petrus, Bielefeld: CLV, 2013, S. 41­42).. »Der Sohn Gottes wurde vom Vater ausersehen, das Lamm Gottes zu sein, ehe die Welt war. So, wie Petrus hier den Ausdruck ›zuvorerkannt‹ verwendet, zeigt deutlich genug, dass in V. 2 [in Kap. 1,2] mit ›Vorkenntnis‹ nicht gemeint ist, Gott habe unseren Glauben vorhergesehen. Welche abwegige Vorstellung ergäbe diese Bedeutung von ›Vorkenntnis‹ an der vorliegenden Stelle! Soll Gott lediglich vorher gewusst haben, dass Christus als Lamm Gottes in dieser Welt erscheinen würde? Wenn Gott jemanden erkennt, dann verbindet er sich mit ihm (Am 3,2), dann wirkt er an ihm so, dass derjenige das wird und das tut, was Gott für ihn vorgesehen hat (siehe 1Mo 18,19). Somit können wir auch sagen: Gott hat seinen Sohn dazu verordnet, das Opferlamm zu werden. Er sollte aber Opferlamm sein, um Erlösung zu wirken« (B. Peters, Der erste Brief des Petrus, Bielefeld: CLV, 2013, S. 41­42).220 William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 153 (zu 8,29). einen jeden, der geboren werden sollte. Aber seine Vorkenntnis umfasste nur jene, die er dazu verordnet oder prädestiniert hatte, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu werden. Es war eine Erkenntnis ver bunden mit einer Absicht, die nie vereitelt werden kann. Es genügt nicht zu sagen, dass er jene zuvorerkannte, die eines Tages Buße tun und glauben würden. Es ist vielmehr Gottes Vorkenntnis, welche Buße und Glauben sicherstellen.«221

C. E. B. Cranfield erklärt:

»hous proegnō (welche er zuvorerkannt hat), zu vergleichen mit 11,2 und 1Petr 1,2. Dieses -egnō (-erkannt) muss verstanden werden im Lichte des Gebrauchs von jāda‘ in Stellen wie 1Mo 18,19; Am 3,2 (wo es jenes besondere Zur-Kenntnis-Nehmen einer Person ist, welches die er wählende Gnade ist).«222

30 Welche er aber zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und welche er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht. »Welche er … zuvorbestimmt hat«: Das sind seine geliebten Kinder, die er zuvor dazu bestimmt hat, »dem Bilde seines Sohnes gleich förmig zu sein« (V. 29). Und die er zuvorbestimmt hat, »diese hat er auch be rufen«. Ob wir zuvorbestimmt sind, können wir zunächst nicht wis­ sen. Wir kennen Gottes geheime Ratschlüsse über die einzelnen Men­ schen nicht; aber wir können wissen, was Gott uns offenbart hat (siehe 5Mo 29,28). Das heißt, wir wissen, ob wir berufen worden sind. Wie wurden wir denn berufen? Als wir das Evangelium hörten und glaub­ 221 William MacDonald, Believer’s Bible Commentary. New Testament. A. d. H.: Vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: William MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, Bielefeld: CLV, 7. Auflage 2018, S. 648­649. Anders F. Godet. Zuerst stellt er bezüglich der Vorkenntnis Gottes die Frage: »Sur quoi porte cette préconnaissance? Serait-ce uniquement sur la future personnalité des élus, indépendamment de toute qualification morale de leur personne?« – »Worauf bezieht sich diese Vorkenntnis? Sollte es ausschließlich die zukünftige Persönlichkeit der Erwählten sein, ganz unabhängig von der moralischen Qualifikation ihrer Person?«, worauf er dann fortfährt: »Dieu, discernant chez certains hommes l’aspiration au salut, décide, en raison de cette prédisposition favorable, de leur fair adresser l’appel de sa grâce qui ne peut par conséquent manquer de réussir.« – »Gott, der bei gewissen Menschen das Trachten/Verlangen nach dem Heil wahrnimmt, entscheidet dieser günstigen Haltung wegen, an sie seinen Gnadenruf zu richten, der demgemäß nicht fehlschlagen kann« (Commentaire sur l’épître aux Romains, tome second [Bd. 2], S. 211). Das ist gut katholisch formuliert: Man müsse sich zur Gnade bereiten, d. h. sich ihrer würdig erweisen222 C. E. B. Cranfield, a. a. O., Bd. 1, S. 431.. C. E. B. Cranfield, a. a. O., Bd. 1, S. 431. ten. Gott ruft nicht durch Träume und Visionen zum Heil, sondern durch das Evangelium. In diesem hat uns Gott seinen Heilswillen und sein Heil offenbart, und wenn wir das im Glauben annehmen, dann wissen wir, dass Gott uns berufen hat. Und wenn wir wissen, dass Gott uns berufen hat, dann wissen wir auch, dass er uns »gerechtfertigt« hat. Und wenn wir wissen, dass er uns gerechtfertigt hat, wissen wir auch, dass er uns »auch verherrlicht [hat]«, eben, dass Gott uns dazu bestimmt hat, ein­ mal so zu werden wie sein Sohn (V. 29).

»zuvorbestimmt … berufen … gerechtfertigt … verherrlicht«: Diese Werke Gottes hängen zusammen wie die Glieder einer Kette: Gott hat zuvorbestimmt, Gott hat berufen, Gott hat gerechtfertigt, Gott hat ver­ herrlicht. Der Anfang, der Weg und das Ziel sind von Gott gesetzt. Jedes Glied dieser Kette ist so stark wie derjenige, der es geschmiedet hat, Gott. Das bedeutet, dass kein Glied reißen kann. Und das wiederum bedeutet, dass die Kette nie reißen kann.

»Ich preise Gott dafür, dass sein Geist mich überzeugt hat von der ewigen Erwählung durch den Vater im Sohn, von unserer Rechtfertigung durch den Glauben an sein Blut, von unserer Heiligung und dem sich daraus ergebenden Beharren im Glauben und der Verherrlichung als Folge von dem allen. Ich bin davon überzeugt, dass Gott alle Glieder dieser Kette so miteinander verquickt hat, dass weder Mensch noch Teufel sie zu zerreißen vermögen …«223

»diese hat er auch verherrlicht«: Mit diesem Wort schließt Paulus einen Gedankengang ab, den er in V. 17 eröffnet hatte. Dort hatte Paulus erst­ mals angekündigt, dass die Erlösten mit Christus verherrlicht werden sollen; und in V. 18 spricht er erneut von der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll; und in V. 21 kündigt er die kommende Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes an. Dass die Erlösten einst verherrlicht werden sollen, das hat der Sohn vom Vater erbeten (Joh 17,22). Wenn Christus erscheint, werden diese deshalb mit ihm erscheinen in Herrlich­ keit (Kol 3,4).

4. Wer kann uns scheiden von der Liebe Gottes in Christus Jesus? (8,31­-39) [280]

In den Versen 31­33 nennt Paulus die Gründe, warum die Absicht Gottes mit den Gerechtfertigten (V. 30) nicht fehlschlagen kann. a. Die Macht Gottes bürgt für unser Heil (V. 31). b. Die Liebe Gottes bürgt dafür (V. 32).

c. Die Gerechtigkeit Gottes bürgt dafür (V. 33). d. Das Werk Christi bürgt dafür (V. 34).

In V. 26 hatten wir gesehen: Der Heilige Geist verwendet sich »für uns«; hier erfahren wir, dass Gott »für uns« ist (V. 31) und dass der Sohn Got­ tes sich »für uns« verwendet (V. 34). Wenn der dreieine Gott – der Vater, der Sohn und der Heilige Geist – für uns ist, wer will dann Gottes Heils­ absichten vereiteln und uns verderben?

31 Was sollen wir nun hierzu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns?

Worauf bezieht sich das Wörtchen »hierzu«?224 Bengel zitiert nach Luther: »Was sollen wir denn weiter sagen? Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?«, und fährt fort: »Weiter kann man ja doch nicht gehen, denken, wünschen« (Gnomon [siehe Anmerkungen zu dieser Stelle]). Auf die Kette von 8,30. Gott ist es, der uns zuvorbestimmt hat, Gott hat uns berufen, Gott hat uns gerechtfertigt, Gott hat uns verherrlicht. Das alles sind Beweise für die große Tatsache, dass Gott für uns ist. Wenn nun Gott für uns ist – er, der Höchste, der Erste und der Letzte –, wer will dann gegen uns sein? Es müsste einer höher sein als der Höchste, vor dem Ersten da gewesen sein und noch immer dastehen, wenn der Letzte nicht mehr ist. Das heißt, es könnte nur jemand wider uns sein, wenn Gott selbst wider uns wäre. Das Wunder des Evangeliums strahlt hier besonders hell auf. Gott hat so gehandelt, dass Menschen, die ihn verachtet, die ihm den Dank ver­ weigert hatten (1,21) und die seine Feinde gewesen waren (5,10), nun Gegenstand seiner besonderen Fürsorge und seines Schutzes sind. Aber das ist nicht alles. Der nächste Vers sagt noch Größeres:

32 Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?

Gott schützt uns nicht nur; er schenkt uns auch alles. Das Unterpfand sei­ nes Vorsatzes, uns eines Tages alles zu schenken, ist dies: Er hat bereits das Teuerste gegeben, seinen Sohn. Er gab ihn in den Tod für Sünder. Er gab das Beste des Himmels für das Schlimmste auf der Erde. Was für ein Gott! Hat er das gegeben, »wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?« Wir werden »mit ihm« alles erben, denn wir sind »Miterben Christi« (8,17). Alles, d. h. ewige Glückseligkeit in ewiger Herrlichkeit. 33 Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, der rechtfertigt;

»Man beachte (1): Dieser Abschnitt betrifft Gottes Auserwählte. (2): Gottes Auserwählte glauben nicht lediglich, sondern sind zuversichtlich. Denn keine Anklage kann gegen sie erhoben werden. (3): Sie fordern freimütig vor Gott jeden und jeglichen Feind heraus bezüglich jeder mög lichen Anklage gegen sie. Nicht, dass sie selbst ohne Fehler wären – das wissen sie. Aber Gott ist für sie!«225 W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 337.

Auf die Frage, wer »Anklage erheben« wird, antwortet Paulus, dass es Gott selbst ist, »der rechtfertigt«. Er ist der oberste Richter, der jede Anklage abweist, die der Kläger vor Gericht vortragen mag. Wenn Gott selbst rechtfertigt, dann vermag keine Anklage gegen Gottes Aus­ erwählte etwas. Will der Teufel uns verklagen? Gott wird ihm ant worten: »Ich habe sie gerechtfertigt.« Klagt unser Gewissen uns an? Dann sagen wir uns: Wir sind »Gottes Auserwählte«. Meinen wir, Gott könne uns verstoßen, wenn wir etwas tun, was seiner unwürdig ist? Erwählte er uns denn, weil wir in irgendeiner Weise würdig waren? Seliges Wis­sen: Gott hat mich nicht in mir, sondern in Christus erwählt (Eph 1,4). Gott hat mich also nicht erwählt, weil er etwas an mir sah, was mich für die Erwählung qualifizierte. George Whitefield schrieb im Jahr 1741 in einem Brief an seine Freunde in London:

»Es gibt nichts, was meine Seele so tröstet, wie das Wissen, dass Gott mich nie verlassen wird. Täte er es, müsste er es tun, weil ich seiner nicht würdig wäre. Das kann aber aus diesem Grund nicht geschehen; denn er erwählte mich nie aufgrund meiner Würdigkeit. Er liebte mich in freier, unbegründeter Liebe; er kam mir mit seiner Gnade zuvor; er erwählte mich von Ewigkeit her; er rief mich in der Zeit, und ich bin davon überzeugt, dass er mich bewahren wird, bis keine Zeit mehr ist.« 34 wer [ist es], der verdamme? Christus [ist es], der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt worden, der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet. Gott hat uns auserwählt und gerechtfertigt (V. 33) auf der Grundlage des stellvertretenden Todes Christi. Auf die Frage, wer Anklage er heben könne, antwortet Paulus, indem er auf Gott verweist (V. 33); auf die Frage, »wer … verdamme«, antwortet er, indem er auf Christus ver­weist. Warum auf Christus? Weil Christus für uns Gottes Verdammungs­urteil auf sich nahm: »Christus [ist] … gestorben«. Damit hat »Christus … uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist; denn es steht geschrieben: ›Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!‹« (Gal 3,13).

»der auch auferweckt worden [ist]«: Wir sind gerechtfertigt durch die Auferstehung Christi (4,25). Und er, der auferweckt wurde, ist »auch zur Rechten Gottes«. Er ist erhöht auf den Thron der Allmacht (Apg 2,34; Hebr 1 3,; 8,1); alles und alle sind ihm untertan (Eph 1,20­22; 1Petr 3,22). Er hat alle Macht im Himmel und auf Erden (Mt 28,18), um denen beizustehen, die er aus dieser Welt herausgenommen (Gal 1,4) und in diese Welt gesandt hat (Joh 17,18).

Wir werden durch ihn bewahrt, weil er »sich … für uns verwendet«. Wir werden »durch sein Leben gerettet« (Röm 5,10), weil er immer­ dar lebt und für uns eintritt (Hebr 7,25): Er betet für uns, dass unser Glaube nicht aufhört (Lk 22,31­32). Und wenn wir gestrauchelt sind, ist er unser Fürsprecher bei Gott, er, der die Sühnung unserer Sünden ist (1Jo 2,1­2), sodass keine Sünde uns verdammen kann. Wer will uns ver­dammen, wenn er unser Verdammungsurteil auf sich genommen hat, für uns gestorben und zu unserer Rechtfertigung auferweckt worden ist und als unser Anwalt für uns einsteht?

Wir fassen zusammen:

1. Gott ist für uns (V. 31).

2. Gott gibt uns alles (V. 32).

3. Gott hat uns auserwählt (V. 33).

4. Christus hat in seinem Tod für uns das Verdammungsurteil ge ­ tragen (V. 34).

5. Christus ist zu unserer Rechtfertigung auferstanden (V. 34).

6. Christus ist erhöht zur Rechten Gottes (V. 34).

7. Christus tritt vor Gott für uns ein (V. 34).

Daher fragen wir mit dem Apostel:

35 Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungersnot oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?

Wie die Verse 18­-25 sagen auch die Verse 35­-39 etwas über Leiden. Wir sind geneigt zu denken, die Tatsache, dass Gott uns leiden lässt, passe schlecht zu seiner Liebe. Paulus sagt hier das Gegenteil. »Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus?«: Warum fragt der Apostel nicht, wer uns von der Liebe Gottes scheiden werde? Wir lesen im Neuen Testament, dass Gott die Welt geliebt hat; wir lesen aber nie, dass Christus die Welt geliebt habe. Von ihm sagt der Apostel: »Christus hat die Gemeinde geliebt und sich selbst für sie hingegeben« (Eph 5,25); und: »Christus hat mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben« (Gal 2,20). Darum sagt Paulus hier »Liebe Christi«; er will uns die besondere Liebe, mit der der Sohn Gottes seine Freunde liebt, vor Augen stellen. Das ist die »Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist« (V. 39). Von der kann der Erlöste nicht geschieden werden. Paulus kann »Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungers not oder Blöße oder Gefahr oder Schwert« aufzählen, um damit den Lesern klarzumachen, dass gar nichts sie scheiden kann von der Liebe Christi, denn das ergibt sich zwingend aus allem, was er in den Versen davor gesagt hat. Aber nicht nur das; er redet auch aus eige­ ner Erfahrung; er hat alle diese Dinge am eigenen Leib erfahren (siehe 2Kor 11,23­27), nur das »Schwert« nicht. Aber das stand ihm noch bevor, und als er wusste, dass er nun bald hingerichtet werden sollte, war er in seiner Gewissheit nicht erschüttert (2Tim 4,6­8.18).

36 Wie geschrieben steht: »Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden.«

37 Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat.

Paulus zitiert aus dem 44. Psalm, der von Israeliten spricht, die vom HERRN nicht zurückgewichen sind und den Namen Gottes nicht ver­gessen noch ihre Hände zu einem fremden Gott ausgestreckt haben und dennoch gedemütigt und sogar getötet werden (Ps 44,18­23). Wenn wir als Gottes Auserwählte sogar getötet werden um des Glaubens willen, geschieht, was »geschrieben steht«. Es geschieht nicht, weil die Feinde Gott überlisten konnten oder weil sie stärker waren als Gott; es geschieht, weil Gott es so verordnet hat. Und das bedeutet, dass es Gottes Sache ist und damit auch uns zum Guten dienen muss (siehe V. 28).

»sind wir gerechnet worden«: ελογισθημεν, elogisthēmen, das glei­ che Verb wie in V. 18: logizomai, »ich rechne«. Nur wird es hier nicht aktiv verwendet; nicht wir selbst rechnen uns als etwas, sondern wir wer­ den gerechnet, über uns wird verfügt. Das gilt letztlich für alle Menschen. Auch der Ungläubige ist nicht Herr seiner selbst und seiner Umstände. Am Ende wird er vom obersten Richter zu denen gerechnet werden, die ihr ewiges Teil im Feuersee haben. Wenn Gott es geschehen lässt, dass Men­ schen in den Christen nicht mehr sehen als Tiere, die man hin schlachten soll, dann dürfen wir wissen, dass damit die entscheidende Rechnung nicht durchgestrichen ist. Man mag uns Leib und Leben nehmen, das wahre Leben ist in Christus verborgen. Das können die Feinde nicht antasten, weil sie Christus nichts anhaben können. »In diesem allen«, in allen Leiden, sind daher die Kinder Gottes »mehr als Überwinder«, doch das nicht, weil sie so stark oder so treu sind. Wir überwinden »durch den, der uns geliebt hat«. Er, der uns geliebt hat und seine Liebe in der Dahin­ gabe seines Lebens bewiesen hat, wird uns lieben bis ans Ende (Joh 13,1), bis wir bei ihm im Himmel angekommen sind. Er wird dafür sorgen, dass kein Feind uns bleibend niederwerfen wird. Wir werden überwinden, weil er immer und ohne Ende für uns eintritt (Röm 8,34; Hebr 7,25).

38 Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten,

39 weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

Wir sind gewiss, dass nichts »uns zu scheiden vermögen wird« von der Liebe Gottes und damit von Gott selbst. Das ist ein bemerkenswerter Gegensatz zum Verhältnis, von dem in 7,1­4 gesprochen wurde. Der Jude konnte von seinem »Ehemann«, dem Gesetz, durch den Tod geschieden werden. Unsere Verbindung mit dem Herrn kann durch nichts beendet werden, auch nicht durch den Tod.

»weder Tod noch Leben«: Das schließt alles ein, was beide in sich bergen. Zum Tod gehören alle das Leben belastenden Dinge wie Krank­ heit, Schmerzen, Kummer, Ängste und Einsamkeit. Und unter Leben ist zusammengefasst, was uns im Leben alles widerfährt an Gutem und Schlimmem. Gutes erhebt uns, Schlimmes wirft uns nieder, doch keines kann uns von der Liebe Gottes trennen. Auch keine »Engel noch Fürstentümer … noch Gewalten«. Wir waren in dieser Welt der Sünde wegen allen Feinden Gottes, des Lichts und der Wahrheit unterworfen. Hätte Christus sie nicht am Kreuz besiegt (Kol 2,14­15) und hätte er nicht durch seinen Tod den zunichtegemacht, der die Macht des Todes hatte, den Teu­ fel (Hebr 2,14), wären wir ihnen auf immer hilflos ausgeliefert. Nun sind wir ihnen entwunden, doch sie bleiben unsere Feinde, die beständig gegen uns Krieg führen (Eph 6,12­13), um uns zu verführen und zu verderben. Doch sie vermögen uns nie von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, zu scheiden. »Weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges«, nichts, was heute oder morgen uns zustoßen mag, kann uns scheiden von dieser Liebe. Das vermag auch keine »Höhe«, d. h. etwas oder jemand aus den himm­lischen Örtern (Eph 6,12) oder jemand aus der »Tiefe« des Ab grundes (vgl. Offb 11,7)226. Noch vermag »irgendein anderes Geschöpf«, sei es ein Engel oder ein Mensch, »uns zu scheiden … von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn«. 226 Offb 11,7 kündigt ein noch in der Zukunft liegendes Geschehen an, doch auch das Tier, das aus dem Abgrund steigt, kann die dann auf der Erde lebenden Heiligen nicht von der Liebe Gottes in Christus Jesus scheiden.Noch vermag »irgendein anderes Geschöpf«, sei es ein Engel oder ein Mensch, »uns zu scheiden ... von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn«.

Paulus begann seine ganze Darlegung des Evangeliums Gottes mit der Aussage, dass Gottes Zorn über der Ungerechtigkeit aller Menschen steht (1,18), dem kein Mensch sich entziehen kann. Er endet mit dem Bekenntnis von der Liebe Gottes, von der keiner der Gerechtfertigten geschieden werden kann.

Anmerkungen zu Kapitel 8

»Wir sind jetzt zu jenem großen Kapitel gekommen, das uns zeigt, wel­ chen Teil der Heilige Geist in unserer Errettung wirkt. Ohne das Werk Christi am Kreuz gäbe es keine Errettung, und ohne die Gegenwart und das beständige Wirken des Heiligen Geistes gäbe es keine Anwendung und Verwirklichung dieser Errettung, ja, keine Offenbarung derselben an uns!« (W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 287).

V. 1 – »Es müssen zwar die Heiligen mit dem Teufel raufen und mit dem Tode beißen. Es ist aber in solchem Kampf das allerbeste und nächste zum Siege, dieses Lied der Heiligen lernen singen, nämlich sich ver­ leugnen, an die rechte Hand Gottes sich hangen. So geschieht dem Teu­ fel eine große Schalkheit, dass er leeres Stroh zu dreschen findet, näm­ lich also: Ich will nichts sein, alle meine Macht soll der Herr sein. Wenn ich das tue, so bin ich rein ausgeleert von mir selbst und alledem, was mein ist, und kann sagen: Was fechtest du, Teufel? Suchst du gute Werke und meine eigene Heiligkeit zu tadeln vor Gott? Habe ich doch keine. Der Herr ist meine Macht. Suchst du aber meine Sünde zu verklagen? Habe ich doch auch keine. Hier ist die Macht des Herrn; die magst du ver klagen, bis du satt wirst. Ich weiß von keiner Sünde noch Heiligkeit in mir« (M. Luther, Christlicher Wegweiser für jeden Tag, 11. August).

V. 2 – »Die beiden Gesetze, die hier einander gegenüberstehend genannt werden, sind unvereinbar wie Feuer und Wasser. Wer unter dem Gesetz der Sünde, unter ihrer vernichtenden Zwangsläufigkeit lebt, der unter­ liegt dem Tod. Er steht im alten Äon und in der Vernichtungskette Zwangsherrschaft – Sünde – Tod. Wer aber in Christus Jesus ist, der lebt im neuen Äon der Gnade in der Liebeskette der Gnadenherrschaft – Geist Gottes – Leben in Ewigkeit« (H. Krimmer, Römerbrief, S. 197­198).

V. 13 – »Die Gläubigen, die von der verdammenden Macht der Sünde befreit sind, müssen es zu ihrem täglichen Geschäft machen, die Macht der innewohnende Sünde zu töten … Der Heilige Geist allein ist genug­ sam zu seinem Werk« (John Owen, The Mortification of Sin, S. 25, 39).

V. 26 – »Nicht nur in dem äußeren Leben des Christen herrscht die Schwäche, sie macht sich auch in seinem inneren Leben geltend, in sei­ nem Leben mit Gott, sogar im Gebetsleben: ›Wir wissen nicht, was wir beten sollen‹ … So sind also die Heiligen beschaffen. Auch in ihrem inneren Leben herrscht viel Schwachheit; aber in dieser Schwäche kommt ihnen der Geist zu Hilfe, auch wenn sie selbst nicht ver stehen, wie. Dies ist indessen weit entfernt vom Zustand der Vollendung. So wie sie selbst seufzen und auf ›die Erlösung ihres Leibes‹ warten müs­ sen, so seufzt gleicherweise auch der Geist Gottes, der in ihnen Woh­ nung genommen hat. Auch der Geist seufzt und erwartet den Tag der Vollendung, wenn Gottes Kinder in Herrlichkeit offenbart werden sollen und Gottes e wiger Ratschluss in Erfüllung gehen wird« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 244­-245).

V. 27 – »In den Herzen wohnt der Geist, und da übet er auch sein Ver­ treten. Im Himmel ist Christus. Der die Herzen erforschet, ist der Vater« (J. A. Bengel, Gnomon [zu dieser Stelle]).

V. 28 – »Das ist Gottes Werk und Kunst, dass er böse Sachen gut machen kann … Gott pflegt aus nichts alles zu machen; darum kann er auch aus dem, was böse ist, Gutes hervorbringen« (M. Luther, Christlicher Wegweiser für jeden Tag, 10. Juni [WA 44, 42, 38ff.]).

»Wir kommen jetzt zu den hohen himmlischen Bergen göttlicher unumschränkter Gnadenwahl und hören, dass jene, die Gott lieben, ferner bezeichnet werden als jene, die ›berufen‹ sind (nicht ›eingeladen‹, son­ dern berufen mit einem göttlichen, erwählenden Ruf) gemäß seinem Vor­ satz« (W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 329­-330).

V. 30 – »In der Erwählung sehen wir Gott den Vater, der erwählt; in der Berufung Gott den Sohn, der lehrt; in der Rechtfertigung Gott den Geist, der versiegelt; in der Errettung den dreieinen Gott, der krönt. Gott erwählt aus Liebe; Christus beruft durch sein Wort; der Geist versiegelt aus Gnade. Die Frucht von alledem – von der Liebe Gottes, die erwählt, von der Berufung durch Christus und von der Gnade des Geistes, die hei­ ligt – ist unsere ewige Herrlichkeit und Glückseligkeit im Himmel … Das ist befestigter Trost der Freude, und zehntausend Teufel können uns den nicht nehmen!« (Puritan Daily Devotional Chronicles, March 29th).

Teil 4: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Rechtfertigung Israels (9 – 11)

In Röm 1,2 hatten wir gehört, dass das Evangelium durch die alttesta mentlichen Propheten verheißen worden war. Wenn dem so ist, müssen wir verstehen, in welcher Weise die Verheißungen des Alten Testaments sich im Evangelium bewahrheiten, und zwar nicht nur in Bezug auf das Individuum, das durch Glauben gerechtfertigt wird, sondern auch auf das Volk, dessen Heil jene Propheten zuvor verkündigten. In 1,3­4 hatte Paulus geschrieben, dass Inhalt und Substanz des Evangeliums der Sohn Gottes ist – Jesus, der Christus, der seiner Menschheit nach aus dem Geschlecht Davids zu uns kam. Der Titel Christus und der Hinweis auf das Geschlecht Davids zeigen, dass man das Evangelium nicht ver stehen kann, wenn man nicht das Verhältnis Israels, der erwählten Nation, zu demselben berücksichtigt. Und schließlich, wenn es in Röm 1,16 heißt, dass Gottes rettende Kraft durch das Evangelium dem Juden zuerst gilt, dann verstehen wir, warum die Kapitel 9 – 11 in einer vollständigen Abhandlung über das Evangelium nicht fehlen konnten. In diesen Kapiteln antwortet Paulus nämlich genau auf die Frage, wie das Evangelium sich zu den Juden verhält. Wenn die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben, wie Paulus sie in den Kapiteln 1 – 8 dargelegt hat, wahr ist, darf sie nicht im Widerspruch stehen zu den Ver­heißungen und zur besonderen Berufung der Nachkommen Abrahams, d. h. des Volkes Israel. Tut sie das, kann das Evangelium nicht die Wahr­heit Gottes sein, denn Gott kann nicht etwas verheißen und dann nicht erfüllen.227 »Ist das Wort Gottes hingefallen? Das ist praktisch die Frage … nach der ʼæmæt, der Treue Gottes; dies ist zugleich die Frage nach der Kontinuität in der Abfolge von Altem und Neuem Bund. Man muss also urteilen, dass die Erfahrung der Ablehnung des Christus durch Israel wirklich den schwersten Einwand gegen das Evangelium darstellt, den Paulus im Römerbrief zu behandeln sich gezwungen sieht« (G. Maier, Mensch und freier Wille, S. 353). »Im Grunde geht es darum in Römer 9 – 11 nicht um Israel, sondern um die Frage nach Gottes Treue. An der Israel-Frage hängt die Treue Gottes und damit unsere Glaubensgewissheit. So gehören diese Kapitel untrennbar zu den vorausgegangenen Kapiteln« (Heiko Krimmer, Römerbrief, S. 233) Gott kündigt keine Bündnisse, die er geschlossen hat, son­ dern er bekräftigt und erneuert sie (5Mo 28,69; Jer 31,31ff.). Nun lässt sich aber nicht bestreiten, dass Gott dem Volk Israel Heil und Herrlich­keit verheißen hatte (9,4­5), das Volk aber trotzdem nicht gerettet worden. ist. Israel hat das verheißene Heil nicht erlangt, während Heiden in gro­ßen Scharen gerettet worden sind.

Obwohl es in diesen Kapiteln um Israel geht, ist die Frage, die behandelt wird, von allergrößter Bedeutung auch für den Christen. Kann der Christ der Berufung, mit der er berufen worden ist (siehe Röm 1,6­7; 8,28.39), noch trauen, wenn Israel, das einst berufen wurde, seine Bestimmung nicht erreicht? Daher müssen wir sagen, dass es in diesen drei Kapiteln zur Hauptsache nicht um das Schicksal Israels geht, son­dern der Apostel zeigt in ihnen, dass kein Wort Gottes hingefallen, dass also Gott treu und wahrhaftig ist. Die Hauptaussage von Römer 9 – 11 ist ebenso wenig die Lehre von der Prädestination; von der wird zwar gesprochen, aber das ist dem Hauptanliegen nur untergeordnet228 »Ich sehe die Notwendigkeit für Römer 9 – 11 in Folgendem: Die Hoffnung des Christen, in welcherRömer 1 – 8 gipfelte, ist vollständig davon abhängig, dass Gott seinem Wort, seiner Berufung treubleibt (8,28) … Diese Sicht von Römer 9 – 11 nimmt an, dass Römer 9,6a (Gottes Wort ist nichthingefallen) der Hauptpunkt ist, den diese Kapitel angesichts des Unglaubens und der VerwerfungIsraels beweisen sollen. Was zur Diskussion steht, ist letztlich nicht das Schicksal Israels … sondernGottes eigene Glaubwürdigkeit« (J. Piper, The Justification of God, S. 19).. Paulus muss also belegen können, dass das Wort Gottes nicht hin­ gefallen ist (9,6). Entsprechend zeigt er in Kapitel 9 zuerst am Handeln Gottes an den Erzvätern und deren Kindern (9,7­13), an Israel und Ägyp ten (9,14­-18) und schließlich anhand verschiedener Weissagungen alt­ testamentlicher Propheten (9,24­29), dass Gott am gegenwärtigen Israel genau so handelt, wie er immer gehandelt hat: Es waren nie alle, die zur Familie Abrahams und zum Volk Israel gehörten, wirklich Abrahams Kinder: Isaak, nicht Ismael empfing die Verheißungen; Jakob, nicht Esau wurde zum Heilsträger ausgesondert. Gott hat immer nach seiner Barm­herzigkeit einen Teil zum Heil erwählt, einen Überrest (9,29), und so ist auch jetzt aus ganz Israel nur ein Überrest nach Wahl der Gnade (11,5) gerettet worden. In 9,30 – 10,21 erklärt der Apostel, dass die Heiden den Juden vorangegangen sind ins Reich Gottes, weil sie »eine Gerechtigkeit aus Glauben« annahmen, während Israel die Gerechtigkeit im Gesetz suchte. Wenn nun die Juden Gerechtigkeit im Gesetz suchten und sich darum an Christus stießen (9,31­33), zeigten sie gerade damit, dass sie keine wahren Kinder Abrahams waren, da sie dessen Glauben nicht nach­ ahmten (Röm 4,1­5.9­12; vgl. Joh 8,56).

Israel verfehlte das Ziel wegen seines Unglaubens (9,31­-33) und seines Unverstandes (Kap. 10,2­5) – und das, obwohl Christus mit sei­ nem Heil zu ihnen gekommen war, damit das Wort des Glaubens nahe ihrem Mund und Herzen war (V. 6­8). Gott hatte sie nicht ausgeschlossen vom Heil, denn keiner, der an ihn glaubt, wird zuschanden; der Herr ret­tet jeden, der ihn anruft (V. 11­13). Damit sie Christus anrufen könnten, war er ihnen gepredigt worden, doch glaubten sie nicht (V. 14-­17). Gott hatte seine Hände zu ihnen ausgestreckt, aber sie widersprachen ihm (V. 18­-21). Aus der Tatsache, dass Gott seine Hände vergeblich zu sei­nem Volk ausgestreckt hatte, soll niemand folgern, Israel sei für immer verstoßen und enterbt (11,1­2); denn Gottes Wort ist nicht, wie Paulus in 9,6 gesagt hat, hinfällig geworden. Anhand eines alttestamentlichen Präzedenzfalles verweist er zunächst darauf, dass Gott sich auch in der gegenwärtigen Zeit unter den Nachkommen Abrahams einen »Überrest nach Wahl der Gnade« bewahrt hat (11,3­5), während die Übri­ gen in ihrem Unglauben verhärtet worden sind (11,6­10). Am Über­rest demonstriert Gott seine Treue, und so ist dieser die Gewähr dafür, dass das Volk als Ganzes229 Vgl. Fußnote 284. das Heil noch erlangen wird. Entsprechend fährt Paulus in 11,11­-12.15.23-­32 fort und kündigt an, dass in späterer Zeit nicht nur ein Überrest, sondern im Gegensatz dazu »ganz Israel« er rettet werden wird (V. 26). Das muss mit Notwendigkeit geschehen, denn »die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar« (11,29). Angesichts der Gnade, der Gerechtigkeit und der Weisheit, die Gott in der Errettung von Juden wie Heiden offenbart, bricht Paulus aus in bewunderndes Lob Gottes und seiner Wege (11,33­-36).

Kapitel 9

1. Der Schmerz des Apostels über Israels Unglauben (9,1-3)

2. Die Vorrechte Israels (9,4-5)

3. Das Wort Gottes ist nicht hingefallen: Das Zeugnis der Erzväter (9,6-13)

4. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit: Israel und Ägypten (9,14-18)

5. Gefäße des Zorns und des Erbarmens (9,19-23)

6. Das Wort Gottes ist nicht hingefallen: Das Zeugnis der Propheten (9,24-29)

7. Israel hat seines Unglaubens wegen die Verheißungen nicht erlangt (9,30-33)

1. Der Schmerz des Apostels über Israels Unglauben (9,1­-3)

Paulus beginnt das Kapitel mit dem Bekenntnis seines Kummers über den Unglauben seiner Brüder, der Israeliten. Die Feinde des Apostels behaupteten, er hasse die Juden, er rede gegen das Volk Israel und gegen das Gesetz (siehe Apg 21,28). Das Gegenteil war der Fall; mit der Pre­ digt des Evangeliums bestätigte er das Gesetz (Röm 3,31) und bewies, dass er sein Volk liebte. Das zeigen auch die vorliegenden Verse. Seine Liebe ging so weit, dass er sogar wünschte, ihren Platz als Verfluchte ein zunehmen. Der Schmerz war umso größer, als die Israeliten so große Gaben und Verheißungen empfangen hatten, diese aber wegen ihres Unglaubens verscherzt hatten.

1 Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, indem mein Gewissen zusammen mit mir Zeugnis gibt im Heiligen Geist:

2 Ich habe große Traurigkeit und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen;

3 denn ich selbst, ich wünschte, von Christus weg verflucht zu sein für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch.

Paulus nennt hier in seinem Brief zum zweiten Mal das »Gewissen«; ein drittes und letztes Mal in 13,5. Wie in 2,15 bereits gesagt, ist das Gewissen unser stiller Mitwisser, der uns zuverlässig Auskunft gibt, ob unsere Worte, Gedanken und Taten wahr oder unwahr, gut oder schlecht sind. Paulus sagt »die Wahrheit in Christus«, und er kann bezeugen, dass die Stimme seines Gewissens mit dem Zeugnis des Heiligen Geistes übereinstimmt. Warum tut er das? Weil das Nachfolgende wie eine Übertreibung klingt. Paulus hatte »große Traurigkeit und unaufhörlichen Schmerz« in seinem Herzen. Er konnte nicht froh werden, wenn er an sein Volk dachte, das im Unglauben seinen Messias abgelehnt hatte. Wenn sie doch nur geglaubt hätten! Wie einst ein Mose (2Mo 32,32) wünschte er sogar, »von Christus weg verflucht zu sein« für seine »Brüder«, seine »Verwandten nach dem Fleisch«. Er wäre also bereit, den Platz seiner Brü­der einzunehmen, wenn diese dadurch gerettet werden könnten. Er weiß, dass es nicht möglich ist. Aber er tut, was er für sie tun kann. Er predigt den Juden das Evangelium, und er fleht beständig für sie zu Gott, dass sie errettet werden. Denn damit, dass sie es vorzogen, unter Gesetz zu bleiben, statt an Christus zu glauben, blieben sie unter dem Fluch, »denn so viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch, denn es steht geschrieben: ›Verflucht ist, wer nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!‹« (Gal 3,10).

2. Die Vorrechte Israels (9,4-5)

Warum zählt Paulus die großen Vorrechte Israels auf? Zum einen erklärt er damit, warum er diesen beständigen Schmerz in seinem Herzen hatte, aber zum anderen will er damit auch sagen, dass es ausgeschlossen ist, dass Gott diesem Volk all das verheißen und an ihm all diese Werke getan haben sollte, um es scheitern und für immer untergehen zu lassen. Hat er dieses Volk erwählt und seine Absichten mit ihm enthüllt, wird er sie erfüllen. Er wird es tun um seines Namens und seiner Ehre willen (siehe Jes 48,9; Hes 20,42­44; 36,22­-25).

Was Gott den Israeliten einst verhieß, hatte sich an ihnen zwar jetzt nicht erfüllt, aber die Aussprüche sind damit nicht hingefallen (9,6). Nun könnte einer sagen, dass die Verheißungen sich eben an den Heiden erfüll­ten und dass Israel sie selbstverschuldet für immer verspielt habe. Das hat die Christenheit seit der Spätantike beständig behauptet – und leider änderte auch die Reformation kaum etwas daran –, und die Kirche hat trotz der Warnung des Apostels auf die Juden herabgeschaut und sich gerühmt (11,18­21), sie sei das »wahre Israel« und damit das einzige auserwählte Volk. Israel hingegen sei auf immer enterbt und verworfen. Nein, Israel ist nicht enterbt worden, es müsste denn Gott sich verändert und sein Ja zu einem Nein gemacht haben. Wenn auch Menschen dem un veränderlich Treuen und Wahrhaftigen solches zu unterstellen wagen, so bleibt doch die Tatsache bestehen: Israel hat seine Verheißungen nicht verloren; Gott hat sein Volk nicht verstoßen (11,1­2). Es wird als erwähltes Volk zur bestimm­ ten Zeit seine ihm von Gott gegebene besondere Bestimmung erreichen. Das wird deutlich, wenn wir mit Sorgfalt beachten, was die in den Versen 4 und 5 von Paulus aufgezählten Vorrechte Israels bedeuten.

4 Sie sind Israeliten, ihnen gehören die Sohnschaft und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Dienst und die Verheißungen;

5 ihnen gehören die Väter, und aus ihnen ist, dem Fleisch nach, der Christus, der, da er Gott ist über allem, gepriesen sei in Ewigkeit. Amen.

Paulus sagt: »Sie sind Israeliten«, nicht, sie waren einst Israeliten. Er spricht hier wie überall von den Juden als Israel, als der einzigen Nation, die Gott erwählt hat. Dieser Nation gehört als Nation »die Sohnschaft«. Als Gott diese Nation, Israel, und keine andere zu sich rief, um es zu seinem Diener zu machen, sagte er von ihm: »Mein Sohn, mein Erstgeborener, ist Israel« (2Mo 4,22), und diesem gehörte »die Herrlichkeit«. Indem Paulus auf Sohnschaft direkt Herrlichkeit folgen lässt, sagt er, dass Gott dieses Volk zu seinem Eigentum berief, um es zur Herrlichkeit zu füh­ ren. Dass Sohnschaft und Herrlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind, hat uns Paulus in 8,17.18.19.21 gezeigt. Ein Angeld der kommenden Herrlichkeit gab Gott seinem Volk, als er die Stiftshütte, die in der Mitte des Volkes stand, mit seiner Herrlichkeit erfüllte (2Mo 40,34­35). Gott handelte in der Geschichte an diesem Volk und wird noch mit ihm handeln, so wie es »die Bündnisse«, die er mit den Erzvätern geschlossen hat, ankündigen (1Mo 15,13­21). Er wird »den Bund deiner Väter nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat« (5Mo 4,31). Nach dem Bund mit den Vätern Abraham, Isaak und Jakob schloss Gott mit dem Volk Israel den Bund am Sinai (2Mo 19,7­25; 24,7­8), den er vierzig Jahre danach durch Mose erneuerte (5Mo 28,69). Einige Jahr­ hunderte danach schloss er mit David den Bund eines ewigen Königtums (2Sam 7,12­13; Ps 89,35), unter welchem sein Volk Israel (2Sam 7,10) in Sicherheit wohnen würde. Und dann kündigte Gott durch den Propheten Jeremia dem Volk Israel an, dass er in den letzten Tagen mit ihm einen neuen Bund schließen wird (Jer 31,31­37). Dann wird »diese Stadt«, die geografisch definierte Stadt Jerusalem, »dem HERRN gebaut werden« (Jer 31,38­40). Dieser Neue Bund, der für Israel noch zukünftig ist, bestätigt den Bund mit Abraham, der ebenfalls ein reiner Gnadenbund war. In der jetzigen Zeit haben auch wir, die Heiden, den Segen Abra­ hams (Gal 3,8­9.14) und damit den Segen des Neuen Bundes empfan­ gen (Hebr 8,8­12), wir, »die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen« (Röm 9,24). Damit aber sind die Verheißungen an das Volk Israel weder erfüllt noch getilgt, wie uns in Röm 11,27 ausdrücklich gesagt wird: »Dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehme.« Gott kann seine Worte an Israel nicht zurücknehmen, »denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar« (Röm 11,29). An diese verschiedenen »Bündnisse« – man beachte die Mehrzahl230 In der reformierten Tradition spricht man davon, dass im Grunde nur ein Bund zwischen Gott und denMenschen bestehe. Als Vater dieses Gedankens und damit auch der sogenannten »Bundestheologie«gilt der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger. Diese neue Lehre entfaltete er zum ersten Mal ineiner Monografie mit dem Titel De Testamento seu foedere Dei unico et eterno expositio (Darlegungdes einzigen und ewigen Testamentes oder Bundes Gottes) von 1534 (siehe Fritz Büsser, Heinrich Bullinger. Leben, Werk und Wirkung, Bd. 1, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2004, S. 226­-237). – denkt Paulus.

Diesem Volk gab Gott, nachdem er es zu sich geführt hatte (2Mo 19,4), das Gesetz. Ihm gehört »die Gesetzgebung« (Apg 7,38.53), und dieses Gesetz wurde mit einem von Gott bestimmten Ziel gegeben, und dieses Ziel, telos, ist Christus (siehe 10,4). Das Gesetz führt durch zweierlei zu Christus: Erstens, indem es die Sünde offenbar macht (3,20; 5,20; 7,5) und so wie ein Zuchtmeister zu Christus drängt (Gal 3,24); zweitens, indem es von Christus zeugt (Joh 5,46). Zusammen mit dem Gesetz gab Gott seinem Volk die Anweisung, ihm eine Wohnung zu errichten (2Mo 25,8), und damit gab er diesem einzigen Volk auf der ganzen Erde den einzigen wahren »Dienst«. Die­ ser Gottesdienst (denn das ist mit Dienst, latreia, gemeint, wie in 12,1; Hebr 9,1.6) war mit seinen Opfern und Einrichtungen ein Schatten »der zukünftigen Güter« (Hebr 10,1), auf welche Gott dieses Volk durch ebendiesen Gottesdienst vorbereitete. Das Haus, in dem die Is raeliten Gott dienen sollten, erfüllte er mit seiner Herrlichkeit (2Mo 40,34­35; 1Kö 8,11), was eine Vorwegnahme einer späteren Offenbarung von Herrlichkeit war. Der Psalm 72 zeigt im vorletzten Vers, dass der Gott Israels (siehe Ps 72,18) einst die ganze Schöpfung mit seiner Herrlich­ keit er füllen wird (vgl. V. 19). Er wird als der Gott dieses seines Volkes am Ende durch dieses Volk seine Herrlichkeit ausstrahlen lassen zu allen Nationen auf dem Erdenrund.

Diesem Volk gelten »die Verheißungen«, und unter diesen war die größte Verheißung, dass Gott ihm zur bestimmten Zeit den Christus sen­ den werde (Apg 2,39; Röm 1 2,; 15,8; Gal 4,4). Und diesen wird das Volk mit Bestimmtheit noch aufnehmen; es kann nicht ausbleiben, weil Gott diesen seinem Volk verheißen hat.

Und dem Volk Israel gehören auch »die Väter« (5Mo 10,15; Röm 11,28). Als Gott Israel aus Ägypten herausführte, tat er es, weil er »seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob« gedachte (2Mo 2,23­24). Und als er Mose erschien, unter dessen Führung das Volk ins Land der Verheißung geführt werden sollte, sprach er zu Mose: »Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs … und ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu retten und es aus diesen Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land …« (2Mo 3,6.8). Dass er das tun würde, hatte er in seinem Bund mit Abraham verheißen (1Mo 15,18­21), und darum wird das Volk dieses Land für immer bewohnen, wie Hesekiel geweissagt hat: »Und sie werden in dem Land wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe231 Siehe 1Mo 28,13­14. , worin eure Väter gewohnt haben; und sie werden darin wohnen, sie und ihre Kinder und ihre Kindeskinder, bis in Ewigkeit; und mein Knecht David wird ihr Fürst sein in Ewigkeit« (Hes 37,25). »und aus ihnen ist, dem Fleisch nach, der Christus«: Das Kommen Christi ist das Ziel und die Summe aller Verheißungen, die Gott Israel gab. Er erwählte sich diese Nation und bewahrte sie als gesonderte Nation über die Jahrhunderte, um durch dieselbe Christus, den Herrn und Retter, in die Welt einzuführen. Das Heil kam aus den Juden (Joh 4,22); der Chris­tus ist ein »Sohn … Davids … dem Fleisch nach« (Röm 1,3). Beachten

wir, dass Paulus hier nicht wie bei allen vorher genannten Vorrechten sagt, dass ihnen, d. h. den Israeliten, der Christus gehört, sondern er sagt hier: »… aus ihnen ist … der Christus.« Er gehört ja nicht ausschließlich Israel, sondern er ist von Gott allen Menschen gegeben. Christus kam zu den Juden zuerst, doch sie, die Ersten, wurden ihres Unglaubens wegen zu den Letzten (Mt 19,30). Die Nationen nahmen ihn vor ihnen auf und wurden so zu den Ersten, die das Reich empfingen (siehe Mt 21,43). Israel wird erst am Ende der Tage seinen Messias erkennen und ihn annehmen, wie die Propheten geweissagt haben (siehe Sach 12,10­11). Jesus, der Christus, der als Sohn einer israelitischen Jungfrau geboren wurde, ist »Gott … über allem« (Joh 1,1; 1Tim 3,16; 1Jo 5,20; Offb 19,16). Wäre er es nicht, könnte er nicht das Lamm Gottes sein, das in seinem Tod »die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29) und damit der »Heiland der Welt« (Joh 4,42) ist. Er hat sich erwiesen als der Heiland der Nationen; er wird sich auch erweisen als Heiland der erwählten Nation, Israels.

Fassen wir zusammen, was Paulus in diesen beiden Versen gesagt hat: Alle erwähnten Vorrechte gehören denen, welche Israeliten sind, nicht waren. Die Vorrechte und Verheißungen gehören ihnen noch immer; sie sind also nicht enterbt worden. Und diese Vorrechte beschränken sich nicht auf die historische Rolle Israels, als ob Gott ihm nur damals, beim Auszug aus Ägypten, also vorübergehend, Sohnschaft und Herrlichkeit zugesprochen habe und die Verheißungen sich für die Angehörigen die­ses Volkes in der Besitznahme des Landes unter Josua und schließlich im Kommen des Messias im Fleisch erschöpft hätten.

3. Das Wort Gottes ist nicht hingefallen: Das Zeugnis der Erzväter (9,6­-13)

Wenn Paulus sagt, dass er großen Kummer im Herzen hat der Israeli­ten wegen, da sie nicht glauben und daher ihre Bestimmung verfehlen, könnte einer hier einhaken und sagen, Paulus behaupte, Gottes Ver­heißungen seien hinfällig geworden, da er ja zu verstehen gebe, Israel sei verloren, wo Gott doch den Vätern verheißen hat, Israel werde leben (siehe 5Mo 33,6; Hab 1,12). In den Versen 6­-13 will Paulus nur eines – beweisen, dass Gottes Wort und Verheißungen nicht aufgehoben worden sind. Er beginnt den Abschnitt mit einer Deklaration: »Nicht so, dass das Wort Gottes hingefallen ist …«, und dann demonstriert er das an den Erzvätern und deren Söhnen.

Abraham hatte zwei Söhne, doch nur einer von diesen erbte den Segen. Isaak wiederum hatte auch zwei Söhne, aber nur Jakob empfing die Verheißungen, die Gott Abraham gegeben hatte. Damit zeigt schon das Beispiel der Väter Israels, dass nicht alle, die deren leibliche Nach­ kommen sind, die Verheißungen empfangen. Wenn also der größte Teil der Israeliten zur Zeit des Apostels das Heil nicht erlangte, widersprach das nicht Gottes Verheißungen. Wenn Gott in der Zeit der Apostel aus ganz Israel einen Überrest erwählt (Röm 11,5), der glaubt und damit zusammen mit den Gläubigen aus den Nationen den Segen Abrahams empfängt, nämlich Rechtfertigung und ewiges Leben (siehe Gal 3,6­7. 13­-14), dann handelt er so, wie er in der Geschichte des Volkes Gottes schon immer gehandelt hat. In der Geschichte Jakobs und Esaus findet Paulus die grundlegende Antwort auf die große Frage, ob Gottes Wort hingefallen sei: Gott handelte damals und handelt zur Zeit des Apostels immer so, dass »der Vorsatz Gottes nach Auswahl bleibe« (9,11). Das erklärt Gottes heilsgeschichtliches Handeln in der Zeit der Erzväter, des Gesetzes (siehe 9,14­18) und der Gemeinde (11,5).232 »Der Vorsatz … Gottes, der in der Gegenwart zur Erfüllung kommt, geht ja gar nicht auf das physische Israel, sondern auf die ›Kinder der Verheißung‹, die Gott als Nachkommen Abrahams meint. Der Schein eines Widerspruchs der Geschichte gegen die göttliche inspirierte Schrift kann also nur dort Macht gewinnen, wo man die Schrift falsch deutet« (Gerhard Maier, Mensch und freier Wille, S. 353­-354).

6 Nicht so, dass das Wort Gottes hingefallen ist, denn nicht alle, die aus Israel sind, diese sind Israel,

7 auch nicht, weil sie Abrahams Same sind, sind alle Kinder, sondern »in Isaak wird dir ein Same gerufen werden«233 1Mo 21,12.

. »Das Wort Gottes« ist nicht »hingefallen«, wörtlich »aus­ oder weg­ gefallen«, ekpiptō (wie in Apg 12,7; 1Kor 13,8; Gal 5,4). Dass kein Wort aus­ oder dahinfällt, ist eine Redeweise, die Paulus aus dem Alten Testa­ ment entlehnt hat (Jos 21,45; 23,14; 1Sam 3,19). Die Behauptung, dass das Wort Gottes nicht hingefallen ist, begründet Paulus sogleich: »… denn nicht alle, die aus Israel sind, diese sind Israel«. Das ist die ent­scheidende Aussage, die sofort klarmacht, dass man nur dann behaupten kann, Gott habe sein Wort nicht gehalten, wenn man annimmt, jeder, der sich zu Israel zählt, sei damit ein Erbe der Verheißungen. Innerhalb von Israel gab es ein echtes Israel; nur dem galten diese. Um das zu beweisen, verweist Paulus sofort auf die einzige Autorität, die einen Juden über­ zeugen kann, auf die Schrift. Diese lehrt, dass nicht alle, die dem Fleisch nach Israeliten sind, tatsächlich Israel sind. Paulus ruft einmal mehr (wie in Kapitel 4) Abraham als Kronzeugen für sein Evangelium auf: »auch nicht, weil sie Abrahams Same sind, sind alle Kinder«: Das hatten auch Johannes der Täufer und der Herr mit anderen Worten gelehrt (Mt 3,9; Joh 8,39­.40.42.44). Dass nicht alle Nachkommen Abra­hams »Kinder« sind, erfahren wir in der Geschichte der Familie Abra­hams. Nachdem Abraham mit der Magd Ismael gezeugt hatte, verheißt Gott dem Abraham einen Sohn von seiner Frau Sara, und nur der emp­fängt den verheißenen Segen.

»in Isaak wird dir ein Same gerufen werden«: Das war die Ant­wort Gottes an Abraham, als er sich der Forderung Saras widersetzte und Ismael nicht enterben wollte (1Mo 21,12). Bereits etliche Jahre davor, als Gott dem Abraham erschienen war und ihm angekündigt hatte, dass seine Frau ihm einen Sohn gebären würde und dass die­ ser gesegnet sein sollte, hatte Abraham gebetet: »Möchte doch Ismael vor dir leben!« (vgl. 1Mo 17,15-18­). Doch Gott hatte ihm geantwortet: »Sara, deine Frau, wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Isaak geben, und ich werde meinen Bund mit ihm errichten zu einem ewigen Bund für seinen Samen nach ihm« (1Mo 17,19). So hatte Gott beschlossen; es sollte nicht nach Abrahams Willen, sondern nach Gottes Willen gehen. Nicht mit Ismael, auch nicht mit beiden Söhnen, sondern allein mit Isaak wollte er den Bund errichten. In Isaak sollte ihm »ein Same gerufen werden«, καλεω, kaleō, das Wort, das in V. 11 mit »berufen« übersetzt wird234 Im vorliegenden Fall (und nicht nur in diesem) ist das Deutsche präziser als das Griechische; es kannwunderbar differenzieren zwischen »nennen«, »rufen« und »berufen«, wo dem Griechischen nur das eine Wort kaleō zur Verfügung steht. »Berufen« heißt ja, jemanden zu einer Aufgabe, zu einer Stellung,zu einem Rang zu rufen, und das ist ja in unserem Text gerade gemeint.. Alles geht nach Gottes Ruf; wen er beruft, der ist gesegnet (V. 11; siehe auch 1,6­7). Entsprechend wird am Ende der Zeit »ganz Israel errettet« werden (11,26), weil Gottes Berufung unumkehrbar ist (11,29).

8 Das heißt: Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Nachkommen gerechnet.

9 Denn dieses Wort ist ein Verheißungswort: »Um diese Zeit will ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben.«235 1Mo 18,10.

»Das heißt«: Mit dieser Wendung erklärt Paulus, was er mit dem Bei­ spiel der Erzväter sagen will: »Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind Kinder Gottes«. Es soll also gezeigt werden, woran es liegt und woher es kommt, dass jemand ein Kind Gottes wird. Die Kinder des Flei­ sches sind wie ein Ismael nach dem Willen des Mannes geboren; die »Kinder Gottes« hingegen sind nicht »nach dem Willen des Mannes« geboren (Joh 1,13). Man sollte nicht überlesen, dass Paulus hier »Kinder Gottes« sagt, denn daran können wir erkennen, dass sein Thema nicht lediglich die historische Rolle ist, zu der Abraham und der besonders dazu erwählte Teil seiner Nachkommen berufen war. Vielmehr wendet der Apostel das bei Abrahams Söhnen wirkende Prinzip der Auswahl auf die Erlösung an, die durch Jesus Christus geschieht. In Gal 4,21­30 erörtert Paulus die Bedeutung Isaaks gegenüber Ismael ausführlich und sagt dort, dass nicht das Kind aus dem Fleisch, sondern das Kind der Verheißung (Gal 4,23) Erbe sein sollte, und auch dort verweist er auf das alttestamentliche Geschehen, um es auf die Rechtfertigung durch den Glauben und die geistliche Sohnschaft an ­ zuwenden: Die heidnischen Galater, die zum Glauben gekommen waren, heißen wie Isaak »Kinder der Verheißung« (Röm 9,8; vgl. Gal 4,28). Was für Isaak galt, gilt für alle echten Kinder Abrahams. Es werden nur die Kinder der Verheißung »als Nachkommen gerechnet«. Eine Verheißung kann man nicht sich selbst geben, noch kann man sie von jemandem einfordern. Es liegt an dem, der Verheißungen gibt, ob er überhaupt etwas verheißt, was er verheißt und wem er es verheißt. Das »Verheißungswort« an Abraham lautete: »Um diese Zeit will ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben.« Dreimal lesen wir, dass auch der Zeitpunkt, wann das Kind der Verheißung geboren werden sollte, von Gott bestimmt wurde (siehe 1Mo 17 21,; 18,10.14). Auf diese Weise sollte Abraham verstehen, dass die Geburt Isaaks nach Gottes Willen geschah und ein übernatürliches Werk, ein Gnadenwerk Gottes war. Angewendet auf das Problem, das Paulus in 9,1­5 angezeigt hat, heißt das: Gottes Verheißungen sind nicht hingefallen. Die Israeliten haben sie nicht erlangt, weil sie nicht glaubten (siehe 9,30­33). Abraham glaubte der Verheißung, und entsprechend empfing er den verheißenen Segen (Röm 4,19­22). Die Gerechtigkeit aus Glauben, die im Evangelium gepredigt wird, hebt also die Verheißungen gerade nicht auf, sondern sie bestätigt, was Abraham verheißen wurde236 »Gott ist in seiner Verheißung souverän; er gibt sie, wem er will, ohne sich jemals dafür Regeln vorschreiben zu lassen. Und jetzt hat er in dieser seiner Souveränität, schon als er die Verheißung gab, sie für das geistliche Israel, für das Israel kata pneuma, reserviert. Das heißt mit anderen Worten, dass er die Verheißung denen, die glauben, gegeben hat. Glaube und Verheißung gehören untrennbar zusammen, davon hat Paulus schon früher gesprochen. In Kap. 4,16 heißt es: ›Deshalb aus Glauben, weil aus Gnade, damit die Verheißung fest bleibe.‹ Weit also davon entfernt, dass die Glaubensgerechtigkeit der Verheißung Gottes widerspräche, ist sie im Gegenteil gerade die Voraussetzung dafür, dass die Verheißungen bestehen bleiben. Denn es ist ja nur diese Glaubensgerechtigkeit, die alles auf Gottes freiem Erbarmen beruhen lässt. Glaube ist Festhalten an Gottes Verheißung; deshalb ist nur der, der glaubt, ein ›Kind der Verheißung‹« (Anders Nygren, Der Römerbrief, S. 261)..

10 Nicht allein aber das, sondern auch als Rebekka schwanger war von dem einen, von Isaak, unserem Vater,

11 selbst als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten (damit der Vorsatz Gottes nach Auswahl bleibe, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden), 12 wurde zu ihr gesagt: »Der Größere wird dem Kleineren dienen«237 1Mo 25,23. A. d. H.: In manchen Bibelausgaben gehört das in V. 11 Eingeklammerte teilweise zu V. 12.,

Paulus hat die Frage, ob das Wort Gottes nicht hinfällig geworden sei, hinlänglich damit beantwortet, dass nicht alle, die aus Israel sind, tatsäch­lich Israel sind, und er hat das belegt mit dem Beispiel der beiden Söhne Abrahams. Damit wäre eine ausreichende Antwort auf die Frage von V. 6 ja schon gegeben. Nicht dem leiblichen, sondern dem geistlichen Israel gelten die Verheißungen und Vorrechte. Wozu führt er dann aber dieses weitere Beispiel an? Er will den Lesern des Römerbriefes mehr geben als nur gerade eine hinlängliche Erklärung zur gegen wärtigen Lage des ungläubigen Israel. Er zeigt, dass auch für Israel gelten muss, was er bezüglich der Christen gelehrt hat, nämlich dass alle Heilsgeschichte nur verstanden werden kann, wenn wir Gottes Vorsatz, prothesis, lateinisch praedestinatio, berücksichtigen. Nur weil die Errettung auf dem »Vor- satz Gottes nach Auswahl« beruht, kann Gottes Heil sich in dieser Welt überhaupt durchsetzen (siehe 8,28­30).238 »Es wäre ja doch – logisch gesehen – zunächst eine völlig ausreichende Erklärung der Ablehnung Israels, wenn der Apostel die Verheißungen des AT auf ein ›geistliches‹ Israel deutete, das im Glauben dem ›hingestellten Sühnopfer‹ (Röm 3,25) naht. Hierbei müsste die Frage der Prädestination im Gegensatz zur Willensfreiheit gar nicht ins Spiel gebracht werden. In der Tat wird diese Frage auch bis V. 9 einschließlich nicht aktuell. Aber von V. 10 an wird deutlich, dass Paulus sich nicht mit der Aussage zufriedengibt, man müsse den Begriff ›Israel‹ eben pneumatisch auffassen, um mit den geschichtlichen Realitäten wieder konform zu gehen, sondern dass er positiv sowohl die Glaubensgemeinde des Neuen Bundes als auch das dem Evangelium widerstrebende Israel der Gegenwart auf den gerade dahin zielenden Vorsatz Gottes zurückführt« (G. Maier, Mensch und freier Wille, S. 355). In Kapitel 11 wird Paulus das ausführlich entfalten: Israel wird errettet werden, weil Gottes Berufung unbereubar ist (11,29). Hat Gott beschlossen, dann hat er auch berufen (siehe 8,30), und hat er berufen, führt er es auch aus (siehe Jes 46,10­11). Damit die Berufung sich erfüllt, muss Gott Israel in den Unglauben ein­ schließen und es auf diese Weise lehren, dass in ihm nichts Gutes ist, dass es vollständig auf Gottes freies Erbarmen angewiesen ist (11,32). Dann wird es verstehen, bekennen und Gott darüber anbeten, dass es allein aus Gottes Vorsatz ist, was es ist.

»Nicht allein aber das, sondern auch als Rebekka schwanger war«: Wie bei den Söhnen Abrahams, so empfingen auch nicht beide Söhne Isaaks und Rebekkas den Segen, sondern nur einer der beiden, Jakob. »als Rebekka schwanger war von dem einen«: Abraham hatte zwei Söhne gezeugt mit zwei verschiedenen Frauen, sodass man einwenden könnte, Isaak habe aufgrund seiner Geburt günstigere Voraussetzungen gehabt als Ismael. An Rebekka zeigt Paulus, dass dieser Einwand nicht greift. Die beiden Söhne hatten nicht nur den gleichen Vater, sondern auch die gleiche Mutter; Rebekka gebar ja Zwillinge. Damit wird uns noch einmal klar, dass es nicht an fleischlicher Herkunft liegt, ob jemand das Heil Gottes erlangt oder nicht.

»als die Kinder … weder Gutes noch Böses getan hatten«: An den Söhnen Isaaks und Rebekkas demonstriert nun Paulus das nächste ent­ scheidende Prinzip: Gott bestimmt, dass Jakob der Segensträger sein soll, bevor er durch irgendwelche Leistungen sich dafür hatte qualifizieren können239 »Esau hatte nichts Böses getan, was ihn disqualifiziert, noch Jakob etwas Gutes, das ihn qualifiziert hätte, sondern ehe die Zwillinge geboren waren, hat Gott nach seinem souveränen Willen beschlossen, dass der Größere dem Jüngeren dienen sollte. Das war sein Vorsatz. Die Werke der beiden hatten mit der Sache nichts zu tun; sie sind ausgeschlossen, damit alles an dem hängt, der beruft, an Gott selbst« (W. Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 174). .

»nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden«: Während Pau­ lus in Vers 10 gezeigt hat, dass in den Zwillingen selbst kein Unterschied vorlag (keiner hatte irgendetwas getan, ob gut oder böse), sagt er uns jetzt, woran – oder besser, an wem – es lag, dass Jakob einen ganz ande­ ren Weg ging als Esau: Es war Gott, der Jakob dazu ausgesondert hatte und der ihn berief. Dass die Zwillinge weder Gutes noch Böses getan hatten, steht im Bericht von der Geburt der Zwillinge nicht ausdrück­ lich (1Mo 25,20­26), doch der Apostel formuliert diesen offenkundigen Sachverhalt hier ausdrücklich und zieht daraus ebendiese Folgerung. An den Zwillingen demonstrierte Gott, dass keiner nach Verdienst berufen wird. Dass Jakob würdiger gewesen sei als Esau, ist ein nicht statthafter Gedanke. Der Apostel sagt ja, dass die beiden weder Gutes noch Böses getan hatten. Es kann auch nicht an einer edleren Gesinnung des einen gelegen haben, denn der Apostel sagt, dass in der Erwählung des einen vor dem anderen nicht die Qualität des Berufenen, sondern der Wille des Berufenden alles entschied.

In die Gesamtaussage »als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten … wurde zu ihr gesagt« ist ein Satz eingefügt, der uns erklärt, warum Gott mit den beiden Söhnen Isaaks und Rebekkas so verfuhr: »… damit der Vorsatz Gottes nach Auswahl bleibe, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden«. Gott musste von jeglicher menschlichen Qualifikation absehen und vor der Geburt bestimmen, wer den Segen empfangen sollte, damit alles nach Gottes Vor­ satz geht. Und das muss sein, weil Gottes Heilsabsichten sich sonst nie erfüllen könnten. Läge es an irgendeiner Vorgabe des Menschen oder hinge es an dessen Willensentschluss und Ausharren, müsste alles scheitern. Auf diese Weise sorgte Gott dafür, dass sein Vorsatz blieb. Dieses Bleiben bildet das von Paulus bewusst formulierte Pendant zum Aus­ druck, den er in V. 6 verwendete: Das Wort Gottes ist nicht hingefallen. Warum ist das Wort Gottes nicht hingefallen, sondern geblieben? Weil Gott es bestimmte und damit auch bewirkte, wer jeweils Segensträger sein sollte. Damit war verbürgt und gesichert, dass sein Vorsatz nicht umfallen konnte240 »Gott erwählte ohne einen erkennbaren Grund, wohl aber mit einem erkennbaren Zweck. Diesen benennt der Damit-Satz, den Paulus vielsagend einschiebt: damit der Vorsatz Gottes nach Art der Auswahl (bestehen) bleibe, nicht aufgrund (menschlicher) Werke, sondern gemäß dem Berufenden. Dieses Wörtchen gemäß führt den entscheidenden Maßstab ein. Es darf nicht nach den Gerufenen gehen, es darf am Ende in keiner Weise Selbstrettung, Selbstbestätigung und Selbstehrung herauskommen … Darum muss es unbedingt nach Gott gehen. So kommt von Anfang bis Ende in allen Stadien nur Gnadenwahl infrage. Diese scharfe Entgegensetzung von Menschenwerk und Gnade Gottes und das Ringen um die Ausschaltung des Selbstruhms zugunsten alleiniger Verherrlichung Gottes ist uns aus der ersten Hälfte des Briefes noch gut im Ohr (Röm 3 24,; 10,2.3; 11,5.6), bedeutet das, dass Paulus in Römer 9 – 11 die Israelproblematik ganz und gar mit der Botschaft von Römer 1 – 8 lösen will: allein Christus, allein durch den Glauben, allein aus Gnaden. Auch für die Israelfrage gilt: kein anderes Evangelium (2Kor 11,4 (Adolf Pohl, Der Brief des Paulus an die Römer, S. 192­193). Origenes erklärt Röm 9,11­13 wie folgt: »Wir müssen annehmen, dass er [Jakob] aufgrund von Verdiensten eines früheren Lebens von Gott mit Recht geliebt wurde« (Von den Prinzipien, II, 9, 7). F. Godet urteilt: »Man hätte antworten können, dass Gott die guten Werke Jakobs und die schlechten Werke Esaus vorhergesehen habe und dass er aufgrund dieses Vorherwissens den einen dem anderen vorgezogen habe. Doch der Apostel … bezeugt ganz einfach, dass die Wahl Jakobs nicht auf irgendeinem vorhergesehenen oder bereits geschehenen verdienstvollen Werk Jakobs beruhte« (Commentaire sur l’épître aux Romains, tome second, S. 262)..

Jakob hatte nichts geleistet, um sich für Gottes Wohlgefallen zu qua­ lifizierenStadien nur Gnadenwahl infrage. Diese scharfe Entgegensetzung von Menschenwerk und GnadeGottes und das Ringen um die Ausschaltung des Selbstruhms zugunsten alleiniger VerherrlichungGottes ist uns aus der ersten Hälfte des Briefes noch gut im Ohr (Röm 3 24,; 10,2.3; 11,5.6), bedeutet das, dass Paulus in Römer 9 – 11 die Israelproblematik ganzund gar mit der Botschaft von Römer 1 – 8 lösen will: allein Christus, allein durch den Glauben, alleinaus Gnaden. Auch für die Israelfrage gilt: kein anderes Evangelium (2Kor 11,4)« (Adolf Pohl, DerBrief des Paulus an die Römer, S. 192­193).Origenes erklärt Röm 9,11­13 wie folgt: »Wir müssen annehmen, dass er [Jakob] aufgrund vonVerdiensten eines früheren Lebens von Gott mit Recht geliebt wurde« (Von den Prinzipien, II,9, 7). F. Godet urteilt: »Man hätte antworten können, dass Gott die guten Werke Jakobs und dieschlechten Werke Esaus vorhergesehen habe und dass er aufgrund dieses Vorherwissens den einendem anderen vorgezogen habe. Doch der Apostel … bezeugt ganz einfach, dass die Wahl Jakobs nichtauf irgendeinem vorhergesehenen oder bereits geschehenen verdienstvollen Werk Jakobs beruhte«(Commentaire sur l’épître aux Romains, tome second, S. 262).241 »Nicht die Werke können die Grundlage der Heilsberufung sein, sondern umgekehrt, nur diese kann Grundlage … der Werke [sein]« (J. P. Lange, Römerbrief, S. 197). »Nicht die Werke können die Grundlage der Heilsberufung sein, sondern umgekehrt, nur diese kannGrundlage … der Werke [sein]« (J. P. Lange, Römerbrief, S. 197).. Was Jakob wurde, geschah »aus dem Berufenden«. Die Ur ­ sache liegt in Gott, der beruft, nicht im Menschen, der berufen wird. Das Gegensatzpaar lautet also: entweder Werke oder Berufung. In 11,6 sagt Paulus: entweder Werke oder Gnade (siehe auch Eph 2,8­9). Das be deutet: Berufung geschieht aus Gnade; dass einer berufen wird, liegt daran, dass Gott ihm gnädig ist. Nicht in Jakob liegt das unterscheidende Kriterium gegenüber seinem Bruder; Gott macht den Unterschied (vgl. 1Kor 4,7). Er hat bestimmt, dass Jakob der Gesegnete sein soll, und er beruft ihn deshalb. Ein anderes entscheidendes Gegensatzpaar, das für den Weg gilt, auf dem Gott das Heil dem Menschen zukommen lässt, ist Glaube und Werke. An Abraham lernten wir, dass Gott den recht fertigt, der keine Werke aufweist, sondern glaubt (Röm 4,5). Es ist wichtig, dass wir das gut beachten. Wo es um Erwählung und Berufung geht, ist der Gegensatz »Werke oder Berufung«; wo es um Rechtfertigung geht, »Werke oder Glaube«. Paulus verknüpft also die Erwählung nicht mit Glauben, worauf William Kelly in seiner Auslegung des Römerbriefes hinweist:

»Der Apostel stellt Werke und nicht Glauben der Berufung Gottes gegenüber, und so verhindert er den armseligen Semipelagianismus eines Chrysostomos, der die Erwählung davon abhängig machen will, dass Gott die Vorzüglichkeit des einen vorhergesehen und ihn darum erwählt habe.«242 W. Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 173­174. Chrysostomos ist bezeichnend für die Art, in der die »Kirchenväter« solche Stellen deuteten, wie folgendes Beispiel aus dessen Homilien zum Römerbrief zeigt: »Warum wurde nun der eine geliebt, der andere gehasst? Warum war der eine Knecht, der andere der Herr? Weil der eine schlecht, der andere aber gut war. Und doch waren sie noch nicht geboren, wurde der eine schon ausgezeichnet und der andere verworfen; denn sie waren noch nicht geboren, da sagte Gott schon: ›Der Ältere wird dem Jüngeren dienen.‹ Warum sagte nun Gott das? Weil er nicht wie ein Mensch auf den Verlauf der Dinge zu warten braucht, um zu sehen, was gut und was schlecht ist, sondern weil er schon voraus weiß, dass der gut und der schlecht sein wird« (Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer [In epistula ad Romanos commentarius], 17. Homilie, 5, generiert von der elektronischen Bibliothek der Kirchenväter von Gregor Emmenegger/Uwe Holtmann). John Piper teilt die Sicht von William Kelly und führt aus: »Die beabsichtigte Bedeutung der Aussage ›nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden‹ empfindet man am stärksten, wenn man sie der ähnlichen Formulierung ›nicht aus Werken, sondern aus Glauben‹ gegenüberstellt. Im Denken des Paulus steht diese zweite Formulierung für das Geschehen der Rechtfertigung (Röm 9,32; Gal 2,16), nie für das Geschehen der Erwählung oder Vorherbestimmung. Paulus verknüpft den ›auf Auswahl beruhenden Vorsatz Gottes‹ nie mit dem Glauben des Menschen. In Zusammenhang mit der Erwählung (im Gegensatz zur Rechtfertigung) steht als Gegenüber zu den Werken stets Gottes eigener Ruf (Röm 9,12) oder seine eigene Gnade (Röm 11,6). Die Vorherbestimmung und der Ruf Gottes gehen der Rechtfertigung immer voraus (Röm 8,29f.) und haben keinen Anlass in irgendeiner menschlichen Handlung, nicht einmal im Glauben. Daher sagt Paulus in Römer 9,16 ausdrücklich, dass Gott sein Erbarmen zuwendet, wem er will, unabhängig vom Wollen (was Glauben beinhaltet) oder Laufen (was jegliches Handeln einschließt) des Menschen« (John Piper, The Justification of God, S. 52­-53).

Gott erwählte den Abraham und redete zu ihm. Gott verhieß ihm nach seinem eigenen Vorsatz einen Sohn, ohne dass Abraham dafür etwas ge leistet hatte. Ebenso musste aller verheißene Segen an seine Nach­ kommen gemäß dem »Vorsatz Gottes nach Auswahl« weiterwandern. Alles musste aus der freien Wahl Gottes erfolgen, eine einfache Wahr­ heit, die Gott bereits zu Beginn der Geschichte der erwählten Nation lehrte. Hätte Israel das bedacht, wären sie nie der Idee verfallen, sie seien als Nation berufen worden, weil sie würdiger gewesen wären als andere, noch auch, um die Verheißungen durch ihre eigenen Leistungen zu er langen. William MacDonald schreibt:

»Die Aussage wurde gemacht, bevor die Kinder geboren waren. Sie konnte daher nichts mit den Werken oder mit Verdienst von einem der beiden Kinder zu tun haben. Es war gänzlich eine Angelegenheit göttlicher Wahl, beruhend auf seinem Willen und nicht auf dem Charakter oder den Leistungen des Erwählten. Der Vorsatz Gottes nach Auswahl spricht von seinem Entschluss, seine Gunst nach seinem souveränen Willen und nach seinem freien Wohlgefallen diesem oder jenem zuzuwenden.«243 W. MacDonald, Believer’s Bible Commentary, S. 533. A. d. H.: Vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: W. MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, a. a. O., S. 654.

»Der Größere wird dem Kleineren dienen«: Gott handelt hier wie an Abel und Kain, an Isaak und Ismael, an David und seinen Brüdern, an den Heiden und Juden, wo er jedes Mal den Jüngeren über den Älteren und die Letzten vor die Ersten stellte. Gott folgte jeweils nicht der natürlichen Ordnung, um damit zu zeigen, dass er in der Errettung nicht nach der Natur wirkt, sondern gegen die Natur (siehe dazu auch 11,24). Täte er es nicht, würde kein Mensch je gerettet. Gott hebt die natürliche Ord­ nung auf; er überwindet den Gang der Natur, der seit dem Sündenfall vom Leben zum Tod und vom Licht in die Finsternis führt.

13 wie geschrieben steht: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.«

Man muss beachten, dass Paulus den Verweis auf die Schrift nicht mit »denn«, sondern mit »wie« einleitet. Er begründet also nicht die Aus­ sage von V. 12, sondern er verweist auf einen Ausspruch Gottes, der das eben erörterte Prinzip bestätigt. Mal 1,2­3 spricht von Gottes Handeln an Na tionen, und Paulus verweist auf jenen Fall, um zu zeigen, dass Gott in seiner Gnadenwahl frei ist. W. MacDonald ist also recht zu geben, wenn er zu dieser Stelle sagt:

»Hier spricht Gott von den beiden Nationen, Israel und Edom, deren Häupter Jakob und Esau waren. Gott sonderte Israel aus als die Nation, welcher er den Messias und das messianische Reich verhieß. Edom bekam keine solche Verheißung. Stattdessen wurden seine Berge und sein Land zur Wüste gemacht und den Schakalen der Wildnis zum Erbe gegeben (Mal 1,3; siehe auch Jer 49,17-18; Hes 35,7-9).«

Aber ebenso hat MacDonald recht, wenn er, dem Argument des Apostels folgend, schließt:

»Obwohl es zutrifft, dass Maleachi 1,2-3 Gottes Handeln mit Nationen und nicht Individuen meint, wird das Zitat verwendet, um zu bekräftigen, dass Gott das Recht hat, auch Individuen zu erwählen.«244 Siehe jeweils W. MacDonald, Believer’s Bible Commentary, S. 533. A. d. H.: Vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: W. MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, a. a. O., S. 655. F. E. Stallan schreibt zu dieser Stelle: »Hier im Römerbrief ist es grundlegend wichtig, diese Aussage im Licht von Paulus’ Argumentation in diesem Zusammenhang zu betrachten, wenngleich ein kurzer Blick auf den Abschnitt in Maleachi für ein Verständnis der Gesamtsituation hilfreich sein wird … Einige haben vorgebracht, dass Paulus nicht über Einzelpersonen, sondern über Völker spricht, da das Wort des HERRN an Rebekka besagte, dass zwei Nationen in ihrem Schoß sind und dass das eine Volk stärker sein werde als das andere (1Mo 25,23). Wahrscheinlich dachte Paulus an beides, sowohl an die Individuen als auch an die Völker … Das steht im Einklang mit dem Tenor seiner Argumentation« (Der Brief an die Römer, in: Kommentar zum Neuen Testament. Römer – Philemon, S. 216­217).

Gott hat dem Jüngeren den Vorzug gegeben vor dem Älteren, und das bedeutet eben, dass er Jakob liebte und Esau hasste. Wenn Gott sagt: »Jakob habe ich geliebt«, will er ihm sagen, dass er ihn nicht erwählte, weil er besser war als Esau, sondern weil er ihn liebte. Das Gleiche sagte Gott der ganzen erwählten Nation (5Mo 7,6­8). Ent­ sprechend bedeutet »Esau habe ich gehasst«, dass er Esau nicht erwählt hat245 »Am Anfang der Geschichte von Jakob und Esau finden wir den Vorsatz Gottes, bevor die Kinder geboren waren. In der Tat, wenn man Erwählung zu einer Frage des Verdienstes der beiden macht, zerstört man ihr Wesen. Erwählung ist notwendigerweise aus Gott und unabhängig vom Gegenstand derselben, da es ja nichts anderes ist als die Ausübung seiner souveränen Auswahl [the exercise of His sovereign choice]. Wenn es nur den geringsten Grund im Erwählten gibt, der Gottes Auswahl erklärt, dann ist es nicht mehr seine Wahl, sondern ein sittliches Unterscheiden, und das wäre in keiner Weise mehr souverän, sondern lediglich ein Anerkennen, ob eine Person die Wahl verdiene oder nicht. So können wir also wie der strammste Calvinist festhalten an Gottes freier, souveräner Auswahl; dass die Calvinisten daraus folgern, dass die Verwerfung der Gottlosen ebenso auf einen souveränen Beschluss zurückgehe, halte ich indes für einen schweren Irrtum [a grave error]« (W. Kelly, Lectures Introductory to the Study of the Minor Prophets, S. 508). .

Das Wort »hassen« steht hier wie an manchen anderen Stellen in der Bibel für »weniger lieben« (1Mo 29,30­31; vgl. auch Mt 6,24; Lk 14,26). Gott liebte Esau so, wie er alle Menschen liebt, aber er liebte ihn nicht mit der gleichen Liebe, mit der er Jakob liebte. Gott liebt nicht alles und alle gleich, wie etwa auch Ps 87,2 zeigt: »Der HERR liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnungen Jakobs.« Christus liebt die Gemeinde mit einer besonderen Liebe – mit einer Liebe, die er nur für sie hat (Eph 5,25).

4. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit: Israel und Ägypten (9,14­-18)

In den Versen 6­-13 bewies Paulus, dass Gott nicht gegen seine Ver­heißungen handelt, wenn der Großteil der Israeliten den Segen nicht empfangen hat. In den folgenden Versen zeigt er, dass Gott nicht ungerecht ist in seinem Heilshandeln. Als Paulus alles von Gottes Auswahl und Vorsatz her erklärte, wusste er aus Erfahrung, dass manche das ungerecht finden und darum widersprechen würden. Seine Antwort auf den Widerspruch weckt wiederum neuen Widerspruch (V. 19), auf den er in den Versen 20­-23 eingeht. Erst danach fährt er fort mit seinem Haupt­ thema – zu zeigen, dass Gott nicht gegen seine Verheißungen handelt, wenn nur wenige Israeliten, aber dafür umso zahlreichere Heiden ge rettet werden (V. 24­-28).

14 Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne!

15 Denn er sagt zu Mose: »Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme, und ich werde barmherzig sein, wem ich barmherzig bin.«246 2Mo 33,19.

Was Gott will, ist immer heilig und gerecht und gut (Röm 12,2). Gottes Wille kann nie etwas anderes sein als der Ausdruck seines Wesens – er ist Licht, und er ist Liebe. Ganz richtig sagt daher F. W. Grant: »Wenn wir vom Willen Gottes sprechen, lasst uns stets bedenken, dass sein Wille nie willkürlich ist. In seinem Willen spricht sein ganzes Wesen. Man wird nirgends einem Ausdruck seines Willens begegnen, der nicht auch Ausdruck seines Charakters ist. Gerade da, wo sein Wille in umfassendster Weise offenbar wird, dürfen wir erwarten, dass sich sein ganzes Wesen in vollkommenster und lieblichster Weise offenbart. Das sollten wir nie aus den Augen verlieren, wenn wir vom absoluten Willen Gottes sprechen.«247 F. W. Grant, The Numerical Bible, Acts to 2 Corinthians, S. 259.

»Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?«: Diese Frage stellt sich im Anschluss an die eben demonstrierte Wahrheit: Da sind Zwillinge, die beide gleich gut oder schlecht sind, und Gott beschließt schon vor der Geburt, einem von ihnen etwas Gutes zu geben, das er dem anderen nicht gibt. Das halten die Juden, das hält die Vernunft allgemein für ungerecht. Die Juden forderten offenkundig Gerechtigkeit, weil sie im Wahn lebten, sie könnten der Gerechtigkeit Gottes genügen und daher aufgrund von Recht den verheißenen Segen ererben. Zunächst antwortet Paulus auf die Frage mit der Beteuerung, dass bei Gott keine Ungerechtigkeit ist. Nein, er ist nicht ungerecht, aber er ist barmherzig. Wenn Gott in Gerechtigkeit han­ delt, richtet er den Menschen, wie er den Pharao richtete (V. 17). Ebenso hätte er damals zusammen mit dem Pharao auch Israel richten müssen, wenn er nicht in seiner Unumschränktheit entschieden hätte, einem schuldigen Volk barmherzig zu sein248 In Hes 20 erinnert der Prophet seine Zeitgenossen daran, dass Israel im Götzendienst verstrickt war, als Gott es aus Ägypten rief (siehe C. E. B. Cranfield, Commentary on the Epistle to the Romans, Bd. 2, S. 44).. Gott ist souverän, und das heißt, dass er dem Schuldigen gnädig sein kann, statt von ihm Gerechtigkeit zu fordern.

»Das Behaupten der göttlichen Souveränität, eine notwendige Wahrheit, die dem Wesen Gottes selbst entspringt, ist für den natürlichen Verstand abstoßend. Und doch kann kein anderer Gedanke mit Recht bestehen, wenn man die Sache gebührend erwägt; und jedes Denksystem, das der Mensch an dessen Stelle errichtet, ist Gottes unwürdig und dem Menschen nicht geziemend. Die Lehre, die Gottes Hoheit leugnet, verurteilt sich selbst als Lüge, so wie auch jede Lehre, welche Gott darstellt, als wäre er gleichgültig gegenüber Sünde und Elend.«249 W. Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 174­175.

»Ist also Ungerechtigkeit bei Gott? Das ist der natürliche Einwand des Fleisches … Wenn wir anfangen zu fragen, ob Ungerechtigkeit bei Gott sei, wollen wir Gott richten, anstatt dass wir uns von ihm richten lassen. Wo immer Gottes Oberhoheit infrage gestellt wird, ist es nichts anderes als die Seele, die sagt: Ich richte Gott; Gott richtet nicht mich.«250 J. N. Darby, Romans 9, in: The Collected Writings, Bd. 33, S. 396

Der Satan unterstellte Gott Ungerechtigkeit, weil er Hiob gesegnet und ihm damit unverdient Gutes getan hatte (Hi 1,8­-10). Die Arbeiter, die den ganzen Tag im Weinberg gearbeitet hatten, hielten es für ungerecht, dass die Männer, die nur eine Stunde gearbeitet hatten (Mt 20,12), einen vol­len Tagelohn bekamen. Warum aber finden wir Menschen es ungerecht, wenn Gott an einigen nicht nach Schuldigkeit, sondern nach Gnade ver­fährt (siehe Röm 4,4­5)? Warum sind wir alle wie die Arbeiter im Wein­berg, die meinten, es sei nicht recht, wenn Gott einigen mehr gab, als diese verdient hatten? Warum blickt unser Auge finster angesichts der Güte Gottes (Mt 20,15)?

»Das sei ferne!«: So antwortet Paulus auf die Frage, ob Gott un ­ gerecht sei. Jeder Gedanke, dass Gott ungerecht sein könnte, muss sofort verbannt werden. Er ist der gerechte Gott, der Fels, in dem kein Unrecht ist (5Mo 32,4). Gerechtigkeit und Gericht sind das Fundament all seines Handelns in seinem Regiment (Ps 89,15). Er ist gerecht in allen seinen Wegen (Ps 145,17), ob wir diese verstehen oder nicht. Dass bei Gott keine Ungerechtigkeit ist, begründet Paulus mit dem Satz: »Denn er sagt zu Mose: ›Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme …‹« Wir wundern uns vielleicht: Paulus zitiert ein Bibel­ wort, in dem weder das Wort »gerecht« vorkommt noch der Ausdruck »ungerecht« erscheint, sodass man zunächst findet, das sei gar keine Ant­ wort auf die gestellte Frage. Dieses Wort steht in 2Mo 33. Gott sprach es zu Mose, kurz nachdem sein Volk das goldene Kalb aufgestellt und an gebetet hatte (2Mo 32). Auf die Fürbitte Moses hin hatte Gott das Volk verschont, obwohl er es, wenn es nach Gerechtigkeit gegangen wäre, hätte vertilgen müssen (32,9-­14). Als Mose etwas später den Herrn darum bat, in die Mitte des Volkes zu kommen und mit ihm den Weg bis ins verheißene Land zu gehen (33,12-­16), antwortete Gott: »Auch dieses … werde ich tun, denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen« (V. 17). Und nicht nur Mose, sondern dem ganzen Volk widerfuhr Gnade: »Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und ich werde barmherzig sein, wem ich barmherzig bin« (V. 19).

Wie damals das ganze Volk Israel waren auch zur Zeit des Apostels alle Menschen gleich schuldig. Ob Jude oder Heide, keiner hat Gutes getan (siehe 3,9­12), sodass keiner von Gott Gutes verdient. Alle haben ihren eigenen Göttern gedient und damit Gott verachtet. Alle verdienen nichts als Zorn. Dass es sich so verhält, hat Paulus ausführlich in den Ka piteln 1 – 3 dargetan. Wenn der Mensch von Gott fordert, dass Gott gerecht handeln müsse, müsste er alle ohne Ausnahme verdammen. Jetzt aber ist er wider alle Erwartung gegen Schuldige barmherzig. Es kann nicht ungerecht sein, wenn er sich einiger erbarmt, denn er, der Recht und Ordnung gesetzt hat und die Bedingungen festlegt, unter denen man gesegnet wird, ist selbstverständlich Herr über das Seine und die Seinen. Er darf sich erbarmen und tut damit nichts Un rechtes, aber es ist auch nicht bloß gerecht; es ist mehr als gerecht. Ungerecht ist es nicht, weil Christus für die Sünden Israels in der Fülle der Zeit bezahlen würde und weil er inzwischen für einen jeden der Schuldigen bezahlt hat. Darum kann Gott den Ungerechten rechtfertigen und ihn segnen (siehe Röm 3,23­26). Das ist, wie gesagt, mehr als gerecht. Es ist Barmherzigkeit.

Dass Gott jemanden wie Esau nicht erwählte und nicht segnete, obwohl der nicht schlechter war als ein Jakob, kann man deshalb nicht ungerecht nennen. Wenn wir sagen, es sei ungerecht, dann bauen wir auf der Voraussetzung auf, dass wir von Gott Gutes verdienen. Das ist aber ein vollständiges Verkennen der Wirklichkeit. Wir sind erstens bloße Geschöpfe, die dem Schöpfer alles verdanken und deshalb bei ihm keine Rechte einklagen können. Und darüber hinaus sind wir zweitens Gottlose; wir sind gegen Gott aufgestanden, haben seine Herrschaft ab ­ schütteln wollen. Und wir meinen, Gott schulde uns Gutes? Das ist eine Un geheuerlichkeit. Wenn es recht um uns stünde, müssten wir uns viel­ mehr freuen und dankbar sein, dass Gott gegen jegliches Verdienst über­ haupt irgendjemandem wie einem Jakob oder einem Volk Israel Gutes tut und Gutes schenkt. Gott beruft Jakob nach seinem Vorsatz (9,11), nicht weil Jakob würdig, sondern weil Gott ihm gnädig war. Warum beruft Gott nur Unwürdige? Weil es keine anderen gibt. Wir sind alle ohne Aus­ nahme unwürdig; wir sind alle unter der Sünde (Röm 3,9); niemand hat Gott gesucht (Röm 3,11); alle sind untauglich (Röm 3,10); die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen (Röm 3,19). Wie kann man dann Gott Ungerechtigkeit vorwerfen, wenn er Güte erweist? Dass Gott über­ haupt jemandem Gnade erweist, ist ganz unbegreiflich. Keine Vernunft hätte ahnen können, dass der Richter der Welt überhaupt jemandem die Schuld nimmt, indem er sie selber bezahlt, und ihm das Gegenteil gibt von dem, was er verdient hat.

»Wenn du gründlich der Sünde überführt worden bist, sodass dein Mund gestopft und jedes Rühmen zunichtegemacht ist, dann wirst du dich freuen über das Erbarmen und die Barmherzigkeit des Gottes, der sich auf seine eigene Souveränität zurückzieht, um zu verschonen; denn in seiner Unumschränktheit kann er Barmherzigkeit erweisen.«251 J. N. Darby, Romans 9, a. a. O., S. 398.

Wenn Gott sagt: »Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme«, dann sagt er, dass er tut, was ihm gefällt (Ps 115,3). Er tut nicht, was uns gefällt; er fragt uns auch nicht, ob wir recht finden, was er tut. Was Gott tut, ist gerecht, weil Gott es tut. Alle Gerechtigkeit misst sich an ihm, dem allein Gerechten. Wir denken, Gott müsse so und er dürfe nicht anders handeln, wenn er gerecht sein wolle, und damit machen wir uns und unser Verständnis zum Zollstock, und den legen wir an Gott an. Das ist abermals eine Ungeheuerlichkeit. Diesen Drang, selber darüber befinden zu wollen, was gut und was böse ist, haben wir von unseren ersten Eltern geerbt, und diese bekamen ihn, als sie, von der Schlange belogen, vom Baum der Erkenntnisaßen. Daran haben sie den Tod gegessen und wir mit ihnen. Und wir, die wir in der Nacht des Todes sitzen, wollen das Handeln dessen beurteilen, der Licht ist und in einem Licht wohnt, in das keiner von uns eingehen kann (1Tim 6,16)?

16 Also liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an Gott, der sich erbarmt.

Kann man es deutlicher sagen, als es der Apostel hier tut? Die Errettung hängt nicht »an dem Wollenden noch an dem Laufenden«, sie hängt an Gott, »der sich erbarmt«. Israels Geschichte hatte das schon so deut­lich demonstriert, wie das von Paulus eben angeführte Beispiel zeigt. Hier lehrt der Apostel, was auch die anderen Apostel lehren: Wie Israel verdanken auch wir Heiden alles dem Erbarmen Gottes. Wir wurden nicht von Neuem geboren und von ihm nicht als Kinder (9,7; 8,16) an ­ genommen, weil wir das erstrebt hatten, sondern weil Gott sich unser erbarmte (1Petr 1,3). Als wir tot waren in unseren Sünden, waren nichts als Sünden da, doch Gott hat »wegen seiner vielen Liebe« uns aus dem Tod auferweckt (Eph 2,4­5). Es geschah, weil Gott so ist, wie er ist. Es geschah nicht aufgrund unseres Strebens, sondern nach Gottes Willen wurden wir von Neuem geboren (Jak 1,18).252 Verschiedene Erklärungen der sogenannten »Kirchenväter« bereiten das römisch­katholische Verständnis der Rechtfertigung vor, wie etwa folgende Worte Gregors von Nazianz (von ca. 330 bis ca. 389) zeigen: »Die Seligkeit muss sowohl unser als Gottes Werk sein. Es ist nicht des Wollenden, das ist, nicht des Wollenden allein, auch nicht des laufenden Menschen allein, sondern zugleich auch Sache des erbarmenden Gottes« (Or. 37,1; zitiert von: Schelkle, Erwählung und Freiheit, S. 192, Theologische Quartalschrift, 131. Jg., 1. Quartalheft, Stuttgart, Schwabenverlag AG, 1951). Chrysostomos (um 347 bis 407) verrät diese synergistische Auffassung von der Errettung (die spätestens seit dem Konzil von Trient feststehendes römisch­katholisches Dogma ist), indem er zu Römer 9,16 schreibt, »dass nicht das Ganze des Menschen ist, sondern er der Gnade von oben bedarf. Doch auch das Wollen und Laufen gehören dazu« (zitiert von Schelkle, a. a. O., S. 192). Ambrosius (339 – 397), Bischof von Mailand, vertritt die Ansicht, dass es am Menschen liegt zu beginnen und dass Gott darauf das Vollenden schenkt: »Es ist nicht in des Menschen Macht, sondern des sich erbarmenden Gottes, dass du vollenden kannst, was du begonnen hast« (zitiert von Schelkle, a. a. O., S. 193). Und schließlich sei noch der berühmte Asket Pelagius angeführt: »Es ist also nicht allein dessen, der will, und dessen, der läuft, sondern auch Gottes, der hilft« (zitiert von Schelkle, a. a. O., S. 193). Zusammenfassend sagt Schelkle: »Die Väter geben endlich wie Origenes an, welche Sorge hier ihre Auslegung bewegt, nämlich jene, dass doch die Willensfreiheit des Menschen verteidigt sei« (Schelkle, a. a. O., S. 194).

17 Denn die Schrift sagt zum Pharao: »Gerade dazu habe ich dich erweckt, damit ich meine Kraft an dir erzeige und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde.«253 2Mo 9,16.

Der Pharao hatte herausfordernd gefragt: »Wer ist der HERR, dass ich auf dessen Stimme hören sollte?« (2Mo 5,2). An ihm zeigt deshalb Jahwe seine Kraft und damit sich selbst: seinen Namen. Das einleitende »Denn« bezieht man vielleicht am besten auf die Aussage von V. 14, wo Paulus auf die Frage, ob Gott ungerecht sei, geantwortet hatte: »Das sei ferne!« Zuerst hatte er das begründet mit den Versen 15 und 16, und nun folgt eine zweite Begründung. Gott erbarmte sich über Israel, weil er sich über Israel erbarmen wollte, nicht weil Israel es verdient hätte. Gott hatte in Gnade den Vätern Israels Ver heißungen gegeben, die sich erfüllten, als er Israel aus Ägypten rettete (siehe 1Mo 15,13­14). Der Pharao widersetzte sich dem Reden Gottes, und an ihm offenbarte sich Gottes Gerechtigkeit. Er steht damit stellvertretend für alle, die sich Gottes Offenbarung widersetzen, seien diese Heiden (Röm 1) oder Juden (Röm 2). Damit ist der Pharao auch ein Beispiel für das ungläubige Israel, das die Predigt des Evangeliums der Gnade Got­tes verworfen hatte.

Wenn nun Gott dem Pharao sagt, dass er den Pharao »gerade dazu« erweckt hatte, um an ihm seine Kraft zu zeigen und seinen Namen zu offenbaren, dann fragen wir, in welcher Weise er seine Kraft offenbarte. Er tat es, indem er Israel »mit starker Hand« aus Ägypten herausführte (2Mo 13,3.9.14.16) und dessen Zwingherrn niederwarf (2Mo 14) und damit sein Volk endgültig aus dessen Macht befreite. Gott hatte den Pharao »erweckt«, er hatte ihm das Leben gegeben. Er wäre nicht, hätte Gott ihn nicht ins Dasein gerufen. Gott hatte den Pharao zum Pharao gemacht, ihm die Macht und die Größe gegeben, die er besaß (siehe Röm 13,1). Er hatte ihn aber nicht zum Sünder gemacht. Darum darf man am Pharao nicht ablesen, Gott habe die Menschen, die am Ende verlorengehen, nur deshalb ins Dasein ge rufen, um sie zu verdammen. Gott gibt das Leben, und Gott gibt auch Wohl ergehen. Ohne Gottes Güte und Gottes Macht wäre Pharao nicht einmal als Mensch zur Welt gekommen; ohne Gottes Willen wäre er nicht König in Ägyp­ ten geworden, und Ägypten wäre ohne Gott nie ent standen und nie ein Weltreich geworden. Gott war es, der Pharao so hoch erhöhte, wie er fast tausend Jahre später einem anderen König durch einen Propheten sagen ließ: »Du, o König, du König der Könige, dem der Gott des Himmels das Königtum, die Macht und die Gewalt und die Ehre gegeben hat …« (Dan 2,37). Alle am Pharao erwiesene Güte hätte ihn zur Buße bewegen müssen (siehe Röm 2,4). Doch wie antwortete Pharao auf Gottes Güte? Wie dankte er ihm für alle seine guten Gaben, zu denen auch ein großes Volk gehörte, das für ihn arbeitete? Indem er auf Got­tes Forderung, dieses Volk ziehen zu lassen, antwortete: »Wer ist der HERR, dass ich auf dessen Stimme hören sollte?« (2Mo 5,2). Was löste diese trotzige Antwort aus? Gottes Reden. Ist Gott ungerecht, wenn er weiter zu einem Menschen spricht und dessen Herz als Ergebnis seines Redens immer härter wird? Gott hatte das Herz des Pharao nicht böse gemacht; es war schon so, als er anfing, durch Mose zu ihm zu reden. Dass Gott zu ihm redete, war ein ungeheures Vorrecht. Gott offen­barte sich dem armen Götzendiener Pharao. Er befahl diesem so reich beschenkten Mann, ihm zu gehorchen. Und was war das Ergebnis? Das wiederholte Reden Gottes weckte in ihm nur wachsenden Trotz. Er selbst wählte den Widerspruch, und er verbiss sich immer tiefer in ihn, je länger Gott zu ihm sprach.

Als Gott Israel rettete, handelte er an ihm nicht nach Verdienst. Und Gott handelte auch an Pharao nicht nach Verdienst, als er ihn schuf und als er ihn so hoch erhob. Das waren alles Beweise seiner Güte. Aber er handelte am Pharao nach Verdienst, als er ihn richtete. Denn die Undankbarkeit und der Unglaube in Pharaos Herz stammten von Pharao selbst, und dieses Unglaubens wegen wurde er gerichtet. »damit ich meine Kraft an dir erzeige«: Hier steht für Kraft das gleiche Wort dynamis wie in 1,16. Gott offenbart seine Kraft in der Errettung aller, die glauben, und ebenso im Gericht aller, die nicht glau­ben. In allen seinen Werken erweist er sich als Gott. Indem er dem mächtigsten König der Erde gegen dessen Willen ein Untertanenvolk entwand und diesen mitsamt seiner Armee ertränkte, offenbarte er diese seine Kraft.

Als Folge seines Handelns an Ägypten wurde »[s]ein Name verkündigt … auf der ganzen Erde«: Die Völker ringsum hörten, was der Gott Israels getan hatte, und zitterten (2Mo 15,14­15; Jos 2,10; 9,9). Jahrhunderte später redete man im Philisterland noch davon (1Sam 4,8). Wir bekennen zu Recht, dass Gott uns nicht nach Verdienst sein Heil zugewandt hat. Er hat uns in seiner freien Gnade erwählt, ohne dass er an uns etwas gesehen hätte, was uns dieser Gnade würdig machte. Nun dürfen wir aber nicht folgern, dass Gott auch beim Sünder in ana­ loger Weise verfahre, dass er ihn also nicht wegen bestimmter Eigen­ schaften oder Werke richte, sondern unbegründet, einzig nach seinem Wohl gefallen. Die Bibel lehrt in aller Klarheit, dass Gottes Gericht in der Sünde des Menschen begründet ist. Wer nicht glaubt und damit Got­ tes Gnade verschmäht, bekommt, was seine Werke verdienen (Röm 4,4). Den Tod hat Gott dem Menschen verhängt als Folge und als Lohn von dessen Sünde (1Mo 2 17,; 3,17­19; Röm 6,23). Jeder, der in den Feuersee geworfen wird, wird gerichtet »nach seinen Werken« (Offb 20,13), d. h., er bekommt, was er sich mit seinen Werken erarbeitet hat. Gott hat den Feuersee nicht bereitet für die Menschen, sondern dem Teufel und seinen Engeln (Mt 25,41). Wenn der Mensch nun dem Teufel folgt, dann folgt er dem Teufel auch an den Ort des Gerichts.

So ist die Verdammnis nicht ein Ausdruck von Gottes Souveräni­ tät, sondern von seiner Gerechtigkeit. Wenn Gott einen Sünder, der ihn nicht gesucht hat, sucht, ruft und rettet, handelt er in freier, königlicher Souveränität. Wenn Gott den Sünder richtet, handelt er in unbeugsamer Gerechtigkeit.

18 So denn, wessen er will, erbarmt er sich, und wen er will, verhärtet er.

Das einleitende »So denn« bedeutet, dass Paulus hier zusammenfasst, was er eben über den Pharao und Israel gesagt hat: Er erbarmt sich, »wessen er will«; das hat er Israel gegenüber getan (V. 15). Und er ver­ härtet, »wen er will«. Das hat er mit Pharao getan, indem er ihn erweckte (V. 17) und zu ihm redete. Gott handelt stets nach seinem Willen, und sein Wille ist »gut und wohlgefällig und vollkommen« (Röm 12,2). Nach seinem Willen redet er zu Mose (und durch ihn zu seinem Volk), und nach seinem Willen redet er zum Pharao. Gott bleibt immer frei, er ist die einzige unabhängige Person im Universum. Er handelt an den Menschen, wie er es für gut findet. Es muss so sein, sonst wäre er nicht mehr Gott254 Origenes schreibt zu Röm 9,18: »Diese Worte benutzen einige Irrgläubige, die von sich aus schon die Willensfreiheit aufheben, denn sie führen Naturen ein, die verlorengehen und unfähig sind zur Errettung, und andere Naturen, die gerettet werden und unfähig sind zum Verlorengehen« (Von den Prinzipien, III, 1, 8). Dieses Zitat zeigt übrigens, dass es zur Zeit des Origenes (um 185 bis ca. 254) »einige Irrgläubige« gab, die lehrten, was fast 200 Jahre später auch ein Augustin (354 – 430) vertrat. Bei aller Zurückhaltung, die man gegenüber verschiedenen Ansichten Augustins hegen muss, trifft auf alle Fälle nicht zu, was zuweilen behauptet wird: Erst Augustin habe die bedingungslose Erwählung zum Heil und entsprechend die Unverlierbarkeit desselben gelehrt.. Darum müssen alle ihm dienen: jene, die Erbarmen erlangt haben, und jene, die Gott verhärtet.

»Nur ein gläubiges, ganz ergebenes Herz tritt ein in das zweimal wiederholte Wort ›wen er will‹. Und wir behaupten mit aller Freimütigkeit, dass das Herz des Gläubigen Gott noch nicht völlig ergeben ist, solange es nicht ohne Abschwächung diesen achtzehnten Vers hinnehmen kann.«255 W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 369. Gott begnadigt, wen er will. Er rettet ohne Rücksicht auf Verdienst; er legt seine Hand auf den Sünder und beschlagnahmt ihn für sich. Ebenso verhärtet er, wen er will, und richtet danach den Verhärteten. Nur dürfen aber wir nie denken und darum auch nie sagen, Gott mache den Menschen gottlos256 Thomas Schreiner behauptet hingegen: »Man kann der Schlussfolgerung nicht ausweichen, dass Paulus hier doppelte Prädestination lehrt« (Schreiner, Romans, S. 510). Richtig hingegen schreibt Murray: »Die Verhärtung ist richterlich. Sie setzt Verdienst voraus, und im Falle Pharaos war sie verdient, weil er sich selbst verhärtete. Verhärtung darf nie losgelöst werden von der Schuld, deren Lohn sie ist« (John Murray, The Epistle to the Romans, S. 29). Morris urteilt entsprechend: »Dass Gott verhärtet, setzt immer Sünde voraus« (Leon Morris, The Epistle to the Romans, Grand Rapids, MI/Cambridge, UK: William B. Eerdmans, 1988, S. 918).. Wenn der Mensch das Licht, das ihm in der Schöpfung entgegenleuchtet, verwirft, übergibt ihn Gott seinem sün­ digen Drang (Röm 1,24.26.28), und damit wird der Mensch ganz das, was er ohne Gott werden muss (1,29­31). Der Mensch meint, er sei sein eigener Herr, und darum wählt er die Sünde. Aber Gott erweist sich ihm als dessen Herr, denn er verhängt über ihn die Folgen der Sünde, die er nicht abwenden kann. Wenn jemand wie damals der Pharao Gottes Reden abweist, wird Gott den ebenfalls abweisen und von sich hinaustun257 Nygren schreibt: »Wenn er [der Mensch] in Sünden dahingeht, geht er zwar, wohin er selbst will, gleichzeitig aber, wohin Gottes Zorn ihn sendet … Wenn der Mensch sich gegen Gott verstockt, dann ist es Gott, der ihn verstockt, um damit ›seinen Zorn zu erzeigen‹« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 263).. Was Paulus hier durch Inspiration schreibt, ist schwer zu fassen und darum auch schwer zu erklären. Wir müssen zusehen, dass wir die Aus­ sage nicht abschwächen, aber auch, dass wir nicht etwas in sie hinein­ legen, was weder hier noch anderswo geschrieben steht258 Gerade das hat man aber immer wieder getan. Zu dieser Stelle schreibt D. Moo: »Die ›Verhärtung‹, die Paulus hier beschreibt, ist ein souveräner Akt Gottes, der durch nichts veranlasst ist, was sich in den verhärteten Individuen findet« (D. Moo, The Epistle to the Romans, S. 598). Dass aber das böse und am Ende verhärtete Herz durch die Sünde des Menschen veranlasst ist, lehrt die Bibel von 1Mo 3 an durchgehend bis zum Buch der Offenbarung. Moo fügt in einer Fußnote hinzu: »Die Lehre von der doppelten Prädestination hat ihre Wurzeln in Augustin … aber sie bekam ihre klassische Ausformulierung in der Theologie Johannes Calvins« (S. 598, dort Fußnote 56). Soll man einer Lehre folgen, die ihre Wurzeln in einem Menschen hat und nicht in Gottes Wort? Calvin geht bei dieser Stelle über den Text hinaus, wenn er schreibt: »[Paulus] will bei uns erreichen, dass wir uns mit dem, was an Verschiedenheit zwischen den Erwählten und Verworfenen zutage tritt, zufriedengeben, weil es Gott [nun einmal] so gefallen hat, die einen zum Heil zu erleuchten, die anderen zum Tod zu verblenden …« (Der Brief an die Römer, Calvin Studienausgabe, 5.2, S. 497, S. 499). Davon spricht der Apostel an dieser Stelle nicht; das Verderben und das Heil greift er erst in den Versen 22 und 23 auf (und begründet das Verderben der Gottlosen dort auch). .

»Mir wird dieser Gedanke immer wichtiger. Es ist nicht unser logisches Nachdenken über Gott, wodurch wir zu dem richtigen Verständnis über Ihn und Seine Wege kommen. Wenn wir lediglich mit unserem Verstand an solch einen Satz wie ›Wen er will, begnadigt er, und wen er will, verhärtet er‹ herangehen, wird er uns nicht allein unverständlich bleiben, sondern wird uns auch mit Sicherheit zu falschen Schlussfolgerungen führen. Aber der zerbrochene Sinn dessen, der um seine Ungerechtigkeit weiß, nährt keinen Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes. Er weiß genau, dass, wenn es nur eine Frage der Gerechtigkeit Gottes ist, alle Menschen verloren sind. Umso mehr begrüßt er die Unumschränktheit, in der Gott nicht nur im Gericht, sondern auch in der Gnade zu handeln vermag.«259 Christian Briem, Von Gott verstoßen?, S. 33­34.

5. Gefäße des Zorns und des Erbarmens (9,19­-23)<note type="x-footnote">260 Was die Kirchenväter bei der Auslegung dieser Verse umtrieb, hat Schelkle folgendermaßen zusammengefasst: <hi type="italic">»Die für sie so wichtig genommene Aufgabe der Verteidigung der Willensfreiheit und die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes bewegte also die alte Exegese auch wieder gegenüber <reference osisRef="Rom.9.20"><reference osisRef="Rom.9.20">Röm 9,20</reference></reference>f. Sie findet die Antwort wie bei <reference osisRef="Rom.9.13"><reference osisRef="Rom.9.13">Röm 9,13</reference></reference>, indem sie Gottes Entscheidung von seinem Vorherwissen abhängig macht«</hi> (Schelkle, <hi type="italic">Erwählung und Freiheit</hi>, S. 199).</note>

19 Du wirst mir nun sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden?

Wenn es sich so verhält, wie der Vers 18 sagt, erwacht die Frage, warum Gott dann noch tadle, denn: »Wer hat seinem Willen widerstanden?« Die Antwort ist selbstverständlich. Keiner hat seinem Willen wider­ standen. Gottes Willen kann man in keinem Fall entrinnen. Konnte der Pharao Gott daran hindern, ihn zu richten? Nein, Gottes Kraft war grö­ ßer als Pharaos Macht. Dass Pharaos Herz verhärtet wurde, lag am Pha­ rao selbst, er hörte nicht auf Gott; sein Herz wollte nichts anderes. Darum konnte er es nicht verhindern, dass Gottes Reden zu ihm ihn immer mehr verhärtete. Er konnte danach auch Gottes Willen, ihn seiner Sünde wegen zu richten, nicht widerstehen. Er ging unter im göttlichen Gericht. Gott befreit in seiner Gnade Menschen aus dem Zustand des Herzens, den sie selbst gewählt hatten. Das ist seine freie Gnadenwahl. Gott befestigt Menschenherzen in dem Zustand, den sie selbst gewählt haben; das ist seine Gerechtigkeit. Auf jeden Fall und in allen Fällen geschieht schließ­ lich, wie er will.

20 Ja, vielmehr! Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich so gemacht?

21 Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen?

Paulus antwortet auf die Frage von Vers 19 zuerst mit einer Bestätigung: »Ja, vielmehr!«, μενουνγε, menounge, wie in Lk 11,28; Röm 10,18 (»O doch!«) und Phil 3,8 (»wahrlich«). Dann stellt er eine Gegenfrage: »Wer bist du?« Wer Gott Vorwürfe macht, hat vergessen, wer er ist. Wir müssen lernen, was ein Hiob lernen musste, der Gottes Gerechtigkeit ebenfalls hinterfragt hatte: Gott hat alle Dinge erschaffen (Hi 38 – 39). Ohne ihn sind wir nicht und haben wir nichts. Bei allem Nach denken und Fragen über Gottes Handeln in Errettung und Gericht müssen wir schweigen zu allem, was Gott tut. Hiob legte, nachdem Gott ihm die Augen darüber geöffnet hatte, dass er der Schöpfer alles Lebendigen ist, die Hand auf den Mund (Hi 40,4). Und nachdem Gott weiter zu ihm geredet hatte über sein Handeln in der Vorsehung und im Gericht (Kap. 40 – 41), musste er bekennen, dass er in Unverstand daher geredet hatte (42,3). Besser wir lernen, solange wir leben, uns vor Gott ohne Vorbehalt zu beugen, auch wenn sein Verfügen und Tun uns ganz ungereimt scheinen. Sonst werden wir es lernen müssen, wenn wir vor unserem Richter stehen (2Kor 5,10).

Es ist auffällig, wie Paulus den Einwand von V. 19 beantwortet. Er beantwortet ihn ganz anders als den Einwand von V. 14 (und auch von 3,3.5 und 6,1). Wenn jemand aus dem Evangelium folgert, Gott sei untreu (3,3), er sei ungerecht (3,5; 9,14), und man könne in der Sünde fortfahren (6,1), weist Paulus diese Gedanken sofort zurück, indem er ruft: »Keineswegs!« Warum tut er das hier nicht? Warum antwortet er auf den Einwand des Sünders, dass niemand Gottes Willen widerstehen könne und es deshalb nicht begreiflich sei, wenn Gott tadle, nicht wie sonst? Warum sagt er nicht: »Keineswegs, wir können ja Gottes Willen widerstehen, wie jeder wisse! Gott nötige niemanden; jeder sei frei, sich für oder gegen Gott zu entscheiden«?

So hätte wohl fast jeder von uns geantwortet, und so haben wir wahr­ scheinlich diesen Einwand von Ungläubigen schon wiederholt zurück­ gewiesen. Könnte es sein, dass die Antwort falsch ist, die sich unserem Verstand empfiehlt und die dem verständlichen Wunsch entspringt, den Gott, den wir vor den Menschen bekennen, von jedem anstößig schei­ nenden Zug zu entlasten? Paulus hingegen entkräftet den Einwand nicht, sondern er bekräftigt ihn vielmehr. Er sagt eben nicht: »Keineswegs!«, sondern: »Ja, vielmehr!« Ja! Das Wort von V. 19 ist wahr – wie wahr es ist, erklärt Paulus gleich: Wir sind ja bloße Geschöpfe, wir sind ja bloß Lehm in der Hand des Töpfers. Er hat die Macht, mit uns zu machen, was er will, und er hat das Recht dazu (siehe Mt 20,15). Wir irren, wenn wir Gott mit uns vergleichen. Er ist nicht wie wir, obwohl der Mensch in sei­ nem Unverstand das immer wieder meint (Ps 50,21). Die Wahrheit aber ist, dass Gott im Himmel ist, wir aber auf der Erde sind; »darum seien deiner Worte wenige« (Pred 5,1). Er, der im Himmel ist, tut »alles, was ihm gefällt« (Ps 115,3). Ob es uns gefalle, fragt er nicht. Wer das nicht hinnehmen mag, redet »wider Gott«.

»Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich so gemacht?«: Die Frage zeigt, wie töricht alles Reden wider Gott ist. Der Schöpfer soll sich nach seinen Geschöpfen richten? Dazu sagt der Schöpfer durch den Propheten: »O über eure Verkehrtheit! Soll denn der Töpfer dem Ton gleichgeachtet werden?« (Jes 29,16). Gibt es größere Verkehrtheit als diese? Es ist eine vollständige Umwertung aller Werte. Es ist, wie Paulus in 1,23­25 bereits gezeigt hat, die Generalverdrehung, welcher alle Verdrehungen der Sittlichkeit (1,26­27; 2,3.17­19) und des Urteils entspringen. Gott sagt dazu: »Wehe dem, der mit seinem Bildner rechtet, ein Tongefäß unter irdenen Tongefäßen! Darf wohl der Ton zu seinem Bildner sagen: Was machst du?« (Jes 45,9).

»Hat der Töpfer nicht Macht über den Ton …?«: Die Antwort ist selbstverständlich; der Töpfer hat Macht, d. h. das Recht und das Ver­ mögen, mit dem Ton zu machen, was ihm behagt. Das ist eine Tatsache, die niemand bestreiten kann261 »Es wird hier nicht gesagt, dass Gott irgendwelche Gefäße zur Unehre gemacht hat, sondern dass der Töpfer Macht hat über den Ton … Der Abschnitt bekräftigt lediglich Gottes Hoheitsrecht, aus der ganzen Masse zu formen, was ihm gefällt. Doch Gott trägt in Langmut die Gottlosen« (J. N. Darby, Romans 9, in: The Collected Writings, Bd. 33, S. 399­-400)..

»aus derselben Masse«: Was ist mit der »Masse« gemeint? Das ganze Kapitel spricht von Gottes Handeln an Menschen wie Abraham, Isaak, Jakob, Esau, Israel, dem Pharao, d. h. Menschen, wie sie in die­ ser Welt sind seit dem Sündenfall. Die Nachkommen Adams, diese sind die Masse, aus der Gott verschiedene Gefäße formt. Es ist hier nicht vom Schöpfer der Menschen, sondern vom Heiland, Erhalter und Richter der Menschen die Rede. Gott hat also nicht den einen Teil der Menschheit zum Heil erschaffen und den anderen zur Verdammnis262 Gegen Calvin, der, ausgehend von V. 18, gerade das behauptet: »Von Paulus hören wir nicht, dass der Herr den Sturz der Gottlosen vorhersieht, sondern dass er ihn durch seinen Ratschluss und Willen anordnet. Ebenso lehrt Salomo, dass der Untergang der Gottlosen nicht nur zuvor erkannt war, sondern dass die Ungläubigen mit der Bestimmung erschaffen wurden, dass sie verlorengehen« (Der Brief an die Römer, Calvin Studienausgabe, 5.2, S. 499).. Selbstverständ­ lich ist Gott frei, aus der Masse aller gleich sündigen Menschen einige herauszunehmen und sie mit unverdienten Segnungen zu segnen. Er tat es mit Abraham, er tat es mit Isaak, er tat es mit Mose, er tat es mit Israel. Sollen wir ihn deshalb anklagen, weil er nicht aus einem jeden Kind Adams einen Abraham macht?

22 Wenn aber Gott, obwohl er gewillt ist, seinen Zorn zu erzeigen und seine Kraft kundzutun, mit vieler Langmut ertragen hat die Gefäße des Zorns, die bereitet sind zum Verderben,

23 und damit er kundtue den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen des Erbarmens, die er vorherbereitet hat zur Herrlichkeit …?

Diese Verse erhellen die Worte von V. 18, welche zusammenfassend sagen, dass Gott den einen, den Pharao, verhärtete, während er Israel barmherzig war. Hier führt Paulus das weiter aus, indem er sagt, dass Gott in großer Geduld den Pharao, ein Gefäß seines Zornes, ertrug, wäh­ rend er Israel zu einem Gefäß des Erbarmens bereitete, an dem er seine Herrlichkeit kundtat.

»obwohl er gewillt ist, seinen Zorn zu erzeigen und seine Kraft kundzutun«: Das Böse fordert Gottes Heiligkeit heraus, und deshalb drängt ihn seine Natur, sogleich mit Zorn darauf zu antworten. Doch wie gegenüber dem Pharao, so hält er seinen Zorn zurück und trägt »mit vieler Langmut … die Gefäße des Zorns, die bereitet sind zum Verderben«. Das muss man zusammen mit Röm 2,4 lesen. Dort wird gesagt, dass Gott dem Menschen große Güte und Geduld und Langmut erweist, um ihn damit zur Buße zu bewegen. Und Petrus sagt, dass wir die Lang­mut Gottes für Errettung achten sollen (2Petr 3,9.15). Gott, der gerechte Richter, ist auch der gnädige Retter.

Und »Gefäße des Zorns« muss man im Licht von Röm 1,18 lesen: Wir alle standen unserer Sünde wegen unter dem Zorn Gottes, wir alle waren »Kinder des Zorns« (Eph 2,3), und als solche waren wir »bereitet … zum Verderben«. Wann wurden diese Gefäße zum Zorn bereitet, und wer bereitete sie? Paulus sagt nicht, wer oder was sie bereitete, und er sagt auch nicht, dass sie zuvor bereitet waren. Er spricht ja von der Menge der Menschen, die in dieser Welt leben. Auffälligerweise steht hin­ gegen bei den Gefäßen der Begnadigung, dass Gott diese bereitet (V. 23) und dass er sie zur Herrlichkeit zuvor bereitet hat. Das stimmt mit 8,29­30 überein. Wer Gnade empfängt, ist dazu von Gott zuvor ersehen worden. Wenn es nun von den Gefäßen des Zorns nicht heißt, dass sie zum Verderben zuvor bereitet sind, müssen wir jene Lehre zurückweisen, die besagt, Gott habe auch die Verdammten zur Verdammnis zuvor bestimmt. Das lehrt die Bibel an keiner einzigen Stelle263 Auch 1Petr 2,7­8 ist keine solche Stelle. »Die Ungläubigen stoßen sich am ›Stein des Anstoßes und … Fels des Ärgernisses‹: Christus ist nicht nur der Eckstein, sondern auch der Fels, auf dem der ganze Bau des Volkes Gottes ruht.« Aber an ihm stoßen sich die Ungehorsamen, »›wozu sie auch gesetzt worden sind‹. Sie sind dazu gesetzt, denn Jesus ist gesetzt zum Fall und zum Aufstehen vieler, und das nicht allein in Israel (Lk 2,34), sondern in der ganzen Welt. Man beachte aber, wer dazu gesetzt ist: nicht der Mensch als Mensch; denn kein Mensch ist als Mensch von Gott dazu bestimmt, zu straucheln und unterzugehen. Es sind ›die … nicht gehorsam sind‹, dazu gesetzt zu fallen. Das Gleiche steht in Hesekiel 3,20: ›Und wenn ein Gerechter von seiner Gerechtigkeit umkehrt und unrecht tut, und ich einen Anstoß vor ihn lege, so soll er sterben.‹ Gott legt den Anstoß vor die Seele, die sich vom Guten abgewandt und dem Bösen zugewandt hat. Sie muss dann ausgerechnet über den straucheln, der ihr zum Heil gesetzt ist; und damit wird ihr dieser zum Untergang« (B. Peters, Der erste Brief des Petrus, Bielefeld: CLV, 2013, S. 57).. Und wenn es nicht heißt, dass Gott sie bereitet hat, sondern lediglich, dass sie »bereitet sind« sind, müssen wir erneut die Behauptung zurückweisen, Gott habe Menschen für die Verdammnis erschaffen. Wodurch sind sie denn »bereitet … zum Verderben«? Sie sind es durch die eigene Sünde, wie wir in Röm 2,4­6 bereits gesehen haben. Damit, dass sie Gottes Güte und Langmut verachtet haben, häufen sie sich selbst Zorn auf auf den Tag des Zorns. Lukas sagt, dass »die Pharisäer und Gesetzgelehrten in Bezug auf sich selbst den Ratschluss Gottes wirkungslos machten« (Lk 7,30). Und von den Juden, welche die Predigt des Apostels verwarfen, sagt dieser: »Weil ihr es [das Wort Gottes] von euch stoßt und euch selbst des ewigen Lebens nicht für würdig erachtet, … wenden wir uns zu den Nationen« (Apg 13,46).

Die Errettung ist also von Gott verursacht, während das Verderben von den Menschen selbst verursacht ist. Die Erretteten sind von Gott zuvor bereitet zum Heil; die Gerichteten haben sich selbst durch ihre Sünde im Lauf ihres Lebens zum Verderben bereitet. »damit er kundtue den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen des Erbarmens«: Die »Gefäße des Erbarmens« heißen so, weil Gott sich ihrer erbarmt hat (V. 15). Und sie werden die Herrlich­ keit, die sie in ihrer Sünde nie erreicht hätten (3,23), erlangen, denn Gott hat sie »vorherbereitet … zur Herrlichkeit« (siehe auch 1Thes 2,12). Er hatte sich vorgesetzt, sie zu berufen, und er berief sie in der Zeit, recht­ fertigte sie und verherrlichte sie (8,30). Auf diese Weise tut Gott »den Reichtum seiner Herrlichkeit« kund (siehe auch Eph 2,7). Wir sehen wie­ der: In allen seinen Werken offenbart sich Gott – in der Schöpfung (1,20) und im Gericht (9,17) –, doch erst in der Errettung erstrahlt der ganze Reichtum seiner Herrlichkeit.

6. Das Wort Gottes ist nicht hingefallen: Das Zeugnis der Propheten (9,24-­29)

Paulus hat in 9,14­23 auf Einwände gegen seine Argumente von 9,6­13 geantwortet. Nun fährt er mit seiner Beweisführung fort: Gottes Wort ist nicht hingefallen. Oben hatte er das am Handeln Gottes mit den Erz­vätern demonstriert; nun führt er zwei Propheten an, die dieses Handeln Gottes angekündigt haben.

24 Uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen.

Als der Töpfer formt sich Gott in der jetzigen Zeit Gefäße des Erbarmens nicht nur aus den Juden, sondern »auch aus den Nationen« (V. 24). Wenn die Nationen aber einzig aus Gottes Erbarmen sind, was sie sind, haben sie keine Ursache, auf die Juden herabzuschauen (was Paulus in Kapi­tel 11 ausführlich entfalten wird).

Die Tatsache, dass Heiden nun Berufene und Geliebte Gottes hei­ßen, muss der Apostel mit der Schrift belegen können. Und auch seine Behauptung, dass Gottes Wort nicht hingefallen ist (V. 6) – obwohl der größte Teil der Israeliten die Verheißungen nicht erlangt hat –, muss Pau lus belegen. Zu diesem doppelten Zweck zitiert Paulus die beiden Pro­pheten Hosea und Jesaja (V. 25­29). Zuerst führt er den Propheten Hosea an, der ankündigt, dass Gott aus den Nationen sich ein Volk beruft: Er nennt Menschen, die nicht sein Volk waren, sein Volk, und solche, die zuvor nicht geliebt waren, seine Geliebten. Dann zitiert er den Propheten Jesaja, der bestätigt, dass nicht alle, die aus Israel sind, Israel sind (siehe oben V. 6): Aus der gro­ßen Menge des Volkes wird nur ein Überrest gerettet. Die Übrigen sind wie einst der Pharao in ihrem Widerspruch gegen Gott verhärtet worden (11,7).

Paulus sagt »uns, die er auch berufen hat« und schließt sich damit ein in die Gemeinschaft aller, die Gott berufen hat »aus den Juden« und »auch aus den Nationen«; »berufen« ist hier der entscheidende Begriff. Paulus hatte an Jakob und Esau gezeigt, dass alles von Gott, dem Be ­ rufenden, ausgeht (9,11). Nun kann er zeigen, dass die Propheten an ­ gekündigt hatten, dass Gott in seiner Barmherzigkeit Heiden berufen würde. Einst war Israel das Gefäß des Erbarmens gewesen, an dem Gott seine Herrlichkeit kundtat, während er an Ägypten als einem Gefäß des Zornes seine Macht erwies. Die Gemeinschaft derer, die Gott aus Juden und aus Heiden beruft, ist nicht ein »wahres Israel« oder »der Israel Gottes« (Gal 6,16264 In den Dutzenden von Belegen des Namens »Israel« oder »Israelit« oder »Söhne Israels« im Neuen Testament wird ohne Ausnahme auf diese eine Nation und Angehörige derselben und nie auf etwas anderes Bezug genommen. Das »Israel Gottes« in Gal 6,16 sind solche Israeliten, die anders als die Irrlehrer, die in Galatien eingedrungen waren, echte Israeliten waren, Israeliten, in denen kein Trug war (siehe Joh 1,47), Israeliten, die an den Christus Gottes glaubten und durch den Glauben allein gerechtfertigt waren.), also so etwas wie ein altes und altbekanntes Gefäß mit anderen Leuten drin, sondern etwas ganz Neues, das Gott erschaffen hat: So wie jeder, der in Christus ist, »eine neue Schöpfung« ist (2Kor 5,17), so ist die Gemeinschaft all derer, die in Christus sind, eine neue Schöp fung: Gott schuf Juden und Heiden, indem er sie zu einem Leib formte, »zu einem neuen Menschen« (Eph 2,15-­16). Diese neue Schöpfung, die­ser eine neue Mensch, ist die Gemeinde.

Paulus sagt, Gott habe sie »berufen«, und er verwendet dafür das Verb kalein; und sie sind berufen »aus« den Juden und »aus« den Na tionen, ek. Nehmen wir die beiden Wörter ek und kalein zusammen, haben wir die εκκλησια, ek-klēsia, die »Herausgerufenenschaft«, die Gemeinschaft derer, die Gott aus der Menge der Sünder heraus gerufen und die der große Töpfer aus der Masse gefallener Menschen zu Gefäßen des Erbarmens gemacht hat. Israel war als Nation berufen aus allen Nationen. Nun aber ruft Gott nicht eine Nation, sondern er ruft aus allen Völkern265 So sagt auch Jakobus beim sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem: »Simon hat erzählt, wie Gottzuerst die Nationen heimgesucht hat, um aus ihnen ein Volk zu nehmen für seinen Namen« (Apg 15,14)., aus Juden und aus Heiden, einzelne Menschen. Es werden nicht alle Juden und nicht alle Heiden zur Gemeinde hin­ zugetan, sondern er hat aus ihnen eine Aus­wahl, εκ-λογη, ek-logē, zu sich gerufen. So steckt im Begriff und Wesen der Gemeinde bereits die Tatsache der Auswahl. Die Erwählten wurden Glieder der Gemeinde Gottes, indem Gott sie berief. Sie wurden also, wie einst Jakob, »nicht aus Werken«, d. h. aufgrund von menschlichen Vorleistungen gesegnet, »sondern aus dem Berufenden« (V. 11). Sie sind »Berufene Jesu Christi« (1,6), »Geliebte Gottes, berufene Heilige« (1,7). Gottes Ruf ergeht an alle (Mt 11,28; Offb 22,17), aber nicht alle, die hören, glau­ben (vgl. Röm 10,18.21; siehe auch Jes 50,2; Spr 1,24); darum wird sein Ruf nicht an allen wirksam.

a. Gott beruft auch Heiden (Hosea)

»Wenn Gott sich Gefäße des Erbarmens bereitet, dann kann er einen Heiden genauso gut nehmen wie einen Juden. Wenn die Juden in ihrer Torheit gegen Gottes Unumschränktheit protestierten – Gut, sagt der Apostel, dann sollen sie Gerechtigkeit haben. Aber wohin gelangen sie damit? Nachdem Paulus gezeigt hat, dass sowohl leibliche Abkunft als auch Gerechtigkeit ihnen nicht hilft, zeigt er ihnen jetzt: Wenn ihr Juden die Heiden nicht hereinlassen wollt, müsst ihr selber aus geschlossen bleiben. Ist den Juden Gottes Unumschränktheit zuwider, sollen sie sich an Sinai halten. Doch da haben sie jedes Recht auf Verheißungen verspielt, und damit sind sie ganz auf Gott geworfen, der in seiner Unumschränktheit tut, was ihm gefällt. So werden sie von Gott genötigt, dass sie es hinnehmen müssen, wenn er Heiden hineinruft, wie er in Hosea sagt.«266 J. N. Darby, Romans 9, a. a. O., S. 400-­401.

25 Wie er auch in Hosea sagt: »Ich werde Nicht-mein-Volk mein Volk nennen und die Nicht-Geliebte Geliebte.«

26 »Und es wird geschehen, an dem Ort, da zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, da werden sie Söhne des lebendigen Gottes genannt werden.«

Auf die Behauptung, dass Gott auch die Heiden gerufen hat, zitiert Pau­lus als Beleg den Propheten Hosea. »Ich werde Nicht-mein-Volk mein Volk nennen und die Nicht-Geliebte Geliebte.«

Man beachte wohl, wie Paulus sich ausdrückt. Er sagt nicht, dass erfüllt wurde, was Hosea sagt, sondern: »Wie er auch in Hosea sagt …« Es handelt sich also nicht um eine erfüllte Weissagung, sondern um eine Analogie. Gott handelt jetzt an Einzelnen aus den Heiden, wie er einst an ganz Israel handeln wird. Dieses Wirken in der gegenwärtigen Zeit entspricht seinem Wirken am Volk Israel, das noch zukünftig ist. Jetzt tut er an einzelnen Berufenen aus den Nationen und an einem Überrest aus Israel, was er in Zukunft an ganz Israel tun wird. Jetzt ist Israel ein Nicht­ Volk, doch aus diesem beruft Gott einzelne Juden; und er beruft Einzelne aus den Nationen, die ebenso ein Nicht­Volk sind, um sich aus den bei­ den »ein Volk … für seinen Namen« zu machen (Apg 15,14). Was Gott durch Hosea angekündigt hat, wird jetzt auf berufene Juden und Heiden angewendet. Erst wenn ganz Israel sich in der Zukunft bekehren wird (Röm 11,26; 2Kor 3,16), wird sich die Weissagung Hoseas erfüllen. Wenn Gott »Nicht-mein-Volk« »[sein] Volk« nennt, erweist er sich als der Gott, der »das Nichtseiende ruft wie Seiendes« (4,17), der erwählt, »was nicht ist, damit er das, was ist, zunichtemache« (1Kor 1,28). Als Abraham die Verheißung einer großen Nachkommenschaft empfing, hatte er keinen Sohn; es war nichts da – nur dessen erstorbener Leib und der tote Mutterleib Saras (Röm 4,19). Ebenso findet sich sowohl in den Juden als auch in den Heiden, die Gott zum Heil in Christus ruft, nichts, was auf Segen und Heil hindeutet. Es ist nur Sünde da und gar nichts Gutes. Die Berufenen waren alle »Nicht-Geliebte«, und nun nennt Gott sie »Geliebte« (siehe Joh 17,26; Eph 5,1; 1Jo 3,1­2).267 Dass Gott aus Sündern Geliebte macht, zeigt, wie wahr das Wort Luthers ist: »Amor Dei non invenit, sed creat suum diligibile – Die Liebe Gottes findet nicht, sondern erschafft das, was ihm liebenswürdig ist« (Heidelberger Disputation 1518, 28. These [WA 1, 354, 35]). Das ist an Röm 4,5 angelehnt: Gott macht den Gottlosen gerecht. Bei Menschen ist es gerade umgekehrt, denn er liebt nur, die ihm liebenswürdig erscheinen: »Amor hominis fit a suo diligibili – Die Liebe des Menschen entsteht aus dem, was ihm liebenswert ist« (Heidelberger Disputation 1518, 28. These [WA 1, 354, 35­36]). Und die nicht sein Volk waren, werden »Söhne des lebendigen Gottes genannt werden« (siehe 8,14). Wahrlich: Gott erweckt dem Abraham Nachkommen aus Steinen (Mt 3,9). Er ruft lauter Tote, und diese hören seinen Ruf und leben (Joh 5,25).

b. Nicht alle Israeliten werden errettet (Jesaja)

27 Jesaja aber ruft über Israel: »Wäre die Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres, nur der Überrest wird errettet werden –

28 indem er nämlich das Wort vollendet und in Gerechtigkeit abkürzt; denn der Herr wird ein abgekürztes Wort ausführen auf der Erde.«

29 Und wie Jesaja vorhergesagt hat: »Wenn nicht der Herr Zebaoth uns Nachkommen übrig gelassen hätte, so wären wir wie Sodom geworden, und Gomorra wären wir gleichgemacht worden.«

»Wäre die Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres, nur der Überrest wird errettet werden.«: Was Paulus von V. 6 an in diesem Kapitel gelehrt hat, lässt sich nicht nur herleiten von Gottes Handeln in den Familien der Erzväter; es wird auch von den Propheten ausdrück­ lich gelehrt. Jesaja hat schon angekündigt, dass nicht alle, die sich Söhne Abrahams oder »Söhne Israels« nennen, wirklich Söhne sind. Sie hatten den Glauben Abrahams nicht, und doch maßten sie sich an, dessen Söhne zu sein. Aus der großen Menge dieses ungläubigen Volkes rettet Gott nur einen Überrest. Dieser heißt in Kapitel 11 »ein Überrest nach Wahl der Gnade« (11,5). Denn Gott beruft nie nach Werken, sondern stets nach seinem Vorsatz der Gnade, wie er an Jakob gezeigt hat (V. 10­-13). Falls jemand noch immer denken sollte, es sei nicht gerecht, dass Gott einige wenige aus dem Volk zum Heil aussondert (V. 14), fragt Paulus in den Worten des Propheten, was mit uns wäre, wenn Gott das nicht getan hätte. Wir waren alle wie Sodom und Gomorra (siehe Kap. 1,18 – 3,20); wir hätten alle wie diese untergehen müssen, »wenn nicht der Herr Zebaoth uns Nachkommen übrig gelassen hätte«. Beachten wir, wie Jesaja sich ausdrückt. Er sagt nicht: Einige haben sich der Sünden Sodoms ent­ halten, sondern: Der Herr hat einige übrig gelassen. Der Herr hat etwas getan, nicht sie. In Kapitel 11,4 sagt er: »Ich habe mir übrig bleiben lassen …« Jene, die übrig gelassen wurden, hatten das so wenig verdient wie alle anderen; es geschah aus Gottes Gnade (11,5) und durch Gottes Wirken268 Gott will alle retten (Joh 3,16; 1Tim 2,4); aber keiner will gerettet werden (Mt 23,37; Joh 5,40). In dem das Lamm Gottes die Sünde der Welt weggenommen hat (Joh 1,29) und Gott auf diese Weise die Welt mit sich versöhnt hat (2Kor 5,19) und er nun allen Menschen ohne Unterschied Versöhnung und Heil anbietet (2Kor 5,20), beweist er den »den Reichtum seiner Gütigkeit« (Röm 2,4), die zu allen Menschen ausgeht (Tit 2 11,; 3,4). Diese aber sind »unter der Sünde« (Röm 3,9); die Sünde herrsch tüber sie (5,21); sie sind ihre Sklaven (6,17). Daher wollen sie nichts anderes tun, als der Sünde zu dienen; sie wollen durchaus nicht gehorchen und glauben. Beließe es Gott beim bloßen Angebot des Heils und erwählte er nicht aus der Menge aller gleich bösen und zum Glauben gleich unwilligen Menschen (Röm 10,21) einige zum Heil, und wirkte er nicht in ihnen durch sein kräftiges Wort den Glauben (Röm 10,17), würde nicht eine einzige Seele an die Menschwerdung, an den Tod und an die Auferstehung Jesu glauben zur Errettung. Der Himmel bliebe leer, der Sohn Gottes wäre nicht der Erstgeborene unter vielen Brüdern; der Sohn hätte keine Braut, die er ins Vaterhaus führen könnte.Nun aber hat Gott sich vorgesetzt, einen Überrest zu retten und diesen seinem Sohn als Braut zu geben.Dank diesem Vorsatz sind wir – du und ich – zum Glauben gekommen..

7. Israel hat seines Unglaubens wegen die Verheißungen nicht erlangt (9,30-­33)

Mit der Frage »Was sollen wir nun sagen?« leitet Paulus die Er klärung ein, warum die Juden das Ziel ihrer Geschichte, das Heil in Jesus, dem Messias, verfehlten (vgl. Hebr 2,1). Er hat bis dahin erklärt, dass Gott nicht gegen seine Verheißungen handelte, als er die Juden beiseite­ setzte. Nun zeigt er, dass die Juden nicht etwa strauchelten, weil Gott sie nicht erwählt hatte, sondern weil sie nicht glaubten. Das hatte er bereits in 3,3­4 gesagt. Darum können die Nachkommen Abrahams nur sich selbst die Schuld an ihrem Untergang geben. Sie stießen sich am Chris­ tus Gottes, durch den und in dem Gott alle seine Verheißungen erfüllte. Die »Gerechtigkeit …, die aus Glauben ist« (V. 30), war den Juden das eigentliche Ärgernis. Sie strebten zwar nach Gerechtigkeit (V. 31), aber dabei wollten sie aus eigenen Werken gerecht werden (V. 32), und damit bewiesen sie, dass sie anders als Vater Abraham sich und ihre eigene Ehre mehr liebten als Gott und dessen Ehre (Röm 4,20; siehe auch Joh 5 44,; 12,43; Röm 2,29).

30 Was sollen wir nun sagen? Dass die von den Nationen, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, Gerechtigkeit erlangt haben, eine Gerechtigkeit aber, die aus Glauben ist.

Solche, »die nicht nach Gerechtigkeit strebten«, haben »Gerechtigkeit erlangt«. Das ist historische Tatsache, wie wir alle wissen, und das bestätigt, was Paulus in 9,16 sagte: Das Heil liegt nicht »an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an Gott, der sich erbarmt«. Es muss so sein, denn da ist keiner, der Gott sucht (3,11); doch Gott offen­ barte sich denen, die ihn nicht gesucht hatten (10,20). Entsprechend kann ein alter Heide, den Christus fand, schreiben: »Alle diese großen Wahrheiten sind für unsere eigene Seele. Die Geschichte der Welt ist die Geschichte der Einzelseele. Gott hat sich die Mühe genommen, sie in aller Ausführlichkeit vor uns auszubreiten, sodass wir wie in einem Spiegel uns selbst lesen und erkennen können, dass wir eingeschlossen sind auf Gnade. Sind wir dorthin gelangt, kann uns nichts mehr scheiden von der Liebe Gottes. Alles hängt an souveräner Güte, und darum stütze ich mich auf das, was Gott für mich ist, nicht [auf das,] was ich für Gott bin.«269 J. N. Darby, Romans, a. a. O., S. 403.

31 Israel hingegen, das einem Gesetz der Gerechtigkeit nachstrebte, hat dieses Gesetz nicht erreicht.

32 Warum? Weil [sie es] nicht aus Glauben, sondern als aus Gesetzeswerken [suchten]. Sie haben sich gestoßen am Stein des Anstoßes,

33 wie geschrieben steht: »Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses, und keiner, der an ihn glaubt, wird zuschanden werden.«

Israel strebte »einem Gesetz der Gerechtigkeit nach«, obwohl Gott an der Errettung seines Volkes aus der Gewalt des Pharao demonstriert hatte, dass es nicht an Israels Laufen und Wollen lag, sondern an Gottes Erbarmen. Trotzdem meinten sie, aus ihrem eigenen Wollen und Wirken Gerechtigkeit erlangen zu können. Sie suchten diese statt aus Glauben »aus Gesetzeswerken«, obwohl Gott ihnen an Jakob gezeigt hatte, dass man »nicht aus Werken« die Verheißungen erlangen kann (V. 11). Darum mussten sie sich »[stoßen] am Stein des Anstoßes«, an Christus, durch den Gott die einzige Gerechtigkeit darreicht, die vor Gott gilt. Dass Israel in dieser Weise an Christus Anstoß nehmen und straucheln würde, hatte er durch Jesaja angekündigt:

»Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses, und keiner, der an ihn glaubt, wird zuschanden werden.«: Dieses Zitat besteht aus den beiden Versen Jes 8,14 und 28,16. Der Prophet sagte voraus, dass Israel sich an Christus stoßen werde, andere aber glauben und gerettet werden würden: »Keiner, der an ihn glaubt, wird zuschanden werden.« Dass Israel als Nation das Evan­ gelium, das Paulus predigte, nicht annahm und deshalb die den Vätern gegebenen Verheißungen sich nicht erfüllten, stimmt also genau überein mit dem, was das Wort Gottes durch den Propheten erwarten ließ. Es ist also nicht hingefallen (V. 6). Christus wurde seinem eigenen Volk zum Anstoß, weil er in Niedrigkeit kam und nicht in Macht, wie sie es sich wünschten, und er wurde ihnen zum Ärgernis, weil er ihr Streben nach eigener Gerechtigkeit (siehe 10,3) nicht anerkannte. Auf die Frage, »warum« Israel die Gerechtigkeit nicht erlangte, ant­ wortet Paulus nicht, dass sie diese nicht fanden, weil sie nicht erwählt waren. Niemand geht am Heil vorbei, weil er nicht erwählt ist. Man verfehlt das Heil, weil man nicht glaubt; so lehrt es die Bibel. So wie die Ursache der Errettung am Gnadenwillen Gottes liegt, so liegt die Ur sache der Verdammnis am Unglauben des Menschen. Die Errettung ist ganz unverdient; die Verdammnis ist ganz verdient. Die Errettung wählt Gott für uns, die Verdammnis wählen wir selbst für uns. Wir ver­ suchen vergeblich, die freie Gnadenwahl und die Verantwortung eines jeden Menschen miteinander in Einklang zu bringen, und versucht man es doch, um alles in ein handliches System zu bringen, läuft man in die Irre. Man muss dann entweder die biblischen Aussagen über Gottes Un ­ umschränktheit relativieren oder die Bibelworte über die Verantwortung des Menschen abschwächen. Unsere Pflicht ist es, allem zu glauben, was die Schrift sagt, weil Gott es sagt:

»Wenn wir uns der Heiligen Schrift zuwenden, finden wir die WAHRHEIT. Nicht nur eine Seite der Wahrheit, sondern die ganze Wahrheit mit allem, was sie beinhaltet. Wir finden dort, Seite an Seite, die Wahrheit der göttlichen Souveränität und die Wahrheit der menschlichen Verantwortung. Ist es unsere Aufgabe, sie miteinander zu versöhnen? Nein, sie sind schon miteinander versöhnt, da uns beide im Wort Gottes dargelegt werden. Wir brauchen nur zu glauben und zu gehorchen.«270 C. H. Mackintosh, Short Papers on Scripture Subjects, Bd. 2, Beamsville, ON (Canada), Believer’s Bookshelf, S. 267.

»Wie kann Gott einzelne Menschen erwählen und sie damit zu seinem Eigentum machen und gleichzeitig allen Menschen an allen Orten ein echtes Angebot des Heils darreichen? Wie können wir diese beiden Wahrheiten miteinander vereinbaren? Tatsache ist, wir können es nicht. Für den menschlichen Verstand widersprechen sie einander. Aber die Bibel lehrt beide Wahrheiten, und darum sollen wir ihnen glauben, an erkennend, dass die Schwierigkeit in unserem Verstehen liegt, nicht bei Gott.«271 W. MacDonald, Believer’s Bible Commentary, S. 531. A. d. H.: Vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: W. MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, a. a. O., S. 652.

Anmerkungen zu Kapitel 9

»Übersicht. A. Der schmerzliche Kontrast der Unseligkeit der Juden gegenüber der geschilderten Seligkeit der Christen, die zum größten Teil aus den Heiden [sind]. Die Trauer des Apostels über die scheinbar ver­ fehlte Bestimmung seines Volkes (Kap. 9,1­5). – B. Die Erhebung des Apostels in dem Gedanken, dass die Verheißung Gottes für Israel gleich­ wohl feststehe (V. 6­33). Beweis: 1) Die Unterschiede in der Erwählung: Nicht alle von Israel sind Israel (V. 6­13). 2) Die Gegensätze in der Verordnung (Prädestination): Gott ist nicht ungerecht in seinem Be gnadigen und in seinem Verstocken, in seiner Weise, Gericht und Erbarmung zu verketten (V. 14­-18). 3) Die Freiheit Gottes in der faktischen Be rufung zum Heil (V. 19­29): a. der Beweis aus der vorhandenen Tatsache (V. 19­-24); b. der Beweis aus den Zeugnissen des Alten Testaments (V. 25­29). 4) Die Korrespondenz [Übereinstimmung] der Freiheit Gottes in seinem Walten mit der Freiheit der Menschen in ihrem Glauben oder Nichtglauben. Das Feststehen der Tatsache, dass die Heiden glauben, und Israel nach seiner volksbezogenen Gesamtheit glaubt nicht (V. 30­33)« (J. P. Lange, Der Brief Pauli an die Römer, S. 191). »Dieser Teil [Röm 9 – 11] enthält eine starke Betonung der göttlichen Unumschränktheit und der menschlichen Verantwortung. Römer 9 ist einer der Schlüsselabschnitte über Gottes souveräne Erwählung. Das darauf folgende Kapitel entfaltet als Gegengewicht ebenso kraftvoll die Wahrheit von der Verantwortung des Menschen« (William MacDonald, Believer’s Bible Commentary. New Testament, S. 530; A. d. H.: Vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: William MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, a. a. O., S. 651).

V. 4­5 – »Wem gehören die Verheißungen Gottes? Wir sollten zunächst beachten, dass der Römerbrief ungefähr im Jahr 60 geschrieben wurde, das heißt viele Jahre, nachdem die Gemeinde entstanden war, und doch sagt Paulus, dass die Sohnschaft, die Bündnisse, die Verheißungen Israel gehören. Er verwendet in diesem ganzen Vers stets die Gegen­ wartsform … und schreibt: ›Welche Israeliten sind … Sohnschaft, Gottesdienst … deren die Väter sind …‹ Wenn die Israel gegebenen Ver­ heißungen jetzt der Gemeinde gölten, hätte man erwarten müssen, dass die neutestamentlichen Autoren nach dreißig Jahren diese Tatsache im Wort Gottes klar gelehrt hätten. Es ist aber offensichtlich so, dass die Verheißungen, die Israel gegeben wurden, immer noch Israel gelten und dass die Definition von ›Israel‹ sich nicht verändert hat« (David Dunlap, The Glory of the Ages, S. 143). V. 6­13 – »Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvorerkannt hat. Für eine Zeit sind sie als Nation zwar beiseitegesetzt … und sie werden gemäß ihrer Natur und in ihrem Zustand von Sündern auf eine Ebene mit den Heiden heruntergestuft. Der Apostel hat in Kapitel 3 gezeigt, dass sie alle gleichermaßen unter der Sünde sind. Hier aber bringt der Apostel die Tatsache, dass den Juden bedingungslose Verheißungen gegeben waren, in Einklang mit der Tatsache, dass sie in der Sünde den Heiden gleich sind, und er beweist, dass sie die Verheißungen erlangen werden, und das in einer weit höheren Weise, als sie diese zuerst hätten besitzen kön­ nen … Er zeigt den Israeliten aus ihrer eigenen Geschichte, dass sie alles Gott und dessen Souveränität anheimstellen müssen, wenn sie nicht ihre Verheißungen verlieren wollen, und dass Gott in der Ausübung seiner Souveränität nicht nur die Juden, sondern auch die Heiden herein lassen wird. Die Juden wollten die Verheißungen aufgrund ihrer Abkunft, womit die Heiden ausgeschlossen wären. Lasst uns sehen, sagt Paulus, was wird, wenn ihr Israeliten die Verheißungen aufgrund von Abkunft emp­ fangen wollt. Ihr sagt: Wir sind Abrahams Same und haben daher un serer Abkunft wegen Anrecht auf die Verheißungen; diese Heiden hingegen sind Hunde, und die haben an den Verheißungen weder Recht noch Teil mit uns. Da Gott souverän ist, wird er auch die Hunde hereinlassen. Ich will euch aber jetzt beweisen, dass ihr die Verheißungen nicht aufgrund eurer Abkunft empfangen könnt … Ist es nämlich aufgrund von Abkunft, müsst ihr den ganzen Samen Abrahams annehmen. Und wenn ihr alle Kinder Abrahams annehmt, müsst ihr auch Ismael herein nehmen – diese Araber! Nein, das können wir niemals tun! Wie? Is maeliten in der Ver­ sammlung Israels und Erben der Verheißungen? Doch, denn, das ist zwingend, wenn alles nach Abkunft geht. Wenn ihr es nun doch nicht nach Abkunft haben wollt, dann müsst ihr es aus Gnade hinnehmen. Ist es aber nach Gnade, wird Gott es nicht auf euch beschränken, sondern er wird seine Gnade auch den Heiden zuwenden« (J. N. Darby, Romans 9, The Collected Writings of Darby, Bd. 33, S. 395). V. 16 – »Wenn dieser Vers uns nur in Ohren und Herzen sänke! Es gibt vielleicht kein anderes Wort in der Bibel, das den Menschen so voll­ ständig an sein Ende bringt. Er denkt, er könne ›wollen‹ und ›sich ent­ scheiden‹, sich Gott zuzuwenden, und dass er, nachdem er ›sich ent­ schieden‹ und ›gewollt‹ hat, auch die Fähigkeit habe, zu ›laufen‹, oder, wie er sagt, ›durchzuhalten‹. Aber diese beiden Dinge, das Sich­Entscheiden und Durchhalten, werden in diesem Vers als Quelle der Er rettung ra dikal verworfen. Diese Quelle kann, wie hier gesagt wird, nur Gott sein, der sich erbarmt. Die Ver antwortung des Menschen wird hier keineswegs ge ­ leugnet; er muss wollen, und er sollte laufen. Aber wir alle sind nichts als Sünder, die weder können noch wollen – es sei denn, Gott komme zu uns in souveränem Erbarmen« (W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 367). V. 22­23 – »Die Gefäße des Erbarmens waren von Gott zuvor bereitet worden zu seiner Herrlichkeit, während die Gefäße des Zornes zum Ver­ derben bereitet sind durch ihre eigene Gottlosigkeit. Was irgend Gutes sein mag, muss von Gott kommen, von Gott allein. Das Böse, ach! ist schon in uns« (J. N. Darby, Romans 9, S. 400). V. 27­29 – »Weil er mit Israel in Gerechtigkeit handelte, sollten sie völ­ lig niedergeschlagen werden; weil er gegenüber den Verheißungen des Erbarmens treu war, würde seine gnädige Macht eine vollständige Aus­ rottung, wie sie den beiden Städten der Ebene widerfuhr, verhindern. Der Überrest wird errettet werden, ein Same, mit dem die Erde erneut besät werden soll … Doch davor muss das Gericht sein Werk tun, aber am Ende wird Barmherzigkeit sich rühmen wider das Gericht, und der Überrest, aus Gnade errettet, wird durch Gnade zu einer starken Nation gemacht werden … Welch Zeugnis von der göttlichen Wahrheit, von der zu allen ausgehenden Gnade, dass das Evangelium – eine noch nie zuvor gehörte Botschaft und völlig verschieden von allem, was unter dem Gesetz zu sehen war und was sein wird, wenn das Reich in Kraft und in Herrlich­ keit erscheint – sich dennoch als wahr erweist durch Worte sowohl des Erbarmens als auch des Gerichts, Worte, die ausgesprochen wurden meh­ rere Hundert Jahre, bevor die verschiedenen Knechte Gottes ausgesandt wurden, um seinem Volk diese Botschaft zu verkünden! Aber so, wie sie in ihrer Blindheit diese Boten verachteten und deren Wort abwiesen und ihm ihre Götzen vorzogen, so haben sie jetzt diese Worte noch völliger erfüllt in der Verwerfung Christi und in ihrem Hass auf die Gnade, wel­ che die Heiden empfingen, und so die Wahrheit des göttlichen Wortes bestätigt zur Beschämung ihres Unglaubens, der so blind wie auch hoch­ mütig und selbstverliebt ist« (William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 195­196).

V. 30­31 – »Ein Beweis dafür, dass der Mensch ohne die Gnade nur Böses wollen kann, liegt in der Tatsache und Erfahrung, dass die Juden, die mit allen verfügbaren Kräften nach Gerechtigkeit gestrebt haben, nur desto tiefer in den Abgrund der Ungerechtigkeit gestürzt sind, während die Heiden, deren Sinn und Trachten gottlos gewesen ist, umsonst und wider Erwarten272 Zu »wider Erwarten« siehe Röm 10,20. Gerechtigkeit erlangt haben« (Luther, Vom unfreien Willen, S. 227 [WA 18, 786, 14­17]).

Kapitel 10

1. Das Herzensverlangen des Paulus für seine Brüder, die Juden (10,1-3)

2. Der Glaube an Christus rechtfertigt (10,4-11) 3. Das Heil gilt allen Menschen (10,12-17)

a. Das Heil ist für jeden, der den Herrn anruft (10,12-13)

b. Das Heil muss gepredigt werden, damit Menschen glauben können (10,14-17)

4. Warum ist Israel nicht gerettet worden? (10,18-21)

In Kapitel 9 hatte Paulus mehrheitlich von der Vergangenheit Israels gesprochen. Im vorliegenden Kapitel spricht er von der Gegenwart Israels. Während 9,1­29 das Gewicht auf Gottes Gnadenwahl legt, liegt es in 9,30 – 10,21 auf Verantwortung des Menschen.

Gott hat aus Israel nur einen Überrest gerettet (9,29), aber dass die große Masse verworfen wurde, lag nicht daran, dass Gott ihnen die Gnade vorenthalten hätte; denn diese war ihnen frei angeboten wor­den (Mt 11,28­29; 23,37; Lk 24,45­47; Joh 12,35­36; Apg 1,8). Dass die Mehrheit der Israeliten nicht zum Ziel kam, lag an ihrem Un glauben (9,31­33) und an ihrem Unverstand (10,2­5). Sie konnten sich nicht damit entschuldigen, dass das Wort und der Weg der Errettung außer ihrer Reichweite gewesen wären, denn Christus war aus dem Himmel zu ihnen gekommen und war aus den Toten auferstanden, und damit war das Wort des Glaubens nahe ihrem Mund und Herzen (V. 6­8). Sie waren nicht ausgeschlossen vom Heil, denn keiner, der an ihn glaubt, wird zuschanden, und der Herr ist reich für alle und rettet jeden, der ihn anruft (V. 11­13). Damit aber die Menschen ihn anrufen können, müssen sie an ihn glauben, und damit sie glauben können, müssen sie von ihm hören. Darum sandte Gott den Juden Boten, welche die Botschaft verkündig­ ten, die den Glauben wirkt. Daher konnte niemand von ihnen sagen, Gott sei schuld, dass er nicht zum Glauben und zum Heil gekommen sei, denn ihnen wurde das Heil in Christus gepredigt. Sie hatten gehört, aber sie glaubten nicht (V. 14­17). Gott hatte seine Hände zu ihnen ausgestreckt, aber sie widersprachen ihm (V. 18­21). Doch auch die Heiden konn­ ten sich nicht einbilden, sie seien besser als die Juden; denn sie hatten Gott nicht gesucht, und er ließ sich finden. Und sie hatten nicht nach ihm gefragt, und er offenbarte sich ihnen (V. 20).

1. Das Herzensverlangen des Paulus für seine Brüder, die Juden (10,1­-3)

Im 9. Kapitel hatte Paulus bezeugt, dass er beständigen Schmerz in sei­nem Herzen hatte um seine Brüder, die Juden (9,2). Hier sagt er, dass sein Herz danach verlangt, dass sie errettet werden (10,1).

1 Brüder! Das Wohlgefallen meines Herzens für Israel und mein Flehen für sie zu Gott ist, dass sie errettet werden.

»Das Wohlgefallen meines Herzens … und mein Flehen«: Paulus hat in 9,17 gesagt, dass es bei der Errettung nicht auf den Laufenden und auf den Wollenden ankommt, sondern auf Gott, der sich erbarmt. Daraus schließt Paulus nicht, was manche törichterweise tun, dass es sinnlos sei zu beten, da doch ohnehin nur die errettet werden, die Gott dazu bestimmt habe. Es ist nicht unsere Sache, wissen zu wollen, was verborgen ist, d. h., wen Gott erwählt hat. Unsere Sache ist es, alles zu glauben, was Gott offenbart, und alles zu tun, was Gott uns befohlen hat: Wir sollen für alle Menschen beten (1Tim 2,1­3), und wir sollen allen Menschen an allen Orten, zur Zeit und zur Unzeit das Evangelium verkündigen (Mk 16,15; 2Tim 4,2). Wenn es böse ist, angesichts der Tatsache der göttlichen Erwählung Gott Ungerechtigkeit vorzuwerfen, dann ist es genauso böse, angesichts der Tat­sache der Erwählung sich Gottes offenem Befehl zu widersetzen. Wie in 9,1 sehen wir, wie das Herz des Apostels bewegt war durch die Wahrheiten von Erwählung und Heil, Unglaube und Verdammnis. Am Gebet zeigt sich, ob die Wahrheiten, die Gott uns offenbarte und uns hat verkündigen lassen, uns wirklich regieren. Und im Gebet zeigt man, ob man eine Sache wirklich von Herzen verlangt. Wer nicht betet, mag zwar davon reden, dass er jemandes Errettung wünsche, aber er wünscht sie nicht wirklich, nicht von Herzen. Die Liebe drängt uns zum Gebet für die Heiligen wie auch für die Verlorenen. Die Fürbitte ist ein zuverlässiger Gradmesser meiner Liebe zum Nächsten.

Wir beten »zu Gott«: Wer recht betet, redet nicht zu sich selbst oder »bei sich selbst« (wie es jener Pharisäer tat [Lk 18,11]). Er betet nicht, damit er mit sich selbst zufrieden sein kann; er breitet auch nicht seine Wünsche vor sich selbst aus, um sich damit ein wenig Trost in die Seele zu träufeln. Wer glaubt, schaut auf zu Gott, weil er alles von ihm und nichts von den Menschen erwartet (Ps 123,1­2). Er betet mit der Gewiss­heit, dass Gott hört, wenn wir nach seinem Willen beten (1Tim 2,1.4). Er harrt aus im Gebet (Röm 12,12), bis der Herr antwortet (Lk 18,1).

2 Denn ich gebe ihnen Zeugnis, dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht nach Erkenntnis.

3 Denn da sie die Gerechtigkeit Gottes nicht erkannten und ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten suchten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen.

Paulus gibt »ihnen Zeugnis«: Was irgend er Gutes an ihnen finden kann, das lobt er an ihnen; denn er liebt sie. Sie haben »Eifer für Gott«, doch war ihr Eifer »nicht nach Erkenntnis«. Sie erkannten die »Gerechtigkeit Gottes« nicht, und das bedeutet, dass sie Gott in seinem Wesen nicht erkannten. Hätten sie ihn recht erkannt, hätten sie auch seine Gerech­tigkeit recht erkannt, und dann hätten sie verstanden, dass sie mit ihren Werken ihm nie genügen konnten. Da sie das nicht erkannten, war ihr Eifer nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich. Indem sie »ihre eigene Gerechtigkeit« aufrichten wollen, verschmähten sie die »Gerechtigkeit Gottes«, die allein genügt. Denn nur den kann Gott annehmen, der so gerecht ist wie er selbst.

In ihrem Unglauben hatten sie »sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen« und sich damit Gott selbst widersetzt. Wer glaubt, dass er allein in und durch Christus vor Gott gerecht werden kann, unter­ wirft sich der Gerechtigkeit Gottes. Der Glaubende hat alles Vertrauen in eigene Vernunft und eigenes Vermögen fahren lassen (vgl. Spr 3,5); er hat sich selbst aufgegeben und verlässt sich ganz auf Christus allein. Wahrer Glaube ist immer Selbstverleugnung.

2. Der Glaube an Christus rechtfertigt (10,4­-11)

4 Denn Christus ist das Ende des Gesetzes, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit.

5 Denn Mose beschreibt die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist: »Der Mensch, der diese Dinge tut, wird durch sie leben.«

»Denn Christus ist das Ende des Gesetzes«: Dieser Satz erklärt, worin die Juden Gottes Gerechtigkeit verkannten. Sie verkannten Christus, in dem die Gerechtigkeit Gottes erfüllt wurde und durch den uns diese Gerechtigkeit geschenkt wird. Paulus sagt auch, worin ihr Verständnis vom Gesetz falsch war. Das Ende, d. h. Sinn und Zweck des Gesetzes ist Christus und damit dessen Gerechtigkeit. Darum wollte das Gesetz nur eines: die Israeliten zu Christus führen. Es sollte wie ein Zucht meister – παιδαγωγος, paidagōgos, wörtlich »Knabenführer« – das noch unmündige Israel (Gal 4,1.3) zu Christus leiten (Gal 3,24). Wie tat das Gesetz dieses Werk? Wer das Gesetz ernst nahm, wurde vom Gesetz als Sünder überführt, sodass er anfing zu verstehen, dass er nicht nur ein­ zelne sündige Taten beging, sondern dass sein ganzes Wesen Feindschaft war gegen Gott. So trieb ihn das Gesetz zur Verzweiflung an sich selbst und trieb ihn damit zu Christus.

Die alttestamentlichen Schriften führten zu Christus – nicht nur, indem sie Erkenntnis der Verlorenheit wirkten, sondern indem sie gleich­ zeitig auch von Christus selbst zeugten (Joh 5,39). Mose schrieb von ihm, sodass ein jeder, der Mose beim Wort nahm, zum Glauben an Chris­tus kommen musste (Joh 5,46). Und wenn er an ihn glaubte, würde er gerecht gesprochen werden und nicht mehr eine Gerechtigkeit suchen, »die aus dem Gesetz ist, sondern die durch den Glauben an Christus ist, die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben« (Phil 3,9).

»Die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist« gilt dem Menschen, »der diese Dinge tut«. Tut er, was Gott im Gesetz von ihm fordert, wird er »leben« (siehe auch Hes 18,5­9). Das ist das Prinzip, das Paulus bereits in Kapitel 2 ausgesprochen hat: Gott wird einem jeden geben nach seinen Werken (V. 6) – denen, die ausharren in guten Werken, »ewiges Leben« (V. 7); und »die Täter des Gesetzes werden gerecht fertigt werden« (V. 13).

6 Die Gerechtigkeit aus Glauben aber spricht so: Sage nicht in deinem Herzen: »Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?«, das ist, um Christus herabzuführen;

7 oder: »Wer wird in den Abgrund hinabsteigen?«, das ist, um Christus aus den Toten heraufzuführen«;

Die »Gerechtigkeit aus Glauben« weiß, dass niemand »in den Himmel hinaufsteigen« muss, »um Christus herabzuführen«, denn Christus ist Mensch geworden und zu uns gekommen. Ebenso wenig muss jemand »in den Abgrund hinabsteigen … um Christus aus den Toten heraufzuführen«, denn Christus ist freiwillig in den Tod gegangen und wieder aus den Toten auferstanden. Das bedeutet, dass wir anders als unter dem Gesetz nichts tun müssen, um das ewige Leben zu erlangen. Gott hat in Christus alles für uns getan.

Diese beiden Dinge – Christus kam aus dem Himmel zu uns, er auf­ erstand aus den Toten – enthalten alles, was wir über Christus wissen und woran wir glauben müssen, um gerettet zu werden: Der Sohn Got­tes, der von Ewigkeit her im Himmel war, wurde als Mensch auf die­ser Erde geboren; er ist wahrer Gott und wahrer Mensch in einer Per­son. Und weil er als Mensch auch Gott ist, muss er sündlos sein, wie Gott sündlos ist. Als der sündlose Mensch ist er stellvertretend für Sünder gestorben und aus den Toten auferstanden. Dass dieser eine, der als Mensch am Kreuz hing, »der Herr der Herrlichkeit« ist (1Kor 2,8), gibt seinem Leiden und Sterben grenzenlosen Wert, sodass jeder, der an ihn glaubt, findet, dass dort am Kreuz seine – ja, auch seine – Sünden gesühnt wurden.

Die Verse 6 und 7 sind nicht ein Zitat aus 5. Mose; vielmehr ver­wendet Paulus ähnliche Worte, wie Mose sie verwendet hatte (5Mo 30,12­14), um zu zeigen, dass wir Verantwortung haben. Mose wollte dem Volk Israel mit diesen Worten bewusst machen, dass sie jetzt, da sie Gottes Gesetz bekommen hatten, nicht Unwissenheit vorschützen konnten: Das Gesetz war zu ihnen gekommen und war ganz nahe. So lag es jetzt an ihnen, es anzunehmen und zu tun. Das Gleiche tut Paulus für seine Zeitgenossen. Christus hat den Himmel verlassen und ist in diese Welt gekommen; er ist in den Tod gegangen und wieder auferstanden und hat damit vollkommene Errettung für Sünder gewirkt. Das Evangelium von Christus war gepredigt worden, sodass die Juden keine Unwissenheit vorschützen konnten. Sie kannten die Wahrheit über Christus; die Bot­ schaft vom Heil war ihnen verkündigt worden (Apg 1 – 7), das Wort des Heils war ihnen seither ganz nahe.

8 sondern was sagt sie? »Das Wort ist dir nahe in deinem Mund und in deinem Herzen«; das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen,

Weil Christus für uns aus dem Himmel gekommen, gestorben und auf­ erstanden ist, ist »das Wort … nahe in deinem Mund und in deinem Herzen«. Wir müssen das Wort vom Heil nicht mehr suchen; es ist da. In diesem Wort kommt Christus mit seinem Heil zu uns. Es ist ein »Wort des Glaubens«, d. h. ein Wort, das man im Glauben annehmen muss; und es ist ein Wort, »das wir predigen«. Paulus betete nicht nur für die Juden, sondern er predigte auch zu ihnen. Das Wort musste gepredigt werden, damit Menschen glauben und gerettet werden konnten (siehe V. 14­-17).

9 dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. .

Hier werden die beiden Heilstatsachen wieder genannt, die wir bekennen und an die wir glauben müssen, um gerettet zu werden, nämlich, dass »Jesus … Herr« ist und »dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat«. Wir müssen glauben, dass der Mensch Jesus, der von der Jungfrau Maria geboren wurde und als Kind diesen Namen bekam, der Herr ist, Gott über allem (9,5). Und wir müssen glauben, dass der ewige Gottes­ sohn aus dem Himmel herniederkam, um als unser Stellvertreter den Tod zu erleiden. An diesen glaubte Abraham (Joh 8,56; Röm 4,17), den sah und verkündigte Jesaja (Jes 6,1; Joh 12,38­41). Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden (Röm 9,33).

Zum rechten Bekenntnis muss der Herzensglaube kommen. Ein rech­ tes Bekenntnis ist notwendig. Wir dürfen auf keinen Fall das Bekennt­ nis aufgeben (Hebr 4,14); wir müssen »das gute Bekenntnis« bekennen (1Tim 6,13), bis der Herr kommt. Aber man muss im Herzen glauben, was man bekennt. Das Herz, das Innere des Menschen, muss von der Wahrheit über Jesus, den Herrn, regiert sein. Ein bloßes Annehmen der Tatsache, dass Jesus Herr ist, genügt nicht; denn dass Gott einer ist und dass Jesus der Sohn Gottes ist, glauben auch die Dämonen (Jak 2,19; Mk 1 24,; 3,11). Bekenntnis und Glaube sind miteinander verbunden. Wer kein rechtes Bekenntnis hat, kann keinen rechten Glauben haben, und wer behauptet, er habe Glauben, bekennt aber den Herrn nicht, glaubt nicht wirklich (Joh 12,42).

10 Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil.

»mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit«: So glaubte Abra­ham, und so wurde er von Gott für gerecht erklärt (Röm 4,3.5.9.11.13). .

»mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil«: Der Herr hatte, bevor er in den Himmel auffuhr, die Jünger gelehrt, dass es sich so ver­ hält: »Wer glaubt und getauft wird, wird errettet werden« (Mk 16,16). Die Taufe ist ein öffentliches Bekenntnis, und dieses ist das Siegel auf den rettenden Glauben. Mit dem Bekenntnis wird man in der Weise ge ­ rettet, wie die Taufe rettet (1Petr 3,21): Wer am Pfingsttag in der öffent­ lichen Taufe seinen Glauben bekannte, dass Jesus, der Gekreuzigte, der Christus ist – der Sohn Gottes –, sonderte sich ab »von diesem ver kehrten Geschlecht« (Apg 2,40­41). Das Bekenntnis der Taufe rettete damals die gläubigen Juden von den ungläubigen, die wenige Jahrzehnte spä­ ter im Gericht umkamen, als römische Legionen Jerusalem samt Tem pel zerstörten. Und uns, die wir zum Glauben gekommen sind, rettet das Bekenntnis der Taufe und sondert uns ab von der Welt, die in göttlichen Gerichten untergehen wird.

11 Denn die Schrift sagt: »Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.«

»Denn die Schrift sagt«: Gesetz und Propheten bezeugen die Gerechtig­ keit Gottes aus Glauben, wie Paulus in 3,21­22 gesagt hat. »Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.« Dieses Zitat hat Pau­ lus schon in 9,33 angeführt, nur ändert er die dort gebrauchte Wendung (»der … glaubt« – ho pisteuōn) in »jeder, der … glaubt«, pās ho pisteuōn. Damit unterstreicht er die Tatsache, dass das Heil für jeden gilt und allen angeboten wird. Wenn es für die Juden galt, galt es auch für die Hei­ den, und Heiden haben es gehört und haben geglaubt und sind gerettet worden. Sind aber Heiden durch den Glauben gerechtfertigt und gerettet worden, dann können auch Juden gerettet werden; denn wer immer »an ihn glaubt, wird nicht zuschanden«.

3. Das Heil gilt allen Menschen (10,12-­17)

Was Paulus bereits in V. 11 angedeutet hatte, wird hier weiter ausgeführt. Zuerst sagt Paulus, dass jeder, der den Namen des Herrn anruft, gerettet wird; dann fährt er fort und erklärt, dass deshalb das Evangelium allen Menschen gepredigt werden muss, denn sie können ja den nicht anrufen, an den sie nicht glauben, und sie können nicht an jemanden glauben, von dem sie nicht gehört haben (V. 14).

a. Das Heil ist für jeden, der den Herrn anruft (10,12-13) Das Heil, das Gott in Christus gewirkt hat, und das nun so viele Heiden empfangen haben, ist auch für die Juden. Aber es ist nur auf dem Weg des Glaubens zu erlangen, und dieser Glaube zeigt sich darin, dass man den Namen des Herrn anruft, d. h. den Namen Jesu Christi; denn der Mensch Jesus, der als Jude unter den Juden lebte und lehrte, ist der Herr. Er ist der eine den Menschen von Gott gegebene Retter (Apg 4,12).

12 Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die ihn anrufen;

13 »denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anruft, wird errettet werden«.

Mit diesem Satz erläutert Paulus, was er in V. 11 gesagt hat. Keiner, der glaubt, wird zuschanden, weil der Herr »reich [ist] für alle, die ihn anrufen«. Er ist reich: Seine Gnade genügt, und seine Gnade gilt allen. Er lädt alle ein, seinen Namen anzurufen (Jes 55,6), er tadelt nicht, wenn wir von ihm erbeten, was wir nicht haben (Jak 1,5). Er fordert uns viel­ mehr auf, zu bitten, zu suchen und anzuklopfen. Er doppelt sogar nach und sagt, dass jeder Bittende empfängt, dass jeder Suchende findet und dass er jedem Anklopfenden auftut (Mt 7,7­8). Wer bittet, dem gibt er aus seinem grenzenlosen Reichtum mehr, als wir erbeten und verstehen kön­nen (vgl. Eph 3,20).

Wie in der Sünde (3,9.23) ist auch bezüglich des Weges der Errettung »kein Unterschied zwischen Jude und Grieche«. Beide werden durch den Glauben gerechtfertigt (3,29-­30), beide werden gerettet, indem sie den Namen des alleinigen Herrn und Retters anrufen. »denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anruft, wird er rettet werden«: Nachdem Paulus gesagt hat, dass Juden und Heiden gleichermaßen gemeint sind, verdeutlicht er diese Wahrheit, indem er sagt »jeder«. Damit ist jeder Einzelne gemeint. Dieser Vers aus dem Propheten Joel wird von Petrus an Pfingsten zitiert (Apg 2,21). Joel und Petrus dachten nur an Juden; Paulus aber zeigt, dass Gottes Heilswille allen Menschen gilt (1Tim 2,4). Er hat die ganze Welt geliebt (Joh 3,16); in Christus ist seine Liebe allen Menschen er schienen (Tit 3,4). Sein Sohn wurde zum Lamm und nahm so die Sünde der Welt weg (Joh 1,29). Er gab sich zum Lösegeld für alle (1Tim 2,6). So hat er die Welt mit sich selbst versöhnt und rechnet ihr ihre Misse taten nicht zu (2Kor 5,19). Er übt vielmehr Nachsicht (Röm 3,26), und er ruft alle Menschen an allen Orten zur Buße (Apg 17,30), weil er einen Tag bestimmt hat, an dem er den Erdkreis richten wird (Apg 17,31; Röm 2,16). In Joel 3,5 steht, dass jeder, der den Namen Jahwes anruft, gerettet wird. Paulus wendet das auf den Namen des Herrn Jesus an. Daraus folgt, dass Jesus Jahwe ist.

b. Das Heil muss gepredigt werden, damit Menschen glauben können (10,14-17)

Weil Paulus die Wahrheit der Gnadenwahl Gottes so deutlich gelehrt hat (Kap. 9), meinen einige, dass es überflüssig sei, das Evangelium zu pre­ digen. Gott werde seine Erwählten so oder so suchen und retten. Das ist die Logik unserer kümmerlichen Vernunft, nicht die Logik des Glaubens; diese nimmt nämlich alles an, was Gott sagt und uns befiehlt. Er hat befohlen, dass wir das Evangelium allen Menschen predigen sollen. Also tun wir es; also muss es sein; also wird ohne Predigt des Evangeliums niemand glauben und errettet werden. Wenn Gott retten will, sendet er sein Wort (Ps 107,20). Wenn Menschen durch Glauben gerecht werden sollen, sendet er ihnen das Wort des Glaubens (V. 8.17). Und wie sendet er es? Durch seine Boten, durch die Prediger (V. 15), durch die Christen, die das Evangelium gehört und geglaubt haben.

14 Wie werden sie nun den anrufen, an den sie nicht geglaubt haben? Wie aber werden sie an den glauben, von dem sie nicht gehört haben? Wie aber werden sie hören ohne einen Prediger?

15 Wie aber werden sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind? – wie geschrieben steht: »Wie lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium des Guten verkündigen!«

Paulus sagt, dass die Menschen den nicht anrufen können, an den sie nicht »geglaubt haben«: Wer nicht vom Retter gehört hat, kann nicht glauben, und glaubt er nicht, wird er den nicht anrufen, der ihn retten kann. So muss also zuerst am Menschen etwas geschehen, ehe er zum Herrn ruft: Er muss das Wort »gehört haben« von dem, den er anrufen muss, und durch das Hören muss dieses Wort in ihm die Überzeugung gewirkt haben, dass Jesus ihn retten kann (V. 17).

»Wie … werden sie hören ohne einen Prediger?«: Das Wort kommt zu den Menschen durch Prediger dieses Wortes. Und wo kommen die Prediger her? Sie sind »gesandt«. Wie der Vater den Sohn sandte, so sen­ det der Sohn seine Zeugen in die Welt (Joh 17 18,; 20,21; Apg 1 8,; 5,32) und sendet sie als Verkünder aus (Apg 13,4). Damit geschieht, »wie« in Jesaja »geschrieben steht: ›Wie lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium des Guten verkündigen!‹«273 Man beachte einmal mehr, wie sorgfältig der Apostel die Worte wählt. Er sagt hier nicht, dass »erfüllt« wurde, was Jesaja geweissagt hatte; das wird nämlich erst geschehen, wenn Israel aus einem weltweiten Exil zurückgekehrt ist und die Botschaft vom Heil in Christus aufnehmen wird. Was in der gegenwärtigen Heilszeit geschieht, ist wieder analog zu dem, was einst mit Israel geschehen soll – es ist, »wie« der Prophet angekündigt hat (vgl. oben die Auslegung zu 9,25). Jesaja sprach dort von den Boten, die den Kindern Israel die Rückkehr aus dem weltweiten Exil ins Land der Väter verkündigen würden (Jes 52,7­12). Paulus wen­ det das an auf die Boten, die im gegenwärtigen Zeitalter das Evangelium der Gnade Gottes verkündigen. Er nennt diese Botschaft »das Evangelium des Guten«, denn es sagt uns, dass Gott Sündern Gutes bereitet hat und dass wir, wenn wir es annehmen, lauter Gutes empfangen: statt Tod Leben, statt Verdammnis Heil und statt Schande Herrlichkeit.

16 Aber nicht alle haben dem Evangelium gehorcht. Denn Jesaja sagt: »Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt?«

»nicht alle haben dem Evangelium gehorcht«: Dass nicht alle gehorch­ ten, bedeutete nicht, dass Gottes Absicht fehlgeschlagen wäre; es erfüllte sich damit vielmehr, was er durch den Propheten Jesaja mit seiner Frage angekündigt hatte: »Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt?« (Jes 53,1). Beachten wir, wie Paulus »gehorchen« im ersten Satz gleich­ setzt mit »glauben« im zweiten. Glaube ist Gehorsam, wie wir bereits in Röm 1,5 feststellen konnten. »Nicht alle«, das bedeutet, dass Gottes Absicht sich in einigen verwirklichte. Er sandte seinen Sohn, um als »der Heiland der Welt« (Joh 4,42) Sünder zu erlösen; der Sohn sandte Boten aus, die das verkündigten. Die Verkündigung hat gewirkt: Menschen haben gehört und geglaubt und den Namen des Herrn angerufen und sind errettet worden.

17 Also kommt der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort.

Dieser Satz erklärt, was Paulus in V. 16 gesagt hatte: Nicht alle gehorch­ ten dem Evangelium, aber es gehorchten einige. Diese konnten aber nur glauben und gehorchen, weil die Botschaft vom Heil, das Gott in Chris­ tus gewirkt hat, gepredigt wurde. Darum sagte der Sohn Gottes: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben« (Joh 5,24). Die Erlösung, die Gott in Christus gewirkt hat, muss ver­ kündigt werden, sonst wird sie niemandem nützen. Denn nur das Wort, das von dieser Erlösung zeugt, kann Glauben schaffen, ohne Glauben aber kann niemand das Heil empfangen.

»Das Wort, das Wort, … das Wort tut’s. Denn wenn Christus gleich tausendmal für uns gegeben und gekreuzigt würde, wäre es alles umsonst, wenn nicht das Wort Gottes käme und teilte es mir aus und schenkte es mir und spräche: Das soll dein sein; nimm hin und behalte es dir.«274 Luther, Wider die himmlischen Propheten (1525 [WA 18, 202, 37 – 203,2]).

Die Botschaft vom Heil geht von Gott aus; das Evangelium ist Gottes Wort, und als solches ist es Gottes Kraft (Röm 1,16). Gottes Wort ist von Gott gehaucht (2Tim 3,16), daher hat es schöpferische Kraft: »Durch das Wort des HERRN sind die Himmel gemacht, und all ihr Heer durch den Hauch seines Mundes« (Ps 33,6). Es hat die Kraft, Unglauben zu über­ winden und Ungehorsame zu bezwingen. Es ist schöpferisch, sodass es durch den gepredigten Befehl (»Glaube an den Herrn Jesus!«) eben­ diesen Glauben, der nicht da ist, schafft: »Denn er sprach, und es ward; er gebot, und es stand da« (Ps 33,9).

4. Warum ist Israel nicht gerettet worden? (10,18­-21)

Paulus fragt, ob Israel denn nicht gehört habe, und er verneint die Frage. Der Schall des Evangeliums war ausgegangen über die ganze Erde (V. 18). Dann fragt er als Zweites, ob sie es denn nicht verstanden hätten. Diese Frage beantwortet er nicht, sondern verweist auf etwas, was zuerst an den Juden geschehen muss, bis sie bereit sind, das Gehörte im Glau­ ben aufzunehmen: Sie müssen zur Eifersucht gereizt werden dadurch, dass die unreinen und unverständigen Heiden vor ihnen ins Reich Got­ tes eingehen (V. 19). Dass die Heiden glaubten, bedeutet aber nicht, dass diese würdiger gewesen wären als Israel, denn sie hatten weder nach Gott gefragt noch ihn gesucht (V. 20). Um Israel hatte Gott sich ver geblich gemüht. Das Volk erwies sich als ein ungehorsames und wider­ sprechendes Geschlecht (V. 21).

18 Aber ich frage: Haben sie etwa nicht gehört? O doch! »Ihr Schall ist ausgegangen zu der ganzen Erde, und ihre Rede zu den Grenzen des Erdkreises.«

19 Aber ich frage: Hat Israel es etwa nicht erkannt? Zuerst spricht Mose: »Ich will euch zur Eifersucht reizen über ein Nicht-Volk, über eine unverständige Nation will ich euch erbittern.«

»Haben sie etwa nicht gehört?«: Paulus hat eben gesagt, dass der Glaube aus der Predigt kommt und dass die Juden doch nicht geglaubt hatten. Da stellt sich diese Frage. Das Problem war nicht, dass man den Juden nicht gepredigt hatte, denn »ihr Schall« war »ausgegangen zu der ganzen Erde …« Paulus zitiert aus dem 19. Psalm, der sagt, dass Gott durch seine Schöpfungswerke zu allen Menschen auf dem Erdenrund spricht, und wendet das an auf die Predigt des Evangeliums. Juden lebten zur Zeit des Apostels in allen Ländern der antiken Welt, und »aus jeder Nation unter dem Himmel« (Apg 2,5) waren Juden zum Pfingstfest nach Jerusalem gereist. Die hörten alle die Predigt des Apostels Petrus, viele kamen zum Glauben, und so kam mit heimreisenden Jerusalem pilgern das Evangelium in alle Länder und Sprachregionen, die in Apg 2,9­11 genannt werden. Die Juden konnten darum nicht sagen, sie hätten es nicht gehört. Gott hatte dafür gesorgt, dass die Kunde vom Heil in Chris­ tus ausging zu »der ganzen Schöpfung unter dem Himmel« (Kol 1,23). Also hatten die Juden gehört, doch sie hatten das gepredigte Wort abgewiesen. Das führt zur nächsten Frage, nämlich ob sie deshalb nicht glaubten, weil sie »es … nicht erkannt« hatten. Diese Frage beantwortet Paulus scheinbar nicht, denn er führt nur drei Zitate aus dem Alten Testa­ ment an. Damit aber setzt er voraus, dass die Juden es nicht er kannten. Zunächst sagt Mose, dass Gott sie deshalb reizen würde durch die Be ­ kehrung der Heiden, und das werde dazu führen, dass zunächst wohl einige zur Erkenntnis kamen (11,1­5), aber nicht »ganz Israel«. Das wird erst am Ende der Tage geschehen (11,26). Die Juden erkannten damals nicht, weil sie nach einer Gerechtigkeit strebten, die aus dem Gesetz kommt (9,31), und damit wollten sie ihre eigene Gerechtigkeit auf richten (10,3). Sie waren als Sünder ganz in ihrer Einbildung gefangen, dass in ihnen der Wille und das Vermögen zum Guten sei und dass Gott ihren guten Willen, nach Gutem zu streben, anerkennen würde. Darum konnten sie nicht erkennen, dass das Gesetz als Endziel nur dieses eine anstrebte: Es sollte zu Christus führen; es sollte zeigen, dass die Forderungen des Gesetzes sich damit erfüllen, dass man ihm glaubt (siehe 3,31 und 8,4). Was tut also Gott, um Israel der Sünde des Unglaubens zu über führen? Er rettet Heiden und sammelt sich damit »ein Nicht-Volk … eine unverständige Nation«. Das wird die Juden »zur Eifersucht reizen« (vgl. 11,14), erbittern und schließlich demütigen, bis sie erkennen, dass in ihnen nichts Gutes ist, auch kein gutes Bemühen, das Gott belohnt, sondern dass sie ganz auf Gottes Erbarmen angewiesen sind (9,14-­16) – ebenjenes Erbarmen, das die Heiden, diese Un verständigen und Unreinen, schon empfangen hatten (siehe 11,30­-32).

20 Jesaja aber erkühnt sich und spricht: »Ich bin gefunden worden von denen, die mich nicht suchten, ich bin offenbar geworden denen, die nicht nach mir fragten.«

21 Von Israel aber sagt er: »Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volk.«

In seiner zweiten Antwort auf die in V. 19 gestellte Frage antwortet Pau­ lus mit Jes 65,2. Gott wurde »gefunden … von denen«, die ihn »nicht suchten«. Wie demütigend für die Juden, die mit so großem Eifer um Gott eiferten! Wenn Unwissende wie die Heiden in Jesus den Chris­ tus erkannten, dann waren die Juden mit ihrem weit überlegenen Wis­ sen ohne Entschuldigung, wenn sie nicht glaubten. Andererseits konnten auch die Heiden sich nichts darauf einbilden, denn Gott wurde von ihnen gefunden, obwohl sie ihn »nicht suchten«, und er wurde ihnen »offenbar«, obwohl sie nach ihm »nicht … fragten«. Und die dritte Antwort auf die Frage von Vers 19 lautet, dass Gott »den ganzen Tag … [seine] Hände ausgestreckt« hatte, sie sich aber als ein »ungehorsames und widersprechendes Volk« erwiesen hat­ ten. Bei allem Eifern um das Gesetz hauste in ihren Herzen Trotz gegen Gott; das war der Grund, warum sie zwar hörten, aber nicht erkannten. Gott hatte sich um sie bemüht wie um keine andere Nation, und alles war umsonst gewesen. Wie beschämend!

Wenn Israel nicht glaubte, war es seine eigene Schuld. Wenn Hei­ den glaubten, lag es nicht an ihnen. Es ist stets der Mensch selbst, der den Widerspruch gegen Gott und damit den Tod wählt. Wenn jemand von Gott gefunden wird, dann nicht, weil er Gott gesucht hätte, sondern weil Gott ihn gesucht hat. Wenn jemand nicht gefunden wird, dann nicht etwa, weil Gott ihn nicht gesucht hätte, sondern weil er den suchenden Gott ab gewiesen hat. Wenn jemand das Ziel nicht findet, dann einzig deshalb, weil er das Ziel, das ihm gezeigt wurde, verschmähte; wenn jemand das Ziel findet, dann einzig deshalb, weil der Herr selbst ihn zum Ziel führte (1Petr 3,18). Mit den beiden Versen 20 und 21 sagt Paulus in umgekehrter Reihen­ folge das Gleiche wie Jakobus in Jak 1,13­18. Wenn wir sündigen und in unserer Sünde sterben, dann können wir einzig und allein uns dafür die Schuld geben. Die Sünde kommt aus uns – aus unseren eigenen Begier­ den – und gebiert den Tod. Der ganze Unglaube ist unser eigenes Pro­ dukt. Wenn wir aber Gutes empfangen, dann kommt das einzig und allein aus Gott. Er hat es von oben gegeben; er hat uns nach seinem Willen durch sein Wort gezeugt; wir haben nichts dazu beigetragen.

Anmerkungen zu Kapitel 10

V. 1 – »Kein Apostel hatte ein klareres Verständnis von der Unumschränkt heit Gottes als Paulus, noch verkündigte sie jemand um ­ fassender als er. Und doch wusste er mit Gewissheit und im Einklang mit Gottes souveräner Macht und Gnade, dass Israels Errettung nicht unmöglich war … Es ist nicht unsere Verantwortung herausfinden zu wol­len, wen Gott erwählt hat, sondern das rettende Evangelium jedem Men schen zu verkündigen, der es hören mag, und mit dem gleichen Ernst wie der Apostel Paulus zu beten, dass sie alle Christus aufnehmen und er ­ rettet werden. Unsere Verantwortung ist es, mit allem Fleiß zu predigen, zu lehren, zu bezeugen, in der Fürbitte auszuharren und mit Paulus ein­ fältig zu glauben, dass ›Gott, unser Heiland, will, dass alle Menschen errettet werden‹ (1Tim 2,3­4), und mit Petrus darauf zu bauen, dass ›der Herr seine Verheißung nicht hinauszögert … sondern langmütig ist euch gegenüber, da er nicht will, dass irgendwelche verlorengehen, sondern dass alle zur Buße kommen‹ (2Petr 3,9). Wir sollten zusammen mit Pau­lus sagen können: ›Ich erdulde alles um der Auserwählten willen, damit auch sie die Errettung erlangen, die in Christus Jesus ist, mit ewiger Herr­lichkeit‹ (2Tim 2,10)« (John MacArthur, Romans 9 – 16, S. 58).

V. 16 – »Dass Israel das Evangelium verwarf, bestätigt dessen Wahr­ heit. Nicht nur die wenigen, die zu allen Zeiten an Gottes Offenbarungen geglaubt haben, sondern auch die vielen, die sie verwerfen, bestätigen ihre Göttlichkeit. Eine frohe Botschaft, die von der Allgemeinheit geglaubt würde, wäre nicht eine Botschaft, die von Gott kommt. Jesus sagte: ›Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den wer­det ihr aufnehmen‹ (Joh 5,43). In gleicher Weise wird der Bote Gottes stets daran erkannt, dass er von der Allgemeinheit verworfen wird«275 Siehe 1Jo 3,1 und 4,5­6. (J. M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 190).

Kapitel 11

In Kapitel 9 am Schluss und in Kapitel 10 hat Paulus gezeigt, dass Israel wegen seines Unglaubens verworfen wurde: Es widersetzte sich dem von Gott gesandten Wort vom Heil, es wollte nicht an Jesus, den Chris­tus, glauben, es wollte durch eigene Gerechtigkeit gerettet werden. Gott hatte ihm den ganzen Tag seine Hände ausgestreckt, aber es hatte ihm beharrlich widersprochen (10,21).

Hätte nun Paulus nichts Weiteres zu sagen gehabt, hätten man an ­ nehmen müssen, nur ein Überrest einzelner Gläubiger aus Israel werde er rettet (9,24.27), Israel als Nation aber bleibe auf immer verworfen. Dass das nicht der Fall ist, zeigt das vorliegende Kapitel. Das ist nicht nur wichtig, um Gottes Heilsplan mit Israel und der Welt zu verstehen, sondern es ist ein notwendiger Beleg der unwandelbaren Treue Gottes, die der Felsengrund ist, auf dem alles Heil ruht. Denn sollte Gott Israel wirklich für immer verstoßen haben, müssten wir folgern, dass er Ver­heißungen auch aufheben könne. Wie sollten wir ihm dann aber fortan noch vertrauen können? Wenn er in einer Sache ein Wort zurücknehmen und eine Zusage aufheben oder auch nur abändern kann, dann kann er es in jeder Sache tun. Damit aber bräche alles ein. Darum ist es von über­ ragender Bedeutung, dass Gott Israel nicht endgültig verstoßen hat. Er wird alle Abraham gegebenen Verheißungen an seinen leiblichen Nach­ kommen, an der erwählten Nation, erfüllen, nicht in einer nebulösen ver­geistlichten Weise, die gar keine Erfüllung wäre, sondern dem Buch­ staben nach, »denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar« (11,29).

1. Gott hat Israel nicht vollständig verworfen (11,1-10).

2. Das Straucheln Israels ist den Nationen zum Heil geworden (11,11-15).

3. Die Nationen stehen durch den Glauben und fallen durch den Unglauben (11,16-24).

4. Die Beiseitesetzung Israels ist Gottes Weg zu dessen Wiederherstellung (11,25-32).

5. Lobpreis der Wege Gottes (11,33-36).

Paulus gibt eine siebenfache Antwort auf die in V. 1 gestellte Frage, ob Gott Israel verworfen habe:

1. Es gibt jetzt schon einen Überrest, der nicht verworfen worden ist (V. 2­6), also ist die Verwerfung nicht vollständig.

2. Der Fall Israels ist den Heiden zum Heil geworden (V. 11­15), worin sich bereits ein Angeld der zukünftigen Errettung Israels findet.

3. Da die Wurzel, d. h. die Erzväter, heilig sind, sind es auch die Zweige, d. h. das Volk Israel. Auch wenn jetzt nur ein Teil noch mit der Wurzel verbunden ist, wird doch das ganze Volk wieder in seinen eigenen Ölbaum eingepflanzt werden (V. 16­-24).

4. Die Zeit, in der Gott aus allen Nationen sich ein Volk sammelt, ist befristet; nachdem sie abgelaufen ist, wird ganz Israel gerettet werden (V. 25-27); die Verwerfung ist nicht endgültig.

5. Wegen der Liebe Gottes zu den Erzvätern bleiben ihre Nach­ kommen Geliebte (V. 28).

6. Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar (V. 29).

7. Israels Beiseitesetzung ist Gottes Weg und Methode, um sein Heil zuerst den Heiden zuzuwenden und um danach Israel zu begnadigen und wiederherzustellen (V. 30­-32).

1. Gott hat Israel nicht vollständig verworfen (11,1­-10)

Jedes der drei Kapitel, die vom Geschick der Juden handeln, beginnt der Apostel damit, dass er seine tiefen Empfindungen gegenüber Israel, dem Volk Gottes, bezeugt. Er hat beständigen Schmerz in seinem Her­zen (9,2), und er fleht beständig für die Israeliten (10,1), und er weist ent­rüstet jede Vorstellung zurück, Gott habe sein Volk verstoßen (11,1). Paulus belegt seine Behauptung, dass Gott Israel nicht verstoßen hat, anhand von zwei Beispielen: Erstens ist er selbst von Gott gerettet und angenommen worden, und er ist ein Israelit (V. 1); zweitens verweist er auf einen Präzedenzfall, auf Elia und dessen Zeit (V. 2­4). An dem sehen wir, dass der Schein trügen kann. Elia meinte, das ganze Volk außer ihm sei verloren. Ebenso schien es auch manchen zur Zeit des Paulus, dass das ganze Volk der Juden verstoßen worden sei. In den Versen 5 und 6 sagt Paulus, dass es sich in der gegenwärtigen Zeit genauso verhält wie zur Zeit Elias: Da ist aus Israel ein Überrest, den Gott in Gnade erwählt hat (wie einst Erzvater Jakob [9,11]). Dann wendet er das alles auf die gegenwärtige Lage der Nation an: Eine Auswahl hat die Verheißungen erlangt, die Übrigen aber sind verstockt worden (V. 7; wie einst der Pha­rao [9,17­18]), und das belegt er wie üblich mit Bibelworten (V. 8­-10).

1 So frage ich nun: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn auch ich bin ein Israelit, aus dem Samen Abrahams, vom Stamm Benjamin.

2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvorerkannt hat. Oder wisst ihr nicht, was die Schrift in [der Geschichte des] Elia sagt? Wie er vor Gott gegen Israel auftritt:

Aus dem letzten Vers des vorhergehenden Kapitels kommt diese Frage auf: »Hat Gott … sein Volk verstoßen?« Paulus fragt nicht, ob Gott Israel, sondern er fragt, ob er sein Volk verstoßen habe. Es ist sein Eigen­ tum. Damit hat Paulus die Antwort angedeutet, die bereits im Alten Tes­ tament mehrfach verankert ist, wie er in diesem Kapitel zeigen wird. »Der HERR wird sein Volk nicht verstoßen, er wird sein Eigentum nicht verlassen« (Ps 94,14). Als ein erstes Argument dafür, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, erklärt Paulus, dass auch er »ein Israelit, aus dem Samen Abrahams, vom Stamm Benjamin« ist. Die ersten Christen waren alle wie Paulus Juden, und an denen demonstrierte Gott, dass er nicht ganz Israel dem Unglauben und dem Gericht überlassen hatte. In seiner Gnade behielt er sich einen Überrest (9,29; 11,5).

»Gott hat sein Volk nicht verstoßen«: Er kann das Volk, das er sein nennt, nicht für immer verstoßen, denn er hat dieses Volk »zuvorerkannt«. Er hat sich diesem Volk zugeneigt und hat es erwählt aus allen Nationen (5Mo 7,7). Das tat er, weil er es liebte; und weil er es liebte, band er sich an dieses Volk mit einem Eid (5Mo 7,8). Wen Gott erkennt, den liebt er und dem wendet er sich zu; dem gibt er sich zu erkennen und mit dem verbindet er sich. Wen Gott »zuvorerkannt hat«, den hat er auch »zuvorbestimmt«; Vorkenntnis und Vorherbestimmung hängen unauflös­ lich miteinander zusammen, wie wir in Röm 8,29 gesehen haben. Hat Gott sein Volk also zuvorerkannt, dann hat er es für ein von ihm fest­ gelegtes Ziel bestimmt, und darum wird dieses Ziel erreicht. Gottes Vor­ satz kann nicht fehlschlagen (Jes 46,9­11).276 Oben hatten wir bereits gesehen, wie es den Kirchenvätern bei der Auslegung von Röm 9,11­29 stets wichtig war, die Willensfreiheit des Menschen zu verteidigen, und das gilt auch für deren Auslegung dieses Abschnittes. Jener Teil Israels, der errettet wurde, sei erwählt worden, weil sie sich dafür qualifizierten, wie Schelkle mit entsprechenden Zitaten belegt: »Die lateinischen Väter wie Ambrosiaster: ›Er zeigt, dass Gott nicht jenes Erbvolk verstoßen hat, von denen er wusste, dass sie ihm treu sein würden.‹, und Pelagius: ›Jenes Volk hat er nicht verstoßen, von dem er wusste, dass es glauben werde.‹ … Eine Auslegung gleichen Sinnes erfährt aus Röm 11,5 das Wort Gnadenwahl. Nach Origenes bedeutet es: ›Der das Geschenk der Gnade durch Werke der Tugend und Reinheit des Herzens ausrüstet, von dem heißt es, dass er nicht nur durch Gnade, sondern in besonderer Wahl der Gnade das Heil erfährt‹« (Schelkle, a. a. O., S. 202­-203). Das hat Gott seinem Volk Israel wieder und wieder durch die Propheten sagen lassen (5Mo 30,4­6; Jes 54,5­10; Jer 31,35­37; Hes 28,25­26; Mi 2,12­13; Zeph 3,14­20; Sach 10,8­10). Im Buch Jeremia kommt der Herr auch jenem großen Teil der Christenheit zuvor, die seit der Spätantike (im Gefolge Augustins und gegen die ausdrücklichen Worte des Apostels) beharrlich behauptet hat, Israel sei für immer »verstoßen«, und sagt: »Ich will dir einen Verband anlegen und dich von deinen Schlägen heilen, spricht der HERR, weil man dich eine Verstoßene nennt: ›Das ist Zion, nach der niemand fragt!‹« (Jer 30,17).

3 »Herr, sie haben deine Propheten getötet, deine Altäre niedergerissen, und ich allein bin übrig geblieben, und sie trachten nach meinem Leben.«

4 Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? »Ich habe mir übrig bleiben lassen siebentausend Mann, die dem Baal das Knie nicht gebeugt haben.«

Elia sieht außer sich selbst keine gottesfürchtige Seele mehr, doch Gott antwortet: »Ich habe mir übrig bleiben lassen.« Das ist auffällig for­ muliert. Gott sagt nicht: »Es sind übrig geblieben siebentausend Mann«, was ja auch gestimmt hätte. Elia soll aber verstehen, wie es denn kam, dass nicht alle dem Baal dienten: Gott hatte sich »siebentausend übrig ge lassen« (1Kö 19,18). Er war es, der diese von den Übrigen ausschied. Das sollte Elia die Gewissheit geben, dass Gott dafür sorgt, dass sein Volk nicht untergehen wird. Im hebräischen Text dieses Verses, den Paulus zitiert, steht für »ich habe übrig gelassen« hisch’arti. Das Verb scha’ar im Grundstamm bedeutet »übrig sein, übrig bleiben« (so in 1Sam 16,11). Der Hiphil­Stamm, der hier verwendet wird, ist kausativ (verursachend). Entsprechend bedeutet hisch’arti »ich habe ein Übrigsein/Übrigbleiben verursacht«. Vom Verb scha’ar bildet das Hebräische das Hauptwort sche’ar, »Überrest« (z. B. in Jes 10,22 [das Paulus in Röm 9,27 zitiert]).

5 So ist nun auch in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Wahl der Gnade.

6 Wenn aber durch Gnade, so nicht mehr aus Werken; sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade.

Was Elia zu seiner Zeit nicht erkannte, erkannte Paulus für die Gemeinde­ zeit: Wie Gott sich damals im alten Israel eine Anzahl übrig behielt, so »ist … auch in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Wahl der Gnade«. Dass Gott sich einen Überrest bewahrt, ist die Gewähr dafür, dass Gott sein Volk zum Ziel führen wird. Niemand gehörte zum Überrest aufgrund von Verdienst, denn Gnade bedeutet »nicht … aus Werken«. Nach dem vorliegenden Wortlaut schließen diese beiden sich gegenseitig aus. Das heißt: Errettung geschieht entweder aus Gnade oder aus Werken, ein Drittes ist nicht möglich277 Man nennt diesen Sachverhalt »das ausgeschlossene Dritte« oder »das ausgeschlossene Mittlere«. Es kann die Errettung nicht sowohl aus Gnade als auch aus Werken geschehen. Es ist ein Entweder­oder, tertium non datur – ein Drittes gibt es nicht. Das ist so absolut wie die Aussage: Gott ist Licht. Damit ist ausgeschossen, dass er Finsternis sei. Ein Drittes dazwischen ist nicht möglich. Gott kann nicht sowohl Licht als auch Finsternis sein.. Nicht aufgrund von Qualifikationen, die man erfüllt hat, »sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade«. Gnade ist abso­lut; sie duldet keinen menschlichen Beitrag. Wenn Israel meint, es müsse durch sein Wollen und Laufen (Röm 9,16) sich der Gnade würdig er ­ weisen, hat es die Gnade von sich gestoßen und damit den Gott, der sich in Gnade diesem Volk zugewandt hatte (vgl. Hebr 10,29).

7 Was nun? Was Israel sucht, das hat es nicht erlangt; aber die Auswahl hat es erlangt, die Übrigen aber sind verstockt worden,

»Was Israel sucht«: Israel suchte, sich Gottes würdig zu erweisen durch sein Bemühen; darum hat es »nicht erlangt«, was es begehrte (siehe 9,31).

»aber die Auswahl hat es erlangt«: Sie erlangte es durch Glauben (9,30), und sie fand es, weil Gott sie wie die Heiden, die gerettet wur den, gesucht und sich ihnen offenbart hatte (10,20). Paulus verwendet das Abstraktum »Auswahl«, obwohl er natürlich die Auserwählten meint, denn er will die Ursache ihres glücklichen Erlangens hervorheben. »die Übrigen … sind verstockt worden«, wie einst der Pharao (9,17­18). Was war es, was die Verstockung beim Pharao auslöste? Nichts als das bloße Reden Gottes zu ihm. Was war es, was die Juden verstockte? Das Reden Gottes zu ihnen durch die Boten, die er ihnen sandte mit dem Evangelium des Guten (10,15). Nach seinem beharrlichen Reden zu den Juden – er streckte seine Hände zu ihnen aus (10,21) – über ließ er sie dem Hass gegen das Licht (Joh 3,19­20), und so wurden sie durch das Licht des Evangeliums »verstockt«, wobei Vers 8 fortfährt: »… wie geschrieben steht«.

8 wie geschrieben steht: »Gott hat ihnen einen Geist der Schlafsucht gegeben«, »Augen, um nicht zu sehen, und Ohren, um nicht zu hören, bis auf den heutigen Tag.«

9 Und David sagt: »Ihr Tisch werde ihnen zur Schlinge und zum Fallstrick und zum Anstoß und zur Vergeltung!

10 Verfinstert seien ihre Augen, dass sie nicht sehen, und ihren Rücken beuge allezeit!«

Paulus führt aus dem Alten Testament drei Weissagungen an, die Israels Verstockung und Gottes Gericht ankündigen (Jes 29,10; 5Mo 29,3; Ps 69 23,; 146,8). Die Tatsache, dass Gott sein Gericht durch die Propheten ankündigte, zeigt, dass Gott nicht gegen sein Wort handelte, als er Israel seines Unglaubens wegen verwarf. Und zudem zeigt es, dass Gott wegen Israels Unglauben nicht aus dem Regiment geworfen ist. Alles verläuft nach seinem vorher angekündigten Plan. Darin steckt aber auch eine verborgene Zusage an Israel: So wie sich das Gericht nach Gottes Wort erfüllte, so wird sich auch die Errettung Israels gemäß Gottes Wort er­­ füllen.278 Ganz abwegig sind alle Versuche von Theologen, die Ankündigungen von Israels Gerichten im Alten Testament wörtlich zu verstehen, die Ankündigungen der Wiederherstellung hingegen wegzuerklären, indem sie diese »vergeistlichen«, wie man schönfärberisch sagt. Gott hat sein Volk nicht für immer verstoßen.

»Gott hat ihnen einen Geist der Schlafsucht gegeben«: Dieses Wort ist zutiefst ein Trostwort. Denn wenn Gott ihnen diesen Geist gegeben hat, dann kann Gott sie auch von diesem Geist befreien. Und das wird geschehen. Und dieser Geist ist nicht ein Geist des Todes, sondern der Schlafsucht. Wer schläft, wird auch wieder erwachen.

Das Zitat von 5Mo 29,3 lautet: »Der HERR hat euch nicht ein Herz gegeben, zu erkennen, und Augen, zu sehen, und Ohren, zu hören, bis auf diesen Tag.« Was Mose mit Verneinungen ausdrückt, formuliert Paulus bejahend. Wenn der Herr seinem Volk nicht Augen gab, um zu sehen, dann bedeutet das gleichzeitig, dass er seinem Volk Augen gab, und zwar solche, die nicht sehen: »Augen, um nicht zu sehen«. Wenn er das Gute nicht gibt, hat er uns dem Bösen überlassen, und dann werden wir in die­ sem Bösen verharren. Was er Israel »bis auf den heutigen Tag« noch nicht gegeben hat, wird er ihnen jedoch noch geben. So demonstriert er, dass er allein die Macht hat, sehend und blind zu machen: »Wer macht sehend oder blind? Nicht ich, der HERR?« (2Mo 4,11). »Das hörende Ohr und das sehende Auge, der HERR hat sie beide gemacht« (Spr 20,12).

»Ihr Tisch werde ihnen zur Schlinge und zum Fallstrick und zum Anstoß und zur Vergeltung!«: Der Altar im Tempel heißt in Mal 1,12 »Tisch des HERRN«. Der Gottesdienst mit seinen Opfern war für die Juden der Tisch, an dem sie ihre religiösen Bedürfnisse stillten. Wie eine Gesellschaft sich an einem reich gedeckten Tisch gütlich tut und zufrieden ist, waren die Juden mit sich zufrieden und wähnten sich in Sicherheit, weil sie den Tempel und den Gottesdienst hatten. Solange sie den hat­ ten, bildeten sie sich ein, Gott sei mit ihnen, und kein Unglück könne sie be­­fallen (vgl. Jer 7,4). Es war gerade dieses falsche Vertrauen, das ihnen zum Fallstrick wurde, und zwar in doppelter Hinsicht: Es machte ihre Herzen fett, sodass sie Christus, ihren Herrn und Retter, von sich wiesen. Und es war ihre Religion, die sie im Jahr 70 nach Christus ins Unglück riss: Aus dem Judentum aller Länder drängten sich Hunderttausende Fest­ pilger, die zum Passah nach Jerusalem gereist waren, als die römischen Le­gionen ihren Belagerungsring um die Stadt legten (siehe Lk 19,43-44). Die Juden, die Christen geworden waren, folgten der Weisung des Herrn und flohen aus der Stadt (Lk 21,20-21). Die Juden, die nicht an Jesus als den Christus hatten glauben wollen, waren in die Stadt geströmt, um mit dem Schlachten ihrer Passahlämmer offen zu demonstrieren, dass sie »Christus, unser Passah« (1Kor 5,7), das eine von Gott gegebene Opfer für Sünden, verschmähten. Die Stadt wurde ihnen zur Todesfalle.

»Verfinstert seien ihre Augen, dass sie nicht sehen«: Die Augen wurden den Juden verfinstert, aber nicht ausgestochen. Sie können wieder sehend werden. Der Herr wird sein Volk noch rufen, »dann werden die Augen der Blinden aufgetan werden« (Jes 35,5).

»ihren Rücken beuge allezeit«: Israel blieb das Untertanenvolk, das es seit der Zerstörung des Ersten Tempels war (wie Mose an­gekündigt hatte in 5Mo 28,43-44). Hätten die Juden Jesus als ihren Messias an­­ genommen, wären sie befreit worden vom Joch fremder Herren und vom Joch des Gesetzes, das sie niederdrückte. Aber sie verweigerten sich dem Ruf unter das Joch Christi (Mt 11,28-29), und so blieb ein doppel­ tes Joch auf ihnen: Das Joch des Gesetzes (Apg 15,10), und das eherne Joch, das Gott ihnen durch Rom auferlegt hatte (siehe 5Mo 28,48). Wer einen gebeugten Rücken hat, lebt noch immer. Israel ist unter ein Joch gezwungen, aber es ist nicht vernichtet. Es ist »allezeit« gebeugt, aber nicht ewig. Gott wird sein Volk wieder aufrichten: »Der HERR richtet auf die Niedergebeugten« (Ps 145,14; 146,8). »Kommt und lasst uns zum HERRN umkehren; denn er hat zerrissen und wird uns heilen, er hat geschlagen und wird uns verbinden. Er wird uns wieder beleben nach zwei Tagen, am dritten Tag uns aufrichten; und so werden wir leben vor seinem Angesicht« (Hos 6,1-2).

2. Das Straucheln Israels ist den Nationen zum Heil geworden (11,11-­15)

In 9,31-­33 und in Kapitel 10 hatte der Apostel die Ursachen genannt, warum Israel strauchelte. Nun spricht er von den Absichten, die Gott damit verfolgte. An diesem Beispiel lernen wir einmal mehr, dass alles Gottes Heilsabsichten dienen muss. Sogar den Widerspruch gegen das Evangelium lässt er zum Heil ausschlagen. Es war der Hass der Juden auf das Evangelium und auf dessen Boten, der den Apostel Paulus schließlich zum Gefangenen Roms machte. Die Juden wollten der Aus­breitung des Evangeliums einen Riegel vorschieben, und das Gegenteil geschah (Phil 1,12-­13). Dieses Beispiel zeigt im Kleinen, wie Gott heils­geschichtlich verfahren ist. Der Unglaube der Nation wird zum Anlass, dass das Heil in Christus zu den Nationen kommt. In den Versen 1­-10 hörten wir, dass Gott sein Volk nicht voll ständig beiseitegesetzt hat, denn er hat sich in der jetzigen Zeit einen Überrest bewahrt (V. 5); und nun hören wir, dass er Israel nicht endgültig ab ­ gewiesen hat, denn er wird Israel wieder annehmen (V. 15). Damit, dass Gott Israel beiseitesetzte, hat er zwei Dinge bewirkt:

1. Das Evangelium wird unter den Heiden verkündigt und auf­ genommen (V. 11a).

2. Die Bekehrung der Heiden macht Gott zum Stachel, der viele Juden zur Bekehrung treibt (V. 11b).

11 Ich frage nun: Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie fallen sollten? Keineswegs! Sondern durch ihr Danebenfallen ist den Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu reizen.

12 Wenn aber ihr Danebenfallen der Reichtum der Welt ist und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wie viel mehr ihre Vollzahl!

Paulus, der inspirierte Apostel, war auch ein Meister der Sprache. Man beachte, wie er in diesen Versen wiederholt den gleichen Wortstamm pt-, »fallen«, verwendet, um die Wahrheit von Israels Straucheln, Fallen und Wiederaufstehen dem Leser wie mit Stacheln279 Vgl. Pred 12,11: »Die Worte der Weisen sind wie Treibstacheln, und wie eingeschlagene Nägel die gesammelten Sprüche.« in Herz und Sinn zu trei­ben.

Bereits in 9,33 hat Paulus gesagt, dass Israel sich an Christus, dem von Gott gelegten Stein, gestoßen hat. Nun fragt er, ob Israel für immer gefallen sei. Sie sind zwar »gestrauchelt«, πταιω, ptaiō, aber nicht, »damit sie fallen«, πιπτω, piptō, und damit herausfallen sollten aus Got­tes Heilsrat; denn Gottes Wort kann nicht »hinfallen« (9,6), ekpiptō, wörtlich: »ausfallen«. Wenn jemand auf einer schmalen Brücke ohne Geländer geht und strauchelt, dann kann er so unglücklich fallen, dass er neben die Brücke in den tosenden Bergbach fällt und umkommt. Das ist mit Israel nicht geschehen. Es ist vom Weg, den Gott es wies und führte, abgekommen und ist neben dem Weg umgefallen und liegt jetzt da nieder und vermag aus eigener Kraft nicht aufzustehen (vgl. Am 5,2). Gott kann und Gott wird es wieder aufrichten (Ps 146,8); denn er hat es nicht für immer hinabgeworfen und es enterbt. Und zudem bleiben auch in der gegenwärtigen Zeit nicht alle liegen, denn Gott verwendet den Dienst des Apostels und der übrigen Gläubigen, um etliche unter ihnen zum Glau­ ben und zum Heil zu rufen (siehe V. 14).

Durch das »Danebenfallen« – παραπτωμα, paraptōma, vom Verb parapiptō – der Juden »ist den Nationen das Heil geworden«. Das ist ein erstes Gutes, das Gott aus dem Bösen wirkt. Ja, Israel sündigte, als es das Heil in Christus verwarf, doch diese Sünde wendet Gott zum Guten für andere. Und dann lässt Gott ein weiteres Gutes aus dem ersten Guten fließen: Die Errettung von Heiden reizt die Juden »zur Eifersucht«. Das ist zwar keine gute Regung, aber sie hat ein gutes Ergebnis, wie Paulus in V. 14 sagen wird.

Das »Danebenfallen« Israels wurde zum »Reichtum der Welt«. Das Evangelium des Heils ging aus in die ganze Welt. Ihre geistlichen Güter verdanken die Christen dem Volk Israel (Röm 15,27). Der erste Vorzug der Juden waren »die Aussprüche Gottes« (Röm 3,1­2). Als sie das Ziel und die Summe dieses Wortes, Christus, von sich stießen, ließ Gott dieses Wort ausgehen unter alle Nationen. Und auch das zeigt ein­ mal mehr, dass das Straucheln der Juden nicht gegen Gottes Vorsatz und Verheißungen geht. Denn er hatte seine Absicht, das Licht und das Wort des Lebens zu den Heiden zu senden, lange zuvor angekündigt (Jes 49,6). Die Apostel verstanden das und erklärten damit, was geschah, als die Juden ihre Predigt verwarfen, während die Heiden sie willig annahmen (Apg 13,46­47).

Wenn Israels Fall und »Verlust« schon so großen Reichtum brachte, »wie viel mehr ihre Vollzahl«, plhrwma, plērōma, wie in V. 25. Der Begriff steht offenkundig als Gegensatz zum Überrest, den Paulus in V. 5 erwähnt hat, und zum »Verlust«, hēttēma.280 Das Wort hēttēma kommt nur noch in 1Kor 6,7 vor und wird dort mit »Fehler« (Elb 2003) oder »Schaden« (Schlachter 2000) bzw. »Versagen« (Zürcher 2007) übersetzt. Es ist vom gleichen Wortstamm gebildet wie das Verb hēttaomai (2Petr 2,19), das »unterliegen, besiegt werden« bedeutet. Wer in einem Kampf verliert, von dem sagt man, er sei besiegt. Der »Verlust« kann also als »Niederlage« aufgefasst werden. Und in der Tat, Israel liegt danieder, von seiner Sünde des Unglaubens bezwungen. Die Grundbedeutung von hēttaomai ist »weniger, minder«, gebildet von hēttōn, das als Komparativ zu kakos, »schlecht«, gebraucht wird. Entsprechend kann man hēttaomai auch auffassen als »geringer, minderzählig sein«, wie es Godet tut, der an dieser Stelle übersetzt »réduction à un petit nombre« = Reduzierung auf eine kleine Anzahl. Das hieße, dass der »Verlust« als Gegensatz zur späteren »Vollzahl« aufgefasst werden sollte. Während zur jetzigen Zeit nur eine Minderheit errettet und die Mehrheit verstockt ist, wird bei der Wiederherstellung Israels die »Vollzahl« oder »ganz Israel errettet werden« (V. 26). Wenn Israel endlich seine Bestimmung erreicht und von Gott wieder zum Haupt der Nationen gemacht worden ist (5Mo 26,18­19; 28,13), werden in der ganzen Welt nie gekannter Friede, Fülle, Wohl­ ergehen und Freude sein (Jes 2,1­4).

13 Denn ich sage euch, den Nationen: Insofern ich nun der Nationen Apostel bin, ehre ich meinen Dienst,

14 ob ich auf irgendeine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und einige von ihnen erretten möge.

15 Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt bedeutet, was wird die Annahme anderes sein als Leben aus den Toten?

Die beiden in V. 11-­12 genannten Dinge, die sich aus Israels Fallen ergeben, führt Paulus in den Versen 13­15 etwas näher aus:

Sein Dienst führt dazu, dass schon in der jetzigen Zeit einige gerettet werden. Die Wiederherstellung Israels wird der Welt zu einem noch grö­ßeren Segen, als es ihr Fallen schon gewesen war.

In 10,19 zitiert Paulus 5Mo 32,21 und sagt, dass Gott selbst Israel zur Eifersucht reizen wird. Hier sagt Paulus, dass er durch seinen Dienst sein Volk »zur Eifersucht reizen« will: Gott tut sein Werk durch den Dienst seiner Diener. Paulus war von Gott bestimmt worden als »Apostel der Nationen« (Röm 1,5.13; Apg 9,15; Gal 2,9; 1Tim 2,7). Dass er zu den Heiden gesandt war und dass Heiden durch ihn zum Glauben kamen, reizte die Juden übermäßig (Apg 22,21­22).

»und einige von ihnen erretten möge«: Paulus betet für sein Volk, dass es errettet werde (10,1), und er predigt das Evangelium, damit einige von ihnen gerettet würden. Als Antwort auf sein Beten und durch seine Predigt rettet Gott nur eine kleine Zahl, nur einen Überrest aus Israel, noch nicht das ganze Volk. Ganz Israel soll erst nach der Vollendung der Gemeinde errettet werden (V. 25­26).

Die »Verwerfung« der Juden brachte »die Versöhnung der Welt«, d. h., das Wort von der Versöhnung ging aus in alle Welt (siehe 2Kor 5,18­20). Die »Annahme« der Juden wird »Leben aus den Toten« sein, also ein noch größerer Segen. Wenn der Herr wieder erscheint und seinen Geist über Israel ausgießt (Hes 39 29,; 86,9; Ps 100; Jes 2,1­4; Zeph 3,9; Sach 14,16), und die ganze Schöpfung wird vom Fluch der Sünde und von der Herrschaft des Todes befreit werden (Jes 11,1­9; Röm 8,20­21).

3. Die Nationen stehen durch den Glauben und fallen durch den Unglauben (11,16­-24)

Wenn es den Heiden jetzt gut geht, dann verdanken sie es Israel; darum sollten sie nicht hochmütig, sondern demütig und dankbar sein (V. 17­-22). Der ungläubige Teil Israels wurde vom Ölbaum aus gebrochen und verlor damit die Verbindung zur Wurzel (V. 16-­18), zu den Erz­vätern, denen Gott die Verheißungen und den damit einher gehenden Segen gegeben hatte. Heiden wurden durch ihren Glauben an Chris­tus gegen ihre Natur in den Ölbaum eingepfropft (V. 17.19.24) und bekamen so Anteil am Segen, den Gott Abraham verheißen hatte (siehe Gal 3,14). Wenn die heidnischen Nationen aber nicht im Glauben ver­ harren, wird Gott sie wieder aus dem Ölbaum ausschneiden (V. 21­22), und er wird Israel wieder einpfropfen (V. 23­-24). Die Verwerfung der Juden ist eine Strafe für ihren Unglauben, aber Gottes endgültige Absicht ist damit nicht auf gehoben; denn sie sind die natürlichen Erben der Abra­ham gegebenen Verheißungen, und darum ist es natürlicher, dass sie wieder hergestellt werden, als dass die Heiden berufen und gesegnet worden waren (V. 23­-24). In Vers 23 sagt Paulus, dass die Wiederherstellung Israels möglich ist, und in Vers 24 sagt er, dass sie sogar wahrscheinlich ist. (In den Versen 25­-29 wird er schließlich sagen, dass sie sicher ist.)

16 Wenn aber der Erstling heilig ist, so auch die Masse; und wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige. Paulus vergleicht die Erzväter mit dem Erstling und mit der Wurzel; ihre Nachkommen sind die Masse und die Zweige.

»Wenn … der Erstling heilig ist, so auch die Masse«: Das Wort »Erstling«, απαρχη, aparchē, findet sich nur noch in Röm 8 23,; 16,5; 1Kor 15 20,.; 16,15; Jak 1,18; Offb 14,4.

Dieser erste Vergleich sagt etwas aus über die besondere Rolle Israels: Es war ein von den Nationen abgesondertes Volk. Der Erstling, d. h. die Erzväter, war heilig, und darum ist die Masse heilig, für Gottes besondere Absichten ausgesondert. Der Vergleich ist den alttestament­lichen Opfervorschriften entnommen. In 4Mo 15,18­21 befiehlt Gott dem Volk Israel: »Wenn ihr in das Land kommt, wohin ich euch bringen werde, so soll es geschehen, wenn ihr vom Brot des Landes esst, dann sollt ihr dem HERRN ein Hebopfer heben: Als Erstlinge eures Schrotmehls sollt ihr einen Kuchen als Hebopfer heben.« Mit der Gabe dieses Erstlingsteils vom ersten Brotmehl der ersten Ernte war alles Brotmehl der noch nachfolgenden gesamten Ernte geheiligt. Sind die Erzväter hei­lig, sind es auch ihre Nachkommen. Israel ist das einzige Volk aller Völ­ker, das Gott zu seinem Volk berufen hat: »Ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott« (5Mo 7,6), heilig nicht im moralischen Sinn, son­dern in dem Sinn, dass es für Gottes Absichten ausgesondert war281 Entsprechend sagt Paulus, dass die Kinder aus einer Ehe, in der nur ein Elternteil gläubig ist, heilig sind (1Kor 7,14).. »und wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige«: Dieser zweite Vergleich sagt etwas aus über die Lebensverbindung, in welcher jene Nachkommen Abrahams stehen, die auch dessen Glauben haben, so wie Zweige das gleiche Leben haben wie die Wurzel, aus der der ganze Baum wächst. Von dieser Lebensverbindung sind die meisten Zweige wegen ihres Unglaubens abgeschnitten worden.

17 Wenn aber einige der Zweige ausgebrochen worden sind, und du, der du ein wilder Ölbaum warst, unter sie eingepfropft und Teilhaber der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaumes geworden bist,

18 so rühme dich nicht gegen die Zweige. Wenn du dich aber gegen sie rühmst, [bedenke]: Du trägst nicht die Wurzel, sondern die Wurzel [trägt] dich.

»Einige der Zweige [sind] ausgebrochen worden«, weil sie den Glau­ben der Erzväter nicht hatten (V. 20). Das galt nicht für alle, weshalb nur ein Teil, »einige« der Zweige282 Paulus verwendet hier das Stilmittel der sogenannten Meiosis, griechisch für »Verkleinerung«. Intaktvoll euphemistischer (d. h. beschönigender) Weise sagt er »einige«, als ob nur eine Minderheit derJuden ausgebrochen worden wäre. ausgebrochen wurden. Das hatte auch Jeremia geweissagt (Jer 11,16). Es blieb jedoch ein Überrest mit der Wurzel verbunden.

An die Stelle der ausgebrochenen Zweige pflanzte nun Gott die Zweige eines »wilden Ölbaums« ein, d. h. Nationen, die keine Nach­ fahren der Erzväter waren. Damit wurden diese »Teilhaber der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaumes«: Der Ölbaum ist ein Symbol für das Volk Israel (siehe Jer 11,16; Hos 14,7 [vgl. jeweils Schlach­ ter 2000 und RELB])283 Die beiden Ölbäume in Sach 4,3 stehen für das Königtum und das Priestertum der erwählten Nation.. Wir müssen wohl beachten, wie Paulus sich ausdrückt. Er sagt ausdrücklich, dass die Nationen teilhaben an »der Fettigkeit« des Ölbaums, d. h. des Öls. Sie empfingen die geistlichen Segnungen, nicht aber die irdischen, welche Gott den leiblichen Nach­ kommen Abrahams, also dem Volk Israel, verheißen hatte. In Gala­ ter 3,6­14 erörtert Paulus das ausführlich und schließt seine Darlegung mit der Aussage, dass die Nationen durch den Glauben den ver heißenen »[Heiligen] Geist« empfingen, nicht das Land und die dazu gehörigen irdischen Segnungen (Gal 3,14). Mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern hatte Jesus angekündigt, dass das Heil sich von den Juden zu den Nationen wenden werde: »Das Reich Gottes wird von euch weggenommen und einer Nation gegeben werden, welche dessen Früchte bringen wird« (Mt 21,43).

»rühme dich nicht gegen die Zweige«: Die heidnischen Völker, die das Evangelium empfangen haben, werden hier gewarnt. Sie sollen sich nicht überheben und sich davor hüten, die abgebrochenen Zweige, die Juden, zu verachten und oder gar zu verdammen. Und doch hat die christliche Kirche während Jahrhunderten genau das getan. Sie hat sich gerühmt, das »wahre Israel« zu sein. Dieses Rühmens wegen wird Gott sie stürzen.

»Du trägst nicht die Wurzel, sondern die Wurzel [trägt] dich.«: Gott machte mit Abraham einen Bund, und darin verhieß er, dass in ihm »alle Geschlechter der Erde« gesegnet werden sollten (1Mo 12,3). Das ist die Wurzel, die den Heiden trägt. Es ist also nicht der Heide, der den Bund mit seinem Segen trägt. Das ist so offenkundig, dass man meint, es könne nicht übersehen und schon gar nicht verdrängt werden, dass die Christenheit ihren gesegneten Stand Verheißungen verdankt, die nicht ihr gegeben worden waren, sondern den Vätern Israels. Der Gott der Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, ist nun ihr Gott geworden. Weil die christliche Kirche leugnet, dass sie ein Schuldner der Juden ist (Röm 15,27), wird Gott sie aus dem Ölbaum ausschneiden und damit abschneiden von allem Segen, der ihr aufgrund von Gottes Verheißungen an Abraham zugeflossen war.

19 Du wirst nun sagen: Die Zweige wurden ausgebrochen, damit ich eingepfropft würde.

20 Recht; sie wurden ausgebrochen durch den Unglauben; du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich!

21 Denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht geschont hat, so wird er auch dich nicht schonen.

Es ist wahr, »die Zweige wurden ausgebrochen«, damit die Na ionen eingepfropft würden. Wir sollen jedoch nicht vergessen, dass sie aus ­ gebrochen wurden »durch den Unglauben«. Der Heide aber steht »durch den Glauben«. Er steht nicht, weil die Juden gefallen sind, und er steht nicht, weil er besser ist als diese. Er steht einzig und allein, weil Gott ihn in seiner Gnade durch das Evangelium gerufen hat und er die­sem glauben konnte. Darum: »Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich!« Wer hochmütig ist, ist selber ungläubig, und wer ungläubig ist, verachtet Gott. Das Beispiel der Juden soll uns lehren, Gott zu fürchten und uns im Glauben an ihn zu hängen. Gottesfurcht ist der Anfang aller Weisheit; hören die christlichen Nationen auf, Gott zu fürchten, verfallen sie der Torheit und damit dem Wahn, dass sie verdienterweise seien, was sie sind. Gott widersteht den Hochmütigen; lässt sich der Hochmütige auch durch Gottes Hand, die gegen ihn ausgeht, nicht demütigen, wird Gott ihn der Torheit seines Hochmuts überlassen und ihn darin ver härten. Der Hochmut aber ist der sichere Vorbote des Untergangs: »Hochmut geht dem Fall voraus« (Spr 16,18).

22 Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes: Strenge gegen jene, die gefallen sind; Güte aber gegen dich – wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausgeschnitten werden.

23 Und auch jene, wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott vermag sie wieder einzupfropfen.

24 Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum ausgeschnitten und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden!

»Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes«: Die Güte Gottes sehen wir nur zu gerne; die Strenge Gottes verdrängen wir lieber. Der Befehl aber steht; wir müssen beständig auch die Strenge Gottes vor Augen behalten. Gott erwies seine »Strenge gegen jene, die gefallen sind«, gegen die Juden. Und er erwies »Güte … gegen dich«, die Heiden. Aber wir müs­sen »an der Güte« bleiben, und das tun wir nur dann, wenn wir beständig beides, die Güte und die Strenge Gottes, beachten. Das ist ein Ausdruck wahren Glaubens, und wenn wir im Glauben verharren, werden wir be ­ stehen bleiben (siehe V. 20), »sonst wirst auch du aus geschnitten werden«. Das ist keine leere Drohung. Warum sollte Gott eine ungläubige Kirche, die Gottes Güte gering achtet, verschonen, wenn er sein Volk Israel nicht verschonte? Weil die christliche Kirche sich nicht hat warnen lassen, wird Gott zur bestimmten Zeit wahr machen, was er angedroht hat. »Die Zeiten der Nationen«, die ganze Zeit, in der die Heiden Haupt und die Juden Schwanz sind (5Mo 28 44,; 28,1.13). Das wird er tun, nicht nur, weil er dazu mächtig ist, sondern weil er der treue Gott ist, der sich mit einem Eid ver bunden hat, die Nachkommen Abrahams in jenem Land zu segnen, das er ihm verhieß (1Mo 12 7,; 15,18; 3Mo 26,42.44­45; 5Mo 34,4; Jer 33,24­26; Hes 36 28,; 47,13­14).

4. Die Beiseitesetzung Israels ist Gottes Weg zu dessen Wiederherstellung (11,25-­32)

Paulus hat zuerst gesagt, dass es möglich ist, dass die Juden wieder eingepfropft werden (V. 23). Dann hat er gesagt, dass es sogar wahr­ scheinlich ist (V. 24). Nun kündigt er an, dass es sicher geschehen wird. Was er von den Erzvätern, Israel und den Nationen zunächst anhand die­ses Vergleichs vom Ölbaum und den Ästen gesagt hatte, erläutert er nun mit direkten Lehraussagen: Israel ist zwar verhärtet worden, aber nur zum Teil, d. h., nicht alle Israeliten wurden verhärtet, und Israel bleibt nicht für immer verhärtet. Die Verhärtung dauert so lange, bis Gott sein Werk unter den Nationen abgeschlossen hat (V. 25). Dann wird Israel zum Herrn umkehren (2Kor 3,16), und Israel wird gerettet und wieder gesegnet sein (V. 26). Der Weg zur Bekehrung führt über Gefangenschaft im Unglauben (V. 31­32) und dieses Unglaubens wegen durch große Drangsal (Jer 30,7; Dan 12,1). Doch dann, wenn diese am größten ist und alles verloren erscheint (Sach 14,1­2), »wird … der Erretter kommen« (Röm 11,26). Die Juden werden dann Jesus, den Messias, sehen, wie er auf dem Ölberg steht (Sach 14,3­4), sie werden den erkennen, den sie durchbohrt hatten (Sach 12,10), und sie werden wehklagen in Ver ­ zweiflung über ihre große Missetat (Sach 12,11­14). Dann wird ihnen der Herr die Augen öffnen für den Brunnen, in dem es Reinigung gibt für ihre Sünde und Unreinheit (Sach 13,1), und »er wird die Gottlosig keiten von Jakob abwenden« (Röm 11,26). Das ist die Stunde, in der »ganz Israel errettet« wird (11,26).

»Bei dieser Gelegenheit wird ganz Israel gerettet. Es kommt zur nationalen Bekehrung und Neugeburt der Juden, und dann werden sie Christus dienen in seinem Friedensreich.«284 Erik Bernspång, Romarbrevet, S. 303. »Ganz Israel« besteht aus denen, die Jesus als den Christus erkannt haben und an ihn glauben (Sach 12,10­14). Das wird ein Drittel der dann lebenden Israeliten sein (Sach 13,8­9).

25 Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: Verhärtung ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist.

26 Und so wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden;

27 und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehme.«

Paulus war ein »Geheimnis«, μυστηριον, mystērion (im Römerbrief außer hier nur noch in 16,25), enthüllt worden, das er nun mitteilt: Der Fall Israels und die darauf folgende Rettung und Vollendung der Gemeinde aus den Nationen sind der von Gott verordnete Weg, auf dem Israel zum Heil und zur Vollendung kommen soll. Das hätte kein Mensch sich ausdenken können, denn Gott hatte es verborgen. Wir können es nur deshalb wissen, weil Gott dem Apostel das Geheimnis enthüllt hat.

»damit ihr nicht euch selbst für klug haltet«: Paulus hatte oben den Heidenchristen gesagt: »Rühme dich nicht!« (V. 18), und: »Sei nicht hochmütig!« (V. 20), und nun sagt er ihnen, sie sollen sich nicht für klug halten (siehe auch Röm 12,16). Hohe Augen sind Gott ein Gräuel (Spr 6,16­17), Einbildung ist ihm äußerst verhasst. Wer im Wahn einher­ geht, er sei weise, ist ein Tor (Spr 26,12; Jes 5,21). Er fordert den Zorn des allein Weisen und Erhabenen heraus (Jes 2,11­12), und Gott verhärtet ihn in seiner Torheit und übergibt ihn damit dem Verderben.

»Verhärtung«, πωρωσις, pōrōsis, ist nur noch in Mk 3 5,; 8,17; Joh 12,40; Röm 11,7 und 2Kor 3,14 wird das entsprechende Verb πωροω, pōroō, verhärten, verwendet. Gott gab Israel seines Unglaubens wegen dahin, und das Ergebnis war, dass sein Herz verhärtet blieb. Aber diese Verhärtung ist »zum Teil«. Sie hat keineswegs alle befallen, und sie wird nicht ewig bleiben, sondern nur so lange dauern, »bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist«. Hier wollen wir uns zwei wichtige Wahrheiten merken. Zunächst gilt es, das Wort »bis« zu beachten. Es besagt, dass die Verstockung Israels befristet ist. Sie wird einmal aufgehoben werden, nämlich dann, wenn »die Vollzahl der Nationen« erreicht worden ist. Gott lässt das Evangelium in aller Welt verkünden und sammelt sich so aus allen Völkern und Sprachen (Offb 5,9) ein Volk für seinen Namen (Apg 15,14), ein Eigentumsvolk (Tit 2,14). Das ist die Gemeinde. Dieses Werk wird so lange dauern, bis Gott aus allen Nationen die Seelen errettet hat, die zum ewigen Leben verordnet sind (Apg 13,48).

Für »Vollzahl« steht hier πληρωμα, plērōma, wie in V. 12.285 Weitere Belege z. B. in: Mk 2 21,; 4,13; Kol 1 19,; 2,9. Wir sahen in V. 4, dass Gott zur Zeit Elias sich genau 7000 Mann als Über­rest bewahrte; hier sehen wir, dass Gott wiederum eine bestimmte Zahl (uns zwar unbekannt, Gott aber bekannt) aus der Masse der gottlosen Nationen zum Heil verordnet hat. Bei der Wiederherstellung des zwölf­ stämmigen Volkes handelt Gott wieder so: Aus jedem Stamm werden genau zwölftausend ausgesondert und versiegelt (Offb 7,1-8). Wenn Gott sein Handeln unter den Nationen beendet hat, wendet er sich wie­ der Israel zu. Dann wird er an den Kindern Israel tun, was er ihnen längst geboten hatte (5Mo 10,16; Jer 4,4), sie jedoch nie getan hatten: Er wird ihr Herz beschneiden (5Mo 30,6; siehe Röm 2,28­29). Er wird sogar ihr steinernes Herz herausnehmen und ihnen ein fleischernes Herz geben und seinen Geist in ihr Inneres legen (Hes 36,26-27­).

»Und so«, auf diesem Weg, »wird ganz Israel errettet werden«. »Ganz Israel« bildet hier den Gegensatz zum Überrest aus Israel (V. 5), den Gott in seiner Gnade zum Heil erwählt hatte und der bereits ge rettet war. Mit »ganz Israel« kann nicht ein »geistliches Israel« gemeint sein, also etwa die Gemeinde, welche gewisse Ausleger als »das wahre Israel« oder »das geistliche Israel« ansehen, denn in Vers 25 hat Pau­lus eben gesagt, dass Israel »Verhärtung … zum Teil widerfahren« ist. So wie die Verhärtung Israel als Nation widerfuhr, so muss auch die zukünftige Errettung Israel als Nation widerfahren. Das geschieht so, »wie geschrieben steht«: Was Gott verheißen hat, wird geschehen, trotz des Versagens Israels; denn es steht geschrieben. Kein Wort Gottes fällt dahin (9,6; siehe auch Jos 21,45; 23,14); alles wird in Erfüllung gehen, und zwar dem Buchstaben nach, nicht in einer von Theologen erklügel­ ten vergeistlichten Weise. So wahr sich in der Geburt, im Leben, Die­nen, Sterben und Auferstehen des Sohnes Gottes alle alttestamentlichen Weissagungen buchstäblich erfüllten, wird sich an Israel alles erfüllen. Gott bleibt den Verheißungen treu, wenn auch Israel untreu geworden ist (Röm 3,3).

Bemerkenswert an dieser von Paulus angeführten Weissagung ist, dass sie im hebräischen Text Jesajas anders lautet als im Griechischen. Im masoretischen Text steht in Jes 59,20: »Und kommen wird ein Erlöser für Zion und für die, welche umkehren von der Gottlosigkeit in Jakob.« Die Septuaginta übersetzt diese Stelle: »Und es kommt um Zions willen der Rettende und wendet ab die Gottlosigkeiten von Jakob.« Der hebräische Text sagt, dass die Bewohner in Zion sich selbst abwenden von der Gott­ losigkeit, die griechische Übersetzung, welche Paulus hier zitiert, sagt, dass Gott sie abwendet von der Gottlosigkeit. Es wird beides geschehen: Israel wird umkehren von seiner Gottlosigkeit; das kann es aber nur, weil Gott dessen Gottlosigkeit abwendet. Ist diese ab gewendet, kann das Volk sich bekehren. Es wird sich am Volk erfüllen, worum Jeremia einst für sich und seine Zeitgenossen betete: »Bekehre mich, und ich werde mich bekehren« (Jer 31,18), und: »Bekehre uns, und wir werden uns bekehren« (Kla 5,21).286 Die Elb 2003 übersetzt nicht ganz konsequent »Bring uns … zurück, dass wir umkehren.« Die identische Wendung gibt die Elb 2003b in Jer 31,18 nämlich wieder mit: »Bekehre mich, damit ich mich bekehre.«

»der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehme«: Dies ist der Neue Bund, den Gott Jeremia angekündigt hat. Darin verheißt er: »Ich werde ihre Missetat vergeben und ihrer Sünden nicht mehr ge denken« (Jer 31,34). Gott selbst nimmt ihnen die Sünden weg (siehe auch Jes 27,9); und weil er selbst sie weggenommen hat, wird er ihrer nie mehr gedenken.

28 Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen.

29 Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar.

»hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte«: Wer erwählt ist, ist ein Geliebter Gottes, und wer Geliebter Gottes heißt, ist ein Erwählter (siehe 1,7 und die dort angeführten Stellen). »Sie« bezieht sich hier, wie der Zusammenhang zeigt (»ganz Israel« [V. 26]), auf die ganze Nation. Gott hatte Israel aus allen Völkern zu seinem besonderen Volk erwählt (5Mo 7,6). Das geschah nicht, weil Israel mehr gewesen wäre als die anderen Völker (5Mo 7,7), sondern weil Gott es liebte und den Eid hielt, den er den Vätern geschworen hatte (5Mo 7,8). Daran er innert Paulus, wenn er sagt, dass die Juden Geliebte sind »um der Väter willen«. Da diese Liebe in Gott selbst begründet ist, bleibt sie für immer (Jer 31,3); »denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind un bereubar«. Nichts kann die Treue Gottes aufheben (Röm 3,3). Israel ist untreu geworden, er aber bleibt treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen (2Tim 2,13). Er verändert sich nicht (Mal 3,6). Was diese Gnadengaben sind, hat Paulus gleich zu Beginn seiner Aus führungen über das Ver­ hältnis zwischen dem Volk Israel und dem Evangelium gesagt (9,4­5).287 Godet sagt von diesen Gnadengaben, es seien »les aptitudes morales et intellectuelles dont Dieu dote un homme en vue de la tâche qui lui est confiée? – die moralischen und intellektuellen Fähigkeiten, mit denen Gott einen Menschen ausstattet im Blick auf die Aufgabe, die ihm anvertraut ist«. Wäre es so, bliebe die Erfüllung davon abhängig, dass die Juden ihre besonderen »moralischen und intellektuellen Fähigkeiten« einsetzten. Godet sucht das Unmögliche: das ausgeschlossene Mittlere, das weder Gnade noch Werke ist (siehe oben V. 6). Nun ist er daran, sein Argument abzuschließen, und sagt ausdrücklich, was er unausgesprochen andeutete, als er dort alle diese Gnaden gaben Israels aufführte: Gott wird dafür sorgen, dass Israel seine Bestimmung erreicht. Er hat ihm alle diese Vorrechte und Verheißungen nicht ge ­ geben, um sie dann im Sand verlaufen zu lassen. Nun könnte man zwar einwenden, Gott könne doch zurücknehmen, was er verheißen hat, wenn die Empfänger der Gnadengaben und der Berufung sich als unwürdig erwiesen haben. Das kann aber nicht geschehen. Warum nicht? Weil Gott sein Volk nie berief und ihm nie Verheißungen gab aufgrund von dessen Würdigkeit, sondern nach seiner Gnade. Die ganze Sache ging von Gott aus, und darum wird sie sich auch so erfüllen, wie Gott es sich vorgesetzt hat.

30 Denn gleichwie auch ihr einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber Erbarmen erlangt habt infolge des Unglaubens dieser,

31 ebenso haben auch diese jetzt nicht geglaubt, damit durch das euch erwiesene Erbarmen auch sie selbst Erbarmen erlangen.

32 Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, damit er sich aller erbarme.

Hier formuliert Paulus in einfachen und klaren Worten, was er in den Versen 16­-24 anhand des Vergleiches von den ausgebrochenen und ein­ gepfropften Zweigen gesagt hatte. Gott wird alles, was er Abraham in Gnade verheißen hat, an dessen Nachkommen tun; er wird es jedoch tun auf dem von ihm festgelegten Weg: Es wird aus Barmherzigkeit geschehen, und der Segen wird durch Glauben empfangen werden. Dabei bildet die Errettung der Heiden das Muster für sein zukünftiges Han­deln mit den Juden: So wie diese »einst … nicht geglaubt« hatten, Gott ihnen aber infolge »des Unglaubens dieser«, der Juden, sein Erbarmen zuwandte, so haben jetzt die Juden »nicht geglaubt«, damit er sich auch ihrer erbarme. Gott hat auf diese Weise »alle zusammen in den Un glauben eingeschlossen, damit er sich aller erbarme«. Die Errettung kann nicht, wie Paulus gesagt hat, aufgrund des Wollens und Laufens des Menschen geschehen, sondern allein aus Gott, der Erbarmen erweist (9,16).

Jeder, der gerettet werden soll, muss der Sünde des Unglaubens über­ führt werden (Joh 16,8­9). Gott hat die Ungläubigen – die Heiden und die Juden – »in den Unglauben eingeschlossen«, synkleiō288 Dieses Wort verwendet das Neue Testament nur noch in Lk 5,6 und in Gal 3,22­23: »Die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen, eingeschlossen auf den Glauben hin.«. Gott machte sie nicht ungläubig und ungehorsam, denn das waren sie ganz von allein. Aber er überließ sie ihrem Unglauben und Ungehorsam und schloss sie damit in ihn ein. So sollten sie erstens merken, dass sie ihr Gefängnis sel­ber verschuldet hatten, und zweitens, dass sie von ihrem Unglauben nie von selbst loskommen können. Der Mensch hat nicht in sich die Fähig­keit, den Unglauben abzuschütteln und zu glauben. Der Unglaube hält ihn so lange, bis Gott sich seiner erbarmt und ihn durch sein Wort und durch das Wirken seines Geistes des Unglaubens überführt und in ihm den Glauben wirkt (Joh 16,8; Röm 10,17).

Da sich alle, Juden wie Heiden, als ungläubig und als ungehorsam erwiesen hatten, lernen alle, dass sie keinerlei Anspruch auf Got­tes Wohltaten und Gottes Zuwendung haben. Sie begreifen dann, dass alles Gnade ist. Auf diesem Weg wird der Mensch klein, und Gott wird groß. Wir haben gesehen, dass Gott die ganze Errettung so ein­ gerichtet hat, dass Gott allein allen Ruhm bekommt (Röm 3,27; siehe auch 1Kor 1,26­31). Das kommt im abschließenden Lobpreis des Apo­stels zum Ausdruck (11,33­-36).

5. Lobpreis der Wege Gottes (11,33-­36)

Der Apostel hat eben dargelegt, wie Gott Juden und Heiden in den Unglauben eingeschlossen hat, damit er sich aller erbarme. Die Weis­ heit und die Gnade, die Gott darin offenbart, lassen ihn in dieses Lob aus brechen. So bildet diese sogenannte Doxologie289 Von gr. doxa (Herrlichkeit) und logia (Spruch). den passenden Abschluss zu den Kapiteln 9 – 11, in denen der Apostel Gottes Handeln an Israel erörtert hat. Gleichzeitig ist sie das angemessene Ende für den ganzen lehrhaften Teil des Briefes, der mit 1,18 angefangen hatte. Pau lus hat nun ausführlich dargelegt, wie das Evangelium die Kraft Gottes ist zum Heil für einen jeden, der glaubt. (Von Kapitel 12 an bis zum Kapitel 16 spricht Paulus davon, wie die Kraft des Evangeliums sich im täg­lichen Leben des Gläubigen offenbart.)

33 O Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschbar sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege!

34 Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?

35 Oder wer hat ihm vorher gegeben, und es wird ihm vergolten werden?

36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

Paulus rühmt nicht lediglich die Weisheit und die Erkenntnis noch auch nur deren Reichtum, sondern die »Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes«. Gottes Weisheit und Erkenntnis sind reich290 Er zeigt allen Menschen den Reichtum seiner Güte (Röm 2,4), er offenbart an den Erretteten den Reichtum seiner Herrlichkeit (9,23). Er ist reich für alle, die ihn anrufen (Röm 10,12)., und dieser Reichtum ist von einer Tiefe, die nie ausgelotet wer­ den kann. Niemand kann die Tiefen der Gedanken Gottes und damit Got­tes selbst ergründen als nur Gott (1Kor 2,10­11). Niemand kann die Weis­ heit und Erkenntnis Gottes erforschen, wie sie sich in seinen Gerichten und in seinem Heilshandeln erweist, noch kann jemand seine Wege aus­ spüren, d. h. ihrer Spur folgen bis auf ihren Grund, durch die Finster­nis und Wirrsal dieser sündigen Welt hindurch und bis hinauf in die Höhen der ewigen Herrlichkeit. Gottes Gerichte sind »unausforschbar«, anexeraunētos, von eraunō, »erforschen« (Joh 5 39,; 7,52; Röm 8,27; 1Kor 2,10; 1Petr 1,11; Offb 2,23), mit a-, »un«, und ex-, »aus«. Man kann sie nicht ausforschen. Gottes Wege sind »unausspürbar«, anexichniastos, von ichnos, »Fußstapfe, Spur« (Röm 4,12; 2Kor 12,18; 1Petr 2,21), und a-, »un«, und ex-, »aus«. Man kann die Spuren der Wege Gottes nicht aus­ oder nachzeichnen.

Wir stehen anbetend vor dem »allein weisen Gott« (Röm 16,27), nein, wir fallen vor ihm nieder und können nicht anders, als ihm unsere Bewunderung und unseren Dank zu stammeln. Die Weisheit und die Erkenntnis Gottes hängen miteinander zusammen. Seine Weisheit ist die Anwendung seiner vollkommenen Erkenntnis. Gott zeigt seine Weisheit darin, dass er alles zum denkbar besten Ziel führt und dass er die besten Mittel wählt, um dieses Ziel zu erreichen (Röm 8,28). Gottes mannig­ faltige Weisheit (Eph 3,10) wird nirgends klarer demonstriert als in der Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung von Sündern. »Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt?«: Dieses Zitat führt Pau­ lus an als Beweis für die eben gemachte Aussage. Wer hat den Sinn des Herrn ausgelotet, oder wer hat von des Herrn Gedanken gewusst? Wer hätte vermutet, dass Gott mit Juden und danach mit Heiden und dann wieder mit Juden solche Wege in Gericht und Barmherzigkeit gehen und auf diesem Weg sie beide, Juden und Heiden, rechtfertigen und ver­ herrlichen würde?

Wer wäre dabei »sein Ratgeber gewesen«? Wie hätte auch der höchste der Engel, die vor Gott im Licht des Heiligen stehen, ihm raten können, wie er mit der Sünde verfahren, diese richten und gleichzeitig Menschen retten solle? Die Absicht zu retten und der Weg, auf dem er retten würde, können ihren Ursprung nirgends haben als allein im Her­zen Gottes.

Und »wer hat ihm vorher gegeben, und es wird ihm vergolten werden?«: Niemand hat Gott auch nur das Geringste gegeben, sodass Gott ihm deshalb die Errettung gewähren musste. Nicht nur, dass der Ratschluss zur Errettung allein von Gott ausgeht, sondern er gibt in der Errettung auch das Höchste, was er geben kann, ausschließlich für sol­che, die ihm nichts dafür gegeben haben. Er gibt seinen Sohn, und er sen­det ihn in den Tod für Geschöpfe, die alle und ohne Ausnahme Gott hass ten (Joh 3,19­20) und seine Feinde waren (Röm 5,10). Das demütigt uns unendlich, und gleichzeitig erfüllt es uns mit unbeschreiblicher Freude, während wir erkennen und bekennen:

»Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.«: Mit diesem durch »denn« eingeleiteten Satz wird das in V. 35 Gesagte belegt. Wir haben Gott nichts gegeben. Alles ist von Gott und durch Gott, wie ein Verkündiger und Lehrer des Evangeliums es einmal so zusammen­ gefasst hat: Das Heil ist …

… vom Vater erdacht,

… vom Sohn vollbracht,

… durch den Geist uns zu eigen gemacht291 Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ?, S. 110..

Weil alles von Gott ausgeht und er alles gewirkt hat, ist alles »zu ihm«. Alles ist zu seiner Ehre, alles verherrlicht ihn. Alle Erlösten rühmen ihn allein (Röm 3,27; Jes 42,8). In seinem Tempel ruft alles: »Herrlichkeit!« (Ps 29,9). Von den Enden der Erde rufen Erlöste: »Herrlichkeit dem Gerechten!« (Jes 24,16). Alles, was Leben aus Gott empfangen hat, betet ihn an.

»Preist den HERRN, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft! Preise den HERRN, meine Seele!« (Ps 103,22). »Du bist würdig, o unser Herr und unser Gott, zu nehmen die Herrlichkeit und die Ehre und die Macht; denn du hast alle Dinge er schaffen, und deines Willens wegen waren sie und sind sie erschaffen worden« (Offb 4,11).

»Und ich sah: und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron her und um die lebendigen Wesen und die Ältesten; und ihre Zahl war Zehntausende mal Zehntausende und Tausende mal Tausende, die mit lauter Stimme sprachen: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segnung« (Offb 5,11­12). »Und sie rufen mit lauter Stimme und sagen: Das Heil unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm! Und alle Engel standen um den Thron her und um die Ältesten und die vier lebendigen Wesen, und sie fielen vor dem Thron auf ihre Angesichter und beteten Gott an und sag- ten: Amen! Die Segnung und die Herrlichkeit und die Weisheit und die Danksagung und die Ehre und die Macht und die Stärke unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen« (Offb 7,10­12).

»Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.«: Hier haben wir den Endzweck von allem: Gott wird verherrlicht. Gott hat erschaffen, um in seinen Werken seine Herrlichkeit zu offenbaren (siehe Ps 19,2). Gott hat Erlösung gewirkt, um seinen Namen zu verherrlichen. Paulus ruft, stell­ vertretend für alle, die durch Glauben gerecht geworden sind: »Ihm sei die Herrlichkeit!« Erlöste Menschen geben Gott endlich das, was sie ihm in der Sünde verweigert hatten (siehe 1,21).

Anmerkungen zu Kapitel 11

V. 7 – »Wenn die Auswahl aus Gnade errettet wird, geschah den ›Übri­ gen‹ kein Unrecht. Wer kann sich beklagen, wenn die Errettung zu eini­ gen gelangt ist, die es nicht verdient haben? Und wenn der Überrest, der es nicht verdient hatte, gerettet wurde, weil Gott es wollte, und es geschah, als er es wollte, warum sollten nicht ›die Übrigen‹ zur bestimm ten Zeit und durch die gleiche freie Gnade gerettet werden?« (James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 196).

V. 25-­26 – »›Bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist‹. Bis mar­kiert den Terminus ad quem. Die Blindheit Israels wird andauern, bis etwas anderes geschehen ist. Es sollen noch zahlreiche Bekehrungen unter Juden stattfinden, und solche sind geschehen in allen Jahrhunder­ ten seit dem Kommen Christi; aber ihre nationale Bekehrung wird nicht statt finden, bevor die Heiden sich bekehrt haben … Die Heiden als eine Körper schaft, die Masse der Heidenwelt wird sich bekehren, bevor die Juden als Nation wiederhergestellt werden … Wir müssen bedenken, dass Paulus hier als Prophet spricht, in Offenbarung (1Kor 14,6), und daher muss man seine Worte auslegen nach den Regeln, die für prophe­tische Reden gelten. Prophetie ist nicht vorwegnehmende Geschichts­schreibung. Sie hat nicht zum Zweck, uns Wissen über die Zukunft zu vermitteln, so wie Geschichte uns Wissen über die Vergangenheit gibt. Gewaltige Geschehnisse werden vorhergesagt. Wie diese sich in den Einzelheiten er eignen, wird man erst aus deren Verwirklichung wis­sen … Israel muss hier dem Zusammenhang nach das jüdische Volk meinen, und ganz Israel die ganze Nation. Die Juden sind jetzt als Volk ver­worfen; sie werden als Volk wiederhergestellt werden. Ganz Israel darf darum nicht aufgefasst werden als alle, die wahrhaft zum Volk Got­tes gehören, wie Augustin, Calvin und viele andere es erklärt haben … sondern die ganze Nation als Nation« (Charles Hodges, Romans, S. 373-­374).

»Es ist nur, wenn die Kirche sich beharrlich weigert, diese Botschaft zu lernen … dass sie die hässliche und unbiblische Vorstellung unterhält, Gott habe sein Volk Israel verstoßen und es durch die christliche Kirche ersetzt. Diese drei Kapitel verbieten uns mit allen Nachdruck, davon zu reden, die Gemeinde habe für immer den Platz des jüdischen Volkes ein­ genommen« (C. E. B. Cranfield, Commentary on Romans, II, S. 448). Teil 5: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich im gerechten Wandel des Glaubenden (12,1 – 15,13) Paulus hat in 1,18 – 3,20 zunächst dargelegt, woraus wir errettet wer­ den müssen; dann hat er uns gezeigt, wie wir errettet werden von der Schuld der Sünde (3,21 – 5,11), und schließlich hat er demonstriert, dass die von Gott selbst gewirkte Rechtfertigung den Gerechtfertigten sichert, sodass er auf dem langen Weg bis zur Verherrlichung bewahrt wird, bis er am Ziel ist (5,12 – 8,39). In den Kapiteln 9 – 11 haben wir er fahren, dass Juden wie Heiden alles Heil dem Erbarmen Gottes verdanken (9,15.23; 11,5.32). Auf all dieses baut Paulus im ersten Satz auf, der die Kapitel 12 bis 15 einleitet. Weil wir alle unter der Sünde waren, nun aber gerechtfertigt worden sind und Frieden haben mit Gott, weil wir aus Got tes Erbarmen ewiges Leben besitzen und der kommenden Herrlichkeit gewiss sein können, sollen wir unseren Leib dem Herrn als ein leben­diges Opfer hingeben. Paulus spricht zunächst von unserem Glaubens­ leben in der Gemeinde als Glieder am Leib Christi (Kap. 12), dann von unserem Wandel in der Welt als Glieder der Gesellschaft (Kap. 13). Das sind die beiden Felder, auf denen der Christ sich zu bewähren hat. Diese beiden Kapitel beginnen mit dem entscheidenden Aufruf, sich und seinen Leib Gott als lebendiges Opfer hinzugeben (12,1­2), und schließen mit dem großen Ziel, dem wir uns Tag für Tag in unserem Wandeln nähern, der Wiederkunft Christi (13,11-­14). Als Nächstes wendet Paulus das, was er in den Kapiteln 12 und 13 gelehrt hat, wieder auf die Gemeinschaft der Gerechtfertigten an: Sie müssen lernen, einander weder zu ver achten noch zu richten (14,1­23), sondern einander in Geduld zu tragen und ein­ander anzunehmen, damit sie einmütig den Gott und Vater des Herrn Jesus Christus verherrlichen können (15,1­7). Um diese Aufforderung zu erhärten, zitiert Paulus wie üblich die Schrift, die angekündigt hatte, dass einst Heiden und Juden gemeinsam sich Gottes freuen und ihm lobsingen würden (15,8­13).

Teil 5: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich im gerechten Wandel des Glaubenden (12,1 – 15,13)

Paulus hat in 1,18 – 3,20 zunächst dargelegt, woraus wir errettet wer­den müssen; dann hat er uns gezeigt, wie wir errettet werden von der Schuld der Sünde (3,21 – 5,11), und schließlich hat er demonstriert, dass die von Gott selbst gewirkte Rechtfertigung den Gerechtfertigten sichert, sodass er auf dem langen Weg bis zur Verherrlichung bewahrt wird, bis er am Ziel ist (5,12 – 8,39). In den Kapiteln 9 – 11 haben wir er­fahren, dass Juden wie Heiden alles Heil dem Erbarmen Gottes verdanken (9,15.23; 11,5.32). Auf all dieses baut Paulus im ersten Satz auf, der die Kapitel 12 bis 15 einleitet. Weil wir alle unter der Sünde waren, nun aber gerechtfertigt worden sind und Frieden haben mit Gott, weil wir aus Got­tes Erbarmen ewiges Leben besitzen und der kommenden Herrlichkeit gewiss sein können, sollen wir unseren Leib dem Herrn als ein leben­diges Opfer hingeben. Paulus spricht zunächst von unserem Glaubens­ leben in der Gemeinde als Glieder am Leib Christi (Kap. 12), dann von unserem Wandel in der Welt als Glieder der Gesellschaft (Kap. 13). Das sind die beiden Felder, auf denen der Christ sich zu bewähren hat. Diese beiden Kapitel beginnen mit dem entscheidenden Aufruf, sich und seinen Leib Gott als lebendiges Opfer hinzugeben (12,1-2), und schließen mit dem großen Ziel, dem wir uns Tag für Tag in unserem Wandeln nähern, der Wiederkunft Christi (13,11-14). Als Nächstes wendet Paulus das, was er in den Kapiteln 12 und 13 gelehrt hat, wieder auf die Gemeinschaft der Gerechtfertigten an: Sie müssen lernen, einander weder zu ver­achten noch zu richten (14,1-23), sondern einander in Geduld zu tragen und ein­ander anzunehmen, damit sie einmütig den Gott und Vater des Herrn Jesus Christus verherrlichen können (15,1-7). Um diese Auf­­forderung zu erhärten, zitiert Paulus wie üblich die Schrift, die angekündigt hatte, dass einst Heiden und Juden gemeinsam sich Gottes freuen und ihm lobsingen würden (15,8-13).

Kapitel 12

1. Unser vernünftiger Gottesdienst: Die Hingabe des Leibes an Gott (12,1-2)

2. Die Hingabe des Leibes zum besonderen Dienst in der Gemeinschaft (12,3-8)

3. Die Hingabe des Leibes zum Dienst aneinander (12,9-21) Im Römerbrief ist es in den Kapiteln 1 – 8 um den einzelnen Menschen gegangen, um seine Sünde, seine Rechtfertigung, seine Heiligung und seine Bewahrung, bis er eingeht in die Herrlichkeit. Hier lernen wir, dass der durch Christus erlöste und neu gewordene Mensch Teil einer neuen Gemeinschaft ist. Er ist eingebunden in eine Gemeinschaft, die ihn ganz neuen Bedingungen unterstellt und ihm nie da gewesene Verpflichtungen auferlegt. Das ist eine Veränderung von ungeheurer Tragweite. Darum haben wir die Unterweisung des Apostels nötig, um diese Gemeinschaft überhaupt zu verstehen und um uns in ihr zurechtzufinden.

1. Unser vernünftiger Gottesdienst: Die Hingabe des Leibes an Gott (12,1­-2)

Das erste Wort in diesem Kapitel setzt bereits den Ton zu allen nach­ folgenden Kapiteln: παρακαλω, parakalō – »Ich ermahne euch«. Nach­ dem der Apostel bisher das Evangelium gelehrt hat, beginnt er hier mit dem Wandel, der aus der Lehre fließen muss. Es sollen, es müssen die Ergebnisse der Rechtfertigung im Leben sichtbar werden. Dass wir ohne Gesetzeswerke aus Glauben allein gerechtfertigt worden sind, bedeutet nicht, dass Werke keine Bedeutung hätten. Wohl tragen sie nichts zur Rechtfertigung bei, aber sie sind eine Frucht der Rechtfertigung. »Der aus Glauben Gerechte wird leben« (1,17): Er wird ewig leben in und mit Christus, aber er wird auch in dieser Zeit als ein Kind des Gehorsams leben. Er liebt Gott, und darum gehorcht er ihm. »Denn dies ist die Liebe Gottes (= zu Gott), dass wir seine Gebote halten« (1Jo 5,3).

»Ist der Glaube die Hinnahme des Opfers Christi, so ist wiederum des Glaubens Frucht die Hingabe des Christenmenschen an Gott« (K. A. Dächsel, Die Bibel mit in den Text eingefügter Auslegung, Bd. 7, S. 116).

Der Apostel beginnt nicht zufällig seine Anweisungen über unser Leben in der Gemeinde und in der Welt mit der Aufforderung, uns Gott und sei­nem Willen auszuliefern. Denn der Gerechtfertigte ist in ein neues Ver­hältnis zu Gott gebracht worden; das ist das wirklich Entscheidende. Aus diesem neuen Verhältnis ergibt sich erstens der Wille und zweitens die Fähigkeit, fortan »Gott … [zu] leben« (6,11). In 6,13 hat der Apostel uns, die wir »Lebende aus den Toten« sind, aufgefordert, »[unsere] Glieder« Gott hinzugeben. Das greift er hier fast wörtlich wieder auf. Wir geben unseren Leib Gott hin als ein lebendiges Opfer.

1 Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber hinzugeben als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer als euren vernünftigen Dienst.

Hier haben wir die Grundlage und Voraussetzung für ein gedeihliches und glückliches Glaubensleben. Haben wir uns hingegen Gott nicht aus­ geliefert, wird unser Weg dem des Faulen gleichen: Er ist wie eine Dor­nenhecke (Spr 15,19). Das Zusammenleben in der Gemeinde wird zur Bürde, das Leben als Christ in der Welt zu einer Peinlichkeit, unser Auf­ trag, der Welt das Evangelium zu predigen, lästig. Paulus sagt nicht sofort, wozu er die Brüder ermahnt, sondern er lenkt mit dem Wörtlein »nun« und mit dem Hinweis auf Gottes Er barmungen ihre Gedanken zuerst auf die Ursache und damit auf den Antrieb, die Ermahnung anzunehmen. Das muss immer der Ausgangspunkt sein; wir müssen stets bei Gott beginnen und bei dem, was er getan hat. Beginnen wir bei uns selbst, fallen wir wieder unter das Prinzip des Gesetzes.

»Ich ermahne euch nun«, oder »folglich«. Wenn all das stimmt, was Paulus bisher gelehrt hat über das Evangelium, dann muss das in den Gläubigen Auswirkungen haben. Die Lehre wird, wenn sie ver standen und angenommen worden ist, unser Leben verändern. Lehre und Leben hängen so eng miteinander zusammen wie die beiden Seiten einer Münze. Wir können sie zwar unterscheiden, aber nicht voneinander tren­ nen. Wir dürfen sie auch nicht unterschiedlich gewichten, denn es sind die beiden Seiten von ein und derselben Sache, des einen Heils in Chris­ tus. Was Paulus hier sagt, sagt er immer wieder. In Eph 1 – 3 hat er die Geheimnisse des göttlichen Heilsrates und das Geheimnis des Christus entfaltet, und in 4,1 ermahnt er die Christen, ihrer Berufung würdig zu wandeln. In Phil 1,27 fordert er die Geschwister auf, »würdig des Evangeliums des Christus« zu wandeln; nach 1Thes 2,12 sollen sie »würdig des Gottes … wandeln«, der sie »zu seinem eigenen Reich und seiner eigenen Herrlichkeit beruft«. In 2Thes 1,11 betet Paulus für die Christen, dass Gott sie würdig mache292 So sollte man axioō eigentlich wörtlich übersetzen, und so übersetzen auch Luther 1912 undLuther 1984. Verben auf ­oō sind faktitiv, d. h., sie besagen, dass man macht, dass sich die durch das Stammwort ausgedrückte Eigenschaft oder Befindlichkeit einstellt, z. B. douloō = zum doulos [zum Knecht] machen (Apg 7,6; Röm 6,18.22; 1Kor 6,19); thanatoō = zu thanatos, zu Tode machen = töten(Mt 10,21; Röm 8,13). der Berufung. Weil er uns zuerst geliebt hat, lieben wir ihn (1Jo 4,19), und weil wir ihn lieben, gehorchen wir ihm.

Paulus macht seinen Aufruf »durch die Erbarmungen Gottes«, d. h., indem er an diese erinnert. Diese sind es, die den Christen bewegen, ein Leben des Gehorsams, des Dienstes und der Liebe zu Gott und zu den Menschen zu führen. Gott ist also Ursache und Grund zu allem rechten Leben. Er ist es, der uns in Christus gerechtfertigt hat, und er ist es, der uns heiligt, bewahrt und vollendet, indem er sich in seinem Erbarmen uns zuwendet, uns ermuntert, trägt, tröstet und immer wieder aufrichtet. Er tut, was ein Vater tut, der mit seinem Kind an der Hand geht (Ps 103,13). Ist es hingefallen, richtet er es auf.

In den Kapiteln 1 – 11 hat Paulus gelehrt, und die Lehre richtet sich an den Verstand. Der Gedanke an Gottes »Erbarmungen« bewegt aber auch unsere Gefühle. Wenn wir bedenken, was wir waren und wie wir waren – blind, irrend, hilflos, verloren –, und dass Gott uns deswegen nicht verachtete, sondern sich über uns erbarmte, rührt das unsere tiefsten Empfindungen. So neigen Verstand und Gefühl unseren Willen ihm zu. Wir werden gedrängt, ihm »[unsere] Leiber hinzugeben als ein lebendiges … Schlachtopfer«. Darin besteht unser einziger »vernünftiger Dienst«. Es ist vernünftig, weil wir Gott unseren Dank nicht anders zeigen können, und vernünftig, weil es nichts Sinnvolleres geben kann, als Gott und seiner Sache zu dienen. Wir sind um einen Preis erkauft worden; darum sollen wir Gott verherrlichen in unserem Leib (1Kor 6,20). Ob wir essen oder trinken, alles wollen wir tun zur Ehre Gottes (1Kor 10,31). Wenn Paulus »Leib« sagt, dann meint er alles, was zum Leib gehört, alle seine Funktionen und Fähigkeiten, alle Sinne und alle Kräfte. Er meint unsere Füße und unsere Hände, unsere Augen und unsere Zunge, unser Gehirn und unseren Magen. In 6,13 sagte der Apostel, dass wir die Glieder unseres Leibes Gott hingeben sollen zu Waffen (oder Werk­ zeugen) der Gerechtigkeit. Durch alles in den Kapiteln 7 und besonders 8 Gelehrte haben wir noch besser verstanden, wie groß Gottes Barmherzig­keit gegen uns ist. Darum haben wir noch mehr Ursache und auch grö­ßere Bereitschaft, der Aufforderung zu folgen.

»2 Und gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu beurteilen vermögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.

»Gleicht euch nicht dieser Welt an«: In V. 1 forderte Paulus uns auf, unseren Leib und damit uns selbst ganz zu verleugnen und dem Herrn auszuliefern. Die »Welt«, αιων, aiōn, ist die alte Weltordnung, in der alles der Sünde und dem Tod unterworfen ist. In Adam unterstanden wir jener Ordnung, und wir befinden uns noch in ihr, obwohl wir in Chris­ tus bereits zur neuen Ordnung gehören. In der alten Ordnung wollten wir alle unseren Leib pflegen und uns selbst verwirklichen. Wir taten, was uns nützte, zusagte und uns möglichst keine Nachteile einbrachte. Im alten Äon, in der »Welt«, regiert die Eigenliebe, d. h. der Eigenwille. Wer aus der Welt herausgerufen (Gal 1,4) und durch den Glauben gerecht­ fertigt worden ist, ist vom Eigenwillen und damit von all diesem Trach­ten befreit worden, um nach Gottes Willen zu fragen und Gottes Willen zu tun. Das ist die »Freiheit«, für die »Christus uns frei gemacht« hat (Gal 5,1). Sie hat mit der Erlösung der Seele begonnen (siehe 6,18), und sie findet in der Verherrlichung des Leibes ihre Vollendung. Wir sollen uns nicht dem Zeitlauf angleichen, sy-schēmatizomai, wörtlich »sich mitgestalten lassen«293 schēmatizō (sprich: s-chēmatizō) von schēma, Gestalt (1Kor 7,31; Phil 2,7 [in manchen Bibelausgaben 2,8]), also »gestalten«. (außer hier nur noch in 1Petr 1,14), sondern »verwandelt« werden. Wir waren einst dieser Welt gleich, »unverständig, ungehorsam, irregehend, dienten mancherlei Lüsten und Vergnügungen, führten unser Leben in Bosheit und Neid« (Tit 3,3). Als aber »die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschien, rettete er uns … durch die Waschung der Wiedergeburt«. Die neue Geburt machte uns von Grund auf neu; sie war eine »Erneuerung des Heiligen Geistes« (Tit 3,5). Das in Titus verwendete Wort für Erneuerung, anakainwsij, anakainōsis, ist das gleiche wie in unserem vorliegenden Vers. In der Wiedergeburt wurde uns eine neue Natur gegeben und damit ein neuer Grund gelegt. Auf diesem Grund sollen wir fortan aufbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass es zu einer »Erneuerung« des »Sinnes«, des Denkens kommt. Für »Sinn« steht hier νους, nous, das Wort, das in diesem Brief auch in 1,28; 7,23.25, 11,34 und 14,5 verwendet wird. Im Epheserbrief spricht Paulus von der gleichen Verwandlung und Er neuerung: In Eph 4,17 erwähnt er bezüglich der Nationen die »Eitelkeit ihres Sinnes«, und in 4,23 sagt er, dass der Christ erneuert werden muss294 Den hier verwendeten Aorist darf man erstens nicht temporal auffassen (weil der Aorist nicht eineZeitstufe markiert, sondern einen Aspekt), und den Infinitiv muss man imperativisch verstehen. Paulusspricht eine Aufforderung aus, nicht eine Tatsache. »im Geist [seines] Sinnes«.

Wie werden wir im Sinn erneuert? Indem wir unser ganzes Den­ken ausrichten auf Gottes Offenbarung; wir füllen unseren Sinn mit sei­nen lebendigen Aussprüchen, indem wir täglich und ausgiebig im Wort Gottes lesen und über dieses Wort nachsinnen. Auf diesem Weg schreibt Gott seine Gesetze in unseren Sinn und in unser Herz (Hebr 8,10). Damit beginnt ein Prozess der fortschreitenden Erneuerung, die Gott wirkt durch sein kräftiges Wort. Wir lernen, über Gott, über uns, über das Volk Gottes, über die Sünde sowie über das gegenwärtige und über das kommende Zeitalter richtig zu denken. Wir lernen immer besser, »zu beurteilen … was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist«. Und indem wir mehr und mehr erfüllt werden von der Erkenntnis seines Willens (vgl. Kol 1,9), werden wir gestärkt, nach sei­nem Willen zu leben und darin auszuharren (Kol 1,11). Wie dieses Leben in der Gemeinschaft der Gläubigen aussieht, behandeln die folgenden beiden Abschnitte.

2. Die Hingabe des Leibes zum besonderen Dienst in der Gemeinschaft (12,3-­8)

Nachdem Paulus zuerst von unserem neuen Verhältnis zu Gott gesprochen hat, spricht er nun von unserem neuen Verhältnis zum Bru­der. Wir gehören in Christus alle zu einem Leib, und darum schulden wir un seren »vernünftigen [Gottes-]Dienst« (V. 1) der Gemeinschaft. Und wie am Leib viele Glieder sind, so sind wir Glieder voneinander und haben damit verschiedene Aufgaben aneinander. Haben wir getan, wovon die Verse 1­2 sprechen, dann werden wir auch Gottes Willen für unseren Dienst und unsere Aufgaben in der Gemeinde finden. Sind wir dem Herrn aber nicht ergeben, werden wir den Mitgläubigen nicht dienen können, sondern ihnen zur Last und zum Anstoß werden. Mit dem Wort »Denn« verknüpft Paulus die von Vers 3 an folgenden Aussagen mit dem, was er in den beiden einleitenden Versen gesagt hatte. Unser Denken muss erneuert werden, damit keiner höher von sich denkt, als es sich gehört. Denn nur dann wird er verstehen, was es bedeutet, dass er ein Glied am Leib Christi ist (V. 4­5). Wie die Glieder am Leib im Gemeindeleben praktisch tätig werden, sagen die Verse 6­8.

3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, einem jeden, der unter euch ist, nicht höher zu sinnen, als man sinnen soll, sondern zu sinnen, dass er besonnen sei, so wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat.

4 Denn gleichwie wir in einem Leib viele Glieder haben, aber die Glieder nicht alle dieselbe Verrichtung haben,

5 so sind wir, die Vielen, ein Leib in Christus, als Einzelne aber Glieder voneinander.

»Denn ich sage …«: Alles, was Paulus in den Versen 1­2 sagte, führt zur Aufforderung, dass die Geschwister lernen müssen, sich selbst rich­tig einzuschätzen. Das ist ein Ausdruck davon, dass man seinen Leib Gott zum Opfer gegeben hat. Paulus erinnert daran, dass er alles, was er sagt, »durch die Gnade« sagt, die ihm »gegeben ist«. Er hat vom Herrn »Gnade und Apostelamt empfangen«, um unter den Nationen das Evangelium zu verkündigen (Röm 1,5); die berufenen Heiligen lässt er durch diesen Brief teilhaben an dieser Gnade (Röm 1,11). Mit der Gna­ dengabe vertraute Gott dem Apostel auch die Wahrheiten an, die er lehrt (Gal 1,12), und das bedeutet, dass er in apostolischer Autorität spricht. Seine Weisungen sind nicht Empfehlungen, sondern göttliche Befehle. Gleichzeitig sagt Paulus damit, dass er nur durch die Gnade ist, was er ist (1Kor 15,10), und zwar nicht nur als Apostel, sondern auch als Christ. Darin ist er allen Gläubigen gleich.

»ich sage … einem jeden, der unter euch ist, nicht höher zu sinnen, als man sinnen soll, sondern zu sinnen, dass er besonnen sei«: Paulus verwendet dreimal das Verb phroneo, denken, sinnen – zunächst das bloße Verb und dann jeweils mit einer Ergänzung: hyper-phroneo, höher sinnen, und sō-phroneo, gesund sinnen.

Als Gottlose beteten wir uns selbst an. Nun aber haben wir ver­ standen, dass wir erstens Geschöpfe sind, die dem Willen des Schöpfers unser Dasein verdanken, und dass wir zweitens Erlöste sind, die dem Willen des Erlösers die Erlösung verdanken (9,16). Aus uns und in uns sind wir nichts (2Kor 12,11). Das ist das gesunde Denken, das wir ler­nen müssen, nachdem wir unser Leben lang im Wahn gelebt haben, wir seien etwas (vgl. Gal 6,3). Gesund denken heißt eben be denken, dass wir alle ganz abhängige Wesen sind. Wir haben es nötig, uns ganz zu verlassen auf das Vermögen, die Weisheit und die Treue eines an deren, nämlich Gottes.

»so wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat«: Sind wir besonnen, bedenken wir, dass wir den Glauben nicht aus uns haben, sondern Glauben nur haben, weil Gott ihn durch sein Wort in uns geweckt hat (Röm 10,17). Dabei hat er uns auch das Maß des Glaubens zuteilt. Was meint Paulus mit diesem Ausdruck? Es muss mit den Dienst­ gaben zusammenhängen, von denen Paulus in den Versen 6­8 spricht. Warum sagt er aber dann nicht, dass Gott einem jeden das Maß des Dienstes oder die Gabe zugeteilt hat? Wahrscheinlich will er klar machen, dass Gott einem jeden den Glauben gibt, den er für den Dienst mit sei­ ner besonderen Gabe benötigt. Von Gott kommt die Gabe, und er gibt den Glauben und damit die Befähigung zum Dienst. Wenn einer, weil er mit hervorstechenden Gaben begabt ist, dennoch meint, mehr zu sein als die anderen, und auf diese herabschaut, dann zeigt er damit, dass er noch ganz im sündigen Denken gefangen ist. Er denkt höher von sich, als recht ist, er hat nie erkannt oder hat vergessen, dass er alles von Gott empfan­ gen hat (1Kor 4,7).

Das Prinzip, dass wir alles Gottes Gnade verdanken und dass wir deshalb nicht hoch von uns denken sollen, veranschaulicht Paulus nun durch einen mit »denn« eingeleiteten Vergleich, den er in seinen Brie­ fen wiederholt verwendet: Als Christen sind wir zueinander wie die Glie­ der eines Leibes: »Denn gleichwie wir in einem Leib viele Glieder haben …« Jeder soll bedenken, dass er als Glied nur existieren kann, weil es einen Leib gibt. Und sind »wir, die Vielen, ein Leib in Christus«, dann heißt das, dass ein jeder als Glied genauso abhängig ist vom Leib wie die übrigen Glieder. Dabei sind wir auch »als Einzelne … Glieder von einander«. Jedes Glied ist auf die anderen Glieder und damit auf jedes einzelne Glied angewiesen. Kein Glied kann funktionieren ohne die anderen Glieder; die Hand braucht den Arm, und der Arm den Leib, und beide die Gelenke, welche die Glieder miteinander verbinden, sodass sie alle einander dienen und gemeinsam zum Wachstum des Leibes bei­ tragen können (Eph 4,15­16; Kol 2,19). So sind wir also weder ohne den Herrn noch ohne die Geschwister etwas. Das alles bedeutet, dass jedes Glied den anderen Gemeinschaft und Dienst schuldet. So wie niemand von uns sich selbst lebt, sondern dem Herrn (Röm 14,7­8), so lebt ein jeder von uns auch den Geschwistern. Sich den Geschwistern zu ver­ weigern, um seine privaten Ziele zu erstreben, ist genauso Sünde, wie sich dem Herrn zu verweigern. Wer das tut, sabotiert die ganze Gemein­ schaft. Die Liebe aber treibt uns, unseren Leib dem Herrn hinzugeben, und sie treibt uns, unser Leben den Geschwistern zu weihen (1Thes 2,8; 1Jo 3,16). Aquila und Priszilla waren bereit, für Paulus »ihren eigenen Hals [hinzuhalten]« (Röm 16,4).

6 Da wir, je nach der uns verliehenen Gnade, verschiedene Gnadengaben haben: Sei es Weissagung, entsprechend dem Glauben;

7 sei es Dienst, [lasst uns bleiben] im Dienst; sei es, der lehrt, in der Lehre;

8 sei es, der da ermahnt, in der Ermahnung. Wer gibt, [gebe] in Einfalt; wer vorsteht, [tue es] mit Fleiß, wer Barmherzigkeit übt, mit Freudigkeit.

Nachdem Paulus in den Versen 1­5 die Prinzipien erörtert hat, wendet er diese nun auf die Gemeindepraxis an. Er nennt als Beispiele einige der verschiedenen Gaben, welche die verschiedenen Glieder am Leib haben können. Da wir in Christus ein Leib sind (V. 5), muss jede Gabe und jeder Dienst dem Leib gelten. Paulus sagt an anderer Stelle, dass einem jeden die besondere Gabe gegeben ist »zum gemeinsamen Nutzen«, pros to sympheron, wörtlich »zum Zusammentragen« (1Kor 12,7). Das aber heißt, dass ein jeder entsprechend der Gnadengabe, die er empfangen hat, arbeiten und dienen soll; sonst nützt sie dem Leib nichts.

»je nach der uns verliehenen Gnade«: Darin, dass Gott uns allen Gnade verliehen hat, sind wir alle gleich. Doch haben wir »verschiedene Gnadengaben«: Im Maß und im Zweck der ausgeteilten Gnade macht der Geber der Gnade Unterschiede (1Kor 4,7). Es ist immer der gleiche Geist, der die Gaben gibt (1Kor 12,4). Das macht die Christen eins. Doch der Geist teilt »einem jeden insbesondere aus, wie er will« (1Kor 12,11). In Eph 4 lehrt Paulus die gleiche Wahrheit. Nachdem er in den Versen 1­6 gezeigt hat, wie die Erlösten alle mit der gleichen Berufung berufen sind und darum alle die gleichen Pflichten gegeneinander haben, fährt er fort und sagt: »Jedem Einzelnen aber von uns ist die Gnade gegeben worden nach dem Maß der Gabe des Christus« (V. 7), und dann spricht er von verschiedenen Gaben und besonderen Pflichten, die einzelnen Gläubigen gegeben sind (V. 8­11).

Gott hat die Glieder am Leib gesetzt (1Kor 12,18) und damit be ­ stimmt, welches der Platz eines jeden Gläubigen in der Gemeinde ist. Er hat auch bestimmt, dass ein jeder von uns seine Gnadengabe be ­ kommen hat, und damit ist jeder verpflichtet, den Geschwistern zu die­ nen (1Petr 4,10). Den von Gott empfangenen Dienst kann der Christ nur versehen »entsprechend dem Glauben« (siehe auch V. 3), wörtlich »nach Analogie des Glaubens«. Glaube bedeutet hier zweierlei: Erstens, dass wir die Gewissheit haben, dass Gott uns zum Dienst berufen und begabt hat, und zweitens, dass wir diesen Dienst tun, indem wir uns ganz auf sein Führen und Befähigen verlassen. Paulus erwähnt den Glauben zwar nur bezüglich der »Weissagung«, der ersten hier genannten Gabe, doch gilt das für alle Gaben und Dienste. Wem »Dienst« gegeben ist, der soll »im Dienst« bleiben, und wem gegeben ist zu lehren, der bleibe »in der Lehre«, und so fort, aber alles nach dem Maß des Glaubens (V. 3). Wer »gibt«, gebe »in Einfalt«: Er lasse die Linke nicht wissen, was die Rechte tut (Mt 6,3). Wer »vorsteht«, also den »schönen« (1Tim 3,1), aber schweren Dienst des Ältesten hat, tue seinen Dienst »mit Fleiß«. Obwohl Fleiß uns allen geziemt (siehe V. 11), wird das für die Vorsteher als besonders notwendig hervorgehoben. Wer »Barmherzigkeit übt«, also den Armen hilft, der tue es »mit Freudigkeit«. Das hier verwendete Wort hilarotēs ist im NT nur an dieser Stelle belegt. In 2Kor 9,7 steht das entsprechende Adjektiv hilaros, »fröhlich«. Man könnte hier also »mit Fröhlichkeit« oder auch »mit Heiterkeit« übersetzen. Damit will Paulus an diesem einen Beispiel sagen, dass der Dienst an den Heiligen das Herz fröhlich macht. Es ist ein unermessliches Vorrecht, den Geliebten Gottes dienen zu dürfen, nicht eine lästige Pflicht, der wir uns mit saurer Miene entledigen.

3. Die Hingabe des Leibes zum Dienst aneinander (12,9­-21)

Im ersten Teil des Kapitels wurde uns gezeigt, wie die Hingabe des Lei­ bes dazu führt, dass ein jeder von uns seine besondere Gabe und Aufgabe erkennt und damit der Gemeinschaft dient. Im vorliegenden Abschnitt wird uns hingegen gezeigt, wie die Hingabe des Leibes dazu führt, dass wir für­ und aneinander tun, was unser aller Pflicht ist. Ging es in den Versen 4­8 um die Gaben des Geistes, geht es hier um die Frucht das Geistes – Liebe (V. 9), Freude (V. 12.15), Geduld (V. 12), Friede (V. 18), Sanftmut (V. 14.17) –, und entsprechend gelten die dazugehörigen Ermahnungen allen.

Wir geben uns Gott hin, weil Gott uns barmherzig gewesen ist. Wir lie­ ben ihn, weil er uns zuerst geliebt hat (1Jo 4,19). Aus der Liebe zu Gott fließt die Liebe zum Bruder, zum Nächsten und sogar zum Feind. Pau­ lus hat die nachstehende Liste offensichtlich nach diesem dreifachen Gegenstand gegliedert. Er gibt zunächst eine allgemeine Aufforderung zur Liebe (V. 9). Darauf folgen …

1. … die Liebe zum Bruder (V. 10­16),

2. … die Liebe zu allen Menschen (V. 17­18),

3. … die Liebe zu den Feinden (V. 19­21).

9 Die Liebe [sei] ungeheuchelt. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten!

Hier fällt das Stichwort »Liebe«. Liebe regiert unser Leben in der Gemeinde, Liebe regiert unseren Umgang mit unseren Mitbürgern im Staat (13,8­-10), und Liebe allein kann die Anstöße, die das Gemeinde­ leben gefährden, überwinden (14,15). Es ist auffällig, wie Paulus im Anschluss an die Geistesgaben als Erstes von der Liebe spricht. Das tut er auch im 1. Korintherbrief: Er spricht zuerst ausführlich von den Geis­ tesgaben (Kap. 12), und dann zeigt er, dass die Geistesgaben nutzlos sind, wenn wir keine Liebe haben (Kap. 13). Das Gleiche können wir im Epheserbrief beobachten. In 4,7­-14 behandelt Paulus die Gaben und deren Zweck, und fordert abschließend: »Lasst uns die Wahrheit festhalten in Liebe« (V. 15), denn nur dann können die Glieder gemeinsam beitragen zum Wachstum des Leibes (V. 16).

Der erste Satz dieses Abschnittes steht als Überschrift über allem, was folgt. In ihm werden uns drei Dinge befohlen:

1. Unsere Liebe soll ungeheuchelt sein.

2. Wir sollen das Böse verabscheuen.

3. Wir sollen dem Guten anhangen.

Wie das im täglichen Leben zur Praxis wird, sagen die nachfolgenden Verse. Es werden nicht weniger als neunzehn Dinge genannt, die wir tun werden, wenn wir wahrhaftig lieben und am Guten festhalten; und es werden sieben Dinge genannt, die wir nicht tun werden, wenn wir das Böse verabscheuen. Am Schluss fasst der Apostel noch einmal zu ­ sammen: Wir sollen uns nicht vom Bösen überwinden lassen, sondern das Böse mit dem Guten überwinden.

Das Gute, das wir tun sollen, besteht aus folgenden Einzelheiten:

1. herzlich sein zueinander in der Bruderliebe (V. 10);

2. einander zuvorkommen in der Ehrerbietung (V. 10);

3. im Geist brennen (V. 11);

4. dem Herrn dienen (V. 11);

5. sich freuen in der Hoffnung (V. 12);

6. in Bedrängnis ausharren (V. 12);

7. im Gebet anhalten (V. 12);

8. an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmen (V. 13);

9. nach Gastfreundschaft trachten (V. 13);

10. die Menschen, die uns verfolgen, segnen (V. 14);

11. sich mit den Freuenden freuen (V. 15);

12. mit den Weinenden weinen (V. 15);

13. einerlei gesinnt sein (V. 16);

14. sich zu den Niedrigen halten (V. 16);

15. sich der Ehrbarkeit gegen jedermann befleißigen (V. 17);

16. mit allen Menschen in Frieden leben (V. 18);

17. dem Zorn Gottes Raum geben (V. 18);

18. den Feind tränken und speisen (V. 20);

19. das Böse überwinden mit dem Guten (V. 21).

Das Böse, das wir hassen sollen, besteht aus folgenden Einzelheiten:

1. träge oder säumig sein (V. 11);

2. Widersachern fluchen (V. 14);

3. auf hohe Dinge sinnen (V. 16);

4. sich selbst für klug halten (V. 16);

5. Böses mit Bösem vergelten (V. 17);

6. sich selbst rächen (V. 19);

7. sich vom Bösen überwinden lassen (V. 21).

»Die Liebe [sei] ungeheuchelt«: Die Liebe Gottes ist dem Christen durch den Heiligen Geist ins Herz ausgegossen (Röm 5,5), weshalb man in der Gemeinde erwarten darf, dass die Geschwister einander lieben. Doch gerade, weil der Christ weiß, dass das von ihm erwartet wird, ist er versucht, so zu tun, als liebte er den Bruder, auch wenn er im Her­ zen Groll gegen ihn trägt. Damit aber betrübt und dämpft er den Heiligen Geist. Darum muss der Christ lernen, alles Unwahre abzulegen und sich vom Geist Gottes leiten zu lassen (Röm 8,14). Dann wird seine Liebe ungeheuchelt sein, und ist sie das, »verabscheut« er »das Böse«. Die den HERRN lieben, hassen das Böse (Ps 97,10). Liebe ist nicht ein bloßes Gefühl; sie lässt uns wählen, handeln und Position beziehen. Wir wählen das Gute und verwerfen alles, was böse ist, sei es böses Tun, böses Reden oder böse Lehre, denn die Liebe ist untrennbar verbunden mit Wahrheit. Das muss so sein, denn die ungeheuchelte Liebe ist die Liebe Gottes, die der Geist der Wahrheit (Joh 14,17) in uns aus gegossen hat. Und Gott, der Liebe ist (1Jo 4,16), ist auch Licht (1Jo 1,5). Ent­ sprechend sagt der Apostel an anderer Stelle, dass wir »wahrhaftig in der Liebe« sein oder »die Wahrheit in der Liebe« festhalten müssen, um als Leib Christi zum Haupt hin zu wachsen. (Eph 4,15). Die Liebe verabscheut das Böse und »[hält] fest«, wörtlich »klebt«, kollaō (wie in Lk 10,11), »am Guten«. In Mt 19,5 steht, dass der Mann in der Ehe an seiner Frau »klebt«. Wer liebt, weicht vom Bösen und tut Gutes (Ps 37,27); er prüft alles und hält das Gute fest (1Thes 5,21). Er flieht die Sünde und strebt nach Gerechtigkeit, Glauben und Liebe (2Tim 2,22). Er lässt sich vom Bösen nicht überwinden, sondern über­ windet das Böse mit dem Guten (Röm 12,21).

10 In der Bruderliebe seid herzlich zueinander, in Ehrerbietung kommt einander zuvor;

In den Versen 10­16 geht es um das Verhältnis zu den Mitgläubigen. (In den Versen 17­21 geht es dann um das Verhältnis zu allen Men­ schen.) Entsprechend wird der vorliegende Abschnitt eingeleitet mit der Auf forderung zur »Bruderliebe«, philadelphia295 (außer hier noch in 1Thes 4,9; Hebr 13,1; 1Petr 1,22; 2Petr 1,7 [2x]). Sie ist ein besonderes Merkmal der Christen (Joh 13,35), denn er, der Sohn Gottes, offenbarte in seinem ganzen Leben und besonders in seinem Sterben die Liebe Got­ tes. Wer bekennt, an Jesus Christus zu glauben, folgt ihm nach. Gott ist Liebe; sein Herz geht aus zu den Menschen (siehe Hi 34,14). In Christus ist die Menschenliebe, die philanthrōpia296, Gottes erschienen (Tit 3,4). Der Vater, der uns durch sein Wort gezeugt hat (1Petr 1,23), hat uns sei­ ner Natur teilhaftig gemacht (2Petr 1,4), und es erfreut ihn, wenn er sieht, wie diese in »ungeheuchelter Bruderliebe« (1Petr 1,22) sichtbar wird. Sind wir von Bruderliebe getrieben, sind wir in allem Reden und Han­ 295 Von phil-, »lieben«, und adelphia, »Bruderschaft«.296 Von phil und anthrōpia, »Menschheit«. philia ist also entgegen allgemeiner Meinung nicht weniger göttliche Liebe als agapē. Wie die Liebe beschaffen sei, liegt an zwei Dingen: an der Person, die liebt, und daran, was einer liebt. Wenn Gott liebt, ist es göttliche und damit vollkommene Liebe – ganz gleich, ob die nun agapē oder philia genannt wird; wenn der Sünder liebt, ist es Eigenliebe, also böse Liebe, auch wenn sie mit agapao ausgedrückt wird (Lk 11,43). Wenn der Christ das Geld liebt, ist es böse Liebe; wenn er die Wahrheit liebt, ist es gute Liebe. deln »herzlich297 philostorgoi, ein Wort, das im Neuen Testament nur hier belegt ist. Es setzt sich zusammen aus philos, lieb, und storgē, die Liebe der Eltern und Kinder zueinander. In Röm 1,31 und 2Tim 3,3 verwendet Paulus für »ohne natürliche Liebe« a-storgos und bezeichnet damit Leute, die keine solche Liebe haben. zueinander«. Wir wollen einander nur Gutes, innige Zuneigung drängt uns, den Geschwistern Gutes zu tun. Und wo die Bru­ derliebe uns treibt, geben wir einem jeden die Ehre, die ihm zusteht (vgl. Röm 13,7), ja, wir kommen »einander zuvor [in Ehrerbietung]«. Auf diese Weise zeigen wir, dass wir den anderen höher achten als uns selbst (Phil 2,3).

11 im Fleiß nicht säumig, im Geist brennend, dient dem Herrn.298 In einigen Handschriften steht anstelle von kyriō, dem Herrn, kairō, der Zeit. Das hatte Luther inseiner Version des Textus Receptus vor sich, weshalb er übersetzte: »Schicket euch in die Zeit« (vgl.Luther 1912).

Wer die Geschwister liebt, ist »im Fleiß nicht säumig«. Er kann seine Hände nicht in den Schoß legen, wenn Geschwister Mangel leiden oder in Not sind (1Jo 3,17). Die Liebe, die ihn drängt, macht ihn »[brennend] im Geist«, denn er »dient dem Herrn«, indem er den Geschwis­ tern dient. Wie sollte man dem Herrn mit halbem Herzen dienen? Dass jemand im Geist »brennt«, zeō, wird im Neuen Testament nur noch von Apollos gesagt (Apg 18,25). Von diesem Verb ist das Adjektiv zestos, »brennend« gebildet. Den Herrn ekelt eine Gemeinde, die lau statt bren­ nend ist (Offb 3,16; nur hier belegt).

12 In der Hoffnung freut euch; in Trübsal harrt aus; im Gebet haltet an;

13 an den Bedürfnissen der Heiligen nehmt teil, nach Gastfreundschaft trachtet.

Wie in Kapitel 8 verknüpft Paulus hier Hoffnung, Trübsal und Gebet mit­ einander. Wir gehen durch Drangsal (Röm 8,17), doch wir schauen dem Tag entgegen, an dem unser Leib erlöst werden soll und wir allen Prüfun­ gen und allem Leiden entrückt sein werden (8,23). Weil wir diese feste Hoffnung haben, harren wir in Trübsal aus und binden uns im Gebet an den Herrn (8,26).

In einigen Handschriften steht anstelle von kyriō, dem Herrn, kairō, der Zeit. Das hatte Luther in seiner Version des Textus Receptus vor sich, weshalb er übersetzte: »Schicket euch in die Zeit« (vgl. Luther 1912). »In Hoffnung freut euch«: Zu unserer Hoffnung gehört, dass auch unser Leib erlöst werden soll. Was uns aber mehr als alles andere mit Freude erfüllt, ist die Tatsache, dass wir einst den Herrn sehen (Joh 17,24; 1Jo 3,2; Offb 22,4) und für immer bei ihm sein werden (1Thes 4,17). Diese Freude am Herrn verleiht uns Stärke (Neh 8,10), sodass wir »in Trübsal« ausharren können. Und wir haben allezeit und unter allen Umständen freien Zugang zu unserem großen Heiland­Gott. Wir fliehen zu ihm »im Gebet«, statt uns zu sorgen, weil das Morgen ungewiss ist (Phil 4,6). Gott verachtet nicht das Elend der Elenden (Ps 22,25), vor ihn kommt das Seufzen der Gefangenen (Ps 79,11), und er hört und hilft uns. Und wir beten für die Geschwister, indem wir deren Lasten zu den uns­ rigen machen (siehe Gal 6,2), und wir halten an im Gebet, wie es auch der Apostel tat (Röm 1,9­10).

In der Fürbitte für die Heiligen (Eph 6,18) erheben wir unsere Hände zu Gott (1Tim 2,8) und beten, dass er sie entsprechend ihren »Bedürfnissen« mit allem versorgt. Wenn unsere Fürbitte aufrichtig ist, wer­ den wir unsere Hände auch ausstrecken zu den »Armen unter den Heiligen« (Röm 15,26; vgl. Spr 31,20) und uns der Schwachen und Armen an nehmen, eingedenk der Worte des Herrn: »Geben ist seliger als Nehmen« (Apg 20,35; vgl. Gal 2,10). Gott hat fröhliche Geber lieb, denn er selbst ist so. In seiner Liebe gibt er allen Menschen Tag für Tag unzählig viel Gutes (Apg 14,17).

Wir trachten »nach Gastfreundschaft«, statt sie zu vergessen, denn wir lieben die Brüder (Hebr 13,1­2). Wenn Heilige verfolgt werden und Haus und Besitz verlieren, ist es unsere Pflicht, sie aufzunehmen, sie zu speisen und zu kleiden. Indem wir sie auf diese Weise aufnehmen, neh­ men wir den Herrn selbst auf (Mt 10 40,; 25,35; siehe auch Hebr 13,2).

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.

Wenn Paulus sagt »segnet«, bedeutet das nicht, dass irgendeiner von uns göttlichen Segen verteilen könnte. Es wäre ein großer Frevel, maßten wir uns das an. Als Gott den Priestern im Alten Testament gebot, das Volk zu segnen, sagte er ihnen, wie sie das tun sollten. Sie sollten den Segen, der bei Gott ist, der von Gott kommt und den Gott allein geben kann, auf das Volk herabbeten mit den Worten: »Der HERR segne dich …« (4Mo 6,24). Das Gleiche tat Isaak, als er seinen Sohn segnete. Er sagte nicht in frevelhafter Weise: »Ich segne dich«, sondern: »Gott gebe dir vom Tau des Himmels …« (1Mo 27,28). Wir segnen, die uns verfolgen, indem wir für sie beten, dass Gott sich ihrer erbarme und auch ihnen sein Heil zuwende. Entsprechend bedeutet »flucht nicht« nicht etwa, dass wir mit unseren Worten einen göttlichen Fluch verhängen könnten, wenn wir wollten. Fluchen hieße wiederum, dass man Gott bittet, das zu tun, was er allein vermag und was sein alleiniges Recht ist (Ps 69,23­26). Als der Herr Jesus, »der Herr der Herrlichkeit«, am Kreuz hing (1Kor 2,8), hätte er die Macht und das Recht gehabt, den Fluch über seine Peiniger auszusprechen. Er tat es nicht, sondern er betete für sie (Lk 23,34). Das tat auch Stephanus, als er gesteinigt wurde (Apg 7,60). Ebenso sollen wir Gutes für unsere Feinde erbeten.

15 Freut euch mit den sich Freuenden, weint mit den Weinenden.

Wer den Bruder liebt, freut sich mit ihm, wenn dieser sich freut. Des­ sen Freude ist seine Freude. Wird ein Glied der Gemeinde in irgendeiner Weise geehrt, freuen sich alle mit (1Kor 12,26). Und wer die Geschwister liebt, »weint mit den Weinenden«. Der Schmerz des Bruders ist sein Schmerz, dessen Leiden ist sein Leiden (1Kor 12,26). Er seufzt im Gebet mit den Gefangenen, leidet mit denen, die Ungemach leiden, weil sie alle Glieder sind an dem einen Leib (Hebr 13,3).

16 Seid einerlei Sinnes zueinander; sinnt nicht auf hohe Dinge, sondern lasst euch hinführen mit den Niedrigen. Seid nicht klug bei euch selbst.

»Seid einerlei Sinnes zueinander«, oder: »Habt einerlei Sinn untereinander« (Luther 1912), wörtlich: »Sinnt das Gleiche zueinander.« Dass die Geschwister eines Sinnes seien, fordert der Apostel wieder­ holt (Röm 15,5; 1Kor 1,10). Wir können nur dann »einerlei Sinn untereinander« haben (Phil 2,2), wenn wir nicht höher von uns denken, als wir sollen (Phil 2,3), sondern so gesinnt sind, wie es unser Herr war, der sich selbst entäußerte und sich allen zum Knecht machte (Phil 2,5ff.). »sinnt nicht auf hohe Dinge«: Diese Aufforderung ist notwendig, weil wir von Natur gerne für uns Hohes anstreben. Darum sagte Gott durch den Propheten Jeremia zu Baruch, dem Schreiber: »Und du trachtest nach hohen Dingen für dich? Trachte nicht danach« (Jer 45,5). Gott warnte davor, im Ehrgeiz großen Plänen nachzujagen, wo er in Kürze Unglück über alles Fleisch bringen würde. Der Christ lebt zwar in dieser Welt, doch weiß er, dass »Himmel und Erde vergehen werden« (Mt 24,35), dass »die Gestalt dieser Welt vergeht« (1Kor 7,31), dass »die Welt vergeht und ihre Lust« (1Jo 2,17) und dass der Mammon »zu Ende geht« (Lk 16,9). Darum sucht er nicht, in dieser Welt aufzusteigen. Er trachtet auch nicht danach, in der Gemeinde der Erste zu sein (3Jo 9). »sinnt nicht auf hohe Dinge« – das ist auch eine Warnung vor Ein­ bildung und Dünkel. Das hier verwendete hypsēla phronein wird in 11,20 übersetzt mit: »Sei nicht hochmütig!« In 1Tim 6,17 wird das aus den bei­ den Bestandteilen hypsēla (»hoch«) und phronein (»sinnen«) gebildete zusammengesetzte Verb verwendet, hypsēlophronein, wo der Sinn der­ selbe ist: »hochmütig sein«299 Das griechische Wörterbuch von Pape gibt als Bedeutung an: »hohen Sinn haben; hochmütig, stolz sein« (Liddell & Scott: to be high minded). Im Griechischen außerhalb des NT ist auch hypsēlophronia, Hochmut, belegt (Liddell & Scott: haughtiness)..

»sondern lasst euch hinführen mit den Niedrigen«: Das hier ver­ wendete Verb synapagomai wird noch in Gal 2,13 und 2Petr 3,17 ver­ wendet und dort mit »mit fortgerissen werden« übersetzt. Der Ausdruck besagt, dass es nicht unserer Natur entspricht, uns mit den Niedrigen zu vereinen. Wir denken lieber hoch von uns und wollen daher gerne mit den Großen gesehen werden. Darum müssen wir zu und mit den Ge ringen hingeführt werden. Gottes Wort und sein Geist vermögen so an uns zu wirken, dass es geschieht.

»Seid nicht klug bei euch selbst«: Mit allem Hochmut geht auch die Einbildung einher, man sei besonders klug. Die Schrift aber nennt das einen Ausbund der Torheit. Salomo sagt, dass sogar für einen Toren noch mehr Hoffnung ist als für den Mann, der weise ist in seinen Augen (Spr 26,12). Jesaja ruft ein Wehe über ihn aus (Jes 5,21). Wer bei sich selbst klug ist, hält sich für mehr als die anderen, und das zeigt, wie blind er geworden ist. Er hat vergessen, dass er alles, was er ist und besitzt, von Gott empfangen hat. Und er hat vergessen, dass kein Glied im Leib sich selbst genügt, sondern ein jedes Glied auf die anderen Glieder an ­ gewiesen ist (Röm 12,4­5).

17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf das Gute bedacht vor allen Menschen.

18 Wenn möglich, soviel an euch ist, habt Frieden mit allen Menschen.

Nachdem es in den Versen 10­16 um das Verhältnis der Gläubigen unter­ einander gegangen war, behandeln die Verse 17­21 das Verhältnis des Christen zu allen Menschen. Er soll auf das Gute bedacht sein »vor allen Menschen«, und er soll danach trachten, in Frieden zu leben »mit allen Menschen«.

»Vergeltet niemandem Böses mit Bösem« (siehe auch 1Petr 3,9). Der Drang, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist uns allen an geboren. Wenn der Christ das nicht tut, wird offenbar, dass er in Christus ein neuer Mensch geworden ist. Er begehrt, dem Beispiel Christi zu folgen, der »gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet« (1Petr 2,23). Das Leben Christi im Christen drängt ihn dazu, wie sein Herr zu handeln und »auf das Gute« bedacht zu sein, pronoeomai, wörtlich »zuvor bedenken«, weshalb Jant­ zen in seiner Übersetzung des Neuen Testaments es mit »sei vorsorg­ lich« wiedergegeben hat. Es muss in uns zum festen Vorsatz werden, dass wir auf Böses stets mit Gutem antworten; dann wird ein Böses, das uns unversehens angetan wird, uns nicht so leicht überrumpeln und den Reflex auslösen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wir sollen »mit allen Menschen« Frieden haben, eirēneuō (außer hier noch in Mk 9,50; 2Kor 13,11; 1Thes 5,13), von eirēnē, Frieden. Die Einschränkung »wenn möglich« zeigt, dass es nicht immer möglich ist. Entsteht aber Unfriede, darf das nie von uns verschuldet sein. Wir sollen alles uns Mögliche und Statthafte tun, um Zerwürfnisse zu vermeiden. Der Schreiber des Hebräer briefes fordert uns auf, dem Frieden nachzujagen mit »mit allen« (Hebr 12,14). Das begehrt der Christ. Er will ein Friedensstifter sein (Mt 5,9), weil sein Herr einer war. Der Sohn Gottes kam in diese Welt, um Frieden zu schaffen zwischen dem Menschen und Gott (Kol 1,20) und zwischen Menschen, die einander fremd und feind waren (Eph 2,14). Wollen wir wirklich in Frieden leben mit allen, halten wir uns an den Befehl, der im nächsten Vers folgt.

19 Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn; denn es steht geschrieben: »Mein ist [die] Rache; ich will vergelten, spricht der Herr.«

»Rächt euch nicht selbst, Geliebte«: Den »Geliebten« hat Gott seine ewige Liebe erwiesen, obwohl sie seine gerechte Rache verdient hätten. Darum wollen auch sie sich nicht rächen an denen, die ihnen Unrecht getan haben. Stattdessen will der Geliebte Gottes »Raum [geben] dem Zorn«, d. h. dem Platz machen, der allein das Recht hat, Rache zu üben. Paulus belegt seine Aufforderung mit dem Schriftwort: »Mein ist [die] Rache; ich will vergelten, spricht der Herr.« »Mein« und »ich« sind zu betonen. Lasst uns bedenken, was Paulus damit sagt! Wenn wir uns selbst rächen wollen, nehmen wir den Platz ein, der Gott allein zusteht, und das ist ein ungeheurer Frevel, den Gott nicht ungestraft lassen wird. Die Rache gehört dem Herrn, ihm allein. Noch immer hält Gott sei­ nen Zorn zurück (siehe auch Röm 9,22), denn er lässt jetzt seine Gnade verkünden in aller Welt, und er rechnet der Welt ihre Sünden (noch) nicht zu (2Kor 5,19), und seine Boten rufen alle Menschen auf: »Lasst euch versöhnen mit Gott« (2Kor 5,20).

Aus der Langmut Gottes soll der Mensch indes nicht schließen, dass Gott die Sünde nie strafen werde. Es ist wahr, er ist langsam zum Zorn (Ps 103 8,; 119,119; Hab 2,12­13; 2Thes 1,7­9; Offb 20,15).

20 Also: »Wenn deinen Feind hungert, speise ihn; wenn ihn dürstet, tränke ihn. Denn tust du das, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.«

21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten.

Das »Also« knüpft an das in V. 19 Gesagte an. Statt dem Feind Böses zu wünschen (d. h. ihm fluchen) oder Böses zu tun (sich rächen), tut der Christ ihm Gutes. Wenn ihn hungert, gibt er ihm zu essen, wenn ihn dürs­ tet, gibt er ihm zu trinken, denn so hat sein Herr an ihm selbst gehandelt während all der Jahre, da er dem Herrn feind war (Röm 5,10). Damit offenbart sich am Christen das Leben Christi selbst, und nicht nur das: Wenn wir dem Gutes tun, der uns Böses tut, sammeln wir »feurige Kohlen auf sein Haupt«. Unsere Güte beschämt ihn, und seine eigene Bos­heit beginnt, ihn zu plagen, und das lässt ihn zuweilen umdenken. So handelt Gott an uns Menschen; seine Güte leitet zur Buße (Röm 2,4). In der Weise, wie Gott böses Tun überwindet und zum Guten wendet (siehe 1Mo 50,20), lernt auch der Christ, »das Böse mit dem Guten« zu über­ winden. Das tut er in zweierlei Hinsicht: Indem er dem Feind Gutes tut, überwindet er das Böse, das in ihm ist und zur Vergeltung drängt; und er überwindet dabei auch das Böse, das ein Feind ihm angetan hat, indem es für diesen zum Guten ausschlagen kann.

Einmal wurde Robert Chapman (1803 – 1902)300 Er lebte und diente in einer Gemeinde, die baptistisch gewesen war und unter seiner Leitung zu einer Brüderversammlung wurde, in Barnstaple, England. Chapman wurde mit der Zeit so bekannt, dass ein Brief bei ihm ankam, der adressiert war »R. C. Chapman, University of Love, England«. unerwartet von einem Verwandten besucht, der einmal sehen wollte, wie er lebte: »Er öffnete die Tür zur Speisekammer, aber da war nicht viel drin. Er bat darum, etwas einkaufen zu dürfen, was Chapman ihm gern gestattete, allerdings nur, wenn er in einem ganz bestimmten Geschäft einkaufen ginge …

Als der Verwandte den Laden gefunden hatte, wurden die Augen des Besitzers immer größer, als er tausend Dinge verlangte. Als die Be ­ stellung immer noch größer wurde, wurde der Kaufmann immer dank­ barer und freundlicher, und als schließlich alles zusammengesucht und bezahlt war, wollte er sich dem Kunden gefällig erweisen und sagte: ›Wenn Sie mir die Adresse geben könnten, dann würde ich Ihnen die Waren ins Haus liefern.‹

›Bitte liefern Sie alles bei Herrn Robert C. Chapman ab‹, bat der Kunde.

›Aber – das muss ein Irrtum sein!‹

›Nein, nein‹, lautete die Antwort, ›Herr Chapman hat mich extra gebeten, zu Ihnen zu gehen.‹

Der Kaufmann, der Chapman jahrelang böswillig angegriffen und verspottet hatte, brach in Tränen aus. Kurz darauf kam er zu Chapmans Haus, bat um Vergebung und übergab sein Leben dem Herrn.«301 Zitiert aus: Robert L. Peterson, Robert Cleaver Chapman. Der Mann, der Christus lebte, Bielefeld: CLV, 2000, S. 166. Mit dem letzten Vers in diesem Abschnitt ist Paulus zum Anfang des Abschnittes zurückgekehrt. Er fasst zusammen, was er im 9. Vers gesagt und dann in Einzelheiten ausgeführt hat. »Überwinde das Böse mit dem Guten« entspricht der Aufforderung »Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten« (V. 9). Wer das Böse verabscheut, wird Böses nie mit Bösem vergelten, und wer am Guten festhält, wird auch den Feinden nur Gutes tun. Was zum Gutestun drängt, ist die ungeheuchelte Liebe (V. 9), die auch den Feinden gilt (Mt 5,44).

Anmerkungen zu Kapitel 12

»Mit dem 12. Kapitel geht Paulus zu den Ermahnungen über. Das erste Wort, das uns hier begegnet, παρακαλω (parakalō), ›ich ermahne‹, steht sozusagen als Titel und Überschrift über dem ganzen folgenden Teil und zeigt an, dass wir jetzt zu einem neuen Abschnitt des Briefes gelangen. Es bedeutet aber nicht, dass Paulus hier zu etwas ganz Neuem übergeht, was nichts mit dem Vorhergehenden zu tun hätte. Im Gegenteil, er bleibt in der gleichen Sphäre wie vorher. Was bisher das Thema des Briefes gewesen ist – ›der durch Glauben Gerechte wird leben‹ – ist auch das Thema der Ermahnungen. Wir haben hier ein schönes Beispiel für die unerhörte Konsequenz, die das Denken des Paulus beherrscht« (Anders Nygren, Der Römerbrief, S. 293).

»Kapitel 12 ist ein ethisches Dokument von solchem Format, dass man es neben die Bergpredigt stellen kann. Die Rechtfertigung, Befreiung und Heiligung, die uns durch den Glauben an Christus zu eigen ge worden sind, erlauben nicht einen gleichgültigen Wandel. Gottes Gnade ver­ pflichtet. Der Gerechtfertigte ist berufen, einen heiligen Wandel zu füh­ren« (Erik Bernspång, Romarbrevet, S. 313).

V. 1 – »Nachdem Paulus in elf Kapiteln tiefer und bewegender Lehre gezeigt hat, was Gott den Gläubigen gegeben hat, trägt er den Gläubigen auf, was sie Gott geben müssen« (J. MacArthur, Romans 9 – 16, S. 137).

V. 1­-2 – »Deswegen ist uns not, aufzusehen, dass wir weder der Welt Weise noch unserer Vernunft und guten Meinung folgen, sondern immer unseren Sinn und Willen brechen und anders tun und leiden, als Vernunft und Wille vorgibt, damit wir ja der Welt immer ungleich und im Wider­ spiel fahren, so werden wir täglich verändert und erneuert in unserem Sinn. Das heißt, dass wir täglich mehr und mehr halten von den Dingen, welche die Welt und Vernunft hasst, dass wir täglich lieber arm, krank, verachtet, Narren und Sünder werden und zuletzt den Tod besser leiden als Leben, Torheit teurer achten als Weisheit, Schande edler als Ehre, Armut seliger als Reichtum. Solchen Sinn hat die Welt nicht, sondern ist anders gesinnt und in solchem alten Sinn unverändert und nicht erneuert, sondern bleibt verstockt und steinalt« (Luther, Christlicher Weg weiser für jeden Tag, 12. April [vgl. WA 17 II, 13, 2­13]).

»Ich stand am Abend auf dem Marktplatz und ermahnte eine große Men­schenansammlung, stets bereit zu sein für den Tod, für das Gericht, für den Himmel … während ich sie drängte, ›sich selbst als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer hinzugeben‹« (John Wesley, Journal, 6. September 1749).

»Diese beiden Verse sind eng verbunden mit dem Schluss des 11. Kapi­ tels. Dort wurde Paulus zur Anbetung bewegt. Die Römer sollen sich selbst zum vernünftigen Gottesdienst hingeben, der bewirkt wird durch geistliche Vernunft … Der Antrieb zu diesem Gottesdienst ist der glei­che, der sich im Denken des Apostels vorfand: Er hatte Gottes Willen erkannt, wie der sich äußerte in den heilsgeschichtlichen Ordnungen, nach denen Gott sein Heil vollendet, und er hatte damit Einsicht erlangt in jenen guten, heiligen und vollkommenen Willen Gottes. Als der Eck­stein zur Schöpfung gelegt wurde, hatten die Söhne Gottes gejauchzt (Hi 38,6­7), und auch er betet an, da er erkennt, wie Gott in Christus den Eckstein zur neuen Schöpfung gelegt hat« (J. M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 219­-220).

V. 9­-21 – »Mit dem Glauben kommt die Liebe, Gottes eigene Liebe, die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist (5,5) … Jetzt beschreibt Paulus, wie diese Liebe wirkt« (Bo Giertz, Förklaringar till Nya Testamentet, Bd. 2, Johannes till Korintierbreven, S. 321).

V. 16 – »Himmlischer Vater, bewahre mich um Deines geliebten Sohnes willen vor dem Drang, aufsteigen zu wollen. Gib, dass ich Beförderung hassen kann. Gib um Deiner grenzenlosen Erbarmungen willen, dass ich ein niedriges und verächtliches Leben lieben kann und nie versuche, die Glückseligkeit der kommenden Welt gegen das Glück der diesseitigen Welt einzutauschen« (George Whitefield, Journals 1737).

Kapitel 13

Wir leben als Christen noch in der Welt, unter der alten Ordnung, obwohl wir bereits zur neuen gehören. Wir sind nicht mehr von der Welt, aber wir sind noch in der Welt (Joh 17,11.16). Der Umstand, dass der Christ, der ein neuer Mensch geworden ist, sich nun in einer Welt zurecht finden muss, der er fremd geworden ist, weckt Fragen und schafft zuweilen große Schwierigkeiten.

In 12,3­16 hatte Paulus von den Beziehungen der Christen unter einander und in den Versen 17­21 von deren Beziehungen zu den Menschen im Allgemeinen gesprochen. In Kapitel 13 fährt er damit fort. Der Christ, der durch die Rechtfertigung Himmelsbürger geworden ist (Phil 3,20), ist immer noch Bürger jener Gemeinschaft von Menschen, die wir den Staat nennen. Unter diesen Menschen soll er so leben, wie es der Apostel eben gelehrt hat. Das ist klar und weckt keine weiteren Fragen. Aber es stellt sich die Frage, wie er sich halten soll zum Staat mit Obrigkeit und Zivil­ gesetz, Strafgesetz, Justiz, Polizei und Armee. Sollte er als Erlöster, der auf die kommende Verherrlichung wartet (Röm 5 2,; 8,17.30), überhaupt noch etwas mit den Ordnungen in dieser Welt zu tun haben? Hatte der Apostel denn nicht gelehrt, dass der Christ der Welt nicht gleich gestaltet sein dürfe (12,2)? Immer wieder haben einzelne Christen gemeint, sie müssten sich möglichst vollständig aus der Welt zurückziehen – das war der große Irrtum des Mönchtums. Andere Gruppen wiederum haben gedacht, sie seien die Avantgarde des Reiches Gottes, das sie in dieser Welt aufrichten müssten, und darum dürften sie sich keiner anderen Ord­ nung als den direkt von Gott gegebenen Geboten fügen, und sie müss ten daher allen irdischen Geboten trotzen und diese durch himmlische er setzen. Doch Paulus lehrt hier etwas anderes.

»Hier wendet sich Paulus mit allem Nachdruck gegen die schwärmerische Auffassung, die das Evangelium zu einem Gesetz für das öffentliche Leben macht. Auch diese Form von Gesetzlichkeit ist verwerflich. Die beiden Äonen greifen ineinander, dürfen deshalb aber nicht willkürlich miteinander vermischt werden. Man darf, was für den neuen Äon gilt, nicht einfach als Gesetz für den alten verwenden.«302 A. Nygren, Der Römerbrief, S. 304.

Die Frage nach dem Verhältnis des Christen zu den irdischen Regierungen ist nur ein besonderer Fall der übergeordneten Frage, in ­ wieweit die Regeln, die Gott für das Zusammenleben der Menschen in dieser Welt verordnet hat, überhaupt noch bestehen. In der Schöpfung hat Gott Autorität delegiert: Er machte den Mann zum Haupt über die Frau (1Kor 11,3). Er verordnete, dass die Kinder ihren Eltern und die Knechte ihren Herren gehorchen müssen. Gewisse christliche Grup­pen haben gefolgert, dass diese Autoritätsverhältnisse mit der Neu­schöpfung, der Erlösung, aufgehoben seien. Für die durch Glauben Gerecht fertigten seien die Unterschiede von Rang und Geschlecht nicht mehr gültig. In Christus werde nicht mehr unterschieden zwischen Meis­ter und Knecht und entsprechend auch nicht zwischen Regenten und Regierten. Und unter Verweis auf Gal 3,28 ist immer wieder behauptet worden, in der Gemeinde seien die Frauen deshalb in gleicher Weise wie die Männer berufen, zu lehren, zu predigen und vorzustehen. Das Grund­problem, das Paulus im vorliegenden Kapitel diskutiert, ist also stets aktuell gewesen – heute nicht weniger als im 1. Jahrhundert oder in der Reformationszeit. Und darum danken wir Gott dafür, dass er den Apostel durch seinen Geist führte, es in diesem Brief zu behandeln. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile:

1. Der Christ als Staatsbürger (13,1­7).

2. Der Christ ist von Liebe getrieben (13,8-10).

3. Der Christ lebt im Licht der Wiederkunft des Herrn (13,11­-14).

Paulus beginnt mit dem apostolischen Befehl, dass jede Seele und damit auch der Christ der Obrigkeit untertan sein muss (V. 1). In den nach­ folgenden Versen 2­7 begründet er diese Forderung. Dann greift er in den Versen 8­-10 auf, was er in 12,17­21 bereits gesagt hatte (der Christ vergilt nicht Böses mit Bösem, sondern mit Gutem): Der Umgang des Christen mit den Mitbürgern im Staat ist von Liebe regiert. Er wird dabei gestärkt, indem er die Hoffnung des Christen beständig vor Augen hat: Der Tag rückt immer näher, an dem der Herr wiederkommt und das Heil vollendet (V. 11-­14).

1. Der Christ als Staatsbürger (13,1-­7)

Der Christ lebt gleichzeitig in zwei Reichen, dem Reich Gottes (siehe 14,17) und dem Reich der Welt. Ersteres ist ein geistliches Reich, in wel chem Gott durch sein Wort und seinen Geist herrscht, das letztgenannte ein menschliches Reich, in dem Gott durch »menschliche Einrichtungen« (vgl. 1Petr 2,13) regiert. Der Herr sagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh 18,36a). Darum hat er verboten, seine Sache mit dem Schwert zu verteidigen oder zu verbreiten (Mt 26,52; Joh 18,36b). Das heißt, dass man Gemeinde und Staat auseinanderhalten muss. Die Gemeinde ist ein reines Werk Gottes; sie ist durch den Geist geboren (geschehen am Pfingsttag des Jahres 30 im ersten Jahrhundert). In der Gemeinde hat der Heilige Geist Beziehungen, Ordnungen und Funktionen geschaffen (Röm 12,3­8), die der Welt gänzlich unbekannt sind. Die Menschen haben jahrtausendelang zusammengelebt, und für diese gab Gott die entsprechenden Ordnungen, etwa die Ehe und die Familie, in der er verfügte, dass der Mann das Haupt der Frau ist. Und er setzte Menschen ein, über Menschen zu regieren (1Mo 9,5­6). Ein­zelne erhöhte er zu Herrschern über unzählige Menschen, wie etwa den Pharao (Röm 9,17) oder Nebukadnezar (Jer 27,4­6; Dan 2,37). Er gab ihnen Reiche, und er verordnete, dass ihre Untertanen sich ihnen unter­ ordnen sollten (Jer 27,7­8; Dan 2,38). Jeder einzelne Mensch ist ver pflichtet, sich diesen Ordnungen zu fügen. Der Staat mit seinen Regenten ist eine von Gott verfügte Einrichtung, die so lange besteht, wie diese Welt besteht. Solange der Christ als Mensch in dieser Welt lebt, ist er von Gott unter die Gewalt von Regierungen gestellt. Damit, dass er auch zum Leib Christi gehört, ist er von keiner einzigen Schöpfungsordnung (wie der Ehe und dem Verhältnis der Geschlechter) und von keiner einzigen Pflicht gegenüber dem Staat befreit. Widersetzt er sich einer dieser Ord nungen, sündigt er gegen Gott (13,2).

Wir müssen aber sehr wohl beachten, dass Paulus von »jedermann« bzw. von »jeder Seele« (UELB, Elb 2003) die Unterordnung unter die Obrigkeit verlangt, also vom einzelnen Christen, nicht aber von der Gemeinde. Diese ist als Gemeinschaft einzig Christus als ihrem Haupt unterstellt; in diese darf der Staat nicht hineinreden. Die Zürcher Re ­ formatoren Huldrych Zwingli und Heinrich Bullinger vermischten Kirche und Staat miteinander, indem sie Kirche und Staat zu einem Corpus Christianum 303 Svw. christlicher Leib erklärten,304 »In Zürich fand in der Reformation die mittelalterliche Idee des Corpus Christianum eineFortsetzung … Hier wurde der städtische Gemeinschaftsgedanke des Spätmittelalters vertieft, hierkam es zu einer eigentlichen Identifikation von Kirche und Staat« (Fritz Büsser, Heinrich Bullinger.Leben, Werk und Wirkung, Bd. 1, a. a. O., S. 87). Im reformierten Zürich vertrat Leo Jud, ein MitarbeiterBullingers, die Ansicht, »dass Staat und Kirche wohl beide Ordnungen Gottes sind, im Grunde aberihrer Natur und Aufgabe nach zwei sehr verschiedene Größen«. Darum »sollte die Banngewalt nicht beider Obrigkeit, sondern bei der Kirche oder beim Ältestenrat liegen«. Bullinger aber »hält unentwegt ander Einheit von Staat und Kirche und an der Idee eines geschlossenen ›Corpus Christianum‹ fest unddamit natürlich auch an der Idee einer christlichen Obrigkeit und deren Recht auf Exkommunikation«(Büsser, a. a. O., S. 101­102). Luther hingegen hat gelehrt, dass man Staat und Gemeinde klar aus­einanderhalten muss. In seiner Lehre von den zwei Reichen hat er von der linken und der rechten HandGottes gesprochen. Mit der linken regiert er die Welt durch die von ihm eingesetzten Regierungen, mitder rechten regiert er in seinem Reich durch das Evangelium. In beiden Reichen regiert derselbe Herr,und darum muss der Christ, der Christus gehorcht, auch der Obrigkeit gehorchen. in welchem alle Bürger des Staates auch Glieder der Kirche sind. König Heinrich VIII. von England ging einen Schritt weiter und deklarierte sich zum Haupt der Kirche Englands. Damit sündigte er gegen Christus, das Haupt der Kirche, und die Kirche, die diesen irdischen Regenten als ihr Haupt anerkannte, übte Verrat an der Be rufung der Kir­ che. Beachten wir aber auch, dass Paulus nicht sagt, der Staat sei der Kir­ che untertan. Es war und ist die ungeheuer liche Anmaßung der römisch­ katholischen Kirche, dass sie Herrin sei über alle Reiche der Welt. Das maßt sie sich noch immer an, auch wenn es ihr zurzeit nicht opportun erscheint, das laut zu sagen. Sie strebt dieses Ziel aber beharrlich an, und sie wird es für kurze Zeit erreichen, wie wir aus Offb 17 erkennen305 Siehe Benedikt Peters, Geöffnete Siegel. Auslegung zur Offenbarung, Bielefeld: CLV, überarbeiteteNeuauflage 2008, S. 154ff..

1 Jedermann sei untertan den übergeordneten Gewalten; denn es gibt keine Gewalt, außer von Gott, und die bestehenden [Gewalten] sind von Gott verordnet.

2 Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Verordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil über sich bringen.

»Die Aufgabe, die sich Paulus im vierten Teil des Römerbriefes gestellt hat, besteht darin zu zeigen, wie der Wandel des durch Glauben Gerechten beschaffen ist. Es ist ein Wandel in Übereinstimmung mit dem neuen Äon. Der durch Glauben Gerechte wandelt ›in Christus‹ und ›in der Liebe‹. Diesen Wandel soll er mitten im alten Äon mit seinen Ordnungen führen. Diesen Ordnungen gegenüber kann der Christ nicht gleichgültig sein. Zwar darf diese irdische und bürgerliche Gerechtigkeit nicht mit der Gerechtigkeit des neuen Äons verwechselt werden, aber es wäre schlimm, wenn der Christ, der Anteil an der Gottesgerechtigkeit erhalten hat, nicht einmal die Forderungen erfüllen würde, die einfache menschliche Gerechtigkeit an ihn stellt« (A. Nygren, Der Römerbrief, S. 306-­307).

»Jedermann sei untertan306 In den Versen 1 und 2 verwendet Paulus dreimal ein Wort gleichen Stammes: hypo-tassō, sich unterordnen, anti-tassō, sich widersetzen, und dia-tagē, Verordnung (oder Anordnung). Die Grundbedeutung der Wortwurzel tag-, die im Hauptwort ταξις, tak-sis (Ordnung), steckt, ist »fügen«, »ordnen«. den übergeordneten Gewalten«: Diese Anordnung gibt Paulus auch den Christen auf Kreta (Tit 3,1). Er muss es offensichtlich sagen, weil es für die Gläubigen durchaus nicht selbst­ verständlich war. Auch Petrus muss mit allem Nachdruck das Gleiche schreiben (1Petr 2,13­17). In den folgenden Versen begründet der Apostel die Anordnung:

1. Gehorcht der Christ der Obrigkeit, gehorcht er Gott (V. 1).

2. Widersetzt er sich, widersetzt er sich Gottes Ordnung und damit Gott selbst (V. 2a).

3. Mit seinem Ungehorsam zieht er Strafe auf sich herab, die Gott über ihn bringt durch die Obrigkeit (V. 2b; V. 5).

4. Die Obrigkeit muss er nur fürchten, wenn er das Böse tut; sie ist sein Freund, wenn er das Gute tut (V. 3).

5. Er muss der Obrigkeit gehorchen des Gewissens wegen (V. 5).

6. Er muss dem Staat die geforderten Steuern zahlen, weil die ent­sprechenden Beamten Gottes Beamte sind (V. 6).

Wir sehen, wie Paulus die Pflicht zur Unterordnung jedes Mal auf die Beziehung des Christen zu Gott selbst zurückführt. Wenn Gott die Obrigkeit verordnet hat, dann muss das etwas Gutes sein. Das gilt auch für den Fall, dass eine Regierungen nicht gut ist, denn eine schlechte Regierung ist auf jeden Fall besser als Anarchie. Wenn Regierungen ihre Macht missbrauchen, bleibt die göttliche Ordnung immer noch gut, so wie auch die Ehe eine gute Ordnung bleibt, auch wenn Menschen sie schlecht gebrauchen.

Der Christ ist also untertan, denn »es gibt keine Gewalt, außer von Gott«. Es ist Gott, der die Regenten auf den Thron erhebt (Jer 27,6­7; Dan 2 21,; 5,18). Er machte Augustus zum Kaiser über Rom, und Got­ tes Vorsatz zum Heil der Welt erfüllte sich, indem Joseph dem Befehl gehorchte und zusammen mit Maria, seiner verlobten Frau, in seine Stadt zog, wo der Retter der Welt geboren werden musste (Lk 2,1­4). Wer sich der Obrigkeit widersetzt, »widersteht der Verordnung Gottes«, und damit bringt er »ein Urteil über sich«. Es ist Gott, der ihn strafen wird, und zwar tut er das durch die Obrigkeit, der er Gewalt gegeben hat, die bösen Werke zu ahnden.

3 Denn die Regenten sind nicht ein Schrecken für die guten Werke, sondern für die bösen. Willst du dich aber vor der Obrigkeit nicht fürchten? Tu das Gute, und du wirst Lob von ihr haben;

Dass »die Regenten … nicht ein Schrecken für die guten Werke« sind, gilt meistens, aber nicht immer. Salomo spricht von Zeiten, »wo der Mensch über den Menschen herrscht zu dessen Unglück« (Pred 8,9). In einem islamischen Staat oder in einer kommunistischen oder fa schistischen Diktatur wurden und werden gute Werke verboten und mit Strafen belegt, etwa das öffentliche Bekenntnis zu Jesus Christus oder das Verteilen von Bibeln. Dann gilt es, sich dem Bösen zu ver weigern, wie z. B. die Freunde Daniels, die sich dem Befehl widersetzten und sich vor dem Standbild, das Nebukadnezar aufgerichtet hatte, nicht nie­ der warfen und damit den allein wahren Gott ehrten (Dan 3,8­12). Und Daniel betete gegen das Verbot von König Darius zum Gott des Himmels (Dan 6,11­14). Daniels Freunde und er taten Gutes, und sie muss­ ten erfahren, wie die Obrigkeit ihnen genau deshalb zum Schrecken wurde.

Wenn der Christ »das Gute« tut, wird er gewöhnlich »Lob von ihr haben« (siehe auch Pred 8,5). Es ist aber nicht in jedem Fall so: Als die ersten Christen das Evangelium predigten, also den Menschen das Beste taten, was man tun kann, wurden sie bestraft (Apg 4 3,; 5,40). Der Christ muss manchmal unter Regierungen leben, die das Gute bestrafen und das Böse belohnen. Wer in der NS­Zeit Gutes tat, indem er Juden versteckte, um sie vor der Auslieferung an ihre Peiniger zu schützen, wurde dafür öffentlich als »Judenknecht« geschmäht und strafrechtlich verfolgt, er bekam also gerade nicht Lob. Lob bekam hingegen, wer Böses tat und Juden auslieferte und »Volksgenossen« (wie man die Mitbürger damals nannte), welche Juden versteckten, anzeigte.

4 denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; denn sie ist Gottes Dienerin, eine Vollstreckerin des Zornes über den, der Böses tut.

5 Darum ist es notwendig, untertan zu sein, nicht allein des Zorns wegen, sondern auch des Gewissens wegen.

Die Obrigkeit »ist Gottes Dienerin, dir zum Guten«, und zwar besteht dieses Gute darin, dass sie von Gott Gewalt bekommen hat, das Böse zu strafen und damit im Zaum zu halten. Überließe Gott uns Menschen uns selbst, würde alles, was wir im Herzen tragen – Lüge, Habsucht, Hass, Mord, Unzucht –, ungehemmt hervorbrechen, und das Leben auf der Erde würde unerträglich. Nun aber hält Gott das Böse zurück durch die verschiedenen Autoritäten, die er eingesetzt hat. Die Obrigkeit ver­ fügt Ordnungen, die das Zusammenleben im Staat überhaupt erst mög­lich machen, und sie verhängt Strafen für den, der sie missachtet. Das ist ein großer Segen, und wir haben Grund, Gott dafür zu danken. Gott hat Eltern die Aufgabe gegeben, ihre Kinder zu erziehen durch Lehren, Ermahnen, Strafen und Belohnen. Narrheit ist im Herzen eines jeden Kindes, und die elterliche Zucht dämmt sie ein (siehe Spr 22,15), damit die verschiedenen Formen des Bösen wie Hochmut, Einbildung, Rück­ sichtslosigkeit nicht freien Auslauf bekommen. Es wird zwar kein Kind durch Erziehung zu einem Heiligen, aber es wird tüchtig gemacht, mit anderen Menschen zusammenzuleben, und es wird es damit im Leben viel besser haben als Kinder, die keine solche Zucht empfingen. Dass die Obrigkeit eine Dienerin zum Guten ist, hatte Paulus selbst erfahren. Er konnte sich als römischer Bürger auf den Schutz berufen, den ihm die Regierung gewähren musste, und er bekam ihn: Als die Juden versuchten, ihn zu töten, wurde er durch die römische Obrigkeit geschützt (Apg 23,12­33).

»denn sie trägt das Schwert nicht umsonst«: Das Schwert ist eine Waffe, mit der man Leben nimmt. Es steht also hier als Zeichen für die Gewalt, die Gott den Regierungen gegeben hat, für bestimmte Verbrechen die höchste Strafe zu verhängen. Als Gott menschliche Regierungen ein­ setzte, verordnete er: »Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden; denn im Bilde Gottes hat er den Menschen gemacht« (1Mo 9,6). Die Todesstrafe wird damit begründet, dass Gott den Menschen im Bild Gottes gemacht hat. Solange das wahr ist, gilt auch die Verordnung, dass der Mensch, der einen anderen tötet, für dieses Verbrechen sein Leben lassen muss. Sie wird durch die Erlösung in Chris­ tus so wenig aufgehoben wie alle übrigen Schöpfungsordnungen. Wenn die Obrigkeit Strafen verhängt, ist sie »Gottes Dienerin, eine Vollstreckerin des Zornes über den, der Böses tut«. Weil sie Gottes Dienerin ist, »ist es notwendig, untertan zu sein«. Beachten wir, dass es »notwendig« ist; es ist uns nicht zur Wahl gestellt. Es muss sein, und das erstens »des Zorns wegen«. Wir reizen Gott zum Zorn, wenn wir uns widersetzen. Das will wohl bedacht sein. Und zweitens »auch des Gewissens wegen«. Nach 2,15 und 9,1 ist dies der dritte und letzte Beleg von »Gewissen« im Römerbrief. Der Christ ist unterwiesen, er kennt seine Pflichten gegenüber der Obrigkeit; er weiß, dass er sündigt, wenn er sich mutwillig der Obrigkeit widersetzt. Gegen das Gewissen zu han­ deln, ist gefährlich. Tun wir es einmal, werden wir es wieder tun, und das Gewissen wird stumpf, am Ende verhärtet. Und ist das einmal geschehen, ist nicht abzusehen, zu welchem Bösen man sich noch hingeben wird.

6 Deswegen zahlt ihr ja auch Steuern; denn sie sind Gottes Beamte, die eben darauf beständig bedacht sind.

7 Gebt allen das Geschuldete: die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre [zusteht].

Es muss für den Christen eine Selbstverständlichkeit sein, die geforder­ ten »Steuern« pünktlich und ehrlich zu zahlen. Er wird es sogar willig tun, wenn er bedenkt, wozu er es tut: Die die Steuern einziehen, »sind Gottes Beamte«, handeln also in dessen Auftrag. Und zwar ziehen sie Steuern ein, weil diese benötigt werden, damit die Regierung ihre Auf­ gaben wahrnehmen kann, nämlich das Böse einzudämmen sowie das Gute zu schützen und zu fördern. Sie sind als Gottes Beamte »eben darauf beständig bedacht«. Damit tun sie, worauf Gott selbst bedacht ist; in seiner Menschenliebe hält er das Böse zurück und stärkt das Gute. Wenn wir also Steuern zahlen, finden wir uns in Einklang mit Gottes Absichten. Ihm und seinen Absichten fügen wir uns, und darum geben wir »allen das Geschuldete«. Wir schulden dem Staat die Steuer und den Zoll, weil die zuständigen Beamten Gottes Beamte sind, und ganz allgemein schulden wir »Furcht, dem die Furcht« und »die Ehre, dem die Ehre [zusteht]«. Da der Herr selbst gelehrt hat, dass wir nicht Menschen, sondern allein Gott fürchten sollen (Mt 10,26.28), meint Paulus mit »Furcht« hier wohl die Gottesfurcht307 Man könnte zwar auf Eph 6,5 und 1Petr 2,18 verweisen, wo die Knechte aufgefordert werden, sich den Herren unterzuordnen »mit Furcht und Zittern« und »in aller Furcht«. Aber auch hier scheint es mir besser, die Furcht auf Gott zu beziehen. Der christliche Knecht oder Sklave ordnet sich unter, weil er Gott fürchtet und Gott gehorcht. Er tut es nicht als ein Menschengefälliger (Eph 6,6). Man könnte zwar auf Eph 6,5 und 1Petr 2,18 verweisen, wo die Knechte aufgefordert werden, sich denHerren unterzuordnen »mit Furcht und Zittern« und »in aller Furcht«. Aber auch hier scheint es mirbesser, die Furcht auf Gott zu beziehen. Der christliche Knecht oder Sklave ordnet sich unter, weil erGott fürchtet und Gott gehorcht. Er tut es nicht als ein Menschengefälliger (Eph 6,6).. »Die Ehre« schulden wir den Menschen (siehe Röm 12,10): den Eltern (Eph 6,2), den Vorgesetzten (1Tim 6,1), be sonders den Regenten. Petrus schreibt ganz entsprechend: »Erweist allen Ehre; liebt die Brüderschaft; fürchtet Gott; ehrt den König« (1Petr 2,17). Paulus hat bis jetzt gezeigt, wie weit wir der Obrigkeit gehorchen müs­ sen. Er nennt hier keine Grenzen, doch sind solche im Neuen Testa­ ment deutlich markiert. Der Christ darf es nie hinnehmen, dass irgend­ eine Sache sein Verhältnis zu Gott antastet. Befiehlt der Staat etwas, was Gott verboten hat, oder verbietet der Staat etwas, was Gott be fohlen hat, muss der Christ gleich den Aposteln antworten, als ihnen verboten wurde, den Namen Jesu und dessen Heil zu verkündigen: »Ob es vor Gott recht ist, auf euch mehr zu hören, als auf Gott, urteilt ihr; denn es ist uns un möglich, von dem, was wir gesehen und gehört haben, nicht zu reden.« »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 4,19­20; 5,29).308 »Des Gewissens wegen« ist der Christ untertan (V. 5), aber gerade des Gewissens wegen können ihm Nöte erwachsen, wenn er Steuern zahlt und dabei eine Obrigkeit unterstützt, die teils Böses fördert oder gar fordert und Gutes hindert oder gar verbietet. Die Obrigkeit hat in fast allen westlichen Industrienationen das Töten von ungeborenen Kindern zu einem Recht erklärt. Sie bestraft damit das Böse nicht mehr, sondern belohnt es mit rechtlichem Schutz und Finanzierung durch die Krankenkassen. Und medizinische Fachkräfte werden bestraft, wenn sie sich weigern, Kinder abzutreiben, indem man sie etwa entlässt. Soll der Christ das mit seinen Steuern mittragen? Der Christ trägt mit seinen Steuern auch bei zu einem Erziehungssystem, das die Wahrheit systematisch unterdrückt und die Lüge mit allen Mitteln fördert. An staatlichen Schulen, deren Betrieb mit den Steuergeldern finanziert wird, darf beispielsweise nicht gelehrt werden, dass Gott Himmel und Erde und alles, was in ihnen ist, erschaffen hat. Es dürfen nur Lehrer eingestellt werden, welche die Theorie von der Selbstentstehung des Lebens und der Entwicklung der Lebensformen vermitteln, und es dürfen nur entsprechende Lehrmittel verwendet werden.

2. Der Christ ist von Liebe getrieben (13,8­-10)

Wenn Leib und Leben Gott wirklich hingegeben sind (12,1), gehorchen wir ihm, und das bedeutet, dass wir der Obrigkeit und damit dem Gemeinwesen das geben, was wir ihm schulden. Als ersten Ansporn zum Gehorsam nennt Paulus die Furcht vor der Strafe (V. 2 und 4), und dann nennt er als einen nächsten und höheren Antrieb das Gewissen (V. 5). Hier nun nennt er den höchsten Beweggrund, sich den Ordnungen Got­tes zu fügen, die Liebe: Wir sind schuldig, den Nächsten zu lieben. In 12,9­-10 hatte der Apostel uns zur Bruderliebe aufgerufen, hier weitet er den Kreis: Wir sollen alle Menschen lieben. Darum gehorchen wir der Obrigkeit, denn damit zeigen wir, dass wir die Menschen lieben. In den Kapiteln 14 und 15 wird er wieder von der Bruderliebe sprechen: Das Zusammen leben der Gläubigen muss von Liebe regiert sein (14,15). Sind wir tatsächlich gerechtfertigt und mit Christus einsgemacht, werden wir als Christen sowohl in der Gemeinde als auch im Staat nach dem obers­ten Gebot leben.

8 Seid niemand etwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.

Das Leben der Nächstenliebe demonstriert, dass der Glaube den Men­schen nicht zum Eigenbrötler macht, der nur an sein persönliches Seelen­ heil denkt. Es verändert vielmehr sein ganzes Sinnen und Trachten (siehe 12,2), sodass er für seine Mitmenschen zum Nutzen und Segen wird.

Wir sollen »niemand etwas schuldig« sein, d. h. im vorliegenden Zusammenhang, dass wir der Obrigkeit den Gehorsam nicht schuldig bleiben und ihr die Steuern nicht vorenthalten dürfen. Wir schulden dem Nächsten Achtung und Ehre (V. 7), und das heißt auch, dass wir etwa geschuldetes Geld zurückbezahlen. Mit solchen Forderungen werden wir verhältnismäßig leicht fertig. Doch in der Pflicht, »einander zu lieben«, bleiben wir immer Schuldner. Ist das uns klar? Haben wir das erkannt, werden wir täglich Gott darum bitten, uns unsere Schuld zu vergeben, und wir werden gerne unseren Schuldigern vergeben (Mt 6,12). Wer hin­ gegen nicht erkannt hat, dass er gegenüber seinen Mitmenschen immer in deren Liebesschuld steht, hält sich beständig mit dem Gedanken auf, was die anderen ihm an Liebe schulden, und damit verstößt er gerade gegen das Gebot, dessen Befolgung er von anderen einfordert.

Paulus fährt fort und sagt: »… wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt«. Die Forderungen der Liebe können wir nie erfüllen, also können wir auch das Gesetz nicht erfüllen. Nun aber ist Christus Ziel und Ende des Gesetzes; er hat es mit seinem Leben und Sterben erfüllt, sodass jeder, der an ihn glaubt, damit das Gesetz erfüllt hat (siehe 3,31). Der Christ ist »im Geist«, er wandelt »im Geist«, und der Geist ist in ihm (Röm 8,4.9). Der Geist lässt die Frucht des Geistes wachsen, Liebe (Gal 5,22). Die Worte des Apostels sollten wir also nicht so deuten, dass Gott mit dem Evangelium uns das Vermögen gegeben hat, das Gesetz zu erfüllen, und dass wir auf diesem Weg das Wohlgefallen Gottes erlangen. Wir müssen zusehen, dass nicht durch die Hintertür das Gesetz wieder hereinkommt und wir nicht mehr unter Gnade, sondern wieder unter Gesetz sind (siehe Röm 6,14; 1Kor 9,20; Gal 5,4). Das Wohlgefallen Gottes ruht nicht auf denen, die das Gesetz erfüllen oder zu erfüllen suchen, sondern auf seinem Sohn. Der Glaube an das Evangelium nimmt uns die Schuld der Sünde, versöhnt uns mit Gott und verbindet uns mit dem Sohn (Röm 6,1­11). Weil er lebt, leben wir (Joh 14,19); sein Leben ist unser Leben (Kol 3,4). Da wir durch den Glauben »das Übermaß der Gnade und [die] Gabe der Gerechtigkeit« empfangen haben, herrschen wir in diesem Leben durch ihn (Röm 5,17). Dieses Leben ist ein Leben der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Nur wer an Christus glaubt, bestätigt (3,31) und erfüllt das Gesetz, d. h., er findet alles in Christus und in dem, was Christus getan hat, nie in sich selbst und nie durch sein eigenes gutes Wollen oder Wirken.

9 Denn das [Gebot]: »Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren«, und wenn es ein anderes Gebot [gibt], ist in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.

Paulus hatte gesagt, dass derjenige, der liebt, das Gesetz erfüllt (siehe auch Gal 5,14). Das begründet er nun. Wer den anderen liebt, wird nicht ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, nicht begehren, was nicht sein ist. Warum nicht? Er liebt ihn, und »die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses«. Auf diese Weise ist »die Liebe die Erfüllung des Gesetzes«. Der Herr Jesus hatte gelehrt, dass an der Liebe zu Gott und zum Nächsten das ganze Gesetz und die Propheten hängen (Mt 22,36­40). Das Gesetz fordert diese Liebe, die Propheten kündigten den an, der diese Forderung erfüllte. In Christus ist diese Liebe in all ihrer Fülle erschienen (siehe Tit 3,4). So ist also mit und in Christus die »Erfüllung des Gesetzes« gekommen. Das Wort, das Paulus hier für »Erfüllung« verwendet, πληρωμα, plērōma, steht auch in Joh 1,16. In Christus ist eben alle Fülle und alle Erfüllung; und aus ihm empfangen wir »Gnade um Gnade«, nicht die Kraft, selber zu erfüllen. Das Wort hat Paulus bereits in Röm 11,12 und 11,25 verwendet. Die »Fülle« oder »Vollzahl« steht auch dort für ein Ganzes, nicht für einen Prozess des Erfüllens. Also geht es auch im vor liegenden Vers nicht darum, dass wir durch unser Streben in einem lebenslangen Prozess das Soll mehr und mehr auffüllen, bis es erfüllt ist. Wir würden dieses Vollmaß nie erreichen, auch nicht mit der Hilfe des Heiligen Geistes. Nur in Gott selbst kann diese Fülle sein. Sie kam zu uns, als Christus Mensch wurde, und sie kommt jetzt zu uns im Heiligen Geist, durch den Gott die ganze Liebe Gottes ausgegossen hat in unsere Herzen (Röm 5,5). Die Liebe, die das Gesetz erfüllt, kann daher in und an uns nie anders erscheinen denn als Frucht, die der Geist wachsen lässt (Gal 5,22).

»Man muss … darauf achten, dass das Gesetz bei Paulus überhaupt nicht die Rolle eines positiven Ideals spielt, das vom Menschen verwirklicht werden soll. Der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus das Gesetz nicht zu erfüllen vermag, dass aber der Christ durch die Unterstützung des Geistes die Fähigkeit erhält, es zu verwirklichen, ist ein für Paulus völlig fremder Gedanke … Nicht dadurch, dass wir neue Kräfte erhalten hätten, mit deren Hilfe wir nun die verschiedenen Vorschriften des Gesetzes befolgten, ist das δικαιωμα (dikaiōma) des Gesetzes erfüllt309 Siehe Röm 8,4., sondern dadurch, dass Gottes Gerechtigkeit geoffenbart wurde. An Christus [zu] glauben, ist völlige und ganze Gerechtigkeit. Deshalb ist Christus das Ende τελος (telos) des Gesetzes zur Gerechtigkeit für einen jeden, der glaubt (Kap. 10,4). In ganz demselben Sinn kann nun hier gesagt werden, dass die Liebe die Erfüllung des Gesetzes ist. Zwischen diesen beiden Aussagen besteht keine Spannung, sondern sie sind im Gegen- teil Ausdruck für ein und dasselbe. Wo Christus ist, da ist Gerechtigkeit, da gibt es keinen Platz für Ungerechtigkeit, gegen die sich das Gesetz wendet. Ebenso ist es mit der Liebe. Das Gesetz wendet sich gegen die ver schiedenen Äußerungen der Sünde und sagt: ›Du sollst nicht ehebrechen …‹ usw. Wo aber die Liebe ist, da geschieht nichts, was das Gesetz ver bietet. Da hat das Gesetz nichts mehr, wogegen es sich wenden müsste. Da gibt es allerdings nicht ›die Werke des Gesetzes‹, da gibt es keine Gesetzesgerechtigkeit, aber da gibt es die Frucht des Geistes. ›Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Glaube, Sanftmut, Keuschheit‹, so heißt es [in] Gal 5,22f. Und der Apostel fügt hinzu: ›Wider solche ist das Gesetz nicht.‹ Man achte auf die negative Formulierung. Das Gesetz ist wider die Sünde, aber es ist nicht wider das Leben ›in Christus‹ und ›in der Liebe‹. ›In Christus‹ leben und ›in der Liebe‹ wandeln ist etwas ganz anderes als unter dem Gesetz leben und sich darum bemühen, alle seine Forderungen zu er füllen – und doch wird das Gesetz erfüllt. Deshalb kann man gleich zeitig sagen, dass der Christ frei vom Gesetz ist und dass das Gesetz erfüllt ist bei ihm. Nicht durch ›Gesetzeserfüllung‹ ist das Gesetz erfüllt, sondern durch das Leben ›in Christus‹ und das Leben ›in der Liebe‹. In diesem Sinne, aber nur in diesem, ist ›die Liebe des Gesetzes Erfüllung‹.«310 Anders Nygren, Der Römerbrief, S. 308­-309.

3. Der Christ lebt im Licht der Wiederkunft des Herrn (13,11­-14)

Mit den Versen 8­-10 hat Paulus seine Erörterungen der Pflichten des Christen gegenüber dem Gemeinwesen zum Abschluss gebracht. Er hatte dort als obersten Beweggrund, sich aller menschlichen Ordnung zu fügen, die Liebe genannt. Nun lenkt er unsere Augen auf das Ziel des Weges,311 Paulus verweist im Römerbrief immer wieder auf das Ende: 2,5.16; 5,2; 8,17.18.23.30; 9,23; 11,25; 14,10.11. den wir durch diese Welt gehen, und damit haben wir einen weiteren Grund, Gott in allem zu gehorchen: Der Tag, an dem unsere Errettung vollendet wird, kommt näher. Er wird kommen, um uns in das Vaterhaus einzuführen (Joh 14,3). Danach wird er erscheinen mit seinem Reich, dem »Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus«, das alle Rei­che zerschlagen und die ganze Welt erfüllen wird (Offb 11,15; Dan 2,44). Dieses Wissen stellt die Aufforderungen der Kapitel 12 und 13 ins rechte Licht. Ich soll den Geschwistern dienen (12,3­-21), und ich soll der Obrigkeit und den Mitmenschen geben, was ich ihnen schulde (13,1­7), solange diese Welt besteht. Dabei soll ich auch wissen, dass die gegen wärtige Ordnung nicht ewig bleibt. Ich gehe auf den Tag der Ewigkeit zu. Im Licht jenes Tages werde ich als Christ meine täglichen Geschäfte tun. Dabei warte ich nicht passiv auf bessere Zeiten, sondern lebe offensiv für die Ausbreitung des Reiches Gottes. Zu diesem Werk taugen nur »die Waffen des Lichts« (V. 12). Ich vertraue auch nicht auf meine Gerechtig­keit im Kampf gegen die Sünde, die mich leicht um stricken kann (siehe Hebr 12,1), und den Unglauben, der mich umgibt, sondern ich ziehe »den Herrn Jesus Christus« an (V. 14).

»Die Motivation für das vorbildliche Leben des Christen im gesellschaftlichen Miteinander kommt außer … dem besonderen Motiv der Liebe (V. 8-10) auch noch aus der ihm geschenkten Hoffnung: … Auch hier begründet die nahe Erwartung des Endes (V. 11) den Appell, von allen finsteren Dingen Abstand zu nehmen (V. 12b). Was das für Dinge sind, dafür hat V. 13 einige dunkle Beispiele. Statt dem Bösen sollen wir uns den Dingen des Lichtes zuwenden, sie anziehen wie frische Kleidung. Die Tracht … ist Jesus Christus selbst (V. 14a). Er soll unser Leben ganz bestimmen. Das alte, die bösen Begierden hervorbringende Eigenleben hat keine Berechtigung mehr (V. 14b).«312 Horst Stute, Der Römerbrief entschlüsselt, S. 197.

11 Und dies [tut], da ihr wisst um die Zeit. Die Stunde ist schon [da], aus dem Schlaf zu erwachen; denn jetzt ist unsere Errettung näher, als da wir gläubig wurden.

»Denn jetzt ist die Seligkeit uns näher, denn da wir gläubig wurden. Diese Seligkeit, wovon in Kapitel 5 – 8 gehandelt worden, findet ihre Vollendung in der Zukunft des Herrn; sie ist das Ziel der Hoffnung, 8,24 … Aus der in Kapitel 5 – 8 enthaltenen ganzen Abhandlung wird diese Ermahnung hergeleitet, und diese ist desto kürzer, weil jene sehr ausführlich war.«313 J. A. Bengel, Gnomon, Bd. 2, S. 112.

Wie der Herr sprechen auch die Apostel immer wieder von der »glückseligen Hoffnung«, der Wiederkunft Christi (Tit 2,13), um uns damit zum Wachen und zu einem Leben der Heiligung anzuspornen (Mt 24,42.44; 1Petr 4,7; Tit 2,12; 1Jo 3,3). Wie der Herr verweist auch Paulus auf die Tat­ sache, dass Christen einschlafen können (Mt 25,5; Eph 5,14). Der Christ weiß, dass der Herr jederzeit wiederkommen kann. Darum soll er aus dem Schlaf aufwachen (Eph 5,14) und alles ablegen, was ihn einschlafen ließ, um stattdessen zu den Waffen zu greifen und die ihm noch verbleibende Zeit für den Herrn und seine Sache zu leben und zu kämpfen.

»Alle Ermahnung ist nicht dazu gegeben, um sich in dieser Welt einzurichten, sondern um bereit zu sein für den Tag Jesu Christi.«314 Heiko Krimmer, Römerbrief, S. 341.

Mit dem einleitenden »Und dies [tut]« verweist der Apostel auf alles, was er über die Pflichten des Christen gesagt hat. Der Christ soll unter den Geschwistern und den Mitmenschen entsprechend wandeln, weil er »um die Zeit« weiß. Er ist unterwiesen worden, dass die Welt und ihre Lust vergeht (1Jo 2,17) und dass die Gestalt dieser Welt vergeht (1Kor 7,31). Er weiß, dass »die Zeit«, der kairos, der Moment kommen wird, an dem Christus uns zu sich ruft (1Thes 4,16-­17), um danach mit seinem Reich in diese Welt einzubrechen. Ist dieses Wissen da, ist auch »die Stunde schon [da], aus dem Schlaf zu erwachen«. Der Christ darf nicht schlafen wie die Ungläubigen (1Thes 5,6), die nichts wissen wollen von einem kommenden Reich, das die Reiche der Welt zerschlagen wird. Er darf nicht unter den Toten liegen, als wäre er selbst einer. Er muss aufwachen und sich von Christus erleuchten lassen (Eph 5,14); »denn jetzt ist unsere Errettung näher …«, nämlich die zukünftige Errettung (Hebr 9,28; 1Petr 1,5), die Erlösung des Leibes (Röm 8,23), »… näher, als da wir gläubig wurden«. Als wir zum Glauben kamen, wurde unsere Seele gerettet (1Petr 1,9); wenn der Herr kommt, wird unser Leib gerettet (1Kor 15,51­52; Phil 3,20­21). Mit jedem Tag, der vergeht, ist jener Tag näher gerückt.

12 Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe gekommen. Also lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anziehen.

Als Jesus, der Sohn Gottes, unter uns Menschen lebte, war er das Licht der Welt (Joh 8 12,; 17,14). Seit er wieder zurückgekehrt ist zu seinem Gott und Vater, ist in der Welt Nacht, und der Teufel, ihr Fürst (Joh 12,31), hält die Welt noch gefangen in Dunkel und Verblendung (2Kor 4,4). Aber »die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe gekommen«, der Tag der Wiederkunft des Herrn. Die Sonne der Gerechtigkeit wird aufgehen (Mal 3,20) und die Nacht vertreiben. Obwohl jener Tag noch nicht an­­gebrochen ist, ist doch der Morgenstern schon in unseren Herzen auf­ gegangen (2Petr 1,19).315 »Der Morgenstern ist Christus selbst (Offb 22,16). Er ist wie ein heller Stern in dunkler Nacht, der dem Wanderer Orientierung gibt. Christus leuchtet den Glaubenden bereits als Morgenstern, bevor er, für alle sichtbar, als Sonne der Gerechtigkeit aufgeht. Ein Stern leuchtete den Menschen, als der Herr das erste Mal in diese Welt kam (4Mo 24,17; Mt 2,2); ein aufgehender Stern wird sein Zweites Kommen vorher ankündigen. Wenn er aufgeht, weiß man, dass der Tag bald erscheint. Er geht auf ›in euren Herzen‹: Die Erwartung seiner Wiederkunft beginnt unsere Herzen zu regieren. Der Welt ist aber verborgen, was in unseren Herzen ist; sie kann weder den Herrn Christus sehen noch sein baldiges Kommen erwarten. In Joh 14,19 sagte der Herr den Jüngern: ›Noch eine kleine Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich.‹ Die Jünger sehen den Herrn, weil er ihnen den Heiligen Geist gegeben hat; die Welt kann den Herrn deshalb nicht sehen, weil sie den Heiligen Geist, ›den Geist der Wahrheit, ... nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht noch ihn kennt‹ (Joh 14,17). Das bedeutet aber, dass jeder Christ den Herrn als den Morgenstern sehen sollte« (B. Peters, Der zweite Brief des Petrus. Der Brief des Judas, Bielefeld: CLV, 2013, S. 48. Wir warten auf den Herrn, der aus dem Himmel herniedersteigen und uns zu sich entrücken wird (1Thes 4,16-17). Aber wir leben auch im Licht jenes kommenden Tages, an dem Christus offen­ bart wird und wir mit ihm (Kol 3,4). Wir sind Söhne des Lichts, und weil wir das sind, wollen wir auch wandeln »als Kinder des Lichts« (Eph 5,8). Und wir sind Söhne des Tages, wir sind nicht von der Nacht, und darum schlafen wir nicht wie die Übrigen, sondern wachen (1Thes 5,5-6).

Da wir »Söhne des Tages« sind und »nicht von der Nacht noch von der Finsternis«, legen wir »die Werke der Finsternis« ab, alle Werke des Fleisches (Gal 5,19-21) wie »Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung, schändliches Reden« (Kol 3,8). Wir dürfen uns jedoch nicht damit begnügen, die Werke der Finsternis abzulegen; wir müssen gleichzeitig »die Waffen des Lichts« anziehen. In 6,13 fordert der Apostel, dass wir unsere Glieder Gott hingeben müssen zu »Waffen [der] Gerechtigkeit«; durch den Gebrauch derselben erweisen wir uns als Gottes Diener (2Kor 6,4.7). An anderer Stelle spricht er vom »Brustharnisch des Glaubens und der Liebe« (1Thes 5,8) und von der »Waffenrüstung Gottes« (Eph 6,13). Pau­lus spricht hier von Waffen und Rüstungen, weil der Christ damit, dass er mit Gott versöhnt worden ist und Frieden mit Gott hat, den Fürsten der Welt zum Feind bekommen hat. Zwischen dem Teufel und den Kindern Gottes herrscht Krieg. Gott hat Feindschaft gesetzt zwischen dem Samen der Frau und dem Samen der Schlange (1Mo 3,15). Die Welt hasst alle, die der Sohn Gottes aus der Welt erwählt hat (Joh 15,19; 17,14).

13 Lasst uns anständig wandeln wie am Tag; nicht in Schwelgereien und Trinkgelagen, nicht in Beischläfereien und Ausschweifungen, nicht in Streit und Neid;

14 sondern zieht den Herrn Jesus Christus an, und trefft nicht Vorsorge für die Lüste des Fleisches.

Da wir »Söhne des Lichts und Söhne des Tages« sind (1Thes 5,5), wol­len wir »anständig wandeln wie am Tag«, das heißt im Licht mit einander (1Jo 1,7). Weil wir die Zeit recht beurteilen, sind wir nicht trunken wie die Kinder der Nacht (1Thes 5,7), sondern sind nüchtern (1Thes 5,6.8); wir wachen und beten (Lk 21,34­36; 1Petr 4,7). Wir befleißigen uns, »ohne Flecken und untadelig vor ihm befunden zu werden« (2Petr 3,14). Weil wir wissen, dass wir den Herrn sehen werden, wie er ist, und damit ihm gleich sein werden, reinigen wir uns selbst, so wie der Herr rein ist (1Jo 3,2­3). Statt »in Beischläfereien 316 »Beischläfereien«, koitai, Einzahl koitē, Bett (Lk 11,7), eigentlich »das Schlafen« von koimaomai, schlafen. In Hebr 13,4 steht es für den ehelichen Beischlaf. Die Wendung koitēn echein, wörtlich »Beischlaf haben«, in Röm 9,10 bedeutet so viel wie »schwanger sein«. und Ausschweifungen« zu leben, wollen wir uns »reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes, indem wir die Heiligung vollenden in der Furcht Gottes« (2Kor 7,1). Und statt uns in »Schwelgereien und Trinkgelagen« zu ergehen, wollen wir mit dem Heiligen Geist erfüllt sein (Eph 5,18). Als Kinder des Tages mei­ den wir »Streit und Neid«, denn diese etwas feineren Sünden sind nicht we niger sündig als die groben Formen der Ausschweifung. Darum treffen wir nicht »Vorsorge für die Lüste des Fleisches«. Das Fleisch steht hier für den ganzen Menschen, wie er ist, wenn er nicht in Christus ist und der Geist ihn nicht erneuert hat. Ein solcher Mensch kann nichts anderes tun, als seine Ehre, seinen Nutzen, seinen Vorteil und seinen Genuss zu suchen. Das alles wollen wir nicht mehr suchen; denn wer das tut, wird un tüchtig zum Frieden. Wir wollen vielmehr, soviel an uns ist, »Frieden mit allen Menschen« haben (12,18) und besonders als Glaubens geschwister unter­ einander in Frieden sein (Mk 9,50; Eph 4,3; 2Petr 3,14). Daher legen wir »den alten Menschen, der nach den betrügerischen Lüsten verdorben wird« (Eph 4,22), ab, und wir ziehen »den Herrn Jesus Christus an«, und mit ihm »den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit« (Eph 4,24), »der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn erschaffen hat« (Kol 3,10).

In Kapitel 6 erfuhren wir, dass wir mit Christus der Sünde ge storben sind (V. 2.3), dass der alte Mensch mit ihm gekreuzigt wurde (V. 6) und dass wir mit Christus auferweckt worden sind zu einem neuen Leben (V. 8). Wir müssen uns indes auch dafür halten, dass wir der Sünde gestorben und dass wir in Christus lebend sind (V. 11). Sich dafür hal­ ten ist das Gleiche wie den alten Menschen ablegen und Christus und mit ihm den neuen Menschen anziehen.

Anmerkungen zu Kapitel 13

V. 4 – »Gott hat das Schwert dem Parlament in die Hand gegeben, zum Schrecken der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun. Wenn jemand dafür plädiert, davon ausgenommen zu sein, dann versteht er das Evan­ gelium nicht. Sollte jemand versuchen, es euren Händen zu entreißen oder unter irgendeinem Vorwand es euch zu stehlen, dann hoffe ich, dass es nicht gelingen möchte. Dass Gott es in euren Händen erhalten möchte und dass er beim Gebrauch desselben eure Hände lenke, das ist das Gebet eures ergebenen Dieners, Oliver Cromwell« (Oliver Cromwell nach dem entscheidenden Sieg der Parlamentsarmee vor Bristol am 14. Septem­ ber 1645 an das Parlament in London; zitiert in: Thomas Carlyle, The Letters and Speeches of Oliver Cromwell, i. 248).

»[Cromwell] unterscheidet mit großer Präzision zwischen geistlichen und zeitlichen Belangen. Nach seiner Auffassung soll Liebe im einen und das Schwert im anderen regieren. Voller Liebe zu den Brüdern lehnt er jede Fessel ab, die man der Ausübung der Religion auferlegen will. Und indem er einerseits die großen Prinzipien der Gewissensfreiheit prokla­ miert, wie furchterregend erscheint er mit dem Schwert in der Hand!« (Jean­Henri Merle d’Aubigné, The Protector. A Vindication, S. 57).

V. 8 – »Das Gesetz hatte unablässig gefordert, doch nie etwas erreicht … Die Gnade, die Christus enthüllt, zeigt uns nicht nur dessen Voll­ kommenheit und Fülle, sondern formt auch das Herz entsprechend. Die Gebote, die den Nächsten betreffen, sind zusammengefasst in der Liebe zum Nächsten, und entsprechend auch die Gebote, die Gott betreffen. Was das Gesetz nicht vermochte, da es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen Sohn in Gleichgestalt des sündigen Fleisches sandte und die Sünde im Fleisch verurteilte, damit das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln (Röm 8,3­4)« (William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 252).

V. 10 – »Man beachte wohl: Es ist die Liebe, nicht das Tun des Ge setzes, welches die Erfüllung des Gesetzes ist! Wer liebt, hat (ohne, dass er unter ihm ist) demonstriert, was das Gesetz forderte. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Und siehe, Liebe tut, aus einem an deren Prinzip heraus, nämlich aus Liebe und Gnade, dem Nächsten nichts Böses. Liebe ist mithin die Fülle (nicht ›das Erfüllen‹) des Gesetzes« (William Newell, Romans Verse by Verse, S. 490).

»Wenn Paulus von der Erfüllung des Gesetzes spricht, denkt er nicht an die jüdische Knechtschaft unter dem Gesetz. Er hat mit allem Nachdruck die Freiheit vom Gesetz dargelegt, und dabei bleibt er … Es ist nicht so, dass der Mensch durch den Glauben an Christus die Kraft bekommt, ein vollkommenes Leben zu leben, sodass er durch den Glauben das Gesetz erfüllt. Wenn Christus und die Liebe den Christen lenkt, führt das nicht zu Werken des Gesetzes, sondern zur Frucht des Geistes; Gal 5,22­23. In Christus leben und in der Liebe wandeln ist etwas ganz anderes, als unter dem Gesetz zu leben und zu versuchen, dessen Erfordernissen zu ge nügen« (Erik Bernspång, Romarbrevet, S. 340).

V. 12 – »Während der Nacht dieses finsteren Zeitalters, in dem der Teufel noch immer herrscht, und ehe der Tag, das herrliche kommende Zeitalter, kommt, sollen alle Christen in der Rüstung des Lichts eingekleidet sein. Gewiss nicht, weil man an jenem Tag noch kämpfen müsste, denn wenn der kommt, wird aller Kampf ausgefochten sein. Wir sollen den guten Kampf des Glaubens kämpfen während der Nacht; die Waffen des Lichts sollen ›die Werke der Finsternis‹ zurückschlagen. Wir sollen nicht nur in glänzender Rüstung dastehen, sondern kämpfen, bis der Herr kommt« (R. C. H. Lenski, Interpretation of Romans, S. 805).

Kapitel 14

Nachdem Paulus in diesem Brief mehr allgemeingültige Wahrheiten behandelt hat, wendet er sich in diesem und im nächsten Kapitel einem besonderen praktischen Problem zu. Es geht um die christliche Frei­ heit. Paulus wusste, dass Juden und Heiden in der Gemeinde in Rom zusammenlebten, und er wusste auch aus Erfahrung, dass zwischen die­ sen gewöhnlich die Spannungen auftraten, von denen er in diesem Kapi­ tel spricht. Es kann natürlich auch sein, dass befreundete Gemeinde­ glieder – vielleicht Aquila und Priszilla (16,3) – ihn davon unterrichtet hatten, dass man sich uneins war wegen verschiedener Auffassungen über Speisen und heilig zu haltende Tage. Mit seinen dazugehörigen Anweisungen schließt der Apostel den Teil 5 des Briefes (Kapitel 12,1 bis 15,13) ab, der uns zeigt, welche Auswirkungen die Lehre von der Recht­ fertigung durch den Glauben auf das tägliche Glaubensleben haben muss. Der Streit um Dinge, die dem Christen erlaubt oder nicht erlaubt seien, scheint als zweitrangiges Thema schlecht zu passen zu diesem Brief, der von den Grundlagen der christlichen Existenz handeln. Aber manchmal muss »ein zweitrangiges Thema … zu einem Hauptthema gemacht werden, damit es zweitrangig bleibt«317 H. Stute, Der Römerbrief entschlüsselt, S. 201.. Und gerade diese untergeordnete Frage greift der Apostel hier auf und macht sie zum Testfall, an dem die Geschwister in der örtlichen Gemeinde demonstrieren können, ob sie die grundlegenderen Anweisungen von 12,3­8 und 12,9­21 verstanden und beherzigt haben. Es haben nicht alle das gleiche Maß der Erkenntnis und damit des Glaubens, und doch hängen alle als Glieder des einen Leibes aneinander. Ihr Liebe muss ungeheuchelt werden (12,9), sie müssen es lernen, einander in Ehrerbietung voranzugehen (12,10). Dass ein Christ den anderen richtet oder verachtet, ist eine glatte Verleugnung von allem, was Paulus gelehrt hat. Das Leben der Hingabe an Gott ist ein Leben der Bruderliebe. Spannungen in der Gemeinde werden zum Prüfstein der Bruderliebe. Omnia vincit amor (»Die Liebe überwindet alles« [was das Zusammenleben der Christen gefährden kann]), denn sie drängt »[den] Starken« (15,1), »den Schwachen im Glauben« anzunehmen (14,1) und Rücksicht zu nehmen auf dessen Bedenken (14,14­15.21). Und die Liebe lehrt den Schwachen, den Starken nicht zu richten (V. 4.10). Von einem Vater in Christus, wie es der Apostel war, hätten wir im vorliegenden Fall wohl eindeutige Auskunft erwartet. Man will wissen, ob man etwa unbedenklich alles essen und auch Wein trinken dürfe. Aber Paulus gibt keine Direktiven über das Erlaubte oder nicht Erlaubte. Viel­ mehr drängt er beide Seiten zur Selbstverleugnung: Keiner soll seine per­ sönliche Befriedigung darin suchen, dass er den anderen richtet oder ver achtet. Er muss diesem sehr natürlichen, aber sündigen Drang absagen. Und den Starken legt er mehr auf als den Schwachen (sie sind ja schließlich stark): Sie müssen bereit sein, sich der Dinge zu enthalten, die dem Schwachen zum Fallstrick werden können, obwohl sie erlaubt wären. Hätte Paulus nun entweder verfügt, man müsse sich gewisser Speisen enthalten, oder man müsse alle Speisen für frei halten, hätte er eines der beiden Lager in Gewissensnot gedrängt. Zudem hätte er ein Gesetz aufgestellt, und das wäre ein Widerspruch zum Evangelium gewesen. Das Reich Gottes besteht nicht im Einhalten von Geboten, welche das äußerliche Wohlverhalten regieren, sondern in Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist (V. 17).

Ehemalige Juden, die sich noch ein Gewissen machten über Spei­ segebote und das Halten von besonderen Tagen, waren zusammen mit ehemaligen Heiden Christen geworden, und beide lebten und dienten in einer Gemeinde. Das brachte selbstverständlich Schwierigkeiten mit sich. Das ist nur normal; das Wunder der rechtfertigenden Gnade und Macht Gottes zeigt sich aber dort, wo so verschiedene Menschen in Frie­ den (V. 19) und Einmütigkeit (15,6) zusammenleben können.

1. Einander annehmen statt richten oder verachten (14,1­-12)

Paulus beginnt mit der Aufforderung, den Schwachen anzunehmen (V. 1), und schließt daran das doppelte Verbot an, weder zu richten noch zu verachten (V. 3), weil Gott den Bruder, den wir richten oder verachten, angenommen hat (V. 3). Wir haben kein Recht, den Knecht eines anderen zu richten, denn jeder Knecht steht und fällt seinem eigenen Herrn (V. 4), und der vermag, ihn aufrecht zu halten. Und wir sollen dem anders­ denkenden Bruder zugestehen, dass er aus besten Beweggründen han­delt (V. 5­6). Was uns zusammenhält und einsmacht, ist der Herr Jesus, der uns alle erkauft hat, und damit ist er alleiniger Herrscher über einen jeden der Gläubigen (V. 7­9). Sind wir dem ergeben, verstehen wir, dass niemand seinen Bruder verachten oder richten darf (V. 10). Dann erinnert Paulus zum zweiten Mal daran, dass Gott Richter ist, vor dem jeder für sich selbst Rechenschaft ablegen muss (V. 11-­12).

1 Den Schwachen im Glauben nehmt an, doch nicht zu Unterscheidungen über Umstrittenes.

Paulus eröffnet seine Antwort auf Fragen, welche eine Gemeinde spal­ten können, mit dem eindeutigen Befehl: »Den Schwachen im Glauben nehmt an!« Wir müssen ihn annehmen, denn Christus hat ihn an ­ genommen (15,7). Der Schwache ist also ein Christ, der weiß, dass er durch Glauben gerechtfertigt ist, sich aber ein Gewissen macht über Dinge wie erlaubte und verbotene Speisen und heilig zu haltende Tage. Das zeigt, dass sein Glaube an Christus ihn noch nicht zur Erkenntnis gebracht hat, dass für den durch Glauben Gerechtfertigten reine und unreine Speisen oder heilig zu haltende Tage keine Bedeutung mehr haben. In dieser Beziehung ist sein Glaube schwach, und entsprechend ist seine Befangenheit stark. In 1Kor 8,7 sagt Paulus von Christen, die in ähnlicher Weise befangen sind, ihr Gewissen sei schwach. Wir sollen den Schwachen annehmen, »doch nicht zu Unterscheidungen318 diakrisis, nur noch in 1Kor 12,10 und Hebr 5,14 belegt über Umstrittenes«, sondern ohne alle Vorbehalte.

»Man soll ihn aufnehmen in die Gemeinschaft, doch nicht um mit ihm über seine Bedenken zu diskutieren … Man kann ihn nicht mit Argumentieren von seinen Ansichten befreien; die würden ihn nur darin bestärken. Er muss ihnen entwachsen, und bis es so weit ist, soll er nicht kritisiert oder verurteilt, sondern geliebt werden.«319 James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 239..

»Umstrittenes«, διαλογισμος, dialogismos, wie in 1,21 (»Über legungen«), Phil 2,14 (»zweifelnde Überlegungen«), wörtlich »Hin­ und Her­ Überlegtes« (»etwas, was man hin und her überlegt«), Dinge, die man lange hin und her wälzen kann, also »Gedanken« (so in Mt 15,19; Lk 5,22) oder Dinge, über die man verschieden denkt, also »Um strittenes«. Die Starken dürfen den Schwachen nicht zur Bedingung machen, dass sie in den umstrittenen Fragen die Sicht der Starken annehmen, wenn sie auf­ genommen werden wollen. Das wäre sehr naheliegend angesichts der Tatsache, dass die Starken die korrekte Sicht vertraten, wie der Apo­ stel ausdrücklich sagt in Vers 14: »Ich weiß und bin überzeugt in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich« (siehe auch 1Kor 8,4). Was Paulus hingegen fordert, ist dies: Wir müssen es lernen, jeglichen Bru­ der an zunehmen als Christen, weil er ein Christ ist und Christus ihn an genommen hat (15,7), und wir müssen dabei von dessen Ansichten in untergeordneten Fragen absehen.

»Die Gemeinschaft der Christen untereinander soll sich nicht auf ein Untersuchen und Disputieren gründen, das zuletzt darin endigt, dass der eine zu der Meinung des anderen übergeht und sie zur Norm seines Handelns macht. Eine solche Gleichschaltung ist kein christliches Ideal. Die Aufnahme muss ohne jede Nebenabsicht geschehen.«320 Anders Nygren, Der Römerbrief, S. 314.

2 Einer hat den Glauben, um alles zu essen; der Schwache dagegen isst Gemüse.

3 Wer isst, verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen.

Es gab und gibt Menschen, die machen sich ein Gewissen wegen Spei­ sen. Das taten viele Christen, die Juden gewesen waren. Auch Heiden, die Christen geworden waren, machten sich ein Gewissen über Speisen, die den Götzenbildern geweiht worden waren (siehe 1Kor 8). Einige Chris­ ten glaubten, dass man alles essen dürfe, d. h. auch Fleisch, das den Göt­ zen geweiht worden war. Andere hatten dabei ein schlechtes Gewissen und verzichteten darum lieber auf solches Fleisch.

»Wer isst, verachte den nicht, der nicht isst.«: Wir dürfen keinen Mitchristen verachten (V. 3), exoutheneō. Das ist von outhén = oudén, nichts, abgeleitet und bedeutet wörtlich »für nichts achten« und daher »geringschätzig behandeln« (Lk 23,11). Einen Gläubigen zu verachten, hat der Herr verboten (Mt 18,10)321 In Mt 18,10 steht für »verachten« kataphronein, wörtlich: »herabdenken«, d. h. von oben herab über jemanden denken.. Und doch sündigt gerade der Starke so häufig gegen dieses Verbot. Er hat Erkenntnis, und diese bläht gerne auf (1Kor 8,1). Da er mit seiner Erkenntnis unbekümmert alles isst, was auf dem Markt ausliegt (1Kor 10,25), schüttelt er den Kopf über die Skru­ pel der Schwachen und kann es überhaupt nicht begreifen, dass jemand so ängstlich und so unfrei sein könne.

»wer nicht isst, richte den nicht …«: Das ist die Versuchung der Leute, die sich gewisser Speisen enthalten. Sie verurteilen alle, die ihre Skrupel nicht teilen, als liberal, ungeistlich, weltlich usw. »Der Schwache macht sich eben durch Kritik gerne stark.«322 H. Stute, Der Römerbrief entschlüsselt, S. 201.

4 Wer bist du, der den Knecht eines anderen richtet? Seinem eigenen Herrn steht oder fällt er. Er wird aber stehen, denn Gott ist mächtig, ihn aufrecht zu halten.

Das ist ein schneidendes Wort gegen den »Schwachen«, indem es ihm jedes Recht abspricht, irgendjemanden zu richten. Der Bruder, der frei ist, Fleisch zu essen, ist Diener des Herrn, nicht des richtenden Bruders.

»Wer bist du?«: Haben wir vergessen, wer wir sind? Diese Frage hat der Apostel bereits in 9,20 gestellt und dort daran erinnert, wer wir sind. Wir sind erstens Geschöpfe, nicht der Schöpfer, weshalb es nicht unsere Sache ist zu richten. Wir können in den Herzen der anderen nicht lesen, weshalb wir die Beweggründe ihres Tuns nicht kennen und darum auch nicht verurteilen dürfen. Zweitens sind wir Sünder und haben darum keine Ursache, uns über andere zu erheben. Drittens ist keiner der Gläu­ bigen unser Knecht, der uns Rechenschaft schuldet. Wenn wir vergessen, wer wir sind, werden wir blind für diese einfachen Tatsachen und maßen uns an, »den Knecht eines anderen« zu richten. Das ist eine erstaun­liche Anmaßung. Der Knecht, den du mit deinem Urteil zu Fall bringst, »wird … stehen«, weil er nicht dir, sondern dem Herrn »steht oder fällt«. Der Schwache meint, der Mann, der isst, was er selber nicht isst, werde gewiss straucheln und in seinem ganzen Dienst scheitern. Der Herr aber kann ihn »aufrecht … halten«. Man beachte, dass es der Herr ist, der das Tun des Starken oder Schwachen beurteilt, nicht die Gemeinde. Die hat hier nichts zu verordnen und schon gar nicht zu richten.

5 Der eine beurteilt [einen] Tag anders als den anderen, der andere aber beurteilt jeden Tag [wie den andern]. Ein jeder aber sei in seinem eigenen Sinn völlig überzeugt.

6 Wer den Tag achtet, achtet ihn für den Herrn; wer isst, isst dem Herrn, denn er danksagt Gott; und wer nicht isst, isst dem Herrn nicht, und er danksagt Gott.

Am Apostel können wir hier lernen, dass wir Geschwistern, die in Fra­ gen dieser Art anders denken als wir, von vornherein gute Beweggründe unterstellen. Was sie tun, tun sie vor dem Herrn und nicht, um sich selbst zu gefallen.

Die ehemaligen Juden hielten noch immer »[einen] Tag«, den Sab­ bat, für heilig; den ehemaligen Heiden waren alle Tage gleich. Pau­ lus drängt die ehemaligen Juden nicht, die Heiligung des Sabbats auf­ zugeben, noch verordnet er den ehemaligen Heiden, einen besonderen Tag zu heiligen323 Das Neue Testament hat nicht etwa den Sabbat der Juden auf den Sonntag als den für die Christenheiligen Tag verlegt, wie William Newell sehr richtig sagt: »Es gibt nur einen wöchentlichen Sabbat in der Bibel, und das ist der siebte Tag. Der wird wieder eingehalten werden im Land Israel während des Millenniums (Hes 46,1.3-4). Weil Christen falschen Einflüssen ausgesetzt worden sind, sei esdurch judaisierende Gläubige in den ersten Jahrhunderten oder – leider! – durch Reformatoren und Puritaner, halten die meisten Christen den ersten Tag der Woche für den ›wöchentlichen Sabbat‹«(Romans Verse by Verse, S. 505). Als Beispiel für jene Verirrung, die Newell beklagt, zitiere ich den berühmten Theologen und Ausleger, den Presbyterianer Charles Hodge: »Es ist aus dem Zusammenhang offenkundig … dass man diesen Vers nicht anwenden kann auf den christlichenSabbat« (Romans, S. 420). Man dürfe also aus Röm 14,5 nicht schließen, der Christ sei frei, ob er den»christlichen Sabbat«, d. h. den Sonntag, halten wolle oder nicht. Ein anderer Presbyterianer, RobertHaldane, hat das gleiche Verständnis: »Man muss darauf hinweisen, dass des Herrn Tag [the Lord’sday = der Sonntag; B. P.] hier nicht gemeint sei, da der Apostel von jenen Speisen und Tagen spricht,welche typisch waren für die jüdische Ordnung« (Exposition of the Epistle to the Romans, S. 597).. Er belässt einem jeden die Freiheit, nach seinem Gewissen zu handeln, indem er darauf vertraut, dass »wer den Tag achtet«, dies »für den Herrn« tut. Und der ehemalige Heide, wenn er »isst«, tut es »dem Herrn«, ebenso wie der ehemalige Jude sich enthält und das tut, weil er den Herrn ehren will. Es soll jeder so handeln, wie er »in seinem eigenen Sinn … überzeugt« ist. Paulus sagt hier »Sinn«, weil es bei beiden eine Frage der persönlichen Einsicht und des darauf beruhenden Verständnisses ist. Beide können bei ihrem Tun oder Lassen von Herzen Gott danksagen. Ob einer enger oder weiter ist in diesen Din­ gen, ist nicht so wichtig; wichtig ist, dass man Gott in allem danksagen kann (siehe 1Thes 5,18). »Ob ihr esst oder trinkt oder irgendetwas tut, alles tut zur Ehre Gottes« (1Kor 10,31).

Die Mitte, an der wir uns ausrichten: Christus, dem Herrn, leben wir alle (14,7-9)

In diesen drei Versen haben wir die einigende Mitte. Wenn wir bedenken, dass wir alle dem Herrn gehören, dass er allein Anspruch hat auf den Gehorsam und den Dienst von einem jeden – denn er ist für uns ge storben und auferstanden –, dann hören wir auf, uns über den Bruder (und die Schwester) zu erheben, indem wir ihn richten oder verachten.

7 Denn keiner von uns lebt sich selbst, und keiner stirbt sich selbst.

8 Denn sei es, dass wir leben, wir leben dem Herrn; sei es, dass wir sterben, wir sterben dem Herrn. Sei es nun, dass wir leben, sei es, dass wir sterben, wir sind des Herrn.

Nachdem die Verse 5 und 6 die in den Versen zuvor gegebenen Aus­ sagen weiter erörtert haben, knüpft V. 7 mit dem erläuternden »Denn« an die Grundaussage der Verse 1­4 an: Man verweigere keinem Bruder die Gemeinschaft, niemand richte und niemand verachte den anderen, weil wir ja nicht uns selbst leben und sterben und nicht uns selbst gehören.

»keiner von uns lebt sich selbst«: Unser Leben ist nicht Privatsache, haben wir uns doch weder selbst erschaffen noch erlöst. Da wir alles dem Herrn, unserem Retter, verdanken, »leben [wir] dem Herrn«. Das ist die Grundwahrheit, die Paulus in 12,1­2 für unser ganzes Leben als Gerecht­ fertigte formuliert hat. Dieser Regel untersteht all unser Tun und Lassen. Und leben wir dem Herrn, sterben wir auch dem Herrn, denn »die Sterbekunst ist keine andere, als die Kunst zu leben«324 J. A. Bengel, Gnomon (zu Röm 14,9)..

9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er Herr sei sowohl über Tote als über Lebendige.

Christus »ist … gestorben« »unserer Übertretungen wegen«, und er ist »wieder lebendig geworden« zu »unserer Rechtfertigung« (Röm 4,25). Ohne ihn stünden wir in unseren Übertretungen noch unter Gottes Zorn und wären noch im Tod. Er starb und auferstand und gab uns damit Gerechtigkeit und Leben, und das tat er, um fortan über uns zu herrschen. Ihm wollen wir uns unterwerfen. Der Schwache, der den Starken richtet, und der Starke, der den Schwachen verachtet – beide widersetzen sich mit ihrem Tun der Herrschaft des Herrn.

»Wer Skrupel hat, handle nicht dagegen, wer freier ist, freue sich an der Freiheit, aber ein jeder sehe zu, wie er sich verhält zur Hingabe, die dem Herrn gebührt aufgrund seines Todes und seiner Auferstehung. Die Auferstehung gibt dem Glaubenden nicht nur Leben, sondern sie regelt auch seinen Lebenswandel.« 325 James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 242.

10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder? Denn wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten.

11 Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir soll sich jedes Knie beugen, und jede Zunge soll Gott bekennen.«

12 Somit wird also ein jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

»Du aber«, du, für den Christus gestorben und auferstanden ist, damit er über dich herrsche, »was richtest du deinen Bruder?« Es ist dir, dem Enthaltsamen, nicht gestattet, den Bruder zu richten (siehe V. 3b). »[Den] Bruder« zu richten, heißt, die ganze Person zu ver urteilen und damit die Beweggründe zu dessen Handeln. Damit richten wir aber Dinge, die wir nicht kennen, und wir tun damit, was nur Gott kann. Darum hat der Herr selbst es verboten (Mt 7,1) und seine Diener ebenso (Jak 4,11). Gott wird einen jeden von uns richten. »Was verachtest du deinen Bruder?«: Wer isst, darf den enthalt­ samen Bruder nicht verachten (siehe V. 3a). Wer den Bruder richtet oder verachtet, hat vergessen, wer Richter ist, hat vergessen, dass »wir … alle vor den Richterstuhl Gottes treten« müssen (siehe auch 2Kor 5,10), denn so »steht geschrieben:So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir soll sich jedes Knie beugen, und jede Zunge soll Gott bekennen.‹« Christus wird einen jeden von uns beurteilen; er wird uns nicht danach beurteilen, was wir an den anderen zu Recht oder zu Unrecht verurteilt haben, sondern danach, ob wir gemäß den in den Versen 7­9 gelehrten Wahrheiten gelebt haben. Wer von uns wagt zu behaupten, er habe immer und in allem nur Christus gelebt? Wir sind alle schuldig geworden; nie­ mand von uns hat ihm so gedient und ist ihm so ergeben gewesen, wie er es ihm geschuldet hätte. Wenn wir bedenken, dass wir für unseren ganzen Wandel »Gott Rechenschaft geben« werden, und wenn wir be denken, wie groß unsere Schulden vor ihm und gegenüber den Geschwistern sind (siehe 13,8), werden wir ganz andere Sorgen haben, als das Tun und Las­ sen der anderen zu richten. Wir werden den Herrn täglich an flehen, uns in seiner Barmherzigkeit unsere Schuld zu ver geben (Mt 6,12). Und tun wir das, werden wir gegenüber den Geschwistern immer großzügiger und barmherziger, und wir werden immer klarer erkennen, dass Rich­ ten gerade das Gegenteil ist von Barmherzig­Sein, und wir werden be denken, dass das Gericht ohne Barmherzigkeit sein wird gegen jeden, der nicht Barmherzigkeit geübt hat (Jak 2,13).

2. Dem Frieden und der Erbauung nachjagen, statt Anstoß zu geben (14,13-­23)

Im ersten Abschnitt hat Paulus gezeigt, dass bei allen Fragen über erlaubte Speisen und geheiligte Tage die Haltung, die wir gegenüber dem Bruder einnehmen, das Ausschlaggebende ist. Da die unterschiedlichen Ansichten leicht zu bösen Gedanken, Worten und Handlungen führen, gibt Paulus hier dem Starken Anweisungen, wie er mit seiner Freiheit umgehen muss.

Dieser Abschnitt ist ähnlich aufgebaut wie der erste. Er enthält zwei Aufforderungen und dazwischen eine Aussage über die einigende Mitte, über das Reich Gottes, zu dem wir gehören (V. 17). Paulus wendet an, was er in den Versen 1­12 gelehrt hat: Statt den Schwachen zu verachten, soll der Starke zusehen, dass er dem Bruder mit seiner Freiheit nicht zum Stolperstein wird (V. 13­15). Denn das wäre ein Verstoß gegen die Bru­derliebe, und damit würde das Evangelium verlästert werden (V. 16). Das Reich Gottes, in dem der Gerechtfertigte lebt, besteht nämlich nicht in Fragen über Essen und Trinken, sondern in Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist (V. 17). Leben wir nach dessen Richtschnur, sind wir Gott wohlgefällig, dazu auch den Mitmenschen bewährt (V. 18), die dann keinen Anlass an uns finden, das Evangelium zu verlästern. Darum also sollen wir dem nachjagen, was jenem Frieden dient (V. 19), von dem der V. 17 gesprochen hatte. Schließlich nennt Paulus einen letz­ten Grund, warum wir seine Weisungen beherzigen müssen: Wir zer­stören sonst das Werk Gottes (V. 20). Damit das nicht geschieht, soll der Starke Rücksicht nehmen auf das Gewissen der Geschwister und sei­ nen Glauben in diesen Dingen für sich haben und den Schwachen nicht provozieren (V. 21­-22). Denn es ist eine ernste Sache, wenn man diesen anreizt zu einem Tun, das nicht aus Glauben geschieht (V. 23).

13 Lasst uns darum nicht mehr einander richten, sondern richtet vielmehr dies: dem Bruder nicht einen Stolperstein oder einen Fallstrick zu legen.

Wir sollen »darum nicht … einander richten«, weil das Gericht des Herrn ist (V. 10­11). Aber wir sollen etwas anderes richten, etwas an uns, nämlich: »dem Bruder nicht einen Stolperstein326 proskomma (wie in Röm 9,32­33), von pros, »zu«, »an«, und komma, von koptō, »schlagen«. Also etwas, wo der Fuß anschlägt oder anstößt. oder einen Fallstrick327 skandalon, eigentlich das Stellholz an der Falle, dann auch der Anlass, der jemanden in die Falle tretenlässt, also »Ärgernis« (wie in Mt 13 41,; 18,7; Röm 9,33 etc.). zu legen«. Wenn der Schwache sieht, wie der Starke isst, was er selber meint, nicht essen zu dürfen, kann das ihm zum Fallstrick werden: entweder, indem er sein Gewissen unterdrückt und den Starken nachahmt (siehe 1Kor 8,10), oder indem er gereizt wird, den Starken zu richten. In beiden Fällen sündigt er, denn was nicht aus Glauben geschieht, auch wenn es erlaubt ist, ist Sünde (V. 23), und wer richtet, tut, was Gott allein zusteht. Der Starke muss bedenken, was sein Handeln bei den Schwachen auslösen kann. Darum schreibt Paulus an anderer Stelle: »Gebt acht, dass dieses euer Recht nicht den Schwachen zum Anstoß wird« (1Kor 8,9).

14 Ich weiß und bin überzeugt in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich; nur dem, der etwas für unrein achtet, dem ist es unrein.

15 Wenn aber dein Bruder wegen einer Speise betrübt wird, so wandelst du nicht mehr nach der Liebe. Verdirb mit deiner Speise nicht den, für den Christus gestorben ist.

16 Euer Gut soll nicht verlästert werden!

Wenn Paulus sagt: »Ich weiß und bin überzeugt in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich«, dann ruft der Starke laut, dass er es genauso sieht. Aber er sollte nicht vergessen, dass der Schwache diese Erkenntnis nicht hat (siehe 1Kor 8,7); für ihn sind gewisse Speisen unrein. Und wenn der Bruder »wegen einer Speise betrübt wird«, wandelt der Starke »nicht mehr nach der Liebe«. Er sündigt gegen das oberste Gebot, und das ist die größte Missetat. Mit ihr verdirbt er den, »für den Christus gestorben ist«. Das ist das Ergebnis seiner Sünde: Der Schwa­che kommt um, »der Bruder, um dessentwillen Christus gestorben ist« (1Kor 8,11). Man erinnere sich, was der Herr über jene gesagt hat, die den Kleinen, die an ihn glauben, Ärgernisse in den Weg legen (Mt 18,6)!

Und schließlich wird durch die Rücksichtslosigkeit der Starken »euer Gut«, das Evangelium Gottes, »verlästert«. Damit wird aber der Geber des Evangeliums, Gott selbst, verlästert. In diesem Fall sind wir nicht besser als die selbstgerechten Juden, um derentwillen der Name Gottes gelästert wird unter den Nationen (2,24). Darum müssen wir zusehen, dass keiner von uns sich ungebührlich verhält gegen irgendjemanden, sei es gegen den Bruder, den Vorgesetzten oder den Ehepartner, »damit nicht der Name Gottes und die Lehre« und »das Wort Gottes verlästert werde« (1Tim 6,1; Tit 2,5).

Die Mitte, an der wir uns ausrichten: das Reich Gottes

Während in Vers 7­9 der Herr und Herrscher die Mitte bildete, ist es hier sein Reich. Worin besteht das Reich? Was ist seine Substanz? Es besteht in der Gerechtigkeit, und aus dieser fließen Friede und Freude. Es geht also um viel gewichtigere Dinge als um Freiheiten oder Verbote im Essen und Trinken.

17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist.

»Das Reich Gottes« ist geistlich; es ist daher unsichtbar. Nur der kann es sehen und in dasselbe eingehen, der aus dem Geist von Neuem geboren ist (Joh 3,3.5). Dieses Reich kann daher nicht in »Essen und Trinken« bestehen. Vielmehr besteht es in »Gerechtigkeit und Friede und Freude«: in der Gerechtigkeit Gottes, die aus Glauben gegeben wird (1,17), im Frieden mit Gott, der auf die Rechtfertigung folgt (5,1), und in der aus beidem fließenden Freude. Das sind alles Dinge, die nur »im Heiligen Geist« verwirklicht werden. Es ist offenkundig, dass Essen oder Nicht­Essen all das weder mehren noch mindern kann. Wer aber gegen die Liebe verstößt, wandelt nicht im Geist, sondern betrübt ihn vielmehr. Er beweist damit, dass er nicht verstanden hat, worin das Reich Gottes besteht. Wer verstanden hat, was das Reich Gottes ist, bleibt gelassen, wenn er jemanden sieht, der in diesen Dingen anders urteilt und andere Gewohnheiten hat als er. Er wird ihn weder richten noch ver­achten (V. 3.10). Und er kann auch auf geliebte Speisen und Getränke verzichten, wenn es sein muss (V. 21), weil das Reich Gottes so viel grö­ßer und herrlicher ist als ein Schweinebraten oder ein Glas Wein.

18 Denn wer in diesem dem Christus dient, ist Gott wohlgefällig und vor den Menschen bewährt.

19 Lasst uns daher den Dingen nachjagen, die dem Frieden und die der gegenseitigen Erbauung dienen.

Nur »in diesem«, en toutois, wörtlich »in diesen [Dingen]«, d. h. in der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Freude im Heiligen Geist, kann man »dem Christus« recht dienen und damit »Gott wohlgefällig« sein. Ob man sich in Enthaltsamkeit übt oder nicht, ist nicht das Entscheidende. Und wer Christus dient und Gott gefällt, ist auch »vor den Menschen bewährt«, sodass diese unser Gut, das Evangelium, nicht verlästern (V. 16). Weil es »daher« Gott gefällt und seinen Namen ehrt, wollen wir »den Dingen nachjagen, die dem Frieden« dienen, jenem Frieden, der im Reich Gottes herrscht. Und was dem Frieden dient, dient auch »der gegenseitigen Erbauung«.

20 Reiß nicht einer Speise wegen das Werk Gottes nieder! Alles ist zwar rein, aber es ist schlecht für den Menschen, der mit Anstoß isst.

21 Besser ist es, kein Fleisch zu essen und keinen Wein zu trinken noch irgendetwas [zu tun], woran dein Bruder sich stößt oder sich ärgert oder schwach ist.

Wir sollten alles tun, um uns gegenseitig aufzubauen, und darum alles ver­ meiden, was Gottes Werk niederreißt. Es ist große Torheit, »einer Speise wegen« das niederzureißen, katalyo (wie z. B. in Mt 5,17 [2x]; Apg 6,14; 2Kor 5,1; Gal 2,18), was Gott im Leben des Bruders aufgebaut hat, und nicht nur das: Wer »das Werk Gottes« niederreißt, rennt gegen Gott selbst an. Wir werden erinnert an das Wort des Apostels an die Korinther, die mit ihren Parteiungen den Tempel Gottes verdarben: »Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, und solche seid ihr« (1Kor 3,16­17).

»Gott tut sein Werk im Leben eines jeden seiner Kinder. Schon der Gedanke, dass man wegen zweitrangiger Dinge wie Essen und Trinken jenes Werk im Leben eines schwachen Bruders aufhalten kann, müsste uns Furcht einjagen.«328 W. MacDonald, Believer’s Bible Commentary, New Testament, S. 553. Vgl. eine ähnliche Wiedergabe in: W. MacDonald, Kommentar zum Neuen Testament, a. a. O., S. 680.

»Alles ist zwar rein«, worauf sich der Starke ja zu Recht beruft. Doch muss er mit seiner Freiheit verantwortungsvoll umgehen und bedenken, dass der Schwache diese Freiheit nicht kennt. Denn das an sich Reine »ist schlecht für den Menschen, der mit Anstoß isst«, weil er sündigt, wenn er gegen sein Gewissen handelt.

»Besser ist es, kein Fleisch zu essen und keinen Wein zu trinken«, besser auf Freiheiten zu verzichten, als einen Bruder zum Sündigen zu veranlassen. Das Opfer, das man da bringt, ist klein im Vergleich zum großen Übel, das man damit vermeidet, und zur Erbauung, die man damit fördert.

22 Hast du Glauben? Habe ihn für dich selbst vor Gott. Glückselig, wer sich selbst nicht richtet in dem, was er gutheißt!

23 Wer aber isst, obwohl er zweifelt, ist verurteilt, weil er es nicht aus Glauben tut. Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde.

Wer »Glauben« hat und in seinem Glauben frei ist, kann sich »glückselig« nennen, weil er »sich selbst nicht richtet« bei den Dingen, die er gutheißt und tut. Doch habe er diesen Glauben »für [sich] selbst vor Gott«. Er freue sich seiner Freimütigkeit vor Gott, er danke ihm dafür, und er lebe darin! Wer aber diese Freiheit nicht hat, sondern »zweifelt«, der ersticke nicht die Stimme des Gewissens! Wer isst, obwohl er befürchtet, nicht essen zu dürfen, »ist verurteilt, weil er es nicht aus Glauben tut«. Die Rechtfertigung und damit die ganze Stellung vor Gott ist uns im Glauben geschenkt. Wie wir im Glauben die Vergebung der Sünden und die Gerechtigkeit Gottes empfingen, so wandeln wir wei­ter »aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: ›Der aus Glauben Gerechte wird leben.‹« (1,17). Wenn wir das bedenken, verstehen wir: »Alles …, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde.« Das muss uns zur Vorsicht mahnen, muss uns lehren, mit einem Hiskia zu sagen: »Ich will sachte wallen alle Jahre meines Lebens« (Jes 38,15). Der Glaube ist eine Gabe Gottes, und auch das Maß des Glaubens ist uns von Gott ge geben (12,3). Weder den Glauben noch das Maß desselben können wir er zwingen. Jeder wandle im Glauben, den er hat, und Gott wird ihm zu seiner Zeit das Maß des Glaubens und damit auch die Freiheit vor Gott mehren.

Anmerkungen zu Kapitel 14

V. 1 – »Ich höre sagen, wie Euer Herz große Anfechtung im Glauben leide. Das ist mir leid, und ich bitte Gott, dass er Euch gnädig stärken wolle, wie mir denn nicht zweifelhaft ist, dass er es mit der Zeit tun wird. Ergebt Euch allein, wie Ihr wisst, in seinen Willen, ob er Euch noch eine Weile wolle so lassen und haben, und bedenkt, dass Schwachglaube auch ein Glaube ist, und Christus den Schwachen so nahe ist wie den Starken, wie Paulus in Römer 14,4 sagt, dass an Christus selbst gesündigt wird, da man den Schwachen nicht schont. Und Paulus befiehlt allenthalben, die Schwachen anzunehmen, woraus man wohl merken kann, dass die Schwachen auch Christus im Schoß sitzen« (Martin Luther, Brief vom 31. Juli 1525 an eine unbekannte Frau).

V. 12 – »Paulus wendet auf jeden Einzelnen an, was von allen gesagt werden wird. Was vorausgeht (V. 10­11), bedeutete: ›Richte nicht deinen Bruder, denn den wird Gott richten.‹ Und der vorliegende Vers bedeutet: ›Richte dich selbst, denn dich wird Gott richten.‹« (Frédéric Godet, Commentaire sur l’épître aux Romains, tome second, S. 519-­520).

Kapitel 15

Die Verse 1­3 sprechen davon, wie der Christ an Christus lernt, dem Nächs­ten zu dienen. In Kapitel 13 lernten wir, dass wir einander Liebe schulden, in Kapitel 14 lernten wir, dass wir den Bruder weder verachten noch rich­ten, sondern uns selbst und unser Tun richten und Rücksicht nehmen sol­len auf die Schwachen. Hier lernen wir, dass wir schuldig sind, einander zu tragen (V. 1), einander Gutes zu tun und uns gegen seitig zu erbauen (V. 2) und einander anzunehmen (V. 7). Wir sollen gesinnt sein wie Christus (V. 5): Er suchte nicht sich selbst zu gefallen, sondern seinem Vater, auch wenn das Schmähungen und Leiden über ihn brachte (V. 3), und er nahm einen jeden von uns auf (V. 7). Lieben wir einander, so wie Christus uns befohlen hat (Joh 13,34), werden wir das tun, und als Ergebnis wer­ den wir immer einmütiger werden (V. 6). In den Versen 8­12 zeigt Paulus, dass ehemalige Juden wie Heiden Ursache haben, Gott für alles Gute zu danken, was sie durch den Glauben an Christus empfangen haben: Erstere empfingen alle aus Gnade Segnungen, die den Vätern verheißen worden waren (V. 8), und Letztere empfingen aus göttlichem Erbarmen alles, was nicht ihnen, sondern Israel verheißen worden war. So hatten alle Ursache, Gott alle Ehre zu geben, indem sie ihre eigene Unwürdigkeit erkannten. Die seelsorgerlichen Erörterungen des Apostels enden mit dem V. 13. Im letzten Teil des Briefes spricht er von seinem Dienst und von seinen Reiseplänen (15,14­33), um im letzten Kapitel mit Grüßen und Segens­ wünschen zu schließen.

1. Von Christus, dem vollkommenen Diener, lernen (15,1­-6)

Paulus beginnt mit der Aufforderung, die Schwachheiten der Schwachen zu tragen (V. 1­2), und verweist auf das Vorbild Christi (V. 3­4) und dann auf die Befähigung durch Gott selbst (V. 5). Er schließt mit dem wunder­ baren Ergebnis: Der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus wird verherrlicht (V. 6).

1 Wir aber, die Starken, sind schuldig, die Schwachheiten der Schwachen zu tragen und nicht uns selbst zu gefallen.

2 Jeder von uns gefalle dem Nächsten zum Guten, zur Erbauung.

»Wir …, die Starken«: Nachdem Paulus in Kapitel 14 die Schwachen wiederholt genannt hat, nennt er hier auch die Starken zum ersten Mal mit Namen. Die sind »schuldig, die Schwachheiten der Schwachen zu tragen«. Der Starke ist in der stärkeren Position, denn während er sein Tun dem Schwachen anpassen kann, indem er auf das Ausüben sei­ ner Freiheiten verzichtet, kann der Schwache sich den Starken nicht an ­ nähern, weil er denkt, er sündige, wenn er seine Praxis ändert. Auf diese Weise befolgt der Starke die Weisung: »In Ehrerbietung kommt einander zuvor« (12,10). Die Starken sind schuldig, so zu handeln, denn wir sind schuldig, einander zu lieben (12,10; 13,8). Wir sind schuldig, »für die Brüder das Leben hinzugeben« (1Jo 3,16).

Wenn die Starken schon so stark sind, dann sollen sie nicht in Selbst­ gefälligkeit die Schwachen verachten, sondern tragen. Wozu hat Gott ihnen denn sonst so viel Stärke gegeben? Es genügt nicht, die Schwachen lediglich zu ertragen; die Starken müssen einen entscheidenden Schritt weitergehen und sie tragen. In 14,7­8 hatten wir gehört: »Keiner von uns lebt sich selbst«, und: »Leben [wir], [so] … leben [wir] dem Herrn«. Dem Herrn leben heißt aber, dass wir dem Bruder zur Erbauung leben und dass wir bereit sind, dessen Lasten zu tragen (Gal 6,2), und nicht »uns selbst … gefallen« (V. 1).

»Fleisch essen und Wein trinken mag dem Gaumen gefallen, aber der Gerechtfertigte lebt nicht, um sich selbst zu gefallen, sondern dem Nächsten.«329 J. M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 250.

Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses (13,10), sondern sie will »dem Nächsten [gefallen] zum Guten, zur Erbauung«. Es geht nicht darum, sich dem Nächsten um jeden Preis gefällig zu zeigen, denn das wäre bloße Menschengefälligkeit, sondern die Liebe strebt nach dem, was »zum Guten« (V. 2) und »der gegenseitigen Erbauung [dient]« (14,19). Wird der Schwache erbaut, wird er auch wachsen in der Erkenntnis und damit stärker werden und seine Unfreiheit überwinden können.

3 Denn auch der Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: »Die Schmähungen derer, die dich schmähen, fielen auf mich.«

Mit einem ersten »Denn« begründet Paulus seine Aufforderung von V. 2: Das Vorbild Christi leitet uns an, den anderen zu lieben. Er hat »nicht sich selbst gefallen«, d. h. gelebt, um sich selbst zu gefallen. Er suchte nicht den Beifall der Leute, sondern er lebte, um seinem Vater zu gefallen, auch wenn das Menschen missfiel. Als er in die Welt kam, sprach er: »Siehe, ich komme …, um deinen Willen, o Gott, zu tun« (Hebr 10,7). Dazu gehörte, wie er wohl wusste, dass »die Schmähungen«, mit denen sündige Menschen Gott schmähten, auf ihn fallen würden. Indem Pau­ lus aus dem Psalm 69 zitiert, zeigt er, dass der Sprechende dort eigentlich Davids Herr, der Christus, ist. So weit ging der Herr in der Verleugnung seiner selbst. Was ist, damit verglichen, der Verzicht auf eine Speise?

4 Denn alles, was vorher geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch das Ausharren und durch den Trost der Schriften die Hoffnung haben.

Mit einem zweiten »Denn« begründet Paulus seine Aussage von V. 3, die er mit einem alttestamentlichen Zitat belegt hatte. »Alles, was vorher geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben.« Das be deutet, dass das ganze Alte Testament göttliche Wahrheit ist, welche dem Volk Gottes gegeben ist zum Licht und zur Lehre bis an das Ende der Zeit. Timotheus, seinem echten Kind im Glauben, schreibt Paulus: »Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit …« (2Tim 3,16). Paulus selbst bekannte vor dem römischen Statthalter Felix: »… indem ich allem glaube, was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht« (Apg 24,14). Im Alten Testament haben wir zahlreiche Beispiele dafür, wie Gottesknechte durch Ausharren und Leiden die Verheißungen erlangten, wie etwa Abraham, Joseph, Mose, Hiob und David. Das Wort Gottes ermuntert uns durch diese Beispiele (siehe Jak 5,11), und es stellt uns »die Hoffnung«, d. h. die Gewissheit kommender Herrlichkeit, vor Augen (Röm 5 2,; 8,17.24­25). Es sind zwei Dinge, die uns die Hoffnung geben und befestigen:

1. der Trost der Schriften;

2. das Ausharren.

Beides ist nötig. Ohne den objektiv in der Schrift gegebenen Trost haben wir nichts, worauf unsere Hoffnung ruhen kann. Ohne das Ausharren wird der in der Schrift dargereichte Trost nicht wirksam. Nur wenn man das ganze Wort und jedes Wort Gottes als von Gott gegeben annimmt und nur wenn man im Vertrauen darauf ausharrt, kann es zum Trost sein und sich als kraftvoll erweisen und die Hoffnung nähren. 5 Der Gott des Ausharrens und des Trostes aber gebe euch, untereinander gleich gesinnt zu sein, Christus Jesus gemäß,

6 damit ihr einmütig mit einem Mund den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus verherrlicht.

Eben hat Paulus vom Ausharren und vom Trost geschrieben, und nun nennt er Gott den »Gott des Ausharrens und des Trostes«, d. h. den Gott, der uns nicht nur Ausharren auferlegt, sondern uns auch zum Aus­ harren befähigt durch seinen Trost; denn wir müssen geduldig sein und uns darauf gefasst machen, viel und lange zu tragen (Eph 4,2), bis wir »untereinander gleich gesinnt« sind.

Er heißt »der Gott … des Trostes« oder »des Beistandes« oder »der Ermunterung«, wie man das Wort paraklēsis auch übersetzen kann. Weil er uns mit seinem Trost beisteht, verlieren wir den Mut nicht, denn sonst könnten wir denken, wir würden nie »untereinander gleich gesinnt« wer­ den. Durch Gottes Wort werden wir so von Gott selbst »gekräftigt mit aller Kraft zum Ausharren« (Kol 1,11) im Guten.

Gleich gesinnt untereinander können wir nur werden, wenn dies »Christus Jesus gemäß« geschieht, d. h., wenn wir gesinnt sind, wie Christus es war (siehe Phil 2,5). Solange wir auf unsere Rechte und Freiheiten pochen und nicht bereit sind aufzugeben, was uns rechtens zustünde, werden wir nie »gleich gesinnt … einmütig, eines Sinnes« sein (Phil 2,2). »Christus Jesus gemäß« heißt also, dass wir einmütig wer­ den, indem wir dem Herrn folgen auf dem Weg, den er gegangen ist. Er erniedrigte sich selbst; er machte sich zum Diener aller. Wir streben dieses Einssein an, damit wir »einmütig mit einem Mund den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« verherrlichen können. Wir können im Verständnis über untergeordnete Fragen unterschiedliche Auf fassungen haben und dennoch im Lob und in der Anbetung Gottes eins sein.

2. Lernen von Christus, dem Diener der Juden und Heiden (15,7-­13)

Die Verse 7-­13 enthalten auffällige Parallelen zu den Versen 1­6. Paulus beginnt diesen Abschnitt wie den vorhergehenden mit der Aufforderung, dass Christen die anderen aufnehmen müssen, und wiederum belegt er seine Aussage mit den Schriften.

Alle müssen einander aufnehmen und dabei dem Vorbild Christi fol­ gen (V. 7; vgl. V. 1­2). Das Ergebnis ist abermals die Verherrlichung Got­ tes (V. 7; vgl. V. 6). In Christus sind die Heiden, die einst fern waren, nahe gebracht worden, sodass bekehrte Heiden nun zusammen mit bekehrten Juden den Herrn mit einem Mund rühmen (V. 9­12; vgl. V. 6). Christus kam als Diener der Beschneidung (V. 8), und er hat durch die Erlösung Heiden und Juden einsgemacht. Darum sind die Gläu­ bigen in jeder Gemeinde schuldig, einander anzunehmen, wie Chris­ tus sie an genommen hat. Es ist eine moralische Schuldigkeit; erfüllen wir sie nicht, sind wir umso mehr schuldig, als wir durch die Erlösung be fähigt sind, einander in Liebe zu tragen. Auf diese Befähigung ver­ weist der Apostel mit seiner abschließenden Bitte, dass der Gott der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes sein Werk an ihnen tun möge (V. 13).

7 Deshalb nehmt einander an, gleichwie auch der Christus euch angenommen hat, zur Verherrlichung Gottes.

In 14,1 hatte der Apostel geboten: »Den Schwachen im Glauben nehmt an.« Nun schließt er seine Ausführungen mit den Worten: »Nehmt einander an.« Das ist nicht lediglich eine Wiederholung, sondern Paulus richtet die Aufforderung, die zweimal an die Starken erging, auch an die Schwachen; alle müssen »einander« annehmen. Die Be zeichnungen »Schwache« und »Starke« verwendet Paulus hier zwar nicht, sondern stattdessen verweist er in den nachfolgenden Versen auf Juden und Hei­ den, und damit zeigt er, dass er die ganze Zeit diese beiden vor Augen hatte, als er seine Anweisungen gab über die Schwachen und Starken in der Gemeinde in Rom330 A. Nygren meint, man könne nicht wissen, wen Paulus mit den Starken und Schwachen meine, und verwirft ausdrücklich die Auffassung, es gehe um ehemalige Juden und Heiden (vgl. Der Römerbrief, S. 313­-314). Cranfield schreibt: »15,7-13 lassen annehmen, dass die Scheidung zwischen den Schwachen und den Starken wahrscheinlich auch weitgehend eine Scheidung zwischen jüdischen und heidnischen Christen war« (The Epistle to the Romans, Bd. 2, S. 695). H. Krimmer schreibt über die Schwachen: »Wahrscheinlich ist es also eine Gruppe von Judenchristen, die ihren Traditionen treu bleiben will. Wo die Starken im Glauben (15,1) keinerlei Bedenken haben, da halten sie sich vorsichtig zurück« (Römerbrief, S. 349).. Das Vorbild, einander anzunehmen, ist erneut der Herr: »… gleichwie auch der Christus euch angenommen hat«. Christus nahm uns an »zur Verherrlichung Gottes«. Nehmen wir ein­ ander an, wird Gott verherrlicht.

8 Denn ich sage, dass Jesus Christus ein Diener der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen;

9 damit die Nationen aber Gott verherrlichen um des Erbarmens willen, wie geschrieben steht: »Darum werde ich dich bekennen unter den Nationen und deinem Namen lobsingen.«

10 Und ferner heißt es: »Seid fröhlich, ihr Nationen, mit seinem Volk!«

11 Und ferner: »Lobt den Herrn, alle Nationen, und preist ihn, alle Völker!«

12 Und ferner sagt Jesaja: »Die Wurzel Isais wird kommen, er, der aufsteht, um über die Nationen zu herrschen – auf ihn werden die Nationen hoffen.«

Es fällt auf, wie Paulus in diesen Versen Worte anführt aus dem Gesetz, den Propheten und den Psalmen, welche drei nach jüdischer Einteilung das ganze Alte Testament umfassen (vgl. Lk 24,44).

Christus kam als »ein Diener der Beschneidung«, d. h. der Juden. Das ist den Heiden gesagt, damit sie ehemalige Juden nicht verachten, auch wenn diese ängstlich gewisse Speisen meiden und einen besonderen Tag in der Woche heiligen. Christus kam »um der Wahrheit Gottes willen«, um mit seinem Leben, Dienen und Sterben die den Vätern gegebenen »Verheißungen … zu bestätigen«. Das ganze Evangelium Gottes ist eine Bestätigung von Verheißungen, die Gott im Gesetz und in den Propheten gegeben hatte (1,2; 3,21). Abraham hatte er ein großes Volk und ein Land verheißen (1Mo 12 2,; 15,18­21), und er hatte ihm einen Nachkommen ver­ heißen, durch den alle Völker gesegnet werden sollten (1Mo 22,18), und David hatte er einen Sohn verheißen, der ewig über alle herrschen sollte (2Sam 7,12­13). Jesus war jener von Gott verheißene Sohn Abrahams und Davids, wie das Matthäusevangelium gleich zu Beginn bezeugt (Mt 1,1). Doch beachten wir: Alles, was Christus in seinem irdischen Leben sprach und wirkte, bestätigte eine jede Verheißung, die Gott den Erzvätern Israels gegeben hatte, aber es erfüllten sich nicht alle: Israel wurde beim Ers­ ten Kommen Christi nicht zu jener großen Nation, und das Land wurde ihm nicht wiedergegeben (siehe 1Mo 15,18­21), der Messias wurde nicht König über Israel und die Nationen (siehe Ps 72,5­11). Das alles wird sich erst erfüllen, wenn der Christus zum zweiten Mal kommt. Aber Christus kam nicht nur für die Juden, sondern auch, »damit die Nationen … Gott verherrlichen«. Während Christus den Juden zum Diener wurde um der Wahrheit Gottes willen, wandte Gott sich den Hei­ den zu »um des Erbarmens willen«. Damit haben weder Juden noch Heiden Ursache, sich etwas auf ihre Qualitäten ein zubilden. Denn den Juden wurden Heil und Leben nur deshalb zuteil, weil Gott den Vätern Verheißungen gegeben hatte und diese nun bestätigte an deren Nach­ kommen, die gar nichts dazugetan hatten (V. 8). Und den Heiden wurden Heil und Leben geschenkt, weil Gott sich ihrer Blindheit und Hilf losigkeit erbarmte. Auch in ihnen war nichts, mit dem sie Gottes Wohltaten ver­ dient hätten331 »Die Verse 8ff. fassen den Gedanken des Apostels zusammen mit Blick auf Gottes Handeln mit den Juden und den Heiden beim Kommen Jesu. Er war ein Diener der Beschneidung um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen an die Väter zu bestätigen. Den Juden hatte Gott Verheißungen gegeben, den Heiden aber keine. Für die war es nicht eine Frage der Wahrheit Gottes, sondern aus Gnade sollten sie durch Jesus Gott verherrlichen wegen seines Erbarmens« (J. N. Darby, Synopsis of the Books of the Bible, Bd. 4, S. 200).. Gottes Heil sollte in alle Welt ausgehen, Heiden sollten im Evangelium »[Gottes] Erbarmen« er fahren, damit sie Gott durch Glauben und Gehorsam ehrten. Paulus belegt diese Be hauptung wie­ der mit der Schrift. Zunächst zitiert er Ps 18,50. Dort weissagt der Geist Christi durch David, dass Christus »unter den Nationen« dem Namen Gottes lobsingen wird. An diesem einen Beispiel sollen wir erkennen, dass Gott im Alten Testament angekündigt hatte, dass nicht nur die leib­lichen Nachkommen Abrahams gesegnet werden sollten. Dann zitiert Paulus 5Mo 32,43: »Seid fröhlich, ihr Nationen, mit seinem Volk!« Diese Stelle zeigt, dass die Nationen zusammen mit Israel sich Gottes und seines Heils erfreuen sollten. Das nächste Zitat verdeutlicht, dass alle Nationen und alle Völker den Gott Israels preisen sollen: »Lobt den Herrn, alle Nationen, und preist ihn, alle Völker!« Und zuletzt zitiert Paulus Jes 11,10 und ruft damit einmal mehr in Erinnerung, dass aller Segen nur durch den Christus kommen konnte. Dazu will er mit die­sem Bibelwort den Juden sagen, dass der Christus nicht ihr exklusiver Besitz ist,332 Wir erinnern uns: Zu den Vorrechten Israels gehört, dass ihnen »die Sohnschaft und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung …« gehören, dass aber der Christus nicht ihnen gehört, sondern aus ihnen (und für alle Völker) ist (Röm 9,3­5). sondern dass er von Gott allen Nationen gegeben ist: »Die Wurzel Isais wird kommen, er, der aufsteht, um über die Nationen zu herrschen – auf ihn werden die Nationen hoffen.« Der Christus Israels, der Sohn Davids, wird nicht nur über Israel, sondern über alle Nationen herrschen. Es ist offenkundig, dass das alles sich auch noch nicht erfüllt hat. In der gegenwärtigen Zeit ruft Gott »aus den Nationen« (siehe oben Röm 9,24 mit den dazugehörigen Erörterungen) Menschen zur Gemeinde. »Die Nationen« und »alle Völker« werden den Herrn erst dann preisen, wenn der Menschensohn wiedergekommen ist und alle Reiche der Welt zerschlagen hat (Dan 2,44). Dann werden »alle Völker, Völkerschaften und Sprachen« ihm dienen (Dan 7,13­14), und dann erst wird die ganze Erde dem Herrn zujauchzen und ihm mit Freuden dienen (Ps 100,1­2). Wenn der Menschensohn erscheint, wird das in Offb 11,15 angekündigte »Weltreich unseres Herrn und seines Christus« kommen333 »Die Psalmen, das Gesetz und die Propheten gaben ein einheitliches Zeugnis von jener Barmherzigkeit gegenüber den Heiden, was die Juden nur mit Mühe akzeptieren mochten … Keiner ging so weit, dass er den Leib Christi gelehrt hätte, in welchem alle Unterschiede verschwinden sollten, denn das ist das Geheimnis, das seit jeher verborgen gewesen war« (William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 267). . Was Paulus mit diesen Versen bezweckt, ist klar: Er hatte in 14,9 gesagt, dass Christus deshalb gestorben und auferstanden ist, damit er über Tote und Lebendige herrsche, und in 15,7 sagte er, dass die Gläu­bigen einander annehmen sollen. Mit dem Beispiel von Gottes Handeln an den Juden will er erreichen, dass alle Glieder der Gemeinde – ob Freie oder Sklaven, Frauen oder Männer, ob Starke oder Schwache – das tun, was er von Kapitel 14,1 an gelehrt hat: Sie sollen einander annehmen und sich gemeinsam Christus als Herrn unterwerfen und mit einem Mund den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus verherrlichen (15,6).

13 Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, damit ihr überreich seiet in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Mit diesem Vers rundet Paulus das in 14,1 begonnene Thema ab. In 15,12 hatte er Jesaja zitiert, der weissagte, dass die Nationen auf Christus hoffen werden. Und nun fährt er hier fort mit einer Bitte an den Gott der Hoffnung. Aber gleichzeitig schließt er mit diesem Vers auch den ganzen fünf­ ten Teil des Briefes, den wir unter die Überschrift gestellt hatten: »Gottes Gerechtigkeit offenbart sich im gerechten Wandel des Glaubenden«. Wir können sogar sagen, dass mit 15,13 das Ende des gesamten allgemein lehr­haften Teils des Römerbriefes erreicht ist. Von da an spricht Paulus nur noch von persönlichen Dingen – zuerst von seinem besonderen Dienst als Apostel und von seinen Plänen (bis 15,31) und dann, indem er sich in persönlichen Worten an einzelne Gläubige in Rom wendet (von 16,1 an). So lenkt er also bei diesem Abschluss unseren Blick auf den Gott der Hoff­nung, von dem alles ausgeht und der alles zum Ziel führen wird. Er ist der Gott, der Abraham Verheißungen gab, welche ihn nötigten, auf den Tag zu hoffen, an dem sie sich erfüllen würden (4,14.21). Auch wir als Glaubende haben Verheißungen empfangen von Dingen, die noch nirgends zu sehen sind, und die nötigen uns, auf Gott zu hoffen (5,1­2; 8,23-­25). Wir gehen durch Trübsale, können uns dabei aber in der Hoffnung freuen (12,12). Gott hat uns mit den Heiligen Schriften sein eigenes Wort gegeben, durch das wir die nötige Ermunterung empfangen (15,4). Und nun betet Paulus gewissermaßen für die Heiligen in Rom: Der Gott der Hoffnung wolle sie erfüllen mit aller Freude und mit Frieden, damit sie nicht zagend und zweifelnd hoffen, sondern im Gegenteil überreich seien in der Hoffnung.

Jesus Christus heißt »ein Diener der Beschneidung« (V. 8); und er kam zum Segen der Nationen (V. 9). Er diente damit den Juden und Heiden in so vollkommener Weise, dass diese nun in einem Leib ver­ eint sind (siehe Eph 2,14­16). Als Glaubende verschiedener Herkunft und mit einem unterschiedlichen Maß des Glaubens (12,3) leben wir in Harmonie zusammen. In der Hand Christi, des vollkommenen Knech­ tes Jahwes, gedeiht das Wohlgefallen Gottes (Jes 53,10): »Der Gott der Hoffnung« erfüllt uns »mit aller Freude und Frieden im Glauben«. »Der Gott der Hoffnung« hat uns berufen »zu seinem Reich und seiner ei genen Herrlichkeit« (1Thes 2,12). Das ist die Hoffnung, zu der wir errettet worden sind (Röm 8,24). Diese gibt Freude in den Widerwärtig­ keiten und Frieden in der Gemeinschaft der Heiligen; denn der gemein­ same Blick auf die kommende Herrlichkeit lässt die Heiligen immer näher zu sammenrücken. So sind wir also in drei Beziehungen des Frie­ dens hineingestellt: Wir haben »Frieden mit Gott« (Röm 5,1). Das ist die Grundlage, und indem wir auf dieser stehen, können wir in »Frieden mit allen Menschen« leben (12,18), und wir können mit den Brüdern in Frie­ den eins sein (15,13; siehe auch Eph 4,3).

»im Glauben«: Wir sind durch den Glauben gerechtfertigt, um fortan im Glauben zu leben (1,17). Nur durch Glauben können wir von Freude und Friede erfüllt werden und nur durch Glauben »überreich [sein] in der Hoffnung«. Und das wiederum ist nur möglich »durch die Kraft des Heiligen Geistes«. Der Glaube öffnet dem Heiligen Geist die Türen, in uns zu wirken, und der Heilige Geist stärkt den Glauben. Sind wir voll Glaubens, sind wir auch voll Heiligen Geistes, und sind wir voll Heiligen Geistes, sind wir auch voll Glaubens. Wir werden dann Stephanus und Barnabas gleichen. Von Stephanus lesen wir, dass er »voll Glaubens und Heiligen Geistes« war (Apg 6,5), und von Barnabas, dass er »voll Heiligen Geistes und Glaubens« war (Apg 11,24). Teil 6: Gottes Gerechtigkeit offenbart sich in der Predigt in der Welt (15,14-33)

In diesem sechsten Teil des Briefes spricht Paulus nicht mehr von Wahr­heiten, die allen gelten, sondern von seinen persönlichen Aufgaben und Absichten – davon, wie er das Evangelium im östlichen Mittelmeer­raum von Land zu Land gepredigt hatte (15,16­21) und nunmehr seine Blicke auf den westlichen Mittelmeerraum richtet (V. 22­29). Das alles erinnert uns an seine einleitenden Worte in Kapitel 1,8­15. Doch führt er gleichzeitig das große Thema seines Briefes fort, die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes»Paulus hat seine Ermahnungen an die Römer abgeschlossen, doch sollten wir den Rest des Briefes nicht als einen bloßen Anhang betrachten. Vielmehr sollen die Römer verstehen, dass die an sie gerichtete Ermahnung zu seiner apostolischen Berufung gehört, unter den Heiden Gemeinden zu gründen« (Thomas Schreiner, Romans, S. 761).. Am Beispiel des Völkerapostels lernen wir, dass Gott seine Gerechtigkeit auch darin offenbart, dass er sein Evangelium in der Welt predigen lässt. Das stellt einen bemerkenswerten Kontrast zu 1,18ff. dar. Dort hatten wir gesehen, dass Gott seine Gerechtigkeit in der Welt offenbart in seinem Zorn über alle Gottlosigkeit. Doch der Gott der Gerechtigkeit ist auch der Gott aller Gnade, und darum sorgt er dafür, dass seine Gerechtigkeit sich in dieser Welt der Sünde auch de monstriert im »Evangelium der Gnade Gottes« (Apg 20,24), das nun ausgeht zu allen Menschen.

Paulus lebte für dieses Evangelium, das ihn gerettet hatte. Es bewies an ihm seine göttliche Kraft, indem es ihn nicht nur rettete (1,16), son­dern ihn auch zum Diener am Evangelium machte (15,16); er arbeitete und kämpfte für die Ausbreitung des Evangeliums (V. 19­21). Dabei suchte und förderte er die Gemeinschaft unter den Gläubigen (V. 22­-24); er diente den Heiligen (V. 25) und war ein Segen für sie alle (V. 29). Ihm war indes wohl bewusst, dass auch er den Beistand der anderen nötig hatte: Er sehnte sich stets nach ihrer Gemeinschaft (V. 24), und er ersuchte ihre Fürbitte (V. 30­-31). Ihm war allezeit klar, dass er ohne den Beistand des Herrn hilflos war, und deshalb wünschte und erbat dieser Mann mit seinem weiten Herzen für die Geliebten Gottes und berufenen Heiligen (siehe 1,7) mehr als alles die Nähe und den Beistand des Gottes des Friedens (V. 33).

1. Der Apostel der Nationen (15,14-­21)

14 Ich bin meinerseits, meine Brüder, von euch überzeugt, dass ihr eurerseits voll Gütigkeit seid, erfüllt mit aller Erkenntnis, fähig, auch einander zurechtzuweisen.

15 Ich habe euch jedoch zum Teil kühner geschrieben, Brüder, um euch wieder zu erinnern, wegen der Gnade, die mir von Gott gegeben ist,

16 um ein Diener Christi Jesu zu sein für die Nationen, der mit dem Evangelium Gottes priesterlich arbeitet, damit die Nationen eine angenehme Darbringung werden, geheiligt durch den Heiligen Geist.

Mit der Anrede »meine Brüder« leitet der Apostel die persönlichen Worte ein, die nun folgen. In 1,11 hatte er geschrieben, dass er danach verlangte, sie zu sehen, weil er ihnen mit seiner apostolischen Gabe die­ nen wollte. Damit wollte er aber nicht sagen, dass sie als Gemeinde nie etwas anderes als nur Empfangende sein konnten. Vielmehr war er von ihnen »überzeugt«, dass sie »voll Gütigkeit«335 Wie werde ich »voll Gütigkeit«? Indem ich bedenke und empfinde, wie viel Güte Gott mir erwiesen hat. Wie komme ich zur nötigen »Erkenntnis« meiner selbst und des Bruders, sodass ich ihm dienen kann, wenn ich ihn »[zurechtweisen]« muss? Indem ich Gott erkenne, denn damit erkenne ich auch mich selbst (Hi 42,5­6). Nur in seinem Licht sehe ich mich und damit auch den Bruder klar (Ps 36,10). Wie aber gewinne ich Gotteserkenntnis? Allein im Wort Gottes und im Sohn Gottes durch das Wirken des Geistes Gottes. So muss ich das Wort Gottes zu mir reden lassen, indem ich es lese und höre, und ich muss darum beten, dass Gottes Geist mich erleuchte (Eph 1,17f.). waren und damit auch »fähig, … einander zurechtzuweisen«. Auch ohne dass er sie besucht hatte, waren sie also so weit »erfüllt mit aller Erkenntnis«, dass sie in Wahrheit und Liebe einander dienen konnten. Er hatte ihnen geschrieben, um sie »wieder zu erinnern« an Dinge, die sie schon wussten. Jeder tüchtige Lehrer weiß, wie nötig Wiederholung ist, und darum wird er die Grundwahrheiten des Evangeliums wieder und wieder lehren. Den Philip pern schreibt Paulus, dass es ihm nicht lästig ist, ihnen wiederholt dasselbe zu schreiben, und dass es für sie sicher ist (Phil 3,1). Und Petrus schreibt angesichts seines bevorstehenden Endes an die Heiligen, denen er viele Jahre gedient hat: »Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer an diese Dinge zu erinnern, obwohl ihr sie wisst und in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt seid« (2Petr 1,12).

Paulus konnte den Römern diesen großartigen Brief nur schreiben »wegen der Gnade«, die Gott ihm gegeben hatte (siehe 1,5; 12,3). Dabei hatte er »zum Teil kühner geschrieben« und Dinge, welche die Römer bereits wussten, direkter und schärfer ausgedrückt. Vielleicht denkt er an die Kapitel 9 – 11. Alles, was er mit dem Verfassen dieses Briefes tat, tat er als »ein Diener Christi Jesu«.336 In diesem Kapitel kommen häufig die Wörter »dienen«, »Diener«, »Dienst« vor (V. 8.16 [2x].25.27.31). Er hat ihnen nicht in eigener Sache geschrieben, er hat keine eigenen Ansichten ausgebreitet, er schrieb nicht, um sich selbst zu gefallen, sondern er diente in allem Christus, und damit diente er den Christen in Rom. Und zwar diente er »mit dem Evangelium Gottes«, denn Höheres konnte er ihnen nicht geben als die Wahrheit vom Heil in Christus. Er tat seine Arbeit für die Nationen »priesterlich«, d. h., als Frucht seiner Arbeit konnte er Gott Opfer darbringen, die ganz an derer Art waren als die geschlachteten Lämmer, welche die alttestament­ lichen Priester darbrachten. Die Opfer, die Paulus darbrachte, waren »die Na tionen« selbst; diese waren die »angenehme Darbringung«, die er als Priester Gott darbrachte. Ehemalige Götzendiener konnten nun mit ge ­ reinigtem Gewissen und durch den Geist mit aller Freimütigkeit vor Gott treten (Eph 2,18; Hebr 10,19­22) und ihn anbeten. Die Opfer konnten Gott aber nur deshalb angenehm sein, weil sie »geheiligt« waren »durch den Heiligen Geist«. Paulus predigte die Wahrheit des Evangeliums, Heiden glaubten und wurden damit gerecht­ fertigt, und Gott gab ihnen den Heiligen Geist. Damit konnten sie als Söhne Gottes sich vom Geist leiten lassen; und als Heilige und Geliebte konnten sie (und können sie) zu ihm »Abba, Vater!« rufen (Röm 8,15). Wenn Paulus das Evangelium »priesterlich« verkündigt, zeigt er ein­ mal mehr, dass beim Evangelium Gott die Hauptsache ist. Er predigte das Evangelium nicht in erster Linie, damit es den Menschen besser ging, sondern damit sie zu Gott gebracht wurden, um ihn fortan in einem Leben des Gehorsams zu verherrlichen.

17 Ich habe also etwas zum Rühmen in Christus Jesus in den Dingen, die Gott [betreffen].

18 Denn ich werde nicht wagen, von etwas zu reden, was nicht Christus durch mich gewirkt hat zum Gehorsam der Nationen durch Wort und Werk,

19 in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes Gottes, sodass ich von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrikum das Evangelium des Christus völlig verkündigt habe;

20 und zwar so, dass ich meine Ehre dareinlegte, das Evangelium nicht da zu predigen, wo der Name Christi bekannt war, damit ich nicht auf eines anderen Grund baute,

21 wie geschrieben steht: »Denen nicht von ihm verkündigt wurde, die sollen sehen, und die nicht gehört haben, sollen verstehen.«

Paulus hat etwas zum »Rühmen«, kauchēsis. Hat der Apostel aber nicht in 3,27 gesagt, dass jegliches Rühmen (kauchēsis) aus geschlossen sei (siehe auch 4,2)? Der Apostel hat trotzdem etwas zum Rühmen, denn alles, was er getan hat, waren Werke, die »in Christus« geschahen, Werke, die Gott zuvor bereitet hatte, damit er in ihnen wandeln sollte (Eph 2,10). Wenn Paulus also sagt, dass er etwas zum Rühmen hat, hat er gleichzeitig ausgeschlossen, dass er selber etwas geleistet hat. Nicht er, sondern Christus hat gewirkt. Darum wird er »nicht wagen«, tolmaō, von irgendetwas zu reden, »was nicht Christus« durch ihn ausgeführt hat. Wenn es auch Paulus war, der »durch Wort und Werk« unter den Heiden arbeitete, war es Christus, der durch das Evangelium wirkte »zum Gehorsam der Nationen«, zum »Gehorsam des Glaubens«, den er in 1,5 genannt hatte. Mit dem Verb tolmaō erinnert Paulus die Leser des Briefes an die Worte von Vers 15. Er hatte »zum Teil kühner«, tolmēroteron (wörtlich »gewagter, wagemutiger«), geschrieben, doch das nur, weil er nicht Eigenes redete und Eigenes aufbauen wollte, sondern nur die Dinge, die Christus gewirkt hatte und die Gott betreffen. Paulus betont noch einmal, dass sein Dienst nicht geschah in ei gener Kraft, sondern »in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes Gottes«. Den Leuten in Korinth, die seine Apostelschaft hin­ terfragten, muss er in Erinnerung rufen, dass er unter ihnen jene Zei­ chen getan hatte, die ihn eben als Apostel auswiesen (2Kor 12,12). Die Gewalt, Zeichen zu tun, gehörte zur Ausrüstung jener Männer, die eine einmalige Bedeutung hatten: Ihr Dienst bildete die Grundlage, auf der die Gemeinde des lebendigen Gottes aufgebaut ist (Eph 2,20). Dieser Dienst lässt sich nicht wiederholen, und darum hat auch niemand seit den Tagen der Apostel deren Vollmacht gehabt, solche Zeichen und Wun­ der zu tun. Deren einmalige heilsgeschichtliche Bedeutung erkennen wir auch daran, dass die Mauer des himmlischen Jerusalem zwölf Grund­ lagen hat mit den Namen der »zwölf Apostel des Lammes« (Offb 21,14). Wozu gab Gott von Zeit zu Zeit gewissen Knechten Gottes die Auf­ gabe und dazu die Fähigkeit, Zeichen und Wunder zu tun? An Mose wird das deutlich. Als dieser dem Herrn klagte, Israel werde nicht glauben, dass Gott ihm erschienen sei, gibt ihm Gott drei Zeichen die er vor dem Volk tun soll. An ihnen könne das Volk erkennen, dass Gott ihn wahr­ haftig gesandt habe: »… damit sie glauben, dass der HERR dir er schienen ist, der Gott ihrer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs« (2Mo 4,5). Man beachte wohl, was das Volk durch die Zei­ chen glauben soll – dass Gott dem Mose erschienen ist, und das soll sie be wegen, auf alles zu hören, was Mose im Auftrag Gottes spricht. Die Zeichen sind nicht dazu da, Glauben an die Botschaft des Mose zu wirken. Diesen Glauben kann nur die Botschaft selbst wirken (siehe Röm 10,17). Auch von den Zeichen, die Jesus tat, gilt: Durch diese wurde offen kundig, dass er der von Gott gesandte Messias war, wie Petrus in der Pfingst­ predigt ausdrücklich sagt: »Jesus, der Nazaräer, … von Gott vor euch bestätigt durch mächtige Taten und Wunder und Zeichen« (Apg 2,22). Dieser Zeichen wegen hätte das Volk an ihn glauben sollen; doch gerade das taten sie nicht (Joh 12,37), vielmehr wider sprachen sie ihm immer wieder und wiesen seine Aussagen über seine eigene Person und Sendung und über ihren wahren Zustand ab. Das war ihre Sünde und Torheit. Paulus hatte gepredigt »von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrikum«, d. h. bis dorthin, wo das heutige Albanien und Kroa­ tien liegen. Er hatte in Syrien, in Galatien, in Kleinasien, in Griechen­ land und bis hinauf nach Dalmatien gewirkt und dabei »das Evangelium … völlig verkündigt« (oder »ganz ausgerichtet« [Jantzen] bzw. »voll ausgerichtet« [Menge]). Das heißt natürlich nicht, dass er in die­ sem rie sigen Gebiet die Wahrheit vom Heil in Christus in jedem Dorf und Winkel gepredigt hätte, sondern eher, dass er in den großen Zen­ tren, wie etwa Ephesus, Thessalonich, Athen und Korinth, Gemeinden ge gründet hatte und dass er nun den dortigen Gläubigen die Aufgabe überantworten konnte, ihr jeweiliges Hinterland zu evangelisieren337 Man könnte den Ausdruck »das Evangelium völlig verkündigen« auch so verstehen, dass dasvollständige Evangelium mit all seinen Teilwahrheiten verkündigt wird. Gewiss tat das der Apostel (siehe 1,11). Aber selbst dieses so lange angestrebte Ziel sollte nur Zwischenhalt sein auf dem Weg in die Länder (siehe Apg 20,27), doch das scheint hier nicht gemeint zu sein, denn in diesem Abschnitt sagt Paulus, dass er bestrebt war, Christus da zu predigen, wo man nicht von ihm gehört hatte. Es geht also darum, das weite Gebiet, das ihm von Gott gesteckt ist, mit dem Evangelium zu erreichen, und hat er das getan, kann er eben sagen, er habe das Evangelium ganz ausgerichtet..

Gewiss tat das der Apostel Paulus war stets darauf bedacht, »das Evangelium nicht da zu pre digen, wo der Name Christi bekannt war«, denn er wollte »nicht auf eines an deren Grund« bauen (vgl. 2Kor 10,16). Sein besonderer Auf­ trag war es, gemäß dem Befehl des Herrn das Evangelium der ganzen Schöpfung zu predigen (Mk 16,15) und den Grund zu legen zu örtlichen Gemeinden (1Kor 3,10). Obwohl er sich darum bemühte, die Gemeinden zu befestigen, die er gegründet hatte (Apg 14,21­22; 15,36.41; 18,23), durfte er sich nicht länger als nötig in den jeweiligen Regionen aufhalten. So etwas wie einen Leitvers für seine Lebensaufgabe fand er in dieser Weissagung Jesajas: »Denen nicht von ihm verkündigt wurde, die sollen sehen, und die nicht gehört haben, sollen verstehen« (Jes 52,15).

2. Die Reisepläne des Apostels (15,22­-33)

22 Deshalb bin ich auch oftmals verhindert worden, zu euch zu kommen.

23 Jetzt habe ich nicht mehr Raum in diesen Gegenden, habe aber ein großes Verlangen, zu euch zu kommen, seit vielen Jahren. 24 Falls ich nach Spanien reise, werde ich zu euch kommen. Denn ich hoffe, auf der Durchreise euch zu sehen und von euch dorthin geleitet zu werden, wenn ich mich vorher an euch etwas gelabt habe.

»Deshalb«, weil er die zurückliegenden Jahre von Nation zu Nation gereist war und das Evangelium gepredigt hatte, war er immer wieder »verhindert worden«, nach Rom zu reisen (vgl. 1,13). So war er stets in zwei Richtungen gezogen worden, doch er wurde stärker gezogen zur Aufgabe, zuerst das Evangelium im östlichen Mittelmeerraum zu predigen.

»Jetzt«, wo er das Evangelium in jenen Gegenden voll ausgerich­tet hatte (V. 19), hatte er »nicht mehr Raum in diesen Gegenden«, und entsprechend trieb ihn »ein großes Verlangen« (vgl. Phil 1 8,; 4,1), zu den Christen nach Rom zu reisen weiter westlich am Mittelmeer: Falls er »nach Spanien« reiste, würde er »auf der Durchreise« zu ihnen kommen. Spanien war also das Ziel sei­ner Reise nach Westen, denn dort hatte man das Evangelium noch nicht gehört. Er wünschte, von den Heiligen in Rom »dorthin geleitet zu werden«, womit er nicht meinte, dass sie sich ihm anschlossen für die ganze Reise nach Spanien, sondern dass sie ihm das Nötige für die Reise mit­ gaben. propempō, wörtlich »vorwärtssenden«, sagte man, wenn man jemanden begleitete bis zur Stelle, wo man ihn allein weiterziehen ließ, wie in Apg 20,38. Da man aber einen Freund nicht mittellos entlässt, verwendete man das Wort auch so, wie es Paulus hier tut: jemanden zur Weiterreise mit Geld und Lebensmitteln ausstatten. In Tit 3,13 wird die Bedeutung des Ausdrucks klar. Paulus fordert Titus auf, Zenas und Apol­ los »mit Sorgfalt das Geleit« zu geben, und dann ergänzt er: »… damit ihnen nichts mangle«.

Ehe Paulus nach Spanien ziehen würde, wollte er sich zuerst an den Geschwistern »etwas gelabt« haben. Das hier verwendete Verb empimplēmi kommt nur noch vor in Lk 1 53,; 6,25; Joh 6,12; Apg 14,17 und bedeutet »füllen, sättigen«. Die Gemeinschaft der Heiligen war für den Apostel Erquickung (Röm 15,32; 1Kor 16,18; 2Tim 1,16; Phim 7), Labsal und Sättigung.

25 Jetzt bin ich unterwegs nach Jerusalem in einem Dienst für die Heiligen.

26 Denn es hat Mazedonien und Achaja gefallen, eine Sammlung338 Wörtlich »Gemeinschaft« (koinonia). zu erheben für die Armen unter den Heiligen, die in Jerusalem sind –

27 gefallen, ja, aber sie sind auch ihre Schuldner. Denn wenn die Nationen an ihren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, so sind sie schuldig, ihnen auch in den leiblichen zu dienen.

Obwohl Paulus nicht mehr Raum hatte im östlichen Mittelmeer und sein Verlangen ihn nach Westen trieb, war er »unterwegs nach Jerusalem«. Er musste noch einen »Dienst für die Heiligen« abschließen, ein Projekt, das er einige Zeit davor bereits eingeleitet hatte, nämlich eine Sammlung »für die Armen unter den Heiligen, die in Jerusalem sind«. Wie Pau­lus sich während längerer Zeit um diese Sammlung mühte, können wir anhand von 1Kor 16,1­4 und 2Kor 8 – 9 erkennen. Man beachte zur Dauer seiner Bemühungen den Ausdruck »seit vorigem Jahr« (2Kor 8,10). In Jerusalem waren viele Christen verarmt, weil erstens eine Hun­ gersnot Judäa und Samaria heimgesucht hatte (siehe Apg 11,27­30)339 Flavius Josephus vermerkt in den Jüdischen Altertümern: »Dann kam Tiberius Alexander als Nachfolger des Fadus … Unter diesen Prokuratoren kam es zu jener großen Hungersnot in Judäa« (XX 5,2). und weil sie zweitens von ihren jüdischen Mitbürgern bedrängt oder gar verfolgt und ihrer Güter beraubt wurden (siehe Hebr 10,32­34). Paulus hatte sich mit den drei Säulen der Jerusalemer Gemeinde ver pflichtet, »der Armen zu gedenken«, und das zu tun, hatte er sich stets befleißigt (Gal 2,10). Entsprechend konnte er den Ältesten der Gemeinde von Ephesus sagen: »Ich habe euch alles gezeigt, dass man, indem man so arbeitet, sich der Schwachen annehmen und eingedenk sein müsse der Worte des Herrn Jesus, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als Nehmen« (Apg 20,35). Zu diesem Dienst hatte er sich verpflichtet, und darum durfte er ihn nicht vernachlässigen in seinem Eifer, mit dem Evan­ gelium weiter vorzustoßen340 »Paulus veranschaulicht ein … Element, das bezeichnend ist für einen Gläubigen, der seinen Auftrag treu erfüllt: Er setzt klare Prioritäten. Planen für zukünftige Dienste darf nie dazu führen, dass ein gegenwärtiger Dienst leidet« (J. MacArthur, Romans 9 – 16, S. 345)..

Es hatte »Mazedonien und Achaja gefallen«, für die Heiligen in Jeru­ salem Geld zu sammeln, und sie waren »auch ihre Schuldner«.341 Zum fünften Mal schon begegnen wir diesem Gedanken: Wir schulden allen Menschen das Evangelium (1,14), wir schulden allen Liebe (13,8); wir schulden es den Geschwistern, dass wir ihre Schwachheiten tragen (15,1). Dem Fleisch sind wir hingegen nichts schuldig (8,12). Als Heiden standen sie bei den Juden in Dankesschuld, weil sie durch diese an »ihren geistlichen Gütern Anteil bekommen« hatten. Gottes Heil hatten die Heiden kennengelernt durch die Propheten und Apostel, die allesamt Juden waren, und mit dem Herr kam das Heil selbst aus den Juden (Joh 4,22). Da war es nur recht, dass die Heiden ihre Dankbarkeit damit zeigten, dass sie ihnen nun in »leiblichen« Gütern dienten. Paulus verwendet hier das Wort leitourgeō, und so zeigt er, dass sie damit einen Dienst taten, der gleich geistlich ist wie der Dienst, den Paulus, der »Diener« (leitourgos) Jesu Christi, tat, als er den Nationen das Evangelium predigte (V. 16). Wir hatten in 12,6­8 schon gesehen, dass der Apostel unter verschiedenen Gaben im Leib Christi neben Weissagen, Lehren und Ermahnen auch das Geben (Barmherzigkeit üben) aufführt.

28 Sobald ich also dies vollendet und ihnen diese Frucht versiegelt habe, werde ich über euch nach Spanien weiterreisen.

29 Und ich weiß, wenn ich zu euch komme, dass ich in der Fülle des Segens Christi kommen werde.

»Sobald ich … dies vollendet … habe«: Paulus ist entschlossen, den an gefangenen Dienst zum Abschluss zu bringen, und gleichzeitig drängt es ihn, endlich seine Reise »über euch nach Spanien« antreten zu kön­ nen. Ja, Rom ist lediglich Zwischenstation, aber deswegen nicht unwichtig. Er sehnt sich danach, ihnen Anteil zu geben an seiner Gnaden­ gabe, dem Dienst, den der Herr ihm gegeben hatte [1,11]). Er kann sogar sagen: »Und ich weiß, wenn ich zu euch komme, dass ich in der Fülle des Segens Christi kommen werde.« Woher hatte er diese Gewissheit? Er hat lange darum gefleht, ob es ihm »endlich einmal im Willen Gottes gelingen sollte«, dass er zu ihnen gelange (1,10). Kommt er, kommt er nach Gottes Willen (siehe unten [V. 32]), und darum kann er gewiss sein, dass er mit dem vollen Segen Christi kommt. Sein Dienst wird fruchtbar sein (1,13), die Geschwister werden gesegnet werden.

30 Ich bitte euch aber, Brüder, durch unseren Herrn Jesus Christus und durch die Liebe des Geistes: Kämpft mit mir in den Gebeten für mich zu Gott,

31 damit ich von den Ungehorsamen in Judäa errettet werde und damit mein Dienst für Jerusalem von den Heiligen gut aufgenommen werde;

32 damit ich durch den Willen Gottes mit Freuden zu euch komme und mich mit euch erquicke.

Paulus hat in den Versen 22-­29 den Brüdern seine Reisepläne aus­ gebreitet; nun bittet er sie, für ihn zu beten. Er weiß und er empfindet, wie alles Gelingen von Gottes Führen und Bewahren abhängt. Wie wir schon in 1,12 gesehen hatten, meint Paulus nicht, nur er habe Berufung und Vermögen, anderen zu helfen. Und er weiß, dass er als Glied am Leib Christi auf die anderen Glieder angewiesen ist (siehe 12,4­5). Er formuliert seinen Aufruf mit Bedacht: Er bittet die Brüder »durch unseren Herrn Jesus Christus«, für ihn zu beten, wobei man das Wörtchen »durch«, dia, gleich verstehen muss wie in 12,1 (»durch die Erbarmungen Gottes«), also »um des Herrn Jesus Christus willen«, d. h., weil er und sie dem Herrn gehören und folglich schuldig sind, einander zu tragen (siehe Gal 6,2). Und er bittet sie »durch die Liebe des Geistes«, d. h. »um des Geistes willen«, der mit seiner ganzen göttlichen Liebe in die Herzen der Gläubigen ausgegossen ist (5,5). Der drängt uns, in Liebe füreinander »[zu kämpfen] … in den Gebeten«, zu ringen und darin auszuharren. Wer die Heiligen liebt und deshalb um sie besorgt ist, spricht nicht Gebete, sondern betet, d. h. mit Glauben, und das heißt mit Ernst und mit Ausdauer. Er fleht für sie (Eph 6,18). »damit ich von den Ungehorsamen in Judäa errettet werde«: Wohl hat Gott zugesagt, dass er mit den Seinen ist bis zur Vollendung des Zeitalters (Mt 28,20), und wohl ist er der Erhalter aller Menschen und besonders der Gläubigen (1Tim 4,10). Das aber bedeutet keines­ wegs, dass wir nicht darum beten müssen, dass er uns beisteht und be ­ wahrt. Als Paulus im Jahr 57 von Korinth abreisen wollte, musste er einen Umweg einschlagen, weil die Juden einen Anschlag auf ihn machen wollten (Apg 20,3). Er kam im Frühjahr 58 in Jerusalem an (siehe Apg 20,3 – 21,15). Dort griffen ihn die Juden, als er im Tempel war, und versuchten, ihn zu töten. Da wurde er errettet: Der römische Be ­ fehls haber über die Burg Antonia schritt ein und entriss den Apostel ihren Händen (Apg 21,27­33). Danach stellten die Juden einen Hinterhalt, um ihn zu töten, aber ihr Anschlag schlug wieder fehl (Apg 23,12­24). Auf diese Weise erhörte Gott das Flehen der Heiligen in Rom und rettete sei­ nen Knecht.

Paulus bat um zwei Dinge; zuerst um Bewahrung, dann um Ge lingen in seinem Dienst: »… damit mein Dienst für Jerusalem von den Heiligen gut aufgenommen werde«. Diese Bitte mag zuerst überraschen. Warum sollte sein Dienst von den Heiligen in Mazedonien und Korinth nicht gut aufgenommen werden? Paulus wusste wohl, dass in Jerusalem etliche von den Juden, die zum Glauben gekommen waren, noch für das Gesetz eiferten (siehe Apg 21,20­21). Da war es gar nicht selbstverständ­ lich, dass man in Jerusalem den Heidenapostel mit seinen Grüßen samt Liebesgabe von den unbeschnittenen Christen freudig aufnehmen wür­ de342 »Das Zeichen der Gemeinschaft (V. 26) und damit auch eine neue Anerkennung seiner gesetzesfreienHeidenmission könnte von der Urgemeinde verweigert werden, je nachdem, welche Kreise dort dieOberhand bekämen, Jakobus oder die Judaisten« (A. Pohl, Der Brief des Paulus an die Römer,S. 306).. Obwohl die Apostel und die Ältesten in Jerusalem die Forderung abgewiesen hatten, dass man die Bekehrten aus den Heiden be schneiden und sie auf das Gesetz Moses verpflichten müsse (Apg 15,1.5), strit­ ten die Eiferer für das Gesetz gegen das Evangelium von der Freiheit in Christus (siehe Gal 3,1­2; 4,9­10; 5,1­4).

Wer dem Herrn und den Heiligen wahrhaft dient, weiß, dass er beides beständig nötig hat: dass Gott ihn bewahrt und ihm Gelingen schenkt. Ein weiterer Grund, warum Paulus die Fürbitte ersuchte, war, »damit ich durch den Willen Gottes … zu euch komme«. Darum flehte er selbst beständig (1,10), und er kam tatsächlich nach Rom. Die Worte, mit denen Lukas seine erste Begegnung mit den Brüdern fest gehalten hat, sind ergreifend: »Und so kamen wir nach Rom. Und von dort kamen die Brüder, als sie von uns gehört hatten, uns bis Appii-Forum und Tres Tabernä entgegen. Und als Paulus sie sah, … fasste er Mut« (Apg 28,14­15). Paulus fasste Mut; auch die Bitte, dass er sich »mit [ihnen] er quicke«, wurde erhört.

33 Der Gott des Friedens sei mit euch allen! Amen.

In 15,5 spricht Paulus vom »Gott des Ausharrens und des Trostes«, in 15,13 vom »Gott der Hoffnung«, und nun vom »Gott des Friedens« (auch in 16,20). Wir erfahren als Heilige, die wir dem Herrn und ein­ ander gehören, wie Gott so an uns wirkt, dass wir in der Gemeinschaft untereinander Ermunterung erfahren. Er gibt uns Kraft zum Aus harren, indem er unsere Hoffnung nährt (8,24) und den Frieden in der Seele stärkt (Phil 4,7).

Anmerkungen zu Kapitel 15

V. 7­-12 – »Beide Parteien werden angesprochen: ›Deshalb nehmt einander auf.‹ Um die respektvolle gegenseitige Annahme und die volle Aufnahme in die Gemeinde geht es. Dies soll sich an Jesus Christus orientieren (wie auch in V. 3 gesagt). Wie er uns ›zu Gottes Herrlichkeit‹ angenommen hat, so sollen auch wir einander annehmen. Weiter er innert Paulus in den Versen 8-­12 daran, dass die Heidenchristen unter ganz besonderen Umständen von Gott angenommen wurden. Christus war Jude und er war den Juden verpflichtet gewesen, aber Gott verfolgte mit seiner Bindung an Israel von Anfang an die Absicht, auch den Heiden das Heil zukommen zu lassen (V. 9a). Diese von Gott selbst konzipierte Einheit von Juden und Heiden, die durch Zusammenführung im gemeinsamen Heil zustande kam (im Zusammenhang mit Israels Verstockung), darf und soll in der Gemeinde praktisch zum Tragen kom­men. Sie darf nicht zerstört werden, schon gar nicht wegen so geringer Angelegen heiten wie Essen und Trinken. Vier Zitate aus dem AT (V. 9b­-12) untermauern diesen Hinweis auf Gottes Gesamtplan. Den Heiden wird gezeigt, dass sie auch nur aus Gnaden an dem Lob Gottes teil­ haben, und das ist ein Grund mehr, auch die vielleicht überempfindlichen Juden nicht einfach fallen zu lassen. Sie werden aufgefordert, sich ›mit seinem Volk‹ zu freuen (V. 10)« (Horst Stute, Der Römerbrief entschlüsselt, S. 209).

V. 7 »Nehmt die unordentlichen, irrenden Brüder auf und tragt sie in Geduld und macht aus ihren Sünden die euren. Und wenn ihr etwas Gutes habt, so lasst es ihres sein. Wenn ihr euch für besser haltet, so achtet es für keinen Raub, als wenn es nur euer eigen wäre, sondern er niedrigt euch und seid wie einer aus ihnen, dass ihr sie traget« (M. Luther, Christlicher Wegweiser, 15. Februar [vgl. WA Br 1, 17, 36ff.]).

Schlusswort Kapitel 16 1. Paulus empfiehlt eine Schwester den Heiligen in Rom (16,1­-2)

So wie der Römerbrief den längsten einleitenden Gruß von allen Pau­ lusbriefen enthält, enthält er auch den längsten Abschiedsgruß. Man beachte, wie der Apostel eine große Anzahl von Geschwistern einzeln mit Namen nennt und wie er sich bemüht, jedem etwas zu sagen, was ihn auszeichnet.

1 Ich empfehle euch aber unsere Schwester Phöbe, die eine Dienerin der Gemeinde in Kenchreä ist,

2 damit ihr sie im Herrn, der Heiligen würdig, aufnehmt und ihr beisteht in jeder Sache, wo sie euch braucht; denn auch sie ist vielen eine Helferin geworden, auch mir selbst.

Paulus schreibt den Römerbrief aus Korinth; »Phöbe« war »eine Dienerin der Gemeinde in Kenchreä«, wo der Hafen der Stadt Korinth war. Er wird von ihr gehört haben, dass sie nach Rom reisen werde, und so konnte er ihr den Brief an die dortige Gemeinde mitgeben. Ihr empfiehlt er Phöbe als ein treues Glied der Gemeinde, damit man »sie im Herrn, der Heiligen würdig« aufnehme. Das heißt, dass man sie so aufnimmt, wie Christus uns aufgenommen hat (15,7). Es war offensichtlich üblich, reisenden Geschwistern solche Empfehlungsschreiben mit zugeben, wie uns das Beispiel von Apg 18,24­28 zeigt (vgl. auch 1Kor 16,10­11). Ob »Dienerin«, diakonos, hier verstanden werden müsse im Sinne eines Amtes (wie in 1Tim 3,8), ist nicht ganz sicher, denn als diakonos wird jeder bezeichnet, der dient, sei er ein Apostel (Mt 23,11; 1Kor 3,5; Eph 3,7), ein Mitarbeiter des Apostels (Kol 4,7; 1Tim 4,6), einer, der den Gästen Wein einschenkt (Joh 2,5) oder sogar einer, der dem Satan dient (2Kor 11,15). Man kann auf Phil 1,1 verweisen, wo die »Aufseher und Diener« unter »allen Heiligen« besonders hervorgehoben werden. Wenn diese in Philippi offiziell so benannt werden, ist es gut möglich, dass Phöbe eine offiziell anerkannte Dienerin in der Gemeinde Kenchreä war.

»Wir wissen von anderer Stelle, dass ältere Frauen, besonders Witwen, eine offizielle oder quasi-offizielle Aufgabe erfüllten, indem sie der Gemeinde dienten … Da Phöbe in dieser Weise vom Herrn geehrt und von seinen hauptsächlichen Dienern anerkannt war, stellt der Apostel sie entsprechend den Heiligen in Rom vor, damit sie sie in würdiger Weise aufnehmen.«343 William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 275.

Die Schwester würdig aufnehmen heißt auch, dass man »ihr beisteht in jeder Sache«, wo sie den Beistand der Gemeinde nötig hat, ihr also alle Gastfreundschaft gewährt (siehe Röm 12,13) und sie bei ihrer Heim­ reise ausstattet mit allem Nötigen (siehe auch Tit 3,13). Das sollte man umso mehr tun, als »sie … vielen eine Helferin« war, sogar dem Apo­ stel selbst. Es bestand also keine Gefahr, dass man da eine Person unter­ stützte, welche die Freundlichkeit der Gläubigen ausnützte.

2. Paulus grüßt geliebte Geschwister in Rom (16,3­-16)

In diesen Versen werden 26 Personen mit Namen genannt, und von den meisten weiß Paulus etwas Persönliches zu sagen. Das zeigt, dass er ihr Ergehen ernst nahm und dass er mit Namen für sie gebetet hat. Diese Namen bedeuten dem Himmel mehr als die Namen aller Großen in der Welt. Sie sind im Himmel angeschrieben (Lk 10,20), ihre Namen ste­ hen im Buch des Lebens (Phil 4,3). Der Herr hat sie alle mit Namen gerufen (Joh 10,3). Und der Kaiser, der in Rom auf seinem Thron saß? Er wird die Namen einiger seiner Feldherren gekannt haben sowie die der Statthalter in den größten Provinzen. Aber die Christen in Rom? Er kannte sie nicht, und hätte er sie gekannt, hätten sie ihn keinen Deut interessiert.

3 Grüßt Priska und Aquila, meine Mitarbeiter in Christus Jesus,

4 (die für mein Leben ihren eigenen Hals hingehalten haben, denen nicht allein ich danke, sondern auch alle Gemeinden der Nationen)

5a und die Gemeinde in ihrem Haus.

Von allen Personen, die Paulus namentlich grüßen lässt, bekommen »Priska und Aquila« die größte Anerkennung. Paulus nennt sie seine »Mitarbeiter«. Als solche waren sie bereit, für das Leben des Apostels »ihren eigenen Hals [hinzuhalten]«. Das erinnert an die Männer, die Barnabas und Paulus begleiteten, von denen es heißt, dass sie »ihr Leben hingegeben haben für den Namen des Herrn« (Apg 15,26). Diese wie Aquila und Priska taten, was alle Kinder Gottes einander schulden, näm­ lich »für die Brüder das Leben hinzugeben« (1Jo 3,16).

Priska und Aquila hatten eine »Gemeinde in ihrem Haus«. Diese Versammlung erwähnt Paulus auch in 1Kor 16,19. Auch von einem Nym­ phas und von Philemon hören wir, dass in ihrem Haus eine Gemeinde war (Kol 4,15; Phim 2). Die Gemeinden in der Zeit der Apostel hatten keine Gemeindehäuser oder keine geweihten Gebäude. Wenn Heilige sich regelmäßig im Haus eines Bruders trafen, dann war das Gemeinde.

5b Grüßt meinen geliebten Epänetus, der die Erstlingsfrucht Asiens für Christus ist.

6 Grüßt Maria, die viel für euch gearbeitet hat.

7 Grüßt Andronikus und Junias, meine Verwandten und meine Mitgefangenen, die bei den Aposteln angesehen sind, die auch vor mir in Christus waren.

8 Grüßt meinen im Herrn geliebten Ampliatus.

9 Grüßt Urbanus, unseren Mitarbeiter in Christus, und meinen geliebten Stachys.

10 Grüßt Apelles, den Bewährten in Christus. Grüßt die von Aristobuls Haus.

11 Grüßt Herodion, meinen Verwandten. Grüßt die von Narzissus’ Haus, die im Herrn sind.

12 Grüßt Tryphäna und Tryphosa, die im Herrn arbeiten. Grüßt die geliebte Persis, die viel gearbeitet hat im Herrn.

13 Grüßt Rufus, den Auserwählten im Herrn, und seine und meine Mutter.

14 Grüßt Asynkritus, Phlegon, Hermes, Patrobas, Hermas und die Brüder bei ihnen.

15 Grüßt Philologus und Julias, Nereus und seine Schwester und Olympas und alle Heiligen bei ihnen.

»Epänetus« (V. 5) war »die Erstlingsfrucht«, d. h. der erste Bekehrte »Asiens344 Der Textus Receptus hat hier »Achaja« statt Asien, und das steht im Widerspruch zur Angabe von 1Kor 16,15. Dort erfahren wir, dass »das Haus des Stephanas … der Erstling von Achaja« ist. Es können ja offenkundig nicht zwei der Erstling sein. für Christus«. Was wird dieses Wort bei Epänetus ausgelöst haben? Er war eine »Gabe für Christus«. Lebte er entsprechend? Er war in Asien der erste Bekehrte des Apostels. Hatte er die erste Liebe be halten?

»Maria« (V. 6) hatte »viel … gearbeitet«. Das wird auch von den drei Frauen »Tryphäna und Tryphosa« und »Persis« gesagt. Im hier verwendeten Verb kopiaō und auch im entsprechenden Hauptwort kopos ist die Mühe und die Last des Arbeitens enthalten (siehe Mt 11,28; Lk 5,5; Joh 4,6). Der Apostel spricht immer wieder von seiner eigenen Mühe im Werk des Herrn (1Kor 4,12; 2Kor 6 5,; 11,27; 1Thes 1,3; 2Thes 3,8). In 1Kor 15,10 sagt er sogar, dass er mehr gearbeitet habe als die anderen Apostel. Der Christ ist ein Arbeiter; eine der Tugenden, die ihn aus zeichnen, ist der Fleiß. Wenn jemand nicht fleißig ist, müssen wir uns fragen, ob er ein Heiliger sei. Siehe Röm 12,8.11; 2Kor 7 12,; 8,7; Hebr 4 11,; 6,11; 2Petr 1 10,; 3,14; Jud 3.

»Andronikus und Junias« (V. 7) wie auch »Herodion« (V. 11) nennt Paulus seine »Verwandten«, d. h., sie waren »Verwandte nach dem Fleisch … [die] Israeliten [sind]« (Röm 9,3­4). Und die beiden Erst­ genannten waren sogar »Mitgefangene« des Apostels, d. h., sie müssen irgendwann mit ihm im Gefängnis gewesen sein. Sie hatten sich in Lei­ den bewährt und waren daher »bei den Aposteln angesehen«.

»Ampliatus« (V. 8) bezeichnet Paulus als einen, der »im Herrn geliebt« war. Geliebt heißen auch Epänetus (V. 5), »Stachys« (V. 9) und »Persis« (V. 12). Der Christ liebt alle Menschen (siehe Röm 13,8­9), doch in besonderer Weise die vom Herrn Geliebten (Röm 12,10), d. h., er liebt sie »im Herrn«, weil sie »im Herrn« sind und dem Herrn gehören. So wie der Herr die Gemeinde mehr liebt als alles andere in der Welt – er bezahlte mit seinem Leben für den ganzen Acker, um den Schatz im Acker zu erwerben (Mt 13,44); er hat »die Gemeinde geliebt und sich für sie«, nicht für die Welt, »hingegeben« (Eph 5,25) –, liebt auch der Heilige die Hei­ ligen Gottes mehr als alle anderen (siehe Gal 6,10). Die Bruderliebe ist eines der Merkmale der Jünger des Herrn Jesus (Joh 13,34­35).

»Urbanus« (V. 9) ist neben Priska und Aquila der Einzige, den Pau­ lus ebenfalls als einen seiner »Mitarbeiter« bezeichnet. Die Christen sind nicht durch akademische Titel oder Amtsbezeichnungen wie Pro­ fessor, Bischof oder Kardinal charakterisiert, sondern durch ihr Werk.

»Apelles« (V. 10) ist ein »Bewährter in Christus«. Bewährt wird man durch Ausharren im Leiden (Röm 5,3­4). Paulus lässt die Leute von »Aristo buls« Haus grüßen, und im Haus des »Narzissus« jene, »die im Herrn sind« (V. 10.11). Das bedeutet wohl, dass im Haus Aristobuls alle dem Herrn gehörten, während das im Haus des Narzissus nicht der Fall war.

Den »Rufus« (V. 13) nennt der Apostel »den Auserwählten im Herrn«. Warum nennt er gerade ihn so, wo doch alle Gläubigen Aus­ erwählte sind? Vielleicht muss er in besonderer Weise dem Rufus in Erinnerung rufen, woher es kommt, dass er nun ein Christ und als Christ ein Geliebter und Gesegneter Gottes ist. Und er muss sich dabei fragen, ob er lebe, wie es eines Auserwählten würdig ist. Da der Name Rufus nur noch in Mk 15,21 vorkommt, nimmt man an, er sei der Sohn des Simon von Kyrene.

»Ist die Vermutung, dass uns der Vater des Rufus bekannt ist und dass es sich dabei um den Kreuzträger Simon von Kyrene handelte, ›nur eine erbauliche Spekulation‹ (Käsemann)? Man stelle sich der auffallenden Notiz bei Markus. Vorausgeschickt sei, dass alle Indizien dafür sprechen, dass dies Evangelium nach Rom weist. Dann ist der Hinweis auf die beiden in Mk 15,21 genannten Söhne Alexander und Rufus allein sinnvoll, wenn die römischen Leser diese beiden kannten.«345 Adolf Pohl, Der Brief des Paulus an die Römer, S. 312.

Paulus muss mit Rufus eng vertraut gewesen sein, dass er dessen Mutter auch seine »Mutter« nennen kann. Es ist denkbar, dass er Gastfreund­ schaft im Haus von Rufus und dabei besondere Fürsorge von seiner Mut­ter genossen hat, während er umherreiste. Rufus muss später nach Rom gezogen sein.

»Paulus hatte alles aufgegeben um Christi willen, und er hatte in dieser heiligen Frau eine Mutter! Siehe Markus 10,30.«346 W. Newell, Romans Verse by Verse, S. 554. »Asynkritus, Phlegon, Hermes, Patrobas, Hermas … Philologus und Julias, Nereus und seine Schwester und Olympas« (V. 14-­15) hat­ ten »Brüder« und »Heilige« bei sich, d. h. in ihren Häusern. Warum sagt Paulus hier nicht wie bei Aquila und Priska »die Gemeinde in ihrem Haus«? Traf man sich nicht regelmäßig dort? Oder wussten die Geschwister, die sich hier einfanden, dass sie als Gemeinde zusammen­ kamen und dass es einerlei war, ob man das formal so sagte oder nicht? Auf alle Fälle wird in diesen Grußworten des Apostels deutlich, dass die Gemeinde in Rom aus Hausgemeinden bestand, wo sich die Christen in den Häusern trafen. Sie alle zusammen waren »die Gemeinde Gottes, die in Rom ist«.

16 Grüßt einander mit heiligem Kuss. Es grüßen euch die Gemeinden des Christus.

Nachdem Paulus lauter Grüße aufgetragen hat an einzelne Geschwister, fordert er alle auf, »einander« zu grüßen »mit heiligem Kuss«. Außer hier wird diese Aufforderung noch viermal gegeben (1Kor 16,20; 2Kor 13,12; 1Thes 5,26; 1Petr 5,14). Paulus nennt den Kuss »heilig«, Petrus nennt ihn einen Kuss »der Liebe«. Viermal hat Paulus in den o bigen Versen einzelne Geschwister »geliebt« genannt (V. 5.8.9.12). Die Heiligen erkennt man daran, dass sie »in der Bruderliebe … herzlich zueinander« sind (Röm 12,10). Wenn das der Fall ist, ist der Kuss ein schöner Ausdruck der innigen Zuneigung, und da er die besondere Liebe der Heiligen zueinander bezeugt, ist er eben »heilig«.347 Stifler hat dazu folgende Erklärung gegeben: »Paulus meint hier: Wenn sie den Brief aus der Hand der Phöbe erhalten haben und zusammengekommen sind, um ihn zu hören, und zum Schluss alle diese Grüße gelesen worden sind, sollten sie mit diesem Zeichen einander als Brüder in Christus grüßen. Diese Handlung markierte die Annahme eines Briefes von einem Apostel (siehe 1Kor 16,20; 2Kor 13,12; 1Thes 5,26; 1Petr 5,14). Dass Paulus mit dem ›heiligen Kuss‹ eine bleibende Sitte oder Verordnung einführen wollte, verstößt gegen den Kontext. Dass man seinen Brief mit den Grüßen angenommen hatte, sollte damit markiert werden, dass man einander grüßte, das und gar nichts mehr« (James M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 267).

»Es grüßen euch die Gemeinden des Christus«: Paulus hatte das Evangelium von Jerusalem an ringsum und bis Illyrikum ge predigt und Gemeinden gegründet (Röm 15,19). Aus diesen Gemeinden trug man dem Apostel, der dort von seinen Plänen, nach Rom zu reisen, be richtet hatte, Grüße an die Heiligen in Rom auf. Die Gemeinden sind »des Christus«, und die Gemeinde heißt »Gemeinde Gottes« (1Kor 1,2; Gal 1,13). Sie gehört Gott, der sie »durch das Blut seines Eigenen« erworben hat (Apg 20,28). Kein Mensch soll es wagen, die Gemeinde Gottes wie seinen eigenen Besitz zu behandeln und über sie zu herrschen (siehe 1Petr 5,3).

3. Warnung vor falschen Brüdern (16,17-­20)

In den Grüßen des Apostels hatten wir etwas empfinden können von der Liebe, welche die Glaubenden zusammenband. Die Gemeinschaft der Heiligen gehört zu den größten Wundern, die Gott unter Menschen wirkt. An der Gemeinde soll die Engelwelt etwas von Gottes mannigfaltiger Weisheit ablesen (Eph 3,10). Es sollte uns daher nicht verwundern, dass dieses herrliche Werk angegriffen wird. Paulus muss die »Geliebten Gottes, berufene Heilige, die in Rom sind« (Röm 1,7) aufrufen, achtzuhaben auf böse Arbeiter, welche die Herde verderben wollen. Wiederholt müs­sen die Apostel von falschen Brüdern und betrügerischen Arbeitern reden und vor ihnen warnen (Apg 20,28­29; Gal 2,4; Phil 3,2; 2Petr 2,1; Jud 4). Wir wären Toren, schlügen wir diese Warnungen in den Wind.

17 Ich ermahne euch aber, Brüder, dass ihr achthabt auf die, welche Entzweiungen und Ärgernisse anrichten, dies entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab.

18 Denn solche dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch, und durch schönes Reden und Schmeichelworte verführen sie die Herzen der Arglosen.

19 Denn euer Gehorsam ist bei allen bekannt geworden. Daher freue ich mich über euch, wünsche aber, dass ihr weise seid zum Guten, doch einfältig zum Bösen.

»dass ihr achthabt«: Das Erste, was die Gläubigen tun müssen, ist acht­ haben. Wir müssen die Warnungen ernst nehmen, die vor den Aposteln schon der Herr ausgesprochen hat: »Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, innen aber sind sie reißende Wölfe« (Mt 7,15). Wenn der Herr sagt, dass wir uns vor den Wöl­ fen hüten müssen, dann bedeutet das, dass diese Wölfe kommen werden. Paulus kündigt sie in seiner Abschiedsrede an die Ältesten von Ephesus an (Apg 20,29). Diese Leute richten »Entzweiungen« an, d. h., sie zer­ schneiden die Bande der Liebe und der Wahrheit, welche die Erlösten in der örtlichen Gemeinde zusammenbinden. Das tun sie durch ein geübtes Mundwerk, »schönes Reden und Schmeichelworte«348 Solche Worte wird gemäß Ps 55,22 auch der Antichrist, der endzeitliche König der Juden, führen: »Glatt ist sein Mund wie Butter, doch Krieg ist sein Herz; weicher als Öl sind seine Worte, doch sind sie gezückte Schwerter. … ›Glatt ist sein Mund‹: So war der verräterische Mund des Judas, als er den Meister zum Verrat küsste. ›doch Krieg ist sein Herz‹: Während Ahitophel mit David noch trauten Umgang pflegte und sanfte Worte sprach, plante sein Herz schon den Bürgerkrieg. ›gezückte Schwerter‹: So waren die Worte Ahitophels, als er Absalom einen Plan vorlegte, wie man König David allein töten könne (2Sam 17,1-2)« (B. Peters, Die Psalmen 42 – 72, Bielefeld: CLV, 2018, S. 183)., mit denen sie »[die] Arglosen« betören und auf ihre Seite ziehen. Die »Arglosen« oder Harmlosen, wie man das griechische akakos auch übersetzen kann, wün­ schen anderen nichts Böses; sie trauen allen, weil sie nie vermuten, dass einer schön reden könne, während er Böses denkt. Als Nächstes verleum­ den diese Schönredner die anderen, und so treiben sie Keile zwischen die Heiligen, die zuvor im Band des Friedens miteinander lebten und dien­ ten (Spr 6,12­14; 26,22). David klagt über Gottlose, deren Zunge wie ein Schermesser zerschneidet, was zusammengehört (Ps 52,4).349 Der Psalm 52 entstand, nachdem Doeg das Haus Ahimelechs bei Saul verleumdet hatte. »Doegs Zunge war ›wie ein geschärftes Schermesser‹. Sie wurde buchstäblich zum scharfen Messer, zum Schwert, das die Priester Gottes aus dem Land der Lebenden vertilgte. Zuerst verleumdete er die Priester und lieferte sie damit dem todbringenden Zorn Sauls aus. Am Ende legte Doeg selbst Hand an die Priester und stieß sie mit dem Schwert nieder (1Sam 22,18). Ein scharfes Messer trennt Seile durch. Die Lüge zerschneidet die Bande, die uns an Gott binden und seine Heiligen zusammenhalten. Sie zerfetzt das fein geknüpfte Netz des Lebens. Wie furchtbar ist eine Zunge des Truges! Sie trennt, was Gott zusammengefügt hat. Sie zersetzt, was Gott zueinander gesetzt hat. Sie verbreitet Tod, wo Gott Leben gegeben hat. Gott wird dieses Böse furchtbar rächen. Er wird dem Verleumder das Leben entreißen, und er wird ihn dem zweiten, dem ewigen Tod übergeben« (B. Peters, a. a. O., S. 144). Und Salomo nennt sieben Dinge oder Menschen, die dem Herrn ein Gräuel sind, und zu diesen gehört, »wer Zwietracht ausstreut zwischen Brüdern« (Spr 6,19). Solches Handeln ist »entgegen der Lehre«, welche die Gläubigen gelernt hatten, und darum muss man sich von diesen Leu­ten abwenden (siehe auch 2Tim 3,5) oder sie abweisen (Tit 3,10­11).

Paulus begründet seine Aufforderung, indem er sie noch schärfer cha­ rakterisiert: »Denn solche dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch.« Menschen, die nicht dem Herrn, sondern ihrem eigenen Bauch und damit nur sich selbst dienen, sind keine Chris­ ten. Judas sagt von ihnen, dass sie »ohne Furcht Festessen mit euch hal­ ten und sich selbst weiden« (Jud 12). In Phil 3,19 sagt Paulus, dass deren Ende Verderben ist. Sie sind Gottlose, und mit solchen kann der Christ keine Gemeinschaft haben, denn »welche Übereinstimmung hat Christus mit Belial, oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen?« (2Kor 6,15).

Paulus spricht auch in seinem zweiten Brief an Timotheus von Leu­ten, die ganz gottesfürchtig scheinen und gewiss auch entsprechend schöne Reden führen, aber sie verleugnen die Kraft Gottes, d. h. das Evangelium (Röm 1,16), das Wort vom Kreuz (1Kor 1,18). Von diesen muss Timotheus sich abwenden (2Tim 3,5). An Titus schreibt er, dass man sektiererische Leute zurechtweisen muss, und wenn sie sich nicht zurechtweisen lassen, muss man sie abweisen (Tit 3,10­11).

Die Christen in Rom sollten umso mehr auf der Hut sein, weil ihr »Gehorsam … bei allen bekannt geworden« war, und dazu konnte Paulus nur sagen: »Ich [freue] mich über euch.« Selbstverständlich hörte er gerne, dass sie vielen zum Vorbild geworden waren. Sollten aber die bösen Arbeiter Eingang bei ihnen finden und die Herde verderben können, würden gerade deswegen viele ihrem Beispiel folgen. Darum wünschte er sehr, dass sie »weise [seien] zum Guten, doch ein fältig zum Bösen«. Hier wiederholt der Apostel mit anderen Worten, was er in 12,9 befohlen hat: »Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten!« »Weise … zum Guten« kann man nur werden, wenn man das Gute kennt, d. h. durch Erkenntnis Gottes und seines Heils, und diese Erkenntnis gewinnt man allein durch das Wort Gottes. »einfältig«, akeraios, ist wörtlich »unvermischt«. Dem Unvermischten ist Nützlichkeitsdenken fremd. Er fragt nicht, ob ihm etwas Vorteile oder Nachteile bringe, son­ dern ob eine Sache Gott gefalle oder nicht. Sein Auge ist einfältig auf Gottes Wort und Willen gerichtet, und darum ist sein Leib voller Licht (siehe Mt 6,22).

20 Der Gott des Friedens aber wird in Kurzem den Satan unter eure Füße zermalmen. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch!

Es ist »der Gott des Friedens«, der seinen Sohn gesandt und durch ihn Erlösung gewirkt hat, sodass der Glaubende nun »Frieden mit Gott« hat (Röm 5,1). Und er ist es, der dafür sorgt, dass der Friede Gottes (Phil 4,7) unter seinen Heiligen regiert350 Wie man zwischen »Frieden mit Gott« und »Friede Gottes« unterscheiden muss, habe ich bei derAuslegung von Röm 5,1 erörtert.. Er tut das, indem er den Satan mitsamt seinen Werken zermalmt. Hier wird der Teufel im Römerbrief zum ersten Mal erwähnt. Er ist ein Feind Gottes und darum auch der Kinder Gottes. Alles, was Gott wirkt, will er verderben. Er zerstört den Frieden, indem er die Brüder verleumdet (Offb 12,10), und das tut er durch die falschen Brüder, die bösen Arbeiter. Damit, dass Gott den Satan zermalmt, hört sein zersetzendes Wirken auf, und Friede kehrt wieder ein unter den Hei­ ligen. Man beachte, dass Gott dieses Werk nicht unmittelbar tut, son dern durch die Heiligen; er zermalmt den Satan »unter [deren] Füße«. Das bedeutet, dass die Heiligen in der Kraft Gottes und mit den Waf­ fen, die er ihnen dazu gegeben hat, ihren Kampf kämpfen müssen gegen jene Mächte, welche gegen Gott anrennen, indem sie sein Werk, die Gemeinde, zerstören wollen (siehe Eph 6,10­20). Paulus schließt diesen Abschnitt mit einem Segen, der eigentlich eine Bitte des Apostels ist: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch!«: Er weiß, dass die Christen in Rom ohne die Gnade des Herrn Jesus nichts vermögen. Es ist auffällig, wie häufig die Apostel die Gnade mit dem Herrn Jesus verbinden, besonders der Apostel Pau­ lus. Er spricht von der Liebe des Vaters, aber von der Gnade des Soh­ nes. Der erste Beleg ist Apg 15,11; dann findet er sich im vorliegenden Vers, dann wieder in Röm 16,24; dann wieder in 1Kor 16,23; sodann im sogenannten »apostolischen Segen« (2Kor 13,13), wieder in Gal 1,6 und dann in Phil 4,23; der letzte Beleg findet sich im letzten Vers der Bibel, in Offb 22,21.

4. Grüße von Begleitern des Apostels (16,21­-24)

21 Es grüßen euch Timotheus, mein Mitarbeiter, und Lucius und Jason und Sosipater, meine Verwandten.

22 Ich, Tertius, der ich den Brief geschrieben habe, grüße euch im Herrn.

23 Es grüßt euch Gajus, der mich und die ganze Gemeinde beherbergt. Es grüßen euch Erastus, der Stadtverwalter, und der Bruder Quartus.

»Timotheus« wird unter den Begleitern des Apostels als Einziger »mein Mitarbeiter« genannt (wie Priska, Aquila und Urbanus in 16,3.9). Ihm stellt Paulus das einmalige Zeugnis aus: »Ich habe keinen Gleichgesinnten, der von Herzen für das Eure besorgt sein wird; denn alle suchen das Ihre, nicht das, was Jesu Christi ist. Ihr kennt aber seine Be währung …« (Phil 2,20­22). »Lucius und Jason und Sosipater« nennt Paulus »meine Verwandten«, d. h., sie waren wie Andronikus, Junias und Herodion (V. 7.11) Juden. »Tertius«, den wir nur von dieser Stelle im Neuen Testament her kennen, grüßt die Geschwister »im Herrn«. In Christus sind alle Heiligen miteinander in Liebe verbunden. Tertius hat »den Brief geschrieben«, d. h., er schrieb die Worte nieder, die der Apo­ stel ihm diktierte, wie Baruch die Worte Jeremias (Jer 36,32). Auf diese Weise diente er wie ein Timotheus dem Apostel, und damit diente er dem Volk Gottes.

»Gajus«, der Paulus »und die ganze Gemeinde beherbergt«, sen­ det Grüße nach Rom. Gajus ist der Mann, den Paulus bei seinem ers ten Besuch in Korinth getauft hatte (1Kor 1,14). Er war ein Begleiter des Apostels, der im Tumult in Ephesus von der aufgebrachten Menschen­ menge mit fortgerissen wurde (Apg 19,29). Danach begleitete er Paulus auf dessen Weiterreise nach Mazedonien und Griechenland und zurück (Apg 20,1­4). »Erastus« lebte in Korinth, wo er noch immer war, als Paulus am Ende seines Glaubenslaufs angelangt war (2Tim 4,20). Zum ersten Mal hören wir in Apg 19,22 von ihm, wo er zusammen mit Timotheus genannt wird. Wie Timotheus (siehe Phil 2,22) war er jemand, der »ihm [Paulus]« diente. Er war »der Stadtverwalter«, οικονομος της πολεως, oikonomos tēs poleōs, was auch »Schatzmeister der Stadt« bedeuten kann. Vom »Bruder Quartus« haben wir keine weiteren Nach­ richten351 Als Kuriosität mag interessieren, dass sein Name ein typisch römischer ist. Bei den Römern war es Sitte, die Söhne, die sie bekamen, durchzunummerieren. So hören wir in der Apostelgeschichte von jemandem, der Sekundus = »der Zweite« hieß (in Kap. 20,4). Wir waren oben in V. 22 dem Namen Tertius = »der Dritte« begegnet; und hier nun haben wir einen Quartus = »der Vierte«. Die Römer waren gute Juristen und Buchhalter, dass sie Witz gehabt hätten, hat man ihnen nie nachgesagt..

24 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen! Amen.

Nach V. 20 folgt zum zweiten Mal dieser Segenswunsch.

5. Abschließende Doxologie (16,25-27)

Paulus kehrt mit diesen letzten Zeilen zum Inhalt der ersten Zeilen des Briefes zurück. Damit ist der Kreis geschlossen. Dieser Brief ist eine in sich abgeschlossene, vollständige Darlegung des Evangeliums Gottes. Beachten wir, wie die nachstehend aufgeführten vier Aussagen aus 1,1­5 sich in 16,25­27 wiederfinden:

Evangelium Gottes (1,1) – mein Evangelium (16,25); durch seine Propheten in heiligen Schriften verheißen (1,2) – durch prophetische Schriften (16,26); über seinen Sohn Jesus Christus (1,3) – die Predigt von Jesus Christus (16,25); zum Glaubensgehorsam unter allen Nationen (1,5) – zum Glaubensgehorsam an alle Nationen (16,26).

Aber der Apostel wiederholt nicht nur die einleitenden Worte seines Briefes, sondern er ergänzt sie mit den wichtigen Worten vom Geheim­nis, das alle Zeitalter hindurch verborgen gewesen, aber nun offenbart worden war.

25 Dem, der euch zu befestigen vermag nach meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, gemäß der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war,

26 jetzt aber offenbart und durch prophetische Schriften, gemäß Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan worden ist,

27 dem allein weisen Gott durch Jesus Christus, ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

Paulus gibt »dem, der euch zu befestigen vermag« die Ehre. Im Evan­ gelium verherrlicht sich Gott, indem er Sünder rechtfertigt und danach die Gerechtfertigten befestigt, sodass sie bewahrt bleiben bis auf den Tag der Erlösung des Leibes (8,23; Eph 4,30).

»nach meinem Evangelium«: Nur Gott kann befestigen; das Mittel, das er dazu verwendet, ist das von Paulus gepredigte Evangelium, das Evangelium vom Sohn Gottes, das Evangelium der Gnade Gottes. Weil das Evangelium, das Paulus wie bereits in 2,16 »[sein] Evangelium« nennt, Gottes Evangelium ist, ist es die Kraft Gottes zum Heil (1,16), und das heißt: Gott befreit von der Schuld der Sünde (Röm 3,21 – 5,11), von der Macht der Sünde (Röm 5,12 – 8,16) und schließlich von der Gegen­ wart der Sünde (8,17­25).

»und der Predigt von Jesus Christus«: Christus ist der Inhalt des Evangeliums; die Predigt von Jesus Christus wirkt den Glauben an ihn, und es ist der Glaube »an Jesus Christus« (3,22), der rechtfertigt und damit rettet. Die Predigt des Evangeliums ist »gemäß der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war«. In 1,2 hatte Paulus gesagt, dass Gott das Evangelium »durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen« hatte. Was meint er dann aber, wenn er hier sagt, ein Geheimnis sei offenbart worden, das zuvor während ewiger Zeiten verschwiegen, also unbekannt war? Es muss sich um etwas handeln, was im Alten Testament nicht offenbart war, son­dern erst im Neuen Testament enthüllt wurde. Es kann nur das Geheim­ nis sein, von dem Paulus in Eph 3,3­5 und Kol 1,26­27 spricht. Er sagt von diesem »Geheimnis«, dass es ihm »durch Offenbarung … kund getan worden ist« (Eph 3,3). Er nennt es »das Geheimnis des Christus« (V. 4), weil es etwas ist, was in und durch Christus verwirklicht wird und was erst offenbart wurde, nachdem Christus in die Welt ge kommen war und Er lösung für alle, für Juden und Heiden (vgl. Röm 1 16,; 20,26; Apg 12 17,; 15,12.13; Röm 16,25; 1Kor 14,28.30.34. Es bedeutet nie etwas anderes, als keinen Ton von sich zu geben; es hat nie die Bedeutung »verhüllt reden« oder »in Andeutungen reden« oder »unverständlich reden«. Folglich können die Erklärungen folgender Art, welche die meisten Ausleger bieten, nicht richtig sein:

»Jetzt ist das Geheimnis offenbart worden … Paulus will sagen, dass die wirkliche Bedeutung des Alten Testaments erst mit dem Kommen Christi offenkundig wurde.«352 Leon Morris, The Epistle to the Romans, S. 547. Ähnliche Erklärungen zur Bedeutung der Offenbarung des Geheimnisses bieten Calvin, Cranfield, Murray, Pohl, Krimmer, Hendriksen, Moo und Schreiner

»Wie Paulus in V. 26 klarmacht, bedeutet das Verborgensein nicht, dass man keine Kenntnis vom Inhalt des Geheimnisses haben konnte, sondern vielmehr, dass man es nicht vollständig verstehen oder erfahren konnte.«353 Douglas Moo, The Epistle to the Romans, S. 939.

Aber sagt Paulus nicht, dass dieses Geheimnis »durch prophetische Schriften, gemäß Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan worden ist«? Bedeutet das nicht doch, dass das Geheimnis schon von den Propheten des Alten Testaments an ­ gekündigt worden war? Wir müssen – wie immer – genau lesen354 Das tut z. B. Murray gerade an dieser Stelle nicht: »Der Ausdruck ›jetzt offenbart worden‹, wenn er zusammen mit ›verschwiegen‹ und ›offenbart‹ genommen wird, könnte den Eindruck wecken, dass im Alten Testament keinerlei Offenbarung dieses Geheimnisses geschehen sei. Dieser Eindruck wird jedoch entschieden ausgeschlossen durch die Worte ›durch die Schriften der Propheten‹. Das sind die Heiligen Schriften, auf die der Apostel sich in diesem Brief immer wieder beruft« (John Murray, The Epistle to the Romans, S. 241­242). Man fragt sich, wie das griechische dia graphōn prophētikōn nicht nur von Murray, sondern sogar auch von einer Bibelübersetzung wie der New American Standard Bible wiedergegeben werden kann mit »by the Scriptures of the prophets«.. Pau­ lus sagt eben nicht, dass das Geheimnis durch die Propheten des Alten Testaments kundgetan wurde. Er hätte sich ja dann in einem einzigen Satz widersprochen, wo er doch eben festgehalten hat, dass das Geheim­ nis »ewige Zeiten hindurch verschwiegen war« und erst »jetzt« offen­ bart wurde. Er sagt auffälligerweise nicht wie in 1,2 dia tōn prophētōn, »durch seine Propheten«, von denen es heißt, dass diese das Evangelium Gottes en graphais hagiais, »in heiligen Schriften«, zuvor verheißen hatten, sondern er ändert den Ausdruck bewusst und sagt dia graphōn prophētikōn, »durch prophetische Schriften«, um so einen Gegensatz zu den alttestamentlichen Propheten zu markieren. Er meint also neutestamentliche prophetische Schriften355 Godet gehört zu den wenigen Auslegern, die diese Ausdrucksweise beachten und sie entsprechend deuten: »Die Bedeutung des Ausdrucks, so wie der Apostel ihn verstand, kommt deutlich zum Vorschein … in Eph 3,3-5: ›… dass mir durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan worden ist, wie ich es zuvor in Kurzem beschrieben habe … wie es jetzt offenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist: dass die Nationen Miterben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium.‹ Gemäß ihm liegt also eine neulich gegebene Sammlung von Schriften vor, welche neue Offenbarungen enthält, ebenso wie die prophetischen Bücher des Alten Testaments die alten Offenbarungen enthielten. Das ist es, wie es mir scheint, was Paulus unter den prophetischen Schriften versteht … Es sind die apostolischen Schriften …« (Frédéric Godet, Commentaire sur l’épître aux Romains, tome second, S. 624).. Das stimmt mit Eph 2,20 überein, wo wir erfahren, dass die Gemeinde gegründet ist auf der Grundlage »der Apostel und Propheten«, ebenjener Propheten, die in Eph 3,5 wie­ der genannt werden.

So erfahren wir also ganz zum Schluss des Römerbriefes, dass zum Evangelium, »das zum Glaubensgehorsam an alle Nationen« gepredigt werden soll, auch die Lehre von der Gemeinde gehört. Über das Zusammenleben in ihr hat Paulus in Röm 12; 14 und 15 einiges gesagt. Aber was das Wesen und die besondere Berufung der Gemeinde ist, hat er andernorts gelehrt, am ausführlichsten im Brief an die Epheser. Fassen wir zusammen:

»gemäß der Offenbarung des Geheimnisses« – das Evangelium und die Predigt von Jesus Christus haben ihren Ursprung in Gott. Das Heil mit allem, was zu ihm gehört, kommt von ihm (siehe 11,36); es ist in keines Menschen Herz gekommen (1Kor 2,9); Gott hat es offenbart (3,21). »zum Glaubensgehorsam an alle Nationen« – das Evangelium hat die Kraft, Glauben zu wecken und Sünder zu retten und aus Ungehorsamen Gehorsame zu machen. Es wächst und bringt Frucht in aller Welt (Kol 1,6); »dem allein weisen Gott« – das Evangelium offenbart die Weis­ heit Gottes (siehe 11,33). »durch Jesus Christus« – alles ist durch ihn (siehe 11,36), »ihm sei die Herrlichkeit« – alles ist zu ihm (siehe 11,36).

»Hier am Schluss spricht Paulus von einem Geheimnis, das in den Zeitaltern verschwiegen gewesen war, aber jetzt durch prophetische Schriften allen Nationen zum Glaubensgehorsam kundgetan worden ist. Man beachte sorgfältig, dass der exakte Begriff ›prophetische Schriften‹ lautet, und das sind nicht ›die Schriften der Propheten‹ oder des Alten Testaments, sondern jene des Neuen Testaments; wir sind ja aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten. Die Schriften des Paulus beispielsweise sind prophetische Schriften, und in einigen von diesen wird das Geheimnis des Christus und der Gemeinde gänzlich entfaltet und nicht lediglich gestreift wie in Römer 12,5. Das geschah nach Befehl des ewigen Gottes, denn dieses Geheimnis, das zwar im Offenbarwerden zuletzt kam, ist dem Vorsatz nach das erste. Zwischen ihnen lagen die Zeiten der Zeitalter, in denen das Geschöpf gemäß seiner Verantwortlichkeit geprüft wurde und versagte. Dann wurde, gegründet auf das Kreuz Christi, der in den Himmel erhöht ist, das Geheimnis offenbart. Das geschah also nicht in den Tagen des mosaischen Gesetzes, sondern der Predigt des Evangeliums an alle Heidenvölker zum Gehorsam des Glaubens. Darin erweist sich Gott als der allein Weise und der allein Gute durch Jesus Christus, welchem die Herrlichkeit sei in Ewigkeit. Amen. Die Wege Gottes durch die Zeit waren mit Israel und der Erde verknüpft. Das Geheimnis ist verbunden mit dem Himmel und der Ewigkeit, wiewohl die Botschaft ausgeht unter alle Völker.«356 William Kelly, Notes on the Epistle to the Romans, S. 283-­284.

Paulus schließt seinen ganzen Brief mit einem Lobpreis an den Gott, von dem, durch den und für den alle Dinge sind: »Dem allein weisen Gott durch Jesus Christus, ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit!«

Anmerkungen zu Kapitel 16

V. 17 – »In der Herzlichkeit und tiefen Verbundenheit, in der die Hei­ ligen miteinander leben, hat auch das deutliche, abgrenzende Mahnwort seinen Grund. Herzlichkeit deckt nicht alles zu, sondern gewinnt gerade den klaren Blick für die Gefährdung und Nöte der Gemeinde. So steht die Mahnung des Paulus hier an der richtigen Stelle. Unsere Herzlichkeit wird oft gerade dadurch Heuchelei und oberflächlich, dass wir das ernste Mahnwort trotz sichtbarer Missstände nicht mehr wagen« (Heiko Krim­ mer, Römerbrief, S. 406).

V. 25-­27 – »Alle stimmen darin überein, dass der Römerbrief der grund­ legende Brief ist. In ihm finden sich daher die großen Lehren des Chris­ tentums. Aber es wird nicht allgemein gesehen, dass Paulus in den Ver­ sen 25­27 die Entfaltung jenes großen Geheimnisses Gottes vorbereitet, des Geheimnisses, ›das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war‹, das in Sonderheit dem Apostel Paulus offenbart wurde« (William R. Newell, Romans Verse by Verse, S. 564).

V. 25 – »Die Summe des Geheimnisses ist die Einheit von Juden und Heiden auf der gleichen Stufe in Christus, ›bis die Vollzahl der Natio­ nen eingegangen ist‹, worauf die Juden wieder in den Vordergrund tre­ ten und zum Haupt erhöht werden. Die Frage des Verhältnisses zwischen Juden und Heiden war die brennende Frage zur Zeit des Paulus. Nichts konnte geklärt werden, wenn das nicht geklärt war. Diese Frage … hätte die Gemeinde in Galatien fast zerstört. Und Paulus wusste um die Gewalt von Unruhe erzeugenden Strömungen in den Gemeinden und davon, dass nichts außer der Kraft Gottes die Römer befestigen konnte, sodass sie zusammenstanden gemäß der Predigt, die diesem Geheimnis entsprach, und das war etwas, was den in ihrem Unglauben eifernden Juden äußerst verhasst war, da sie Mose zwar kannten, aber das, was Petrus die ›gegen­ wärtige Wahrheit‹ nennt (2Petr 1,12), nur hassen konnten« (J. M. Stifler, The Epistle to the Romans, S. 272-­273).

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Abkürzungen [479]

a. a. O. am angeführten Ort

A. d. H. Anmerkung des Herausgebers

Bd. Band

Bde. Bände

B. P. Benedikt Peters

Br Briefe (Teil der Werke Martin Luthers)

DB Deutsche Bibel (Teil der Werke Martin Luthers)

Elb 2003 Elberfelder Übersetzung, Hückeswagen: CSV, 2003. gr. griechisch

hebr. hebräisch

Hrsg. Herausgeber

hrsg. herausgegeben

lat. lateinisch

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