David Jaffin
Malmsheimer
Predigten
Inhaltsverzeichnis
Partnerschaft
oder abhängig vom Herrn?
Behinderte
– was sind sie wirklich?
In
der Wahrheit – aber auch in der Liebe.
Alter
Bund und Neuer Bund – aber ein Herr!
Die
Notwendigkeit der Wiederkunft Christi
Was
bedeutet eigentlich Nächstenliebe
„Lass
dich nicht vom Bösen überwinden“
Der
innere und der äußere Mensch
Das
Kreuz und der Alltagsmensch
Weltliche
Freude – christliche Freude
Diese Malmsheimer Predigten sind im Grund genommen zwei
Bücher in einem. Etwa die Hälfte der Predigten sind schon früher erschienen in
meinen ersten vier Predigtbänden: INRI; Die Welt und die Weltüberwinder; …der
bringt viel Frucht; Jesus, mein Herr und Befreier – keines dieser Bücher ist
jetzt vorrätig. Die andere Hälfte dieses Buches enthält neue Predigten, mit
starker Betonung alttestamentlicher Textauslegung, die im gesamtbiblischen
Rahmen zu verstehen sind. Sie sind nun etwas anders angeordnet, und zwar in der
Reihenfolge der biblischen Texte von Anfang des Alten Testamentes bis zum Ende
des Neuen Testamentes. Zwei dieser Predigten wurden früher schon in „Zuversicht
und Stärke“ veröffentlicht.
Das Buch ist natürlich meiner Gemeinde in Malmsheim
gewidmet.
Pfr. Dr. David Jaffin
Malmsheim, Frühjahr 1988
So nahm denn Mose seine Frau und seinen Sohn und setzte sie auf einen
Esel und zog wieder nach Ägyptenland und nahm den Stab Gottes in seine Hand.
Und der Herr sprach zu Mose: Sieh zu, wenn du wieder nach Ägypten kommst, dass
du alle die Wunder tust vor dem Pharao, die ich in deine Hand gegeben habe. Ich
aber will sein Herz verstocken, dass er das Volk nicht ziehen lassen wird. Und
du sollst zu ihm sagen: So spricht der Herr: Israel ist mein erstgeborener
Sohn; und ich gebiete dir, dass du meinen Sohn ziehen lässt, dass er mir diene.
Wirst du dich weigern, so will ich deinen erstgeborenen Sohn töten. Und als Mose
unterwegs in der Herberge war, kam ihm der Herr entgegen und wollte ihn töten.
Da nahm Zippora einen scharfen Stein und beschnitt ihrem Sohn die Vorhaut und
berührte damit seine Scham und sprach: Du bist mir ein Blutbräutigam. Da ließ
er von ihm ab. Sie sagte aber Blutbräutigam um der Beschneidung willen.
2. Mose 4, 20-26
Mose kehrte zurück nach Ägyptenland, nachdem er sich vierzig
Jahre in der Wüste Midian als Schafhirte aufgehalten hatte. Der Herr hat diesen
eifernden Mose, welcher Totschlag begangen hatte, hier in Midian gezüchtigt, 40
Jahre lang, die bisherige Hälfte seines Lebens. Er hat Mose Demut gelehrt. Er
hat sein brennendes, eiferndes, leidenschaftliches jüdisches Temperament
gedämpft durch das Alter und die tägliche Landarbeit. So wie Israel später
vierzig Jahre durch die Wüste gehen muss, um befreit zu werden von allen
ägyptischen Götzen, wie etwa dem goldenen Kalb, um Gehorsam und Demut vor
seinem Gott zu lernen, so muss Mose diese vierzig Jahre vom Herrn gezüchtigt
werden, bevor er sein richtiger Diener sein konnte. Das bedeutet, er musste
lernen, und zwar durch Mark und Bein gehend, dass der Herr ihn richtig führen werde, wie und wann er will. Er wird bestimmen und
nicht ich, Mose, und meine Leidenschaft. So musste auch Petrus vom Herrn
lernen: „Petrus, als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet, aber jetzt
wird ein anderer (der Herr selbst) dich gürten und dich führen auf Wegen, die
du lieber nicht gehen möchtest.“ Jeder Diener Gottes – wie zum Beispiel Jona,
David, Saulus – muss so gezüchtigt werden, dass er durch und durch erkennt und
auslebt, dass der Herr, sein Hirte, ihn führt, wie und wann und wohin er will.
Mose kehrte nach vierzig Jahren Freiheit zurück zu den
Sklaven, und zwar als zuerst unwilliger Knecht. Er soll das Sprachrohr Gottes
sein, er, ein Stotterer. Und er, der gewohnt war, als Hirte in der Wüste über
seine Wege selbst zu bestimmen, soll jetzt mit achtzig Jahren plötzlich sein
Leben drastisch ändern. Wem von uns könnte so etwas zugemutet werden – in
diesem Alter? Damit will uns der Herr zeigen: Nachfolge kennt keine Grenzen,
auch keine Altersgrenze. Kleine Kinder können Jesus Christus bezeugen durch
ihre Liebe zu ihm, und sehr alte Menschen können und sollen das gleiche tun,
auch gegenüber ihren Enkelkindern.
Ist es nicht so, dass die dynamische Leidenskirche Russlands
nur deshalb die kommunistische Revolution und ihre Folgen überlebt hat, weil
die Großeltern ihren Enkelkindern von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, erzählt
haben, ihn bezeugt haben? Niemand ist zu alt, dem Herrn zu dienen durch Wort und
Zeugnis. Der Herr hält zu uns auch im Alter, selbst im tiefsten Leiden.
Was dann Mose unterwegs geschieht, ist eines der
tiefgründigsten und interessantesten Ereignisse im Alten Testament, aber für
die meisten Leser heute rätselhaft, unbegreiflich. „Und als Mose unterwegs in
der Herberge war, kam ihm der Herr entgegen und wollte ihn töten. Da nahm
Zippora, Moses Frau, einen scharfen Stein und beschnitt ihrem Sohn die Vorhaut
und berührte damit seine Scham und sprach: ,Du bist
mir ein Blutbräutigam.’“ Was soll das alles bedeuten?
Denken wir zuerst zurück an Jakobs Kampf mit dem Herrn und
wie Jakob sagte: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Jakob wird
danach Israel genannt. Jakob bedeutet „der Betrüger“ und Israel „der
Gottesstreiter“. Hier wird dieser Segen dem Vertreter des Volkes Israel, Mose
(durch seinen Sohn), bis ins Blut hinein gegeben. Dieses „Blutbräutigam“
bedeutet, dass Israels Segen, seine Erwählung zutiefst mit Leiden zu tun hat,
bis ins Fleisch hinein. War das nicht gerade die damalige Lage der Israeliten?
Sklaverei, vernichtet werden von der Weltmacht, den Ägyptern? Ihre neugeborenen
Söhne sollten auf Anordnung des Pharao getötet werden. Dazu ist dieser Text
eine Auslegung des vorangehenden Satzes: „Israel ist mein erstgeborener Sohn.“
Im gleichen Buch Exodus steht später geschrieben – nachdem jeder älteste Sohn
der Ägypter in der zehnten Plage vom Todesengel umgebracht worden ist –, auch
in Israel gehöre jeder älteste Sohn, überhaupt das Beste von Menschen, Tieren
und von der Ernte dem Herrn, als Zeichen dafür, dass letzten Endes alles ihm
gehört. Diese Beschneidung von Moses Sohn zeigt, dass Israel als Volk Gottes
sein erstgeborener Sohn ist, ihm ganz und gar gehört. Dieses Gott-Gehören geht
bis in die Substanz, bis ins Blut hinein. Das Leben ist im Blut und das Leben
gehört Gott. Gott gehören bedeutet, ihm ganz und gar ergeben sein. Menschen
will der Herr, der Gott Israels, nicht geopfert haben, das ist für ihn ein Gräuel.
Aber wir sollen niemals vergessen, dass unser ganzes Leben ihm gehört,
stellvertretend für alle der älteste Sohn, wie hier der von Mose. Ich musste
als Jude am achten Tag beschnitten werden und dann am dreißigsten Tage
zurückgekauft, zeichenhaft zurückgekauft werden vom Herrn, denn als der älteste
Sohn, der einzige Sohn meiner Familie, gehört mein Leben bis ins Blut, ja bis
in den Tod hinein dem Herrn.
Dabei hat dieser Text direkten Bezug zu Jesus Christus.
Nicht nur wird Israel hier durch eine Blutstaufe geweiht, sondern Jesus
Christus, der einzige und erstgeborene Sohn Gottes, erfüllt den ganzen Sinn
dieses Geschehens, indem er geopfert wird für das Volk, ja für die ganze Welt.
Gott will nicht, dass Isaak fleischlich getötet wird. Er gibt durch die
Beschneidung nur ein Zeichen, dass unser Leben ihm gehört. „Als Mose unterwegs
in der Herberge war, kam ihm der Herr entgegen und wollte ihn töten.“ Ähnlich
ging es auch mit Isaak. Aber statt Abrahams Opfer anzunehmen, wies ihn Gott hin
auf ein Opfertier. Später sandte Gott seinen erstgeborenen Sohn, Jesus
Christus, den König, den gekreuzigten Leidenskönig, und damit ist dieser auch
die Erfüllung der Verheißung an Abraham: „Durch dich werden gesegnet alle
Völker auf Erden.“ – Also ist er auch der Heiden Heiland: der Erlöser aller
Gläubigen in allen Völkern aller Zeiten.
Aus diesem Text, mit dem Rückblick auf die Opferung Isaaks,
welche nicht stattfand, und mit seiner Erfüllung in Jesu Kreuz, sehen wir
zugleich: Israels Weg wird ein Leidensweg sein, denn seine Zugehörigkeit zum
Herrn gründet auf diesem Blutsbund. Dazu sehen wir, dass das neue Israel – wir
Christen –, auch berufen sind in und durch die endgültige Blutstaufe des Herrn,
Jesu Kreuz. Unsere ganze Person soll bis in den Tod ihm geweiht sein.
Frage: Worin besteht unser Leiden? Hat nicht Jesus dieses
Leiden getragen, damit wir in Freude leben sollen, so leben, wie wir es am
liebsten möchten? Hat er nicht an unserer Statt genug gelitten? Jawohl, das hat
er, aber er sagt uns immer wieder, dass Christusnachfolge Leiden bedeutet: „Wer
mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich, verleugne sich selbst und
folge mir nach.“ Unsere Taufe unter Wasser bedeutet, wie Paulus uns deutlich in
Römer 6 sagt, Taufe in den Tod, in Jesu Tod, in den Bereich des Todes, unter
Wasser.
Wir sollten, glaube ich, diese Blutstaufe, die Unterwassertaufe
in Jesu Kreuz, mit unserem Text so eng verbinden, dass wir, so wie Mose
unterwegs war, als er wegen der Beschneidung seines Sohnes überfallen wurde,
auch mit dem Herrn unterwegs sein sollen. Dieses Leiden, dieses Unterwegssein
mit dem Herrn wird uns in Petrus am See Genezareth gezeigt. Jetzt wird ihn, den
erstberufenen Jünger und damit der Stellvertreter für alle Jünger, „ein anderer
gürten“ und ihm andere Wege, Leidenswege zeigen, die er nicht geplant hatte.
Wer an dieser Welt hängt, wer mit klarem Willen nach selbst gemachten Freuden strebt, der will nicht diesen Weg gehen. Aber sterben, leiden mit dem Herrn bedeutet Segen, das heißt ihm geweiht werden, durch seinen Sohn Jesus Christus geführt und ans Ziel gebracht werden. Seid ihr bereit, diesen Weg zu gehen? Nein, sagten alle Propheten zuerst, so sagte auch Mose, sogar Jesus Christus selber: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Das darauf zögernde Ja war ein Ja zum Leben, zum endgültigen Leben, zu Frieden, Heil, Geführtwerden vom Herrn jetzt und in Ewigkeit. Bei Mose ging es so: Als Gott ihn mit seinem Auftrag überfiel, sprach er erschreckt und ängstlich: „Mein Herr, sende, wen du senden willst.“ Und beifügen können wir: „Nur nicht mich.“ Doch als er innerlich zerbrochen und bereit war, zu gehorchen, lautete seine Antwort: „Sende, wen du senden willst, vielleicht auch mich.“ Jeder von uns, der wirklich unserem Blutbräutigam Jesus Christus gehören, ihm nachfolgen, dienen, von seinem Heil weitersagen will, kann das nur tun mit seinem Ja zum Geweihtwerden in seinen Tod hinein, indem er sagt: „Mein Herr Jesus Christus, sende, wen du senden willst. Ich weiß, dass du mich ausrüstest mit der Kraft deines Kreuzesblutes. Wenn du für mich und bei mir bist, vor wem sollte ich mich dann fürchten?“
Mose aber sprach zu ihm: Wenn nicht dein Angesicht vorangeht, so führe
uns nicht von hier hinauf. Denn woran soll erkannt werden, dass ich und dein
Volk vor deinen Augen Gnade gefunden haben, wenn nicht daran, dass du mit uns
gehst, so dass ich und dein Volk erhoben werden vor allen Völkern, die auf dem
Erdboden sind? Der Herr sprach zu Mose: Auch das, was du jetzt gesagt hast,
will ich tun; denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich
mit Namen. Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach:
Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor
dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und
wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein
Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf
dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die
Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin.
Darm will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber
mein Angesicht kann man nicht sehen.
2. Mose 33, 15-23
Wir haben gelernt, demokratisch zu denken. In einer
Demokratie sind wir alle gleich, haben alle die gleichen Rechte. Kein Mensch,
trotz Titel, trotz Bildung, trotz Reichtum hat das Recht, sich über andere zu
erheben. Auch wenn sicherlich eine gewisse Ungleichheit unter uns besteht, sind
wir trotzdem theoretisch gleich, und diese theoretische Gleichheit bestimmt die
Form und den Inhalt unserer Gesellschaft.
Nun zeigt uns unser Text, dass die Beziehung zwischen uns
und Gott, dem Herrn des Alls, nicht demokratisch ist. Wir stehen niemals auf
der gleichen Stufe mit dem Herrn. Wir werden nie in der Lage sein, als
Gleichwertige einen Austausch mit ihm zu haben. Er ist dem Wesen nach etwas
ganz anderes als wir. Er ist vollmächtig, unerschaffen, unsterblich,
allwissend. Und noch wichtiger in unserer Beziehung zu ihm: Er hat uns
erschaffen, er hat uns unsere Persönlichkeit und unsere ganze Welt gegeben. Als
Geschöpfe Gottes können wir niemals Gleichheit mit ihm beanspruchen. Aber
gerade dies tun viele moderne Menschen, indem sie über den Herrn urteilen, über
ihren Richter richten wollen: „Wir glauben nicht an Gott.“ Viele Menschen
behaupten heutzutage, wir hätten Gott erschaffen, nicht er uns. Damit wollen
sie Gott von seiner höheren Stufe herunterbringen auf unser Niveau. Natürlich
wird dann die Menschwerdung Christi falsch verstanden, als ob Christus nur
Mensch gewesen wäre, als ob Menschlichkeit der Maßstab aller Dinge sei.
Mose versuchte in seiner Art auch, diese Erhabenheit des
Herrn in seine Sicht der Dinge einzubringen: „Lass mich deine Herrlichkeit
sehen.“ Was Mose haben will, ist eine Beziehung zu dem Herrn, in der er immer
mehr zum vollen Partner Gottes wird. Er will eine Zusicherung über das Erbarmen
Gottes und über die Erwählung seines Volkes. So ähnlich haben auch Johannes und
Jakobus versucht, mit Jesus umzugehen, nur: hier ging es um ihren Platz im
Himmel, sie wollten dort zur Rechten und zur Linken von Jesus sitzen.
Es ist ganz natürlich, dass die Menschen versuchen, eine
gewisse Absicherung für sich zu gewinnen. Wenn wir glücklich sind, wollen wir
dieses Glück festhalten oder uns mindestens absichern, dass dieses Glück wieder
zurückkommen wird. Wir wollen die Gewissheit, eine Selbstbestätigung, dass es
uns weiter gut gehen wird, dass wir wirklich dem Herrn gehören. Um diese Bestätigung
zu sichern, versuchen wir mehr und mehr, eine Partnerschaft mit dem Herrn
einzugehen. Am gewissesten ist es, wenn er von uns abhängig ist, wenn er so
ist, wie wir ihn haben wollen.
Das ist sehr menschlich und sehr natürlich, aber es steht
letzten Endes gegen uns, gegen unsere Person, gegen unser Heil; denn alles,
aber auch alles, was wir haben, was wir bekommen, was uns im tiefsten beglückt,
kommt weder von uns noch kann es durch uns abgesichert werden. Ich meine das
Leben, unsere Person, die Liebe, den wahren Trost, im Leiden und die Kraft
gegen den Tod. In dem Moment, wo wir eine solche Beziehung mit dem Herrn anstreben,
eine demokratische Beziehung der Gleichheit, eine Beziehung mit gleichzeitiger
Abhängigkeit, zerstören wir letzten Endes die Basis unserer Person, unseres
wahren Lebens, unseres wirklichen Trostes, weil wir sterblich sind, sündhaft,
weil unser Wille letzten Endes gegen unser zeitliches Glück steht, weil wir
Liebe und Leben zu schaffen nicht imstande sind. Eine solche demokratische, abgesicherte
Partnerschaft mit dem Herrn würde nur unseren ewigen Tod bedeuten wegen unserer
Sündhaftigkeit, welche auch den Herrn beflecken würde. Wenn wir ihn in der Hand
hätten und wirklich seinen Weg wissen könnten, sogar sein Wesen kennten, dann
würde sein Heiliger Geist getötet, sein Geist, welcher plötzlich über uns
kommen kann, um uns zu erneuern und uns weiterzuführen. Das geht nicht. Wenn
wir die Herrlichkeit des Herrn kennen würden, wären wir ja Mit-Herren. Damit
wird unsere Erbsünde bestätigt, wir „würden sein wie Gott“. Gott bewahre uns!
Das ist der Weg mancher Irrlehre und war es seit Erschaffung des Menschen. Es
ist der Weg zum ewigen Tod.
Immer geht in der Bibel unsere Beziehung zu dem Herrn von
ihm aus. Seine Gnade, seine Liebe, seine Herrlichkeit, alles ist ein Geschenk
seines lebendigen Geistes an uns. Meinen wir jedoch umgekehrt, unser Streben müsste
dahin zielen, mit unserm Herrn ein partnerschaftliches Verhältnis erreichen
oder uns gar an seine Stelle setzen zu können, bewegen wir uns auf einem
aussichtslosen Irrweg. Beide, der Alte und der Neue Bund, sind uns von Gott
gegeben – er gibt, und wir nehmen an. Die Berufungen Abrahams, Isaaks, Jakobs
und die von Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus und noch von vielen
anderen kamen von dem Herrn. Er rief – und sie gehorchten. Sie unterstellten
sich seinem Willen, seiner Führung und auch seinem Erbarmen. Es ist so, in entscheidenden
Momenten in der Geschichte ist er allein der Handelnde: Er spaltet das Rote
Meer, er führt den Kampf um das Land Kanaan, damals und auch in unserer Zeit.
Das Land Israel ist zu übernehmen nach seinen Geboten und Verheißungen. Er gab
uns das Gesetz. Er schickte Propheten, die sein Wort verkündigten. Und er gab
uns seinen eingeborenen Sohn. Er ließ ihn sein Wort verkündigen, Wunder aus
seiner Wunderkraft tun. Er, der Christus, wurde aber von seinen Mitbürgern und
damit auch von uns verleugnet. Man schlug ihn ans Kreuz. Trotz unseres
Versagens und unseres Kleinglaubens ließ ihn Gott aus dem Tode für uns
auferstehen. Durch seinen Heiligen Geist wurde seine Kirche gegründet und
später auch erneuert. Ständig ist er am Werk. Er schafft und wirkt für uns und
mit uns. Wir sind ganz und gar abhängig von ihm, von seiner Liebe und seinem
Erbarmen. Und nichts, aber auch gar nichts kann dieses Verhältnis ändern. Dafür
verlangt der Herr unsere totale Abhängigkeit von ihm. Er ist ein liebender, ein
erbarmender Gott. Ganz selbstverständlich ist, dass wir, seine Knechte, seine
Freunde, ihm immer folgen durch Irrungen und Wirrungen, bis er am Ziel ist mit uns. Darum lernen wir, „dein Wille geschehe“ zu
beten und zu glauben, dass wir aus seiner Gnade leben, dass wir uns auch auf
dieses, sein Wort, verlassen dürfen und dass es für uns, für mich gilt: „Wem
ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme
ich mich.“ Das sind nicht Worte eines menschlichen Despoten, eines Diktators,
sondern es sind Worte unseres liebenden Vaters, unseres Schöpfers und Erlösers.
Es sind Worte dessen, der sein Leben für unsere Schuld und Sünde gab, gerade
wegen unserer Selbstherrlichkeit, wegen unserem „Sich-an-Gottes-Stelle-setzen-Wollen“.
Er nimmt uns an, wann und wie er will, tatsächlich in unserem Interesse, nichts
anderes als das. Er weiß besser, was gut für uns ist, als wir es selbst wissen
können. Seien wir wirklich ehrlich mit uns selbst. Dient alles, was wir von
Gott erbitten, zu unserem Besten, um uns im wahrsten Sinne glücklich zu machen?
Ich glaube, wenn es uns weltlich zu gut gehen würde, wären wir faule,
verwöhnte, flache Menschen ohne geistliche Tiefe, ohne wahre Liebe. Darum ist
es notwendig für uns, nicht immer zu bekommen, was wir haben möchten. Das weiß
der Herr genau – ist er doch selber in Armut geboren und in Verachtung
gestorben.
Darum führt unser Text an den zentralen Punkt unseres
Glaubens. Jesus kennt uns mit Namen, er hat uns ja erschaffen, er ist auch für
uns gestorben. Wir haben Gnade bei ihm gefunden. Darum, wenn wir das glauben,
wenn wir uns ihm unterstellen, wenn wir wie Mose in der Felsenkluft stehen und
warten auf Gottes Vorübergehen, das bedeutet, warten auf seinen Geist, auf
seine Führung, auf seine Bestätigung seines Erbarmens, dann wird er seine Hand
über uns halten. Im stillen Gebet spüren wir seine Gegenwart, seine Führung. Er
wird sich zeigen in unserer Kluft, in unserer Selbstgefangenschaft. Er wird uns
an der Hand nehmen, uns aus unserer Gefangenschaft herausführen. Er wird es
tun, weil er es versprochen hat, weil er sein Wort hält, weil er uns liebt mit
väterlicher Liebe und weil er unser A und O ist, unser Anfang und Ende. Der
Herr ist Herr, und keiner ist außer ihm. Der Herr ist mein Fels, der Boden, auf
dem ich stehe. Er ruft mich als Sündigen und Verlorenen in seinen Schatten, in
den Schatten seines Kreuzes. O möchten wir doch Richtung und Führung von ihm
erbeten, unserem Herrn, dem Gott Israels, Jesus Christus, unserm Heiland und
Erlöser! Gelobt sei er, der seine Gnade erweist allen Gläubigen zu allen
Zeiten!
Zu der Zeit kamen zwei Huren
zum König und traten vor ihn. Und die eine Frau sprach: Ach, mein Herr, ich und
diese Frau wohnten in einem Hause, und ich gebar bei ihr im Hause. Und drei
Tage, nachdem ich geboren hatte, gebar auch sie. Und wir waren beieinander, und
kein Fremder war mit uns im Hause, nur wir beide. Und
der Sohn dieser Frau starb in der Nacht; denn sie hatte ihn im Schlaf erdrückt.
Und sie stand in der Nacht auf und nahm meinen Sohn von meiner Seite, als deine
Magd schlief, und legte ihn in ihren Arm, und ihren toten Sohn legte sie in
meinen Arm. Und als ich des Morgens aufstand, um meinen Sohn zu stillen, siehe,
da war er tot. Aber am Morgen sah ich ihn genau an, und siehe, es war nicht
mein Sohn, den ich geboren hatte. Die andere Frau sprach: Nein, mein Sohn lebt,
doch dein Sohn ist tot. Jene aber sprach: Nein, dein Sohn ist tot, doch mein
Sohn lebt. Und so redeten sie vor dem König. Und der König sprach: Diese
spricht: Mein Sohn lebt, doch dein Sohn ist tot. Jene spricht: Nein, dein Sohn
ist tot, doch mein Sohn lebt. Und der König sprach: Holt mir ein Schwert! Und
als das Schwert vor den König gebracht wurde, sprach der König: Teilt das
lebendige Kind in zwei Teile und gebt dieser die Hälfte und jener die Hälfte.
Da sagte die Frau, deren Sohn lebte, zum König – denn ihr mütterliches Herz
entbrannte in Liebe für ihren Sohn – und sprach: Ach, mein Herr, gebt ihr das
Kind lebendig und tötet es nicht! Jene aber sprach: Es sei weder mein noch
dein; lasst es teilen! Da antwortete der König und sprach: Gebt dieser das Kind
lebendig und tötet’s nicht; die ist seine Mutter. Und ganz Israel hörte von dem
Urteil, das der König gefällt hatte, und sie fürchteten den König; denn sie
sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten.
1. Könige 3, 16-28
Salomos berühmtes Urteil ist viel mehr als nur ein Zeichen
seiner von Gott gegebenen menschlichen Weisheit; es ist auch ein prophetisches
Urteil gegen sich selbst und gegen sein Volk. Es enthält eine Zukunftsschau
über den Alten und über den Neuen Bund. Was meine ich damit?
Nach Salomos Tod wird sein Reich entzwei geschnitten, so wie
er es hier vorschlägt für das Kind. Und zwar wird es gespalten in ein
Nordreich, Israel oder Samaria genannt mit zehn Stämmen, vor allem Ephraim, und
ein Südreich mit zwei Stämmen, Juda, der allergrößte Stamm, und Benjamin, der
kleinste Stamm, aus dem Saul, Israels erster König, der ungehorsam wurde,
hervorgegangen war. Der größte Missionar des Neuen Bundes, Paulus, ursprünglich
Saulus, ist nach ihm genannt. Zwar handelt Salomo in diesem Urteil sehr klug,
erweist seine von Gott gegebene königliche Weisheit, aber die Zerteilung des
Kindes, die er vorschlägt, um herauszufinden, wer die eigentliche Mutter ist,
wird später als Urteil gegen sein eigenes Reich fallen, gegen seinen corpus politicum, „politischen Körper“.
Hier handelt es sich um zwei Huren. Wird Israel später nicht
Hure genannt werden? Ich denke unter anderem an den Propheten Hosea, der sagte,
dass Israel Hurendienst tut, weil es zwar den wahren Gott Israels anbetet,
zugleich aber auch Baal, einen Götzen, zu dessen Kult tatsächlich Kulthuren
gehörten. Und ist Salomo selbst nicht der Sohn Batsebas, die von David, Salomos
Vater, zum Ehebruch, letzten Endes zum Hurendienst verführt wurde. War es nicht
Salomo, der später Tausende von fremden Frauen heiratete und sie mit ihren Fremdkulturen
nach Israel brachte? Ist das nicht Hurendienst gegen des Herrn erstes und
grundlegendes Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“? Bedeutet
nicht die Teilung Israels nach Salomos Tod letzten Endes den Anfang seines
Todesurteils? Martin Buber sagt: „Mit Salomo fängt der Untergang Israels an.“
Aber zunächst wird Salomos Vorschlag hier nicht
durchgeführt, sondern dadurch wird die richtige Mutter gefunden, so dass das
Kind heil bleibt und danach bei seiner wahren Mutter leben kann. Hat nicht
Jesus Christus in seiner Erwählung von zwölf Jüngern gerade die Ganzheit
zeichenhaft durchgeführt? Er will zeigen, dass in ihm, dem wahren König Israels
mit seiner göttlich unendlichen Weisheit, das ganze Israel – alle zwölf Stämme –
wiederhergestellt wird. Ist das nicht die Zielsetzung seines Heilsplans? Denn
am Ende der Tage wird er sein erstgeliebtes Volk Israel wieder zu sich rufen,
und „sie werden ihn annehmen, den sie durchbohrt haben“. Einfach ausgedrückt,
in dieser einen Geschichte, welche uns vorgeführt wird als Beispiel von Salomos
Weisheit, ist in Kürze die Geschichte Israels vorgedeutet, seine Teilung und
der Verfall nach Salomo, seine Wiederherstellung als Einheit in Jesus Christus,
und damit wird ein Blick geworfen auf die endgültige Einheit Israels wie der
Gemeinde am Ende der Tage. Gerade diese Thematik birgt vieles in sich, nicht
nur Salomos und dann Israels Hurendienst, sondern auch in Jesu eigenem
Stammbaum steht eine Hure: Rahab von Jericho. War es nicht auch eine bekehrte
Hure, Maria Magdalena, die als erste den auferstandenen Herrn, diese neue Welt
und Wirklichkeit wahrgenommen hat? Auch die Unreinen müssen hier Jesus dienen
und seine Macht bezeugen so wie die eine Hure in unserer Geschichte, die wahre
Mutter, die bereit war, das Kind der anderen ganz zu geben, damit ihr Kind am
Leben blieb.
Aber unsere Geschichte enthält noch eine weitere tiefe
Bedeutung. Hier geht es um die Weisheit des von Gott eingesetzten Königs, aber
diese Weisheit wird am Schluss in Verbindung gebracht mit dem Gericht: „Und
ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie
fürchteten den König (!), denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war,
Gericht zu halten.“ Hat nicht Salomo auch nach einem Schwert gerufen, um das
Kind zu zerteilen? Hier sehen wir einen anderen Aspekt von dem Machtbereich der
unendlichen Weisheit Gottes, seines wahren Königs, Jesus Christus, denn im
Gericht wird er auch trennen; und zwar das Kraut vom Unkraut, das heißt, die
von ihm Erlösten von den Verdammten. Das ist sein
letztes Gericht, diese Trennung, diese Spaltung unter der Menschheit, nicht nur
die Vereinigung von Juden und Christen in Jesus zu einer Kirche und
endzeitlichen Einheit, sondern auch die Teilung von Gläubigen und Ungläubigen
in seinem Gericht.
Was alle Menschen, Gläubige wie Ungläubige, an diesem
Geschehen fasziniert, ist, wie Salomo die Wahrheit festgestellt hat, ohne
diesem Kind zu schaden. In der Bibel steht deutlich geschrieben, dass nur der
Herr in unsere Herzen sehen kann. Aber hier gibt der Herr seinem weisen König
Salomo einen Weg, diese Herzenswahrheit ans Licht zu bringen.
Es gibt Menschen, die eine Frömmigkeit vortäuschen,
vielleicht sogar sich selbst vortäuschen, aber im Angesicht des
Schwertgerichtes Jesu werden sie genauso wenig ans Ziel kommen wie die falsche
Mutter in unserer Geschichte. Was meine ich damit?
Zum Beispiel: Menschen, die sehr jung behaupten, dass sie
sich für Jesus entschieden haben, aber in ein oder zwei Jahren ist gar nichts
mehr davon zu merken. Ja, es gibt junge Menschen, die sich wirklich in ihrem
Herzen so ganz und gar für ihn entscheiden. Aber andere gibt es, die machen
mit, täuschen sich jedoch manchmal selbst. Ich habe in meiner ersten Gemeinde
jemanden erlebt, der ganz und gar Feuer und Flamme für Jesus war und Woche um
Woche Kreuzespredigten gehört hat. Aber als Konflikte in sein Leben kamen, als
sein Glaube ihm bei seinen weltlichen Zielen im Weg stand, war er schnell
bereit, diesen Glauben an den Nagel zu hängen. Ja, dieses Schwert Gottes,
dieses Gericht gibt es nicht nur im Endgericht, sondern auch jetzt, wie damals
Salomos Ruf zum Schwert, zur Trennung. Jesus sprach in seinem grundlegenden
Gleichnis vom Sämann, wie keimender Glaube zerstört werden kann, weil er keine
tiefen Wurzeln hat oder wegen des Alltags und meistens durch beides. Ja, mit
der Zeit wird es klar sein, wie wir stehen, ob wir wirklich zu Christus halten,
ob wir bereit sind, große Opfer für den Herrn zu bringen, weil er unser Herr
ist, und nicht wir selbst. So war damals die Hure sogar bereit, ihr eigenes
Kind einer anderen zu geben, aber natürlich nur, um es letzten Endes auf diese
Weise zu retten.
Noch eines: „Die andere Frau sprach: Nein, mein Sohn lebt,
doch dein Sohn ist tot. Jene aber sprach: Nein, dein Sohn ist tot, doch mein
Sohn lebt.“ Hier geht es sogar unter Huren um einen Sohn, um einen Nachfolger,
um Fortsetzung des Lebens, das erste aller Gebote in der Thora. Leben ist das
höchste Gut in Israel. Als ich diese zwei Sätze las, kam mir sofort ein
Autoaufkleber in den Sinn: „Wenn dein Gott tot ist, dann nimm doch meinen –
Jesus lebt.“ Bei diesen beiden Huren geht es um Leben gegen den Tod: „Ich will
das Leben. Ich will das Kind. Du bleibst bei den Toten.“ Aber dahinter steht im
gesamtbiblischen Rahmen etwas viel Tieferes: ein enger Bezug, der in unserem
Text äußerlich ausgedrückt ist durch den toten und den lebendigen Sohn. Wie
Salomo die Einheit herstellte – der unzertrennte Sohn durch die Drohung des
Schwertes, so hat Jesus Christus die Einheit hergestellt als endgültiger König
Israels, INRI, die Weisheit Gottes selbst. Denn er ist zugleich der tote Sohn
und der lebendige Sohn; er vereinigt in sich Tod und Leben, Kreuz und
Auferstehung, und er ist der wahre, endgültige Sohn, der Sohn Gottes – in
unserem Text wird auch der dritte Tag betont!
Je mehr und je tiefer wir in Gottes Wort eindringen, desto
deutlicher wird es für uns werden, dass die ganze Schrift wie ein Tag ist,
welcher zuerst vielleicht in Dunst und Nebel anfing, aber immer klarer, immer
leuchtender wird, bis in Jesus Christus, der endgültigen Weisheit Gottes, dem
wahren König Israels, dem toten und lebendigen Sohn des Herrn, alles eins und
vollendet wird.
Herr, lehre mich doch, dass es
ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.
Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein Leben ist wie nichts
vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sie gehen
daher wie ein Schatten und machen sich viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und
wissen nicht, wer es einbringen wird. Nun, Herr, wessen soll ich mich trösten?
Ich hoffe auf dich. Errette mich aus aller meiner Sünde und lass mich nicht den
Narren zum Spott werden. Ich will schweigen und meinen Mund nicht auftun; denn
du hast es getan. Wende deine Plage von mir; ich vergehe, weil deine Hand nach
mir greift. Wenn du den Menschen züchtigst um der Sünde willen, so verzehrst du
seine Schönheit wie Motten ein Kleid. Wie gar nichts sind doch alle Menschen.
Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien,
schweige nicht zu meinen Tränen; denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling
wie alle meine Väter. Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich
dahinfahre und nicht mehr bin.
Psalm 39, 5-14
Wie im 139. Psalm der Beter zum Herrn geführt wird durch
Gottes Allwissenheit um unsere ganze Person, so wird im Psalm 39 der Beter zur
Gegenwart des Herrn gewiesen durch die Macht des Todes.
Der Tod ist und bleibt unheimlich für uns. Wenn wir das Hinscheiden
eines anderen betrachten, dürfen wir nicht vergessen, dass auch wir eines Tages
sterben müssen. Der Tod ist uns etwas völlig Fremdes, zumal wir ja keine
Möglichkeit haben, das eigene Sterben zu erfassen.
Ich kann mich erinnern, wie ich mit acht Jahren versucht
habe, den Tod zu begreifen. Ich suchte im Spiegel durch mein eigenes Gesicht
eine Totenmaske, die meinige zu enträtseln. Unser Spiegelbild bietet die
einzige Möglichkeit, uns selbst zu betrachten, auch im leiblichen Sinne. Ich
merkte aber und war sehr erschreckt, zu spüren, dass der Tod gesichtslos ist,
auch sprachlos und gedankenlos. Er raubt mir alles, was ich auf Erden bin.
Ist nicht das Leben selbst ein Sterbensprozess, nichts
anderes? Denn Tag um Tag gehen wir alle in einer Richtung, dem Tod entgegen. Es
gibt kein Zurück. Und im Tod sind wir alle gleich, arm und reich, groß und
klein, Kluge und Dumme. Wird es da nicht sinnlos, wenn wir uns in unserem Leben
in diesem und jenem über andere stellen wollen? Aber der Tod ist auch etwas
Lebendiges, wirklicher als das Leben selbst. Meine Frau und ich erlebten das
bei ihrer toten Mutter über einen halben Tag, nachdem sie gestorben war, und
ich werde das nie vergessen. Da lag sie im Bett, starr und tot, aber irgendeine
Kraft ging von ihr aus, welche uns fesselte. Diese Kraft war sogar stärker als
jeder unserer Versuche, Leben in das Totenzimmer hineinzubringen. Der Tod hat
eine fesselnde Kraft. Er bewirkt etwas Unheimliches in uns, wohl gerade, weil
er totale Macht über uns besitzt, über unser ganzes Leben, unsere ganze Person.
„Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss
und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.“ Warum sollen wir das lernen?
Wäre es nicht viel besser, unser Leben ohne einen Gedanken an den Tod zu
führen, bis er dann sowieso kommt? Das tun heute ja viele Menschen. Manche
weigern sich sogar, zu Beerdigungen zu gehen, weil sie glauben, da ihrem
eigenen Tod ins Angesicht sehen zu müssen. Gern werden Kranke, Alte und
Schwache in Krankenhäuser, Pflege- und Altenheime abgeschoben, um sie allein
sterben zu lassen. Anders unser Psalm. Er zeigt deutlich, dass Leben und Tod
eine Einheit sind, eine unzertrennliche Einheit. Ich lebe auf den Tod hin, wenn
auch der Tod die Infragestellung meines Lebens ist. Unser Leben verläuft wie
ein Drama in fünf Akten. Der letzte Akt ist das Sterben. Der Tod ist nicht nur
das Ziel unseres Lebens, er ist nicht nur eine Frage an unser Leben, sondern
zeitlich gesehen ist er viel umfassender als das Leben. Das Leben ist kurz, der
Tod unendlich lang.
Warum müssen wir sterben? Die Bibel sagt, weil wir Sünder
sind, weil wir uns von dem lebendigen Gott Israels entfernt haben. Darum sind
wir auch vom Leben entfernt. Die Austreibung aus dem Paradies ist letzten Endes
nicht Gottes Strafe, sondern unser eigenes Werk. Wir sind ungehorsam, wir
wollen an Gottes Stelle leben, unsere Neugier und Machtgier bestimmen unser
Leben. Adam und Eva sind wir alle, verloren in uns selbst.
„Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss
und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.“
Interessant ist, dass der Tod zentraler Gestalten in unserer
Bibel sinnvoll ist, ihrem Leben einen Sinn gibt. Mose starb auf einem Berg, wo
er das von Gott verheißene Land vor Augen hatte und damit die Zukunft seines
Volkes. Dieser Blick war die Erfüllung seines Lebensziels. Johannes der Täufer
starb, nachdem sein Lebensauftrag erfüllt war, nachdem er den Messias, Jesus
Christus, gefunden und getauft hatte. Der Tod ist nur sinnvoll, wenn er mit dem
Sinn unseres Lebens verbunden ist: dass wir ans Ziel gekommen sind durch den
Herrn.
Wie war hingegen der Tod berühmter Menschen, die mit großem
Einsatz ihre Ziele verfolgt hatten, sinnlos, zwecklos. Napoleon und Hitler, die
zwei großen Herrschergestalten der modernen Zeit, starben beide einen sinnlosen
Tod: Napoleon auf einer Insel, total isoliert von der Welt, nachdem er sein
Frankreich zum Status einer ewig zweitrangigen Macht hatte verbluten lassen.
Und der Massenmörder Hitler, der menschliche Inbegriff des Bösen überhaupt,
starb durch Selbstmord, nachdem er sein Volk in tiefe Schuld verstrickt hatte.
Aber wir sind weder Mose noch Johannes, weder Hitler noch
Napoleon. Was soll Sinn und Ziel unseres Lebens sein? Jesus Christus sagt: „Ich
bin das Leben.“ Er ruft uns in die Nachfolge und sagt uns, dass, wenn wir mit
ihm leben, der Tod keine Macht mehr über uns haben wird. Warum? Weil er als
Gekreuzigter und Auferstandener die Strafe für die Erbsünde und diese Sünde
selbst auf sich geladen hat. Er spricht uns frei von dieser Schuld durch seinen
Tod am Kreuz, und mit seiner Auferstehung ist uns durch ihn der Weg eröffnet in
Gottes ewiges Reich. Einfacher gesagt, für uns kann unser Tod und damit unser
Leben nur Sinn haben, wenn wir zum Leben gehören, zu Christus, in seine
Nachfolge. Er ist unsere Zukunft, unser Erlöser von der Gottesferne, das heißt,
wir dürfen in seinem Reich sein.
„Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein
Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so
sicher leben. Sie gehen daher wie ein Schatten und machen sich viel vergebliche
Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es einbringen wird.“
Je älter wir sind, desto mehr fällt uns auf, dass die Zeit
schnell und immer schneller vergeht, ob wir viel beschäftigt sind oder im
Ruhestand. Warum? Bei einer Reise dauert der Hinweg viel länger, wenn wir den
Weg noch nicht kennen. Aber der Weg zurück scheint viel schneller zu verlaufen,
weil er uns einigermaßen bekannt ist. Mit der Zeit lernen wir das Leben immer
besser kennen. Öfters wird es zur Routine. Wenn unsere Kinder vier oder fünf
Jahre alt sind – als wir im selben Alter waren, ging es uns genauso –, dauert
ein Jahr sehr lange von Weihnachten bis Weihnachten. Nun hat der Tod uns in
seiner Macht, und er zieht uns immer fester an sich, zugleich hält das Leben
uns immer weniger fest. Ältere Menschen merken, wie ihre Welt im Sterben liegt,
nicht nur wegen ihres eigenen Alters mit ihrer zunehmenden eigenen Schwachheit,
sondern weil ihre Freunde und Verwandten sterben, eines nach dem andern. Am Schluss,
wenn sie sehr alt sind wie meine neunundneunzigjährige Großmutter, ist ihre
Welt gänzlich tot. Nur die Welt ihrer Kinder und Enkelkinder lebt weiter.
Wenn in diesem Psalm das Wort Schatten benutzt wird in
Beziehung zum Leben, dann ist diese Wortwahl schreckenerregend, denn nach
alttestamentlicher Vorstellung ist das Totenreich ein Schattenreich. Damit wird
gesagt, das Leben sei letzten Endes nicht wesentlich anders als der Tod, denn
wir sind als Lebendige wie die Toten sprachlos, und zwar gegenüber dem Tod.
Dazu kommt, dass wir alles, was wir an Reichtum und Gaben haben, nicht behalten
können. Anders als die Pharaonen lassen wir uns nicht mit unseren Schätzen
beerdigen, denn gar nichts, aber auch gar nichts können wir mitnehmen. Das
zeigt uns, dass unsere Werke ebenfalls gar nichts ausrichten können gegen die
Macht des Todes.
„Nun, Herr, wessen soll ich mich trösten? Ich hoffe auf
dich. Errette mich aus aller meiner Sünde und lass mich nicht den Narren zum
Spott werden.“
Hier wird deutlich gesagt, was unser einziger Trost sein
kann im Angesicht der Todesmacht, nämlich der allmächtige Herr. Keine weltliche
Klugheit kann uns hier weiterhelfen. Ebenso wenig können uns etwa Worte trösten
wie: „Es müssen alle sterben.“ „Warum soll’s nun gerade mich nicht treffen?“ „Wir
werden weiterleben in den Gedanken der Lebendigen.“ – Und wenn die „Weiterlebenden“
sterben? Was dann? Ohne einen Glauben an einen Gott kann der Tod keinen Sinn
haben. Einfach ausgedrückt: Wenn es keinen Gott gibt, dann ist das Leben selbst
nur ein böser Witz, ein Selbsttäuschender Weg zu einem ewigen Verlust.
Israel weiß um seinen Herrn, um seine Gegenwart, um die
Wirklichkeit seiner Verheißungen, um seine Macht der Errettung, um seine
Schöpferkraft. Ein solcher Gott ist aber auch barmherzig, und darum wird in
Israel offenbar, dass der Tod keine Vollmacht hat; denn der Herr, der Gott
Israels, ist ein lebendiger Herr. Zuerst wird in den Psalmen auf etwas anderes
hingewiesen: „Dies ist der Weg derer, die so voll Torheit sind, und das Ende
aller, denen ihr Gerede so wohl gefällt. Sie liegen bei den Toten wie Schafe,
der Tod weidet sie; aber die Frommen werden gar bald über sie herrschen, und
ihr Trotz muss vergehen; bei den Toten müssen sie bleiben. Aber Gott wird mich
erlösen aus des Todes Gewalt; denn er nimmt mich auf“ (Psalm 49, 14-16). Auch
in den Prophetenbüchern Hesekiel und Daniel wird von einer allgemeinen
Auferstehung der Toten am Ende der Tage gesprochen. Der Gott Israels, der
lebendige Gott, hat uns, die Seinen, nicht zum Tod erschaffen, sondern zum
Leben in ihm, zum ewigen Leben.
„Ich will schweigen und meinen Mund nicht auftun; denn du
hast es getan. Wende deine Plage von mir; ich vergehe, weil deine Hand nach mir
greift.“
Merkwürdig ist, dass dieser Teil unseres Psalms, der
allerwichtigste Teil für uns Christen, kaum bekannt ist, gar nicht vorkommt bei
unseren Beerdigungen. Merkwürdig ist außerdem, dass dieser Abschnitt des Psalms
plötzlich mit Jesus Christus zu tun hat. Ja, er scheint den Narren zum Spott zu
werden, denen, die ihn, unsern Herrn, lästern, die verlangen, dass er vom Kreuz
heruntersteige. Die sind wirkliche Narren, weil sie nicht merken, dass Jesus
für uns Sünder alles getan hat. Und doch hat auch der Prophet Jesaja im genau
gleichen Sinne geredet: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat
seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie
ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf“ (Jesaja
53, 7). Das Bild von Jesus Christus am Kreuz. Er schwieg bei seinem Tod, um
unsere Sprachlosigkeit dem Tod gegenüber zu zeigen. Er schwieg, weil er als der
Gehorsame wusste, dass sein Vater alles Nötige für ihn tun werde. „Du hast mich
erhört“ (Psalm 22, 22). Dieses Geschehen am Kreuz ist die Wende zum Leben,
welche sich erfüllt in Jesu Ausruf „Es ist vollbracht“ und zur Zukunft weist
mit dem ergebenen Wort: „Ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ Er, Jesus
Christus, hat die Macht des Todes gebrochen durch die Übergabe seiner selbst –
für uns – an den Herrn.
Darum konnte er auch nach dem „mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen?“ die Erfüllung in Psalm 39, 11 auf sich nehmen: „Wende
deine Plage von mir; ich vergehe, weil deine Hand nach mir greift.“ Diese Plage
ist das volle Gewicht des Gesetzes, auch geistig ausgelegt durch die
Bergpredigt: „Verflucht ist der, der am Holz hängt“ (5. Mose 21, 23). Ja, das
Gesetz ist zur Plage für uns geworden, weil es nach Jesu Auslegung ganz und gar
unerfüllbar geworden ist. Wir können nicht ohne Hass und Begier leben,
Friedensstifter sein, unsere Feinde lieben und vollkommen sein wie Gott. Wir
können das Gesetz, die Thora, unmöglich erfüllen, und darum ist es zur Plage
für uns geworden. Aber, Jesus nimmt diese Plage auf sich. Er ließ sich vom
Gesetz verfluchen, damit wir schuldbeladene Menschen
schuldlos dort stehen können.
„Wenn du den Menschen züchtigst um der Sünde willen, so
verzehrst du seine Schönheit wie Motten ein Kleid.“
So sah Jesus am Kreuz aus: „Wir sahen ihn, aber da war keine
Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste,
voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor
ihm verbarg“ (Jesaja 53, 2-3).
„Wie gar nichts sind doch alle Menschen.“ Hier am Kreuz ist
dieses „gar nichts“ zu seiner absoluten, endgültigen Aussage gelangt. Durch den
Sündenfall sind wir vom lebendigen Herrn abgefallen. Aber durch das Kreuz haben
wir Gott selbst im Namen von Gottes erwähltem Volk, ihren Führern und den
Heiden, vertreten durch Pilatus, getötet. Wir sind tiefer gesunken, als
überhaupt vorstellbar ist. Auch die Jünger versagten völlig. Nur einer war
überhaupt dabei, als Jesus gekreuzigt wurde, und dieser eine, Johannes,
bekannte sich auch nicht offen zu Jesus als seinem Herrn und Heiland. „Höre
mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige
nicht zu meinen Tränen; denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle
meine Väter.“
Gott Vater hat Jesu Gebet gehört, erhört. Zu seinem Schreien
schweigt er nicht, auch nicht zu seinen Tränen. Er hat ihn aus dem Tod, in den
ihn unsere Sünden hineingedrängt hatten, am dritten Tag herausgeholt. Und Jesu
Kreuz und Auferstehung ist Gottes Antwort auf unsere totale Verlorenheit. Auf
die allerletzte Tiefe unserer Schuld antwortet er nicht mit Rückkehr zum alten
Leben wie bei Lazarus, sondern er blickt auf die verfluchte, gottesmörderische
alte Schöpfung und die alten Menschen und sieht das Neue kommen, die neue Welt,
auf der er vorangehen will. Mit ihm gibt es kein Zurück ins Alte mehr. Sein
Aufenthalt auf Erden war kurz, wie der unsere auch. Und nur durch ihn können
wir von dieser fremden, dieser entfremdeten Erde, welche durch mich und euch
ihren Gott umgebracht hat, gerettet werden.
„Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre
und nicht mehr bin.“
Hier ist ein Ruf zum Leben, kein Ruf zum Zurück. Gott lässt seinen Sohn nicht im Stich, sowenig wie uns. Als Strafe für unsere Verschuldungen sind wir dem Tode ausgeliefert. Doch Christus ist stärker als der Tod. Denn er, Jesus Christus, ist der Lebendige, der Gott Israels.
Ein Psalm Davids, vorzusingen,
als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba eingegangen war. Gott,
sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen
Barmherzigkeit. Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von
meiner Sünde; denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor
mir. An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du recht
behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest. Siehe, ich bin
als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen. Siehe, dir
gefällt Wahrheit, die im Verborgenen liegt, und im Geheimen tust du mir
Weisheit kund. Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde; wasche mich, dass
ich schneeweiß werde. Lass mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine
fröhlich werden, die du zerschlagen hast. Verbirg dein Antlitz vor meinen
Sünden und tilge alle meine Missetat. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz,
und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem
Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit
deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus.
Psalm 51, 1-14
David war nicht, wie etwa Jakob und Petrus, ein
Durchschnittsmensch in seiner natürlichen Begabung. Er war eher, wie Paulus,
eine besondere Persönlichkeit. Es ist kein Zufall, dass Jakob, welcher Israel
heißen wird, stellvertretend dasteht für den Alten Bund, denn seine Schwächen
sind Alltagsschwächen, seine Stärke bewegt sich im normalen Rahmen. Jakob ist
eine Person, von der wir alle sehr viel lernen können, gerade weil er nichts
Besonderes war, und so ist es auch mit Petrus. Er ist ein Mensch wie alle
andern, und nur allzu menschlich ist sein Versagen. Auch er steht, wie Jakob,
als Vertreter seines ganzen Volkes da, des neuen Israel; sein großes Versagen
und zugleich seine Stärke gründen in der Kraft des Herrn. David war, wie
gesagt, etwas Besonderes. Durch die ganze Dunkelheit seiner Geschichte leuchtet
sein Glaube. Er ist mächtig in Wort und Tat. Es ist kein Zufall, dass „du Sohn
Davids“ ein feststehender messianischer Titel Jesu war. „David“ steht für die
Juden bis heute als Name, wenn sie „den König“ meinen: so soll ein König sein.
Aber David hat, wie Paulus, großes Format in allem, auch in
seinen Sünden. So groß die beiden waren, so tief sind sie gefallen: Paulus am
Anfang seines Wirkens als Christenverfolger und David auf dem Höhepunkt seiner
Macht als König über ganz Israel, als Kriegsheld. Damit wird gezeigt, je höher
wir emporstreben, umso gefährdeter sind wir. Nur allzu leicht nistet sich der
Gedanke in unserm Herzen ein: „Ich darf tun, was ich will, denn ich bin etwas
Besonderes, ein wahrer Erwählter.“ So ging David bis zu Ehebruch und Mord. Es
ist nicht zufällig, dass Jesus gerade diese zwei Gebote in der Bergpredigt
auslegte, und auch nicht zufällig, dass Jesus den Pharisäern Ehebruch und Mord
in ihren Herzen vorwarf; denn Jesus allein blieb hier unbefleckt, ohne
Begierde, ohne Hass. Wo David gefehlt hat, wo die pharisäische Haltung zur
Heuchelei wurde, hat Jesus sich durchgesetzt für uns gegen jede Versuchung des
Satans.
David wurden die Augen über seine Sünde geöffnet durch den
von Gott gesandten Propheten Nathan. Der erzählt ihm von einem armen Mann,
welcher nur ein einziges Schäfchen als Besitz hat. Ein reicher Mann bekommt
Besuch und statt eines seiner vielen Tiere zu opfern, nimmt er einfach gerade
das Schäfchen des Armen und schlachtet es. David ist entsetzt, denn trotz allem
bleibt er immer noch der gerechte König. Er zerreißt seine Kleider und spricht
das Todesurteil über diesen reichen Mann. Da sagt ihm Nathan: „Du bist der
Mann.“ David hat sein eigenes Todesurteil ausgesprochen. Ähnlich ging es später
Paulus, dem Gesetzeseiferer, der vor Damaskus lernen musste, dass gerade er als
Mörder von Christen auf dem Weg sei, Gottes Neuen Bund und den Herrn Israels,
Jesus Christus, zu verfolgen.
David, wie auch später Paulus, war völlig verzweifelt, und
er tat erschreckt und ernsthaft Buße:
„Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine
Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich rein von meiner Missetat
und reinige mich von meiner Sünde.“
Letzten Endes ist seine Lage nicht anders als unsere, denn
nach Jesu Maßstab sind wir Ehebrecher, wenn wir außer der Ehe begehren, und
Mörder, wenn wir hassen. Wir haben auch der Sünde Lohn
verdient. Davids Buße zeigt uns den einzigen Weg zur Erlösung: Nachdem wir uns
unserer Schuld bewusst geworden sind, erhört der Herr unser flehentliches
Bitten und vergibt uns die begangenen Sünden. Luther hat die Buße unsere tägliche
Speise genannt.
Zu beachten ist, dass Davids Leben verschont wird, aber auf
Kosten seiner Kinder: Der erste Sohn Batsebas aus diesem Ehebruch stirbt; Amnon
wird auf Befehl seines Halbbruders Absalom erschlagen; der nächste Sohn ist
geistig beschränkt und Absalom, der stärkste, stirbt bei einem Aufstand gegen
seinen Vater. Hier geht Davids eigene Schuld an seine Kinder über. In jener
Zeit war die Person als solche bis in das vierte Glied von seinen Vorvätern
bestimmt, auch, weil – in diesem Fall – der Herrscher Israels einen geeigneten
Nachfolger brauchte, denn durch ihn sollte Gottes Segen und Verheißung erfüllt
werden: „Durch dich werden gesegnet alle Völker auf Erden.“ Hier wird Davids
Sünde als Ausgleich von dem Herrn an seinen Kindern vergolten.
„Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer
vor mir. An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du
recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.“
David spricht hier den Kern der Sache an. Seine Sünde ist
nicht zuerst an Uria und Batseba geschehen. Seine Schuld ist nicht – genau
gesehen – nur sein Verbrechen. Wie wenige von uns sind sich bewusst, dass, wenn
wir anderen Böses zufügen, der folgenschwerere Schaden an uns selber geschieht.
Für David ist es ganz klar: Seine Schuld gegen den Herrn selbst ist weit
tiefer. Er hätte es besser wissen müssen, er hatte den Herrn der Gerechtigkeit
wohl gekannt. Jedes Mal, wenn wir eines seiner Gebote brechen, sagen wir uns
los von Gottes Wort und von seinem Wesen. Denn das Gesetz ist seine Ordnung für
die Welt, die „Wegweisung“ zu seinem Reich.
„Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat
mich in Sünden empfangen. Siehe, dir gefällt Wahrheit, die im Verborgenen
liegt, und im Geheimen tust du mir Weisheit kund.“
Davids Erkenntnis schreitet Schritt um Schritt in die Tiefe.
Er weiß, ich bin schuldig Batseba und Uria gegenüber; es ist noch schlimmer,
wie ich mich selbst beschmutzt habe; noch weiter unten stehe ich, weil ich
Gottes Gebote breche. Aber hier sagt er sogar noch, ich bin nicht nur schuldig
wegen dieses Verstoßes gegen seine Gesetze, ich bin schon in Sünden geboren. Er
redet von der Erbsünde. Sünde ist vor allem ein Zustand, der in der Folge zum
Tun führt, wie es in der Thora steht: „Das Dichten und Trachten des
Menschenherzens ist böse von Jugend an.“ Auf einmal sieht David die wahre
Beziehung zwischen Leben und Tod, denn wir sind von Mutterleib an dem Tod
geweiht wegen unserer Ichsucht auf Kosten von Gottes Wegweisung zum Leben.
Davids Aussage reicht sogar noch tiefer als diese Einsicht.
Er weiß, dass durch sein Versagen der Herr ihn erreichen will mit seiner
Wahrheit. Er merkt als Sünder, dass er jetzt wirklich, vielleicht zum ersten
Mal bis ins Mark hinein erkennt, was Wahrheit und Gerechtigkeit wirklich sind.
Erst ein Blinder merkt, was Sehen wirklich bedeutet, und ein Gelähmter erkennt
erst die wahre Bedeutung des Gehenkönnens.
„Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde; wasche mich,
dass ich schneeweiß werde. Lass mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine
fröhlich werden, die du zerschlagen hast. Verbirg dein Antlitz vor meinen
Sünden, und tilge alle meine Missetat.“
Waschungen sind Zeichenhandlungen, welche die Reinheit
wiederherstellen, nachdem man unrein geworden ist. Aber Davids Schuld geht viel
tiefer als das, was Waschungen heilen können. Darum möchte er schneeweiß werden
und die Kleider der Gerechten tragen dürfen (Offenbarung 15+19). Als Christen
denken wir hierbei an die echte Reinheit und die wahren „Waschungen“, welche
wir, durch Jesu Kreuzesblut, u. a. in der Taufe empfangen haben. Hier liegt die
letzte Antwort auf die Erbsünde, auf sowohl Davids, als auch meine schwere
Schuld. David ruft letzten Endes nach dem, was nicht wiederhergestellt werden
konnte, mindestens solange nicht, bis Jesus Christus selbst gekommen war. Hier
ruft er nach dem, was so lange verloren war seit Adam und Eva, und beschreibt
die wahre Sehnsucht aller Menschen nach Erlösung. Sie wird kommen, aber erst
mit Jesu Tod am Kreuz.
„Lass mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine fröhlich
werden, die du zerschlagen hast.“
Wie hat David einmal so fröhlich getanzt! Doch er kann es
nicht vergessen, dass seine Beine sehr aktiv waren beim Begehen seiner Sünde.
Davids Ruf kommt hier aus der Verzweiflung, und er versucht zu begreifen, was
er verloren hat. Seine Lage, die Bedrängung durch sein geschlagenes Gewissen
kennen wir auch als Christen. Seine Antwort, die Buße, ist auch unsere Antwort,
die einzig angebrachte. Ja, erschrecken wir zutiefst: Davids Nachkommen sind in
sein Leiden und seine Schuld hineingezogen. Hier wird eine andere Sicht der
Erbsünde eröffnet, ihre Fortdauer von Generation zu Generation …
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen
neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm
deinen heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und
mit einem willigen Geist rüste mich aus.“
Dieser Ruf wird gehört. Trotz aller Schuld Davids, trotz der
Tiefe des geschehenen Bösen und der Länge der Strafe steht der Herr immer noch
zu ihm. Sein Angesicht, sein Licht, sein Geist bleiben ihm immer noch
zugewandt. Zwar wird David jetzt anders in die Zukunft schauen. Wie in der Zeit
der Verfolgung durch Saul wird er in Angst leben müssen. Er wird nicht mehr fröhlich
sein. Er wird nie mehr schneeweiß sein, weil er selbst weiß: so war ich in
Wirklichkeit nicht, denn „ich bin als Sünder geboren“. Aber trotzdem bleibt der
Herr bei ihm, hält zu ihm. Und das sehen wir, dass gerade da, wo die Strafe
liegt bei seinen Nachkommen, gerade da das Heil auch zu finden sein wird: in
Jesus Christus.
„Siehe, dir gefällt Wahrheit, die im Verborgenen liegt, und
im Geheimen tust du mir Weisheit kund.“
David bleibt bis heute für uns Christen der Vorläufer Jesu
und für die Juden der König, das wahre Vorbild eines Königs, ein Bild, welches
in den Chronikbüchern festgehalten ist. Und wenn heute den Juden ihr wahrer
König offenbart wird, der einzige Sohn Gottes, werden alle Israeliten „so
schwach wie David sein“, und das bedeutet, so stark wie es der stärkste und
gerechteste König Israels war.
Vergessen wir nicht: David ist nach Ehebruch und Mord,
jedoch nach seiner Buße, nach seiner Strafe, ein anderer geworden. Gerade durch
diesen Vorgang ist er bis in die letzte Tiefe von Gottes Gerechtigkeit zu
seiner Barmherzigkeit gestoßen. Der ältere David ist gereift durch diese
Erfahrung. Er weiß nun in der letzten Tiefe, wie schuldig er selbst ist.
Die Geschichte von Davids Ehebruch und Mord und dieser
Bußpsalm zeigen uns, wie tief das Böse in uns wurzelt, wie schuldig wir
wirklich sind, alle von uns. Das bestätigt Jesus in seiner Auslegung von
Ehebruch und Mord in der Bergpredigt. Wir tragen Schuld unseren Nächsten wie
auch uns selbst gegenüber, vor allem aber haben wir eine direkte Schuld unserem
Herrn gegenüber, dem gerechten Gott Israels. Wir sollten wie David ein für
allemal lernen, dass wir keine weißen Kleider mehr haben, zutiefst befleckt
sind, keine Gerechten mehr sind vor dem Herrn.
Mit dieser Erkenntnis und inneren Erfahrung ist der Weg zur
Gnade eröffnet, denn „das Opfer, welches Gott gefällt, ist ein geängstetes,
zerschlagenes Herz“. Darum ist Psalm 51 der zentrale, der entscheidende
Bußpsalm, denn er redet nicht nur von David, sondern auch von uns, von jedem
von uns. Und er zeigt uns den Weg: Buße, Schritt um Schritt zurück zu dem
gnädigen, erlösenden Gott Israels, Jesus Christus.
1 Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
2 geboren werden hat seine
Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt
ist, hat seine Zeit;
3 töten hat seine Zeit, heilen
hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
4 weinen hat seine Zeit, lachen
hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
5 Steine wegwerfen hat seine
Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen
hat seine Zeit;
6 suchen hat seine Zeit,
verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
7 zerreißen hat seine Zeit,
zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
8 lieben hat seine Zeit, hassen
hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
9 Man mühe sich ab, wie man
will, so hat man keinen Gewinn davon.
10 Ich sah die Arbeit, die Gott
den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.
11 Er hat alles schön gemacht
zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der
Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
12 Da merkte ich, dass es
nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem
Leben.
13 Denn ein Mensch, der da isst
und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
14 Ich merkte, dass alles, was
Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles
tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll.
15 Was geschieht, das ist schon
längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt
wieder hervor, was vergangen ist.
Prediger 3, 1-15
Wird nicht jeder von uns manchmal von dem Gefühl überfallen:
Jetzt ist alles vorbei! Jetzt ist es zu Ende! Wenn wir endlich erwachsen sind,
verheiratet sind und einen Beruf und Kinder haben, blicken wir auf unsere
eigene Kindheit zurück und denken: Ja, so war das damals. Aber damit habe ich
nichts mehr zu tun. Die Zeit gehört mir nicht mehr, sie bleibt nur als
Erinnerung erhalten. Und hatten wir nicht als Kinder die Zeit des
Erwachsenseins herbeigesehnt? Wollten wir nicht endlich zeigen, was wir konnten
und wer wir waren? Immer wünschten wir uns irgendetwas, was wir nicht hatten.
Groß wollten wir sein, erwachsen, Anerkennung genießen – und dann war mit
einemmal die Kindheit vorbei. Erst später merkten wir, vielleicht an unseren
eigenen Kindern, vielleicht durch Erinnerungen, wie schön die Kinderzeit
eigentlich war oder hätte sein sollen.
Und so geht es uns mit jeder Lebensphase. Jetzt, wo ich
meine ersten weißen Haare bekomme, denke ich öfter zurück an die ersten Jahre
unserer Ehe, als die Kinder kamen, als meine Frau und ich zusammen unsere Welt gestalteten.
Und nun merke ich: das ist vorbei, du hast nicht mehr die gleichen Kräfte, die
Zeit kehrt nicht mehr zurück. Wie sehr hatten wir gehofft, in dieser unruhigen
Zeit eine sinnvolle Zukunft aufzubauen; miteinander wollten wir es tun. Dabei
waren wir so beschäftigt, dass die Zeit uns zwischen den Fingern zerrann. Auch
diese, vielleicht allerschönste Zeit ist nun vorbei. Wir erkannten es erst, als
wir mehr oder weniger alles erreicht hatten, was wir uns wünschten. Jetzt geht
uns auf; dass auch diese Zeit, wie unsere Kindheit, so sehr auf die Zukunft
ausgerichtet war, dass sie uns wie Wasser durch die Hände lief.
Und ebenso wird es sein, wenn wir alt werden. Dann bleiben
uns nur noch Erinnerungen, dann haben wir mehr als genug Zeit, um
festzustellen, dass die Zeit uns im Griff hatte und nicht wir sie.
Wenn der Prediger sagt, dass alles zu seiner Zeit geschehen
soll, so weiß er gleichzeitig, dass es bei uns Menschen anders aussieht. Wir
sind zu unruhig, um uns an diesen Worten genügen zu lassen – geprägt durch
Träume und Zukunftswünsche. Wir möchten unser Leben bestimmen, selbst gestalten
– und gerade bei diesem Versuch eilt die Zeit an uns vorbei, läuft uns weg, ist
nicht mehr greifbar.
Gibt es wirklich eine Gegenwart und nicht nur Vergangenheit
und Zukunft? Wir warten auf die Ernte, aber wenn sie eingebracht ist, wenn das
Reifwerden zur Vergangenheit geworden ist, dann geht es schon wieder um neuen
Einsatz. Unser Tun, unsere Aktionen – das „Steinesammeln und Steinezerstreuen“,
von dem hier die Rede ist –, das steht lange vor uns als zukünftiges Ereignis,
und dann ist es plötzlich schon vorbei, gehört der Vergangenheit an. Die
Gegenwart, die Wirklichkeit des Augenblicks rinnt uns ständig durch die Finger
wie Sand. Vorbei, nicht mehr greifbar, verloren.
Wie kann Zeit für uns sinnvoll werden, wenn das Jetzt so
plötzlich zum Gestern wird, wenn so schnell aus der ersehnten Zukunft
erloschene Vergangenheit wird?
Der Prediger sagt: „Alles, was Gott tut, das besteht für
ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich
vor ihm fürchte.“ Und dann gibt er uns eine Antwort: „Da merkte ich, dass es
nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen,
das ist eine Gabe Gottes.“
Diese beiden Aussagen hängen eng miteinander zusammen. Sie
geben uns einen gewissen Aufschluss über das Rätsel der Zeit, über ihren
Hintergrund und über die Unmöglichkeit, unsere Zeit selbst in den Griff zu
bekommen.
Der Prediger stellt fest, dass alles, was geschieht, eine
Ursache hat, uns aber andererseits wie etwas Unabänderliches überflutet. Er
empfindet einen sinnvollen Rhythmus in allem Geschehen – eine Zeit für das Säen
und Pflanzen und eine Zeit fürs Ernten, eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum
Sterben –, dass irgendwo die Dinge zu einer tiefen Einheit zusammengefasst
werden. Die Einzelheiten unseres Lebens, die der Lauf der Zeit oft wirr
aneinanderzuhängen scheint, klingen bei Gott in einer Harmonie zusammen. Und
die vielen Einzelleben sind nach seinem Plan in den Gang der Weltgeschichte
hineingeordnet. Er ist der Urheber alles Geschehens.
„Furcht des Herrn“ bedeutet hier die Erkenntnis, dass es
eine solche Harmonie, eine solche Ordnung gibt. Eine Zeit für dieses und jenes
und den Gesamtplan eines großen Meisters für ihren Ablauf. Und sie bedeutet
auch, dass wir Menschen nicht über die Zeit verfügen können. Wir erkennen
manchmal einige Linien, Zeiten für das eine oder das andere, aber oft merken
wir erst zu spät, was eigentlich dran war. Wir lebten an der Zeit vorbei, oder
sie ging über uns hinweg, ohne dass uns Sinn und Zweck aufgegangen wäre. Doch
der Prediger sagt uns sehr klar, dass es einen Sinn und eine Zielsetzung der
Zeit gibt. Sie gehört dem Herrn – auch unsere private Zeit –, und das sollte
uns zur Furcht des Herrn hinführen.
Angesichts dieser Aussagen erscheint uns die Schlussfolgerung
des Predigers beinahe lächerlich unwichtig: „Ein Mensch, der da isst und trinkt
und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes!“
Heißt das nicht, die Gottlosigkeit unserer Tage bejahen, wo
die Menschen leben wie zur Zeit Noahs: „…sie aßen, sie tranken, sie freiten und
ließen sich freien, bis die Sintflut kam und sie auslöschte…“? So hat es der
Prediger nicht gemeint. Das Erwecken der Gottesfurcht ist ja gerade das letzte,
was er zu diesem Thema zu sagen hat: „…das alles tut Gott, dass man sich vor
ihm fürchten soll.“ Und dann fährt er fort: „Was geschieht, das ist schon
längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt
wieder hervor, was vergangen ist.“
Das Wort des Predigers ist zutiefst von Demut geprägt. Er
hat unser Versagen im Hinblick auf das sinnvolle Umgehen mit der Zeit im Auge
und auch unsere Unfähigkeit, Gottes Plan zu enträtseln. Er möchte uns mit der
Aussage über die umfassende Herrschaft Gottes über Zeit und Ewigkeit zu einer
grundsätzlichen Erkenntnis über uns selbst führen: Du Mensch, merke doch, wie
klein du wirklich bist, klein in deinem Mühen, klein in deinen Werken, klein
darin, dass die Zeit über dich bestimmt und nicht du über sie.
Eine solche Aussage haben wir emanzipierten, vom Humanismus beeinflussten
Menschen heute nötiger denn je, weil dieser Ruf die Wahrheit über den Menschen
schonungslos enthüllt. Auch wenn wir an einem klaren Sommerabend einen
Spaziergang machen und den Sternenhimmel über uns betrachten, können wir etwas
davon spüren. Wir sehen Sterne, die zum Teil Milliarden Lichtjahre von uns entfernt
sind, schon tot sind – aber uns trifft noch ihr Glanz. Wie klein, wie
bedeutungslos sind wir Menschen doch angesichts dieses unbegrenzten Raumes. Das
ist die Wahrheit über uns. Der Herr schuf die Zeit mit seinem „am Anfang“, und
er schuf den Raum mit „Himmel und Erde“. Er herrscht über beides – immer und
ewig.
Aus tiefster Ehrfurcht vor ihm wollen wir uns einfügen in
das, was er geschaffen hat, wollen seine Herrschaft über die Zeit und unser
Leben annehmen. Wenn wir dann täglich „alles zu seiner Zeit“ aus seiner Hand
empfangen – Essen, Trinken, Arbeit und Freude –, dürfen wir glücklich sein,
weil wir nicht mehr über uns selbst bestimmen wollen und müssen, sondern als
seine Kinder von ihm her leben. Die Selbstbestimmung ist im letzten Grunde eine
Last, und wir täuschen uns ja ohnehin, wenn wir glauben, das Recht dazu zu
besitzen.
Dann wird auch unser Essen und Trinken von aufrichtiger
Gebetshaltung begleitet sein – auch im Tischgebet –: Ich danke dir, Gott, weil
du der Herr meines Lebens bist. Jede Phase, jede Einzelheit unseres Lebens
können wir dann annehmen, wie sie kommt, aus seiner Hand, von ihm bestimmt. Und
dabei dürfen wir guten Mut haben, weil wir ja nur die Empfangenden sind und
weil wir uns darin zu unserem Schöpfer bekennen.
Doch spricht unser Text ja auch von einer Zeit zum Sterben.
Unser Tod wäre sinnlos, wenn es keine Zukunft mehr dahinter gäbe. Zwar schenkt
Gott immer wieder neues Leben auf die verschiedenste Weise, wenn auch ein
Einzelschicksal erlischt, aber das allein vermag unserem Leben keinen Sinn zu
bewahren.
An dieser Stelle müssen wir weiter blicken, als es der
Prediger vermochte. Am Kreuz Jesu Christi wurde unser Leben auch über den Tod
hinaus sinnvoll gemacht. Zur Zeit seiner Erhöhung, zur Zeit Gottes, brach er
dort die Macht des Todes, die bis dahin auch unser Leben in ihren Bann
geschlagen hatte. Wir leben ja nur in einer Richtung hier auf dieser Welt. Vom
Impuls der Geburt an ist unser Leben im Grunde ein zunehmendes Versickern, das
mit dem Tod seinen Abschluss findet.
Am Kreuz auf Golgatha erhielten Zeit und Ewigkeit ein für
allemal ihren rechten Stellenwert. Hier begegneten sich die verlorene Zeit
einer Welt, die dem ewigen Tod geweiht ist, die ihren Herrn und Erlöser
umbrachte, und die Ewigkeit des Gottesreiches, das Christus uns eröffnete. Er
nahm alle verfehlten Versuche der eigenen Lebensbestimmung auf sich und
wandelte verlorene Zeit, verlorenes Leben in ewiges Leben um. Durch das
Geschenk des Glaubens dürfen wir an dieser Verwandlung teilhaben.
Darum wollen wir essen und trinken und fröhlich sein bei unserer Arbeit. Ehre und Ruhm sei ihm allein, der Zeit und Vergänglichkeit unseres Lebens und Todes in seine Ewigkeit hinein nimmt. Er allein ist der Herr!
In dem Jahr, als der König
Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und
sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs
Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße,
und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig,
heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die
Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. Da
sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter
einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth,
gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine
glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte
meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine
Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die
Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?
Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
Und er sprach: Geh hin und
sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht!
Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen
blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch
verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. Ich aber
sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner,
und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. Denn der Herr wird
die Menschen wegtun, so dass das Land sehr verlassen sein wird. Auch wenn nur
der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie bei
einer Eiche und Linde, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein
heiliger Same wird solcher Stumpf sein.
Jesaja 6, 1-13
Hier wird nicht gesprochen von einem gütigen Herrn, von
einem barmherzigen Herrn, von einem liebenden Herrn, sondern von einem heiligen
Herrn. Warum? Weil der Weg, um zu diesem gütigen Herrn, zu diesem barmherzigen
Herrn, zu diesem liebenden Herrn zu kommen, Verbindung mit ihm haben, nur über
seine Heiligkeit geht, über seine Allmacht, über die Erkenntnis bis in Mark und
Bein, wie klein und bedeutungslos wir tatsächlich sind und wie groß der Herr
ist. Wer meint: Ja, so war es im Alten Bund, aber so ist es nicht mit Jesus,
der irrt sich. Er ist der heilige Gott Israels, und wie damals bei Jesaja, so
geht auch heute bei uns der Weg zu seiner Liebe, zu seiner Güte, zu seiner
Barmherzigkeit nur über seine Heiligkeit, seine Allmacht. Wieso denn?
Nehmen wir als Beispiel zuerst Jesu Ruf in die Nachfolge,
dann seine Bergpredigt und zuletzt sein Kreuz. Weshalb sind
Jesu Jünger seinem Ruf „Komm und folge mir nach“ gefolgt? Weshalb konnten sie
alles verlassen, um ihm nachzufolgen? Nur weil sie seine Macht, seine Kraft
spürten in seinen Worten, in dem Wort, welches die Welt erschaffen hat. Ein
Aufgeben des alten Lebens, der alten Lebensweise kann nur geschehen, wenn ein
neuer, anderer Machthaber über uns regiert als unsere Gewohnheiten, als unsere
Versuche, uns selbst zu sichern gegen jede Not, uns selbst durchzusetzen in
dieser Welt. Aber dann, gerade dann, nachdem wir unsere Wege, unsere Macht dem
Herrn unterstellt haben, erleben wir seine Führung, seinen Trost, seine Liebe
und Barmherzigkeit. Aber nur dann! Sonst bleiben wir, wie damals das Volk
Israel, unter Gottes Gericht.
Die Bergpredigt, Jesu zentrale Rede, ist keine Trostpredigt,
sie zeugt nicht zuerst von der Liebe und Barmherzigkeit des Herrn, sondern sie
ist geprägt von seiner Heiligkeit und Reinheit. In der Forderung nach
Vollkommenheit, nach reinem Herzen und konsequenter Feindesliebe ist diese
Bergpredigt eine Herausforderung des heiligen, allmächtigen Gottes Israels an
uns, die wir nach seinem Bild erschaffen wurden, zu tiefer Verwandtschaft mit
ihm. Aber gerade durch unsere Erkenntnis, dass wir dieses Gesetz Gottes nicht
erfüllen können (wie damals die Jünger in ihrem Entsetzen), oder, wie Luther es
ausdrückt, in dem Verlangen nach Buße, welches die Bergpredigt ausstrahlt (wie
in der Reinheitshandlung hier an Jesaja), begegnen wir dem heiligen,
allmächtigen, fordernden Gott. Aber wenn wir dann verstehen, dass Jesus diese
Bergpredigt, diese Forderung des heiligen Gottes selbst für uns erfüllt hat und
dass wir Frieden haben mit dem Vater in Jesus Christus, ist uns der Weg
geöffnet zu dem liebenden, barmherzigen Herrn, der uns täglich führen will. Nur
über die Heiligkeit Gottes ist die Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu erlangen.
Und wie steht es mit Jesu Kreuz, dem Zentrum unseres
Glaubens? Kreuz ist in sich Gericht, denn Juden wie Heiden sind mitschuldig an
diesem Geschehen, und die Jünger lassen Jesus im Stich. Das ganze
Passionsgeschehen zeugt zutiefst von der Schuld der Jünger Jesu. Deswegen kam
diese Dunkelheit über das Land. Es war die Schuld, die Finsternis der Welt,
welcher Jesus ausgesetzt war und die er selbst trug bis in den eigenen Leib
hinein. Aber nur wenn ich weiß – wie die großen Dichter der Passionslieder es
bis in Mark und Bein hinein wussten – ich, ich bin die Ursache dieses Kreuzes,
und nur wenn ich mich dem heiligen Herrn beuge, der meine Schuld und Sünde
trug, habe ich Frieden mit dem Vater. Damit ist der Weg geöffnet zu dem
barmherzigen, liebevollen, vergebenden Herrn Jesus Christus. Aber auch dann,
vergessen wir es niemals, muss ich mich immer neu richten lassen durch das Wort
des heiligen Gottes, indem ich Buße tue und als kleiner, sündiger Mensch
Vergebung suche unter seinen segnenden Händen.
Und Jesaja tut gerade das. Er ist erschreckt, als er mit der
Heiligkeit Gottes konfrontiert wird: „Weh mir, ich vergehe. Denn ich bin
unreiner Lippen und lebe unter einem Volk von unreinen Lippen.“ Die Reinigung
Jesajas ist dann zweifach: Zuerst diese so tiefe Erkenntnis seiner eigenen
Person und der Wege seines Volkes und dann die Handlung Gottes, die glühende
Kohle auf seinen Lippen zum Zeichen, dass Jesaja nun Gottes Wort mit Vollmacht
seinem Volk verkündigen darf. Nur wenn wir genauso wie Jesaja tief in unserem
Herzen wissen, wie unrein und unwürdig wir wirklich sind, und das im Angesicht
der Heiligkeit Gottes, der Reinheit Jesu und seines Wortes, können wir wahre
Diener Gottes werden. Ruf in die Nachfolge Jesu bedeutet für uns, wie damals
für Jesaja, die echte Erkenntnis unserer eigenen Lage und des Volkes, zu dem
wir gehören, aber durchleuchtet von der Heiligkeit Gottes in Jesus Christus, in
seinem Wort. Der Herr redet als Vollendung der Zeichenhandlung an Jesaja: „Siehe,
hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und
deine Sünde gesühnt sei.“ Das bedeutet stets neu auch für uns, dass Jesus
Christus, der heilige Gott Israels, uns immer wieder reinigen will, indem sein
Wort, sein Wesen uns unsere Lage, unser Arm- und Schwach- und Sündigsein vor
Augen stellt und ins Herz spricht. Dadurch werden wir reingesprochen unter
seiner Heiligkeit, seinem richtenden und zugleich rettenden Wort.
Aber das Gericht ist beschlossen. Israels Schuld ist so
groß, geht so tief, dass es nicht abzuwenden ist. So beantwortet der Herr
Jesajas Frage: „Wie lange, Herr?“ mit dem Satz: „Bis die Städte wüst werden,
ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt.“
Sofort haben wir zwei dringende Fragen: Zum einen: Warum so ein umfassendes
Gericht? Zum anderen und noch zentraler: Wenn Gott solch ein Gericht beschlossen
hat, warum soll Jesaja es dem Volk überhaupt verkündigen, und zwar gezielt, um
das Herz des Volkes zu verstocken? Alles ist schon beschlossen, es gibt trotz
und wegen Gottes Wort an seinen Propheten anscheinend keinen Ausweg mehr.
Zuerst: die Begründung seines Gerichts ist durch die ganze
Jesaja-Verkündigung wie auch die der anderen Propheten wahrzunehmen. Das Volk
Israel hat seinem Gott die Treue nicht gehalten. Sie beten Götzen an. Ihr
Bekenntnis zum Herrn ist nur Lippenbekenntnis. Und weil der wahre Glaube nicht
vorhanden ist, kann der Vollzug des Gehorsams zum Herrn in der Nächstenliebe
nicht stattfinden. Israels Wege sind krumm und damit auch ihre Werke. Gottes
Gericht ist deshalb unausweichlich.
Ist nicht diese Botschaft heute genauso aktuell wie damals?
Können wir behaupten, dass Jesus Christus wirklich Mittelpunkt des Lebens
unserer Gesellschaft und Zeit ist? Selbsterkenntnis ist der einzige Weg zu der
Wahrheit und damit zu unserer Erlösung durch den Herrn. Sonst stehen wir auch
vor dem Gericht, einem schrecklichen Gericht. Aber wer warnt das Volk heute?
Wer predigt von Jesu Heiligkeit, seiner Vollmacht? Nur dann ist die Möglichkeit
einer Umkehr und Rückkehr zum barmherzigen Herrn möglich. Doch wie sollen wir
die Verstockungspredigt verstehen? Predigen wir denn, damit die Menschen ins
Gericht kommen sollen? Diese Aussage ist nur zu verstehen in Bezug auf die zehn
Prozent, diesen Stumpf, der übrig bleibt, weil das Gericht hier nicht unbedingt
endgültig ist. Hat nicht Jesaja uns auch viel über Jesus und sein Heil vorausgesagt?
Hier ist folgendes gemeint:
1.
Auf das Wort der Propheten, sowohl auf ihr
richtendes als auch auf ihr verheißungsvolles Wort, reagieren die verlorenen
Menschen mit Spott und Hohn wie viele zurzeit Jesu bei seiner Kreuzigung. Das
bedeutet, dass ihre Schuld so tief geht, dass das Wort Gottes sie nur noch
tiefer in Schuld, in Ablehnung bringt (Verstockung).
2.
Aber, und das ist zentral: Es wird einen Rest
geben, ein Zehntel, welches diesem Gericht entgeht. Deswegen predigt Jesaja Gericht
wie Verheißung, damit dieser Rest herausgeholt, gerettet wird aus dem Gericht.
Niemand weiß, wer diese Menschen sind. Weder in Jesajas Zeit, noch zu Jesu
Zeit, noch zu unserer Zeit. Er predigt, wie wir alle predigen sollen, mit der
Schärfe des Wortes, von der Heiligkeit Gottes. Aber zugleich bietet er eine
Antwort darauf: Hier, dieser Rest für diese verheißungsvolle Zukunft, „der
heilige Same“ für das Tausendjährige Friedensreich (Jesaja 11), die Entrückung
und Gottes ewiges Reich.
Lasst uns jetzt uns beugen vor dem heiligen, richtenden
Gott, Jesus Christus, in der Erkenntnis, wie arm und klein und schuldig wir
sind und wie wichtig wir uns alle selbst nehmen. Lasst uns aber diese Schuld
dem gekreuzigten Herrn Jesus übergeben, und zwar nicht nur jetzt, sondern Tag
für Tag. Lasst uns bitten und beten, dass er jeden von uns ausrüsten möge mit
der Kraft seines Heiligen Geistes durch sein Wort, damit wir als Botschafter an
seiner Stelle Jesajas wie Jesu Ruf zur Umkehr zu unserem Nächsten bringen,
jeder in seiner Art und Weise. Denn das Gericht Gottes mit seiner ganzen
Schärfe ist nahe, aber vielen wird die Umkehr zu Jesus Christus noch die wahre
Errettung bringen: in seiner Zukunft, ohne Gericht, ohne Krieg und Hass, ohne
Krankheit und Altwerden, ohne Schuld. „Wir danken dir, Herr Jesus Christ, dass
du für uns gestorben bist.“
8 So geh nun hin und schreib es
vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch, dass es bleibe für
immer und ewig.
9 Denn sie sind ein
ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen die Weisung des
Herrn,
10 sondern sagen zu den Sehern:
„Ihr sollt nicht sehen!“ und zu den Schauern: „Was wahr ist, sollt ihr uns
nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt!
11 Weicht ab vom Wege, geht aus
der rechten Bahn! Lasst uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!“
12 Darum spricht der Heilige
Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und verlasst euch auf Frevel und Mutwillen
und trotzet darauf,
13 so soll euch diese Sünde sein
wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich,
unversehens einstürzt;
14 wie wenn ein Topf
zerschmettert wird, den man zerstößt ohne Erbarmen, so dass man von seinen
Stücken nicht eine Scherbe findet, darin man Feuer hole vom Herde oder
Wasserschöpfe aus dem Brunnen.
15 Denn so spricht Gott der
Herr, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch
geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt
nicht
16 und sprecht: „Nein, sondern
auf Rossen wollen wir dahinfliegen“, – darum werdet ihr dahinfliehen, „und auf
Rennern wollen wir reiten“, – darum werden euch eure Verfolger überrennen.
17 Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrig bleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel.
Jesaja 30, 8-17
Wir alle sehnen uns nach Bestätigung, nach Trost, wenn
Menschen oder Umstände uns in Frage stellen. Jeder möchte gern hören, dass er
eigentlich so, wie er ist, ganz in Ordnung ist, dass schon alles gut gehen
wird, wenn er nur so weitermacht. Selbstbestätigung ist uns ebenso auf den Leib
geschnitten wie Selbstliebe.
Wie gerne hören wir uns Schmeicheleien an, ein anerkennendes
Wort über unsere Klugheit, unser Aussehen, unsere geistliche Haltung, unsere
guten Leistungen auf beruflichem und sozialem Gebiet und – unsere
Selbstlosigkeit. Doch nichts fördert unsere Selbstsucht mehr als diese Art von
Komplimenten. Es ist ein Merkmal der falschen Propheten gewesen, dass sie das
predigten, was die Menschen gerne hören wollten, dass sie ihnen ein
unrealistisches Bild von sich selbst und ihrer Zeit entwarfen, dass sie ihnen
unechten Trost gewährten. Das an die Sünde verlorene Ich wurde damit nur noch
mehr in Sicherheit gewiegt, der geistliche Tod verschleiert. „Was wahr ist,
sollt ihr nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz
begehrt.“ Doch zu allen Zeiten hat der Herr auch wahre Propheten berufen,
solche, die das Neue forderten – Umkehr, Umbruch, Buße.
Merkwürdig ist, dass das Leben in eigener Regie, der
geistliche Tod, wie er in diesem Text beschrieben wird, etwas mit Tempo, mit
gehetzten Bemühungen zu tun hat „Nein, auf Rossen wollen wir dahinfliegen, und
auf Rennern wollen wir reiten…“ Das Volk, das Schmeicheleien zu hören bekommt,
ruft: „Lass uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!“ Es möchte seine Ruhe,
seine Selbstsicherheit, seine Selbstzufriedenheit bewahrt sehen, gleichzeitig
aber greift es hastig zur Selbsthilfe. Es möchte sich sein Heil selbst schaffen
und wird in allem Jagen danach auf der Flucht vor dem Unheil umkommen.
Ist dieser Widerspruch nicht auch in mancher Gemeinde zu
finden? „Lass mich in Frieden, ich will meine Ruhe haben…“ Gleichzeitig
verfallen wir der Hetze, leben ganz und gar ohne Ruhe. Wir wollen das Hastige
nicht, wir wollen die Bestätigung unseres Ichs, Anerkennung unserer
Zufriedenheit mit uns selbst. Doch unser Leben redet eine andere Sprache. Wir
kommen nicht dazu, die ersehnte Ruhe zu genießen, die Erfüllung in uns selbst
zu finden. Wir können der Hast und der Unruhe nicht entfliehen, sondern lassen
uns jagen von dem Wunsch, unser Heil, den Sinn unseres Lebens selbst zu finden.
Die unechten Tröster, die falschen Propheten sprechen uns Heil und Frieden zu,
aber es gibt keinen Frieden. Wir wollen nicht hören, wie es in Wirklichkeit mit
uns aussieht. Wir wollen in Ruhe gelassen werden, doch wir selbst sind voller
Unruhe. Wir sehnen uns nach der Bestätigung, dass bei uns alles in Ordnung ist,
aber unsere eigene Rastlosigkeit, unsere Hast schaffen ständig neue Unruhe,
innere, geistige Unordnung, Unzufriedenheit.
Dieses Bild vom Jagen der Pferde und Reiter gilt nicht nur
für uns als einzelne, sondern auch für die Strömungen und Wandlungen unserer
Zeit. Die Hast und Unruhe besteht nicht nur in uns. Sie spiegelt sich auch in
den rasanten Entwicklungen auf allen möglichen Gebieten wider. Die Welt treibt ihrem Ende zu. In vielen Bereichen ist eine Sättigungsgrenze
erreicht. Auch im menschlichen Leben scheint ja am Anfang unendlich viel Zeit
vorhanden zu sein. Je älter wir aber werden, desto mehr rinnt sie uns zwischen
den Fingern davon. Wie Reiter auf schnellen Pferden eilen wir unserem Tod
entgegen, auch wenn wir vielleicht nur zu Hause sitzen und in unserer „bequemen“
Unruhe leben.
Wir können dem nicht entfliehen, wir werden selbst überholt.
Die Hetze treibt uns so lange, bis wir zum Stürzen gebracht werden. Diese
Unruhe, dieses Hasten ist letztlich ein Werk des Satans. Er will, dass wir
nicht zur Ruhe kommen, vor allem nicht zur wahren Ruhe in Gott. Er will nichts
von Umkehr wissen, möchte uns die Zeit zum Nachdenken nehmen, die Zeit für den
Herrn, die Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen. Er hält die Hetzpeitsche in
der Hand, und wir rennen in seiner Richtung davon – ohne Ruhe, ohne Frieden.
Doch immer, wenn der Satan am Werk ist, wenn er darauf
losschlägt und die Menschen treibt, entdecken wir gleichzeitig, dass letztlich
der Herr ans Ziel kommt und nicht der Satan. Der Satan veranlasste die Brüder
Josefs, böse an ihm zu handeln. Doch sein großes Leid wurde zum Heil der Brüder
umgewandelt. Jahrtausendelang wurden die Juden verfolgt, aber ihre Leiden und
die damit verbundene Rückkehr nach Israel machten den Weg für die Wiederkunft
Jesu frei.
In dem Zur-Macht-Kommen Hitlers erlebte das Böse einen
Triumph. Aber durch seine Gräueltaten fanden viele Deutsche den Weg zur Buße.
Die Verblendung durch Satan trieb Saulus zur Verfolgung der
Christen und zum Massenmord. Doch Gott machte einen seiner größten Diener aus
ihm.
Diese Überlegungen sollten uns nicht dahin führen, dass wir
unsere Unruhe als notwendigen Ausgangspunkt für das Handeln Gottes ansehen.
Wenn wir unser Ich weiterhin in unserem Leben Regie führen lassen, wenn uns
Selbstbestätigung lieber ist und bleibt als die Wahrheit über uns und die Welt,
dann treiben wir unsere Pferde, bis das, „was von euch übrig ist, aussieht wie
ein Fahnenmast auf dem Gipfel eines Berges, wie ein Feldzeichen auf dem Hügel“.
Dann gleichen wir gespenstischen Gestalten, die bis an äußerste Grenzen gejagt
werden und dann im ewigen Tod erstarren. Dann werden wir selbst zur Beute
Satans und nicht Erben des Friedensreiches Gottes.
Unser Text mahnt uns zur Umkehr. Er steht gegen unsere
Bequemlichkeit, gegen falschen Trost und Bestätigung unseres Ichs. Er trifft
uns bis ins Mark hinein, verheißt uns dann aber echten Trost in der Wahrheit
des Christus: „Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, würde euch geholfen;
durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.“
Wir müssen bewusst Halt machen auf unseren falschen Wegen,
die Richtung ändern und Stillehalten. Wer glaubt, dafür keine Zeit zu haben,
wer sich im Genuss und der Hetze dieser Welt verliert, für den heißt es dann: „…darum
spricht der Heilige Israels: Weil ihr diese Worte verwerft und verlasst euch
auf Frevel und Mutwillen und trotzet darauf, so soll euch diese Sünde sein wie
ein Riss, wenn es zu rieseln beginnt an einer hohen Mauer, die plötzlich
unversehens einstürzt, wie wenn ein Topf zerschmettert wird.“
Wir wollen auf diese Worte hören, ehe es zu spät ist. Wer
keine Zeit dafür hat, bleibt in der ewigen Unruhe des „Nicht-Friedens“, des „Nicht-Schaloms“.
In der Stille, im Nachdenken über Gottes Wort, kann unsere
Zeit in Ewigkeit verwandelt werden. Wir wollen stille werden und erkennen, dass
er der Herr ist. Wir wollen nicht auf unsere eigene Stimme hören, sondern auf
seine. Im anderen Fall bleibt von unserem ganzen weltlichen Gewinn nur Verlust,
nur Sprachlosigkeit, nur der Tod übrig, „ein Mast auf einem Berg, ein Banner
auf einem Hügel“.
Wir wollen lernen, was hoffen heißt. Hoffnung reicht von der
Gegenwart bis in die Zukunft. Hoffnung wächst in der Stille, im Gespräch mit
dem Herrn. Hoffen heißt, ihm
vertrauen, nicht unserer Klugheit, unseren Erfahrungen, unserem Bedürfnis nach
Anpassung. Hoffen heißt, seine Verheißungen ernst nehmen, wissen, dass er
zuverlässig ist. Er hat uns bis hierher gebracht, auch durch schwere Zeiten. Er
wird uns auch ans Ziel bringen – nur er allein.
„Herr Jesus Christus, unser Schöpfer, unser Erlöser, unser A
und O, hilf uns, dass wir allein auf dich vertrauen. Hilf uns, unsere falschen
Wege zu erkennen, gib uns Kraft zur Umkehr. Wir wissen, dass du auf deine
verlorenen Kinder mit offenen Armen wartest. Gib uns die Ruhe in dir, in deinem
Frieden, dass wir getrost in die Zukunft schauen dürfen, weil wir wissen, dass
du ans Ziel kommst.“
Und nun spricht der Herr, der
dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist
mein!
Jesaja 43, 1
Eine Erfahrung, welche ich über Jahre hinweg gemacht habe,
ist die, dass, wenn Menschen zum Glauben, zu einem wahren, tiefen und bindenden
Glauben an Jesus Christus kommen, sie das fast nur über Leiden tun – und zwar
Leiden verschiedener Art. Manche Menschen vorgerückten Alters und auch der
Jahrgänge der Konfirmandeneltern haben gelitten, als sie Menschen verloren,
welche ihnen nahe standen: Vater und/oder Mutter, ihren Ehegatten oder sogar
ihre Kinder. Solche Menschen sahen das Leben, wie es wirklich ist: ein Leben
der Hoffnung, Zukunftserwartung – dann mit der Zeit ein immer schneller dem Tod
zueilendes Leben. Auf solchen Verlust, auf solche Leiden konnten sie entweder
antworten: „Gott sei Dank, ich lebe noch“, um so die Wahrheit des Todes, des
Verlustes zu verdrängen; oder sie konnten dieser sie bewegenden Wirklichkeit
des Leidens und des Todes ins Auge sehen. Zu solchen Menschen spricht jetzt der
Herr Jesus Christus: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst; ich habe dich
bei deinem Namen (deinem Wesen) gerufen; du bist mein.“ Das bedeutet: Ich bin
dein Leidenskönig, ich ging diesen Weg des Leidens, des Verlustes, damit du
durch mich Gewinn haben kannst, nämlich meinen Frieden, meine Führung, mein
Reich. Ja, so spricht Jesus jetzt zu euch, zu denen, welche die Wahrheit des
Leidens, des Todes, des Verlustes nicht verdrängen, sondern als eigene
Wirklichkeit annehmen.
So haben zu unser aller Freude viele Konfirmanden in den
letzten Jahren ihren Weg zu ihrem Heiland und Erlöser, Jesus Christus,
gefunden. Man fragt, das ist doch kaum möglich, sie sind noch Jugendliche, sie
haben das Leben erst vor sich. Wieso haben sie gelitten, die Wahrheit des
Leidens und des Todes wahrgenommen? Die Antwort ist, dass das Wort Gottes sie
gerichtet und ihnen gezeigt hat: die Oberflächlichkeit ihrer Wege, ihrer
Auffassung vom Leben, ihr Manipuliertsein von so sielen falschen
Lebensauffassungen wie Erfolg und Geld, Sex und andere Lüste, Sicherheit und
Bequemlichkeit. Sie haben diese falschen, flüchtigen Werte durch das richtende
und aufrichtende Wort Gottes durchschaut. Und sie haben gelernt, dass das wahre
Problem dieser Welt nicht in Gesellschaftsformen liegt, denn hier gibt es keine
sehr guten oder gar vollkommenen; auch nicht bei den bösen anderen Menschen,
denn diese sind ebenso Menschen wie Sie und ich, sondern, dass das wahre
Problem in uns selbst liegt. „Ich lebe für die Welt, für ihre Pracht und Lust.
Ich suche meine Wege, und das oft auf Kosten des anderen. Ich will leben, ich
will Erfahrungen sammeln, ich will mich selbst finden.“ Solche jungen Menschen
haben sehr jung erkannt, wo das Problem dieser Welt liegt: nicht bei den
anderen, sondern bei uns selbst. Und das Wort Gottes hat sie gerichtet und
aufgerichtet, indem sie ihr Leiden an sich selbst, an ihrem Egoismus und ihrer
Unvollkommenheit ihrem Leidensherrn Jesus Christus übergeben konnten. Das
geschah unter euch jungen Menschen, die ihr wisst, dass Jesus Christus wegen
euch gestorben ist, dass wir, ihr und ich, ihn getötet haben mit unseren Wegen,
unserer Selbstverwirklichung, mit unserem unbeständigen Wollen und unseren
unreinen Gedanken. Zu solchen Konfirmanden unter euch, die die Wahrheit sehen
und erkennen, spricht jetzt Jesus Christus: „Fürchte dich nicht, denn ich habe
dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen (bei deinem Wesen) gerufen; du bist
mein!“
Viel wird heute geredet über die Welt der großen Hoffnungen,
voller Zukunftsglanz. Viel wird dabei verdreht, manipuliert, zu einer Hollywood-Traumwelt
gemacht. Tatsache aber ist, dass jeder von uns wissen muss: so schön diese Welt
sein kann, nur wenige können sie so schön erleben, wie sie es sich gewünscht
haben. Nein, jeder von uns hat ein Kreuz zu tragen. Ob wir vierzehn Jahre alt
sind oder vierzig oder achtzig, wir wissen: wenn ich selbst Herr meines Lebens
bin, dann muss ich verzagen, spätestens im Tod, öfters vorher, im Tod aber dann
endgültig. Aber wenn wir die Stimme unseres Schöpfers und Erlösers hören, dann
hören wir die Stimme der Wahrheit, einer Wahrheit, die unsern Herrn und
Heiland, Jesus Christus, zum Kreuz geführt hat, die einzige wahre Stimme.
Jesus lässt uns aber nicht bei dieser Erkenntnis. Er liebt
uns, denn er ist ein barmherziger Gott, und inmitten dieser harten Erkenntnis,
wie es wirklich mit uns und mit der Welt steht, ruft er uns zu: „Fürchte dich
nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du
bist mein!“ Er meint, was er sagt, und er tut, was er verspricht. Er ruft uns
aus unserem verlorenen Selbst, aus unserer verlogenen Welt zu sich, zu der
Liebe selbst, zu der Wahrheit. Er nimmt uns an wie den verlorenen Sohn mit
offenen Armen und sagt: „Du bist mein.“ Ich werde dich führen Tag um Tag, Jahr
um Jahr auf dem schmalen Weg der wahren Nachfolge, geborgen in meinem Frieden,
geführt von meiner Barmherzigkeit bis zu Gottes ewigem Reich. Wer aus der
Wahrheit ist, der hört jetzt die Stimme seines Herrn und Heilandes, Jesus
Christus.
Wach auf, wach auf, zieh Macht
an, du Arm des Herrn! Wach auf, wie vor alters zu Anbeginn der Welt! Warst du
es nicht, der Rahab zerhauen und den Drachen durchbohrt hat? Warst du es nicht,
der das Meer austrocknete, die Wasser der großen Tiefe, der den Grund des
Meeres zum Wege machte, dass die Erlösten hindurchgingen?
So werden die Erlösten des Herrn
heimkehren und nach Zion kommen mit Jauchzen, und ewige Freude wird auf ihrem
Haupte sein. Wonne und Freude werden sie ergreifen, aber Trauern und Seufzen
wird von ihnen fliehen.
Ich bin euer Tröster! Wer bist
du denn, dass du dich vor Menschen gefürchtet hast, die doch sterben, und vor
Menschenkindern, die wie Gras vergehen, und hast des Herrn vergessen, der dich
gemacht hat, der den Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet hat, und hast
dich ständig gefürchtet den ganzen Tag vor dem Grimm des Bedrängers, als er
sich vornahm, dich zu verderben? Wo ist nun der Grimm des Bedrängers?
Der Gefangene wird eilend losgegeben,
dass er nicht sterbe und begraben werde und dass er keinen Mangel an Brot habe.
Denn ich bin der Herr, dein
Gott, der das Meer erregt, dass seine Wellen wüten – sein Name heißt Herr
Zebaoth –; ich habe mein Wort in deinen Mund gelegt und habe dich unter dem
Schatten meiner Hände geborgen, auf dass ich den Himmel von neuem ausbreite und
die Erde gründe und zu Zion spreche: Du bist mein Volk.
Jesaja 51, 9-16
Öfters wird gesagt, eine Predigt solle uns trösten. Ich gehe
in die Kirche, damit ich meine Sorgen auf den Herrn werfen kann, dass ich gewiss
bin, er steht zu mir, er führt mich, er tröstet mich. Und sicherlich ist so
eine Aussage zutiefst christlich. Wenn der Herr ein lebendiger Herr ist, dann
ist er persönlich da für mich. Er kennt meine Not. Er allein kann mich aufheben,
weiterführen und die ganze Last von mir nehmen.
Das ist alles gut und richtig, auch biblisch, aber dazu muss
man folgendes hinzufügen: Ist es nicht so, dass der Herr mein Tröster ist, und das setzt voraus, dass er wirklich
mein Herr ist. Unser Text zeigt uns deutlich, er ist der Mächtige, er ist der
Befreiende. Und wenn er so ist, dann entscheidet er über das Wann und Wie des
Tröstens. Der Herr als Tröster bedeutet aber nicht, er tue für mich, was ich
haben will. Dann wäre ich nämlich selbst der Herr, der Bestimmende. Der Herr
als Tröster bedeutet, er habe seinen Plan für mich und mit mir. Oft zwar steht
dieser Plan entgegengesetzt zu dem, was ich gerade haben will, zu dem, wie ich
getröstet werden will. Einfach gesagt, wir bekommen Trost im wahrsten Sinne,
Trost, den der Allmächtige uns spendet, wenn
wir unseren Willen seinem Willen unterstellen, ihn als den Allmächtigen
annehmen, und wir bekommen Trost in
seinem Sinne, nur wenn wir merken, dass wir in uns selbst, in unsere Welt
verstrickt sind und dass er uns davon befreien will wie und wann er will. Und der Herr als Tröster
bedeutet, dass er jeden Tag bei uns ist, aber wie und wann er sich selbst
bezeugen wird, das wissen wir nicht, denn er ist der Herr und wir sind sein
Volk.
Unser Text hebt zwei Beispiele hervor, wie der Herr, der
Gott Israels, der Allmächtige ist. Hier wird über Gottes Macht, aber auch über
die Urkräfte des Bösen gesprochen. Hier wird Gottes zentrales Wunder im Alten
Testament betont, die Befreiung seines Volkes aus der Macht der Unterdrücker,
der Ägypter, und seine mächtige Hand, welche das Rote Meer spaltete und Israels
Feinde umbrachte. Dieser historische Blick soll unseren Blick für die Gegenwart
vertiefen. Der Herr ist zugleich Herr über alle Mächte des Bösen, und seine
rettende Hand führte sein Volk aus seiner Gefangenschaft.
Für mich bedeutet diese Aussage sehr einfach: Der Herr
herrscht auch heute über alle Mächte des Bösen in dieser Welt, über Krieg,
Krankheit, Pestilenz, über Leiden, Verzweiflung, Einsamkeit und Tod. Er hat
nicht nur diese Macht an dem Volk Israel erwiesen, sondern durch Jesus Christus
hat er sie für alle Zeiten bestätigt, und zwar für mich, für jeden reuigen
Sünder persönlich. Aber, und das ist zentral in unserem Text, Trost erfahre ich
nur durch meinen innersten Glauben an diese Wirklichkeit. Jesus hat nur
geheilt, wenn solcher Glaube vorhanden war. Getröstet zu werden setzt nicht
einen theoretischen Glauben voraus, sondern eine Kenntnis, welche bis in Mark
und Bein geht, dass der Herr Jesus Christus wirklich der Herr ist, mein Herr,
und dass er die Macht besitzt gegen alle Mächte des Bösen um und für mich.
Dazu aber muss ich wirklich verstehen, um was es geht. Es
geht um seine Herrschaft und um seine Führung. Das bedeutet nicht: Herr, schau
mich Armen an! Ich leide, ich bin in Not, hilf mir, wie ich das haben will.
Haben nicht die Israeliten gerufen: „Zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens!“ Der
Herr half ihnen ganz anders, als sie es erwarteten. Sein Heil und seine
Erlösung bedeuten gerade, dass sein Heil,
seine Erlösung und nicht mein Wille geschehe.
In einer früheren Gemeinde habe ich erlebt, wie ein Mann 12
Jahre lang an Krebs gelitten hat. Der ganze Krankheitsprozess hat ihn in jedem
Sinne des Wortes zerfressen. Viele, und zwar die überwiegende Mehrzahl der
Menschen würden sagen: So ein schrecklicher Tod! Warum muss er so lange, so
tief leiden? Aber als ich nach seinem Tod mit seinem sehr frommen Sohn sprach,
sagte dieser, der seinen Vater sehr liebte: „Herr Pfarrer, das war alles nötig,
nur durch dieses schwere und lange Leiden ist mein Vater zu wahrem und tiefem
Glauben gekommen. Der Herr hat ihn durch dieses Leiden innerlich zubereitet für
sein Reich.“ Solch eine Geschichte zeigt uns in der Tiefe, wenn der Herr
wirklich allmächtig ist, wenn er wirklich unser Befreier ist, dass diese
Allmacht und diese Befreiung vielleicht ganz andere Formen annehmen wird, als wir es wünschen.
Nehmen wir in dieser Hinsicht das wichtigste aller
Ereignisse in unserer Bibel, Jesu Kreuzigung. Sein Volk, in der Kenntnis von
Gottes Allmacht über das Böse, im Wissen von seiner Macht als Befreier am Roten
Meer, wartete darauf, dass er, der Gott Israels, seine Vollmacht gegen das Böse
zeigen werde, indem er als der befreiende Herr Israel von den Römern, von
dieser schrecklichen Unterdrückung, losmachen werde. Hatten nicht viele
Propheten gerade das vorausgesagt? Doch Jesus zeigte seine Vollmacht, bestätigte
die Vollmacht Gottes gegen das Böse und offenbarte sich als der wahre Befreier,
aber ganz und gar anders als Israel das wollte oder erwartete. Er zeigt seine
Macht über das Böse als solches, nicht nur gegen die bösen Römer, sondern über
das Böse als solches in jedem von uns, auch in den Israeliten, über das Böse,
welches eine metaphysische Kraft besitzt, das Böse, welches über uns herrscht,
ein Böses wie die Urkräfte, welches immer um uns ist. Doch er hat alle
Gläubigen aller Zeiten von diesen Mächten des Bösen befreit.
So kann es und so wird es auch öfters in unserem Leben
gehen. Wir suchen Trost für unsere Einsamkeit, wir suchen Trost in unserer
Krankheit oder für die Krankheit eines nahen Angehörigen, wir suchen Trost
wegen unserer Arbeitslosigkeit, wir suchen Trost wegen des Bösen, welches wir
in Worten, Gedanken und Taten bezeugt haben, wir suchen Trost in unserer Angst,
in dieser Welt zu leben, aber der Trost, welchen wir suchen, wie wir es uns
vorstellen, wird vielleicht nicht eintreten. Wer aber sein Leben unter die
Macht des allmächtigen Herrn stellt, der wird von ihm befreit, vielleicht in
einer ganz anderen Art und Weise, als er es erwartet. Vielleicht geht diese
Befreiung sogar noch viel tiefer als das, was uns im Moment bedrängt.
Vielleicht müssen wir zum Beispiel weiterhin leiden, damit wir für sein Reich
vorbereitet sind, müssen unser Kreuz auf uns nehmen. Vielleicht bleiben wir
äußerlich einsam, aber er selbst überdeckt diese Einsamkeit mit dem Schatten
seiner bergenden Hand. Vielleicht finden wir zuerst keine Arbeit oder keinen
Ehepartner, aber gerade durch diese Zeit vielleicht, wie viele Arbeitslose,
gewinnen wir die Zeit, uns zu besinnen, was wirklich wichtig ist im Leben,
nämlich uns seiner Macht, seiner Befreiung zu besinnen.
Der Mittelpunkt unseres Textes, wie der Mittelpunt unserer
ganzen Bibel ist nicht, dass der Herr tut, was wir wollen, was wir denken, was
wir brauchen, sondern unser Text zeigt uns: Der Herr wird tun, was er als
Allmächtiger weiß, dass es nötig ist, wann und wie er will. Glaube bedeutet,
unser Leben ihm zu übergeben und auf ihn zu vertrauen, auf seine Wege, auf
seine Führung, auf seinen Trost.
Unser Text ist ein Ruf, und zwar ein endzeitlicher Ruf zur
Befreiung: „Wach auf, wach auf, zieh’ Macht an, du Arm des Herrn…, auf dass ich
den Himmel von neuem ausbreite und die Erde gründe und zu Zion spreche: Du bist
mein Volk.“ Wer von uns sucht seinen Trost bei dem wiederkommenden Herrn? Wer
von uns kann das Vaterunser beten und meint wirklich „Dein Reich komme“? Oder
sind nicht viele unter uns, welche sagen: Weltuntergang, nein, ich will leben,
und zwar will ich getrost jetzt in dieser Welt leben. Und wie viele von uns
sagen: Nein, solche Macht wie sie hier ausgedrückt ist, wollen wir nicht, wir
haben genug erlebt von Krieg und Gewalt. Aber der Herr kommt gewaltig, er kommt
mit voller Macht, damit alles Böse dieser Welt, welche so tief in uns selbst zu
spüren ist, zunichte gemacht werde. Bejahen wir so eine Antwort, den neuen
Himmel und die neue Erde, die gewaltige Befreiung – auch von uns selbst, denn
der Bedränger ist in uns?! Diese Frage müssen wir zuerst stellen, bevor wir
überhaupt über Trost, über den Herrn als Tröster nachdenken können. Denn der
lebendige Herr Jesus Christus spricht zu uns, persönlich zu jedem von uns, jetzt,
in diesem Moment: „Ich bin euer Tröster! Wer bist du denn, dass du dich vor
Menschen gefürchtet hast, die doch sterben, und vor Menschenkindern, die wie
Gras vergehen, und hast den Herrn vergessen, der dich gemacht hat, der den
Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet hat, und hast dich ständig
gefürchtet, den ganzen Tag vor dem Grimm des Bedrängers, als er sich vornahm,
dich zu verderben?“ – „Komm Du, unser
Tröster, komm Du, Heiliger Geist!“
So viel der Himmel höher ist
als die Erde ist, so sind auch meine Wege höher, als eure Wege und meine
Gedanken als eure Gedanken.
Jesaja 55, 9
Niemand weiß, warum Dieter so krank auf die Welt kam.
Während der einundzwanzig Jahre seines Lebens hat er kein einziges Wort gesprochen.
Und viele Jahre hindurch musste er gehalten werden, um überhaupt sitzen zu
können. Erst sehr, sehr spät lernte er gehen, blieb aber im üblichen Sinn auf
dieser Welt immer hilflos, wehrlos. Und niemand weiß, warum der Herr nun, nach
seinem einundzwanzigsten Lebensjahr entschieden hat, ihn wieder zu sich zu
rufen.
Aber noch viel unverständlicher ist, wieso solch ein Kind
wie Dieter in seinen Eltern diese tiefe Liebe wecken und warum ein derart „lebensunfähiges“
Kind auch eine tiefe Liebe geben konnte. Wieso war dieses Kind, das nicht
richtig denken konnte, das nicht richtig gehen konnte, das überhaupt nicht
sprechen konnte, doch so erfüllt, so glücklich auf dieser Welt, von solch
strahlendem Wesen? In einer Welt, in der doch viel eher die Angst und das Böse
ans Licht drängen.
Jesus hat gesagt, dass die Kinder zu ihm kommen sollen, weil
ihnen das Reich Gottes gehört. Er wollte wohl damit sagen, dass Kinder
angemessen reagieren, dass sie von Natur aus noch mit der Nähe und Fürsorge
ihres Herrn rechnen, dass sie noch über die Wunder der Schöpfung staunen, noch
Liebe ausstrahlen können.
Dieter blieb, wie viele in seiner Lage, kindlich, so lange
er lebte. Er blieb natürlich, spontan in seinen Äußerungen, von Freude geprägt.
Damit war er nahe beim Herrn.
Warum ist es so, dass gerade das, was uns lebenstüchtig
macht, uns oft in Gegensatz zu Gott und unseren Mitmenschen bringt: unser
Wille, unsere Vernunft, unser „Ich will!“? Und gerade das ist das Geheimnis
Christi, dass bei ihm diese Werte umgekehrt werden.
Unser Leidenskönig kam nicht mit Macht und Pracht auf die
Welt, sondern in Armut und Demut. Er herrscht auch nicht mit Gewalt, sondern
durch Dienen. Er erwies seine Vollmacht nicht durch sichtbare Herrlichkeit,
sondern durch Leiden, durch selbstlose Hingabe am Kreuz.
Dieter, und solche Kinder wie er stellen unsere Welt und
unsere Werte in Frage. Sie machen deutlich: Ich kann mich nicht mit den
Ellenbogen durchsetzen, ich kann mich nicht durch Kraft und Intelligenz oder
Lebensklugheit durchsetzen; ich bin nur ich selbst, abhängig und schwach.
Dabei strahle ich aber, und was wenige von euch erfreut
macht mich glücklich aus der Liebe Gottes.
Und nun frage ich euch: Nutzt ihr meine Hilflosigkeit aus,
bringt ihr mich um, wie es in diesem Land vor vierzig Jahren so häufig
passierte? Oder reagiert ihr auf meine Hilflosigkeit mit einer tiefen
Erkenntnis eurer eigenen Hilflosigkeit, weil euer Wille, eure Lebensklugheit,
eure Kraft die tiefsten Fragen dieser Welt nicht beantworten können: Weder die
Frage nach der Schöpfung, noch nach der Liebe, noch nach dem Sinn von Leid und
Tod.
Das Wesen eines solchen Kindes, seine Liebe, seine Freude
kann das Leben seiner Angehörigen im tiefsten Sinne bereichern, so dass sie ein
Stück mehr von Gottes Wegen und seinem Reich ahnen und erkennen.
Das ist’s aber, was ihr tun
sollt: Rede einer mit dem andern Wahrheit und richtet recht, schafft Frieden in
euren Toren.
Sacharja 8, 16
Lasset uns aber wahrhaftig sein
in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist,
Christus.
Epheser 4, 15
Als Christen sind wir in einer besonderen Lage im Hinblick
auf die Wahrheit. Jesus Christus sagte von sich selbst: „Ich bin die Wahrheit“,
und wir reden die Wahrheit, wenn wir im Sinne Jesu reden. Als Christen haben
wir keine Angst vor der Wahrheit – jedenfalls haben wir das nicht nötig –, weil
wir wissen, dass unser Herr ein gekreuzigter Herr ist, der für unsere Sünde
gestorben ist und nicht für gerechte Menschen. Damit sind wir aber auch verpflichtet,
unsere Sünde, unsere Entfernung von Gott aufzudecken und auch für unsere noch
unbekannten Sünden um Vergebung zu bitten. In der Wahrheit leben, mit dem
anderen die Wahrheit reden bedeutet dann in erster Linie Jesu gemäß,
wahrheitsgemäß zu reden, unserem Nächsten das zu sagen, was er im Sinne Jesu
nötig hat zu hören, soweit wir das erkennen. Christen sollen nie untereinander
die Wahrheit verschweigen. Je offener wir sind, desto besser kann die
Atmosphäre zwischen uns sein.
Das heißt nicht, dass die Wahrheit um jeden Preis gesagt
werden muss. Das gilt vor allem, wenn erkennbar wird, dass eine verletzende
Wahrheit dem Gebot der Liebe gegenübersteht. In unserem zweiten Bibelwort
Epheser 4, 15 steht: „Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe.“ Ich kenne eine
Frau, die ständig sagt, was sie denkt und die damit ihren Nächsten regelmäßig
verletzt. Diese Frau behauptet aber, dass es ihr um Wahrheit geht. Sie kann
einfach nicht schweigen. Bei einem solchen angeblichen Wahrheitsbedürfnis hält man
eine Sache für wichtiger als die Menschen, die es betrifft. Da glaubt man,
alles sagen zu dürfen, so lange es wahr ist, einerlei ob Menschen dabei
verletzt werden oder nicht. Unser Ephesertext zeigt aber, dass die Liebe ein
Maßstab für die Wahrheit ist. Wer um der Wahrheit willen bedenkenlos verletzt,
zeigt wenig Mitgefühl für andere und damit wenig Liebe. Darum sollen wir zwar
mit unserem Nächsten offen umgehen, aber wir sollen uns dabei von der Liebe
leiten lassen, damit wir die Wahrheit zum richtigen Zeitpunkt und auf die
richtige Weise sagen können, dass sie zum Ausdruck unserer Liebe wird. Damit
ist nicht gemeint, dass wir diplomatisch vorgehen sollen. Diplomaten reden
weder um der Wahrheit noch um der Liebe willen, sondern sie reden, um ihre
Ziele zu erreichen. Diplomatie ist oft versteckter Egoismus. Hier geht es
darum, dass unser Wahrheitsempfinden selbst von der Liebe geleitet werden muss:
„Ich sage dir etwas für dich Wichtiges, nicht weil ich dich verletzen will oder
weil ich ehrlich sein will, sondern weil ich weiß, dass es für dich von
Bedeutung ist, die Wahrheit zu wissen.“ Wer die Wahrheit sucht um der Liebe
willen, wird auch einen Weg finden, dass diese Wahrheit klar zum Ausdruck
gebracht werden kann, ohne dass sie verletzt. In der Wahrheit bleiben bedeutet,
nahe bei Jesus sein, in der Liebe bleiben bedeutet auch, nahe bei Jesus sein.
Liebe und Wahrheit gehören so eng zusammen, weil sie beide ihren Ursprung und
ihre stärkste Auswirkung in und durch Jesus haben.
Da wurde Jesus vom Geist in die
Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage
und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm
und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er
aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8, 3): „Der Mensch
lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund
Gottes geht.“ Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und
stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn,
so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91, 11+12): „Er wird
seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen
tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Da sprach Jesus zu ihm:
Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6, 16): „Du sollst den Herrn, deinen
Gott, nicht versuchen.“ Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr
hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach
zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.
Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! denn es steht geschrieben (5. Mose
6, 13): „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“ Da
verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.
Matthäus 4, 1-11
Diese drei Versuchungen, so verschieden sie scheinen, tragen
viele gemeinsame Züge, und gerade diese machen den Abschnitt zu einer wahren
und tiefen Einheit.
Gemeinsam sind
1. die Person des Versuchers, der Satan
2. eine Zielsetzung, Jesus auf die Probe zu
stellen und ihn damit für sich zu gewinnen – gegen seinen Vater
3. alle Versuchungen, so unterschiedlich sie uns
zuerst vorkommen, haben eine gleiche Wurzel: Selbstverherrlichung! – So die
Versuchung der Weltverbesserer (Steine in Brot zu verwandeln), die Versuchung,
Gottes Macht herauszufordern (sich von der Zinne des Tempels hinabzustürzen),
oder die Versuchung des Reichtums und der Macht. Die Weltverbesserer helfen
anderen nicht nur wegen ihres Gewissens, sondern weil sie selbst bewundert
werden wollen. Jene, welche behaupten, dass sie so unbeirrt an Gott glauben, dass
sie ganz und gar gewiss sind, dass er auch durch Wunder zu ihnen stehen wird,
sind im Herzen mehr überzeugt von ihrer eigenen Frömmigkeit, ihrem eigenen
Glauben, als von ihrem Herrn selbst. Und die Versuchung des Reichtums und der
Macht offenbart, was hinter allen diesen Versuchungen steht, nämlich Egoismus
und Selbstüberhebung. Aber hier ist die Verschleierung weg.
4. Satan benutzt immer wieder Gottes eigenes
Wort, um Jesus zu versuchen. Aber Jesus antwortet ihm immer aus der Thora,
welche für die Juden höher steht als alle anderen alttestamentlichen Texte.
Damit zeigt Satan seine wahre Natur: Jemand, der als Engel Gottes dem Himmelsstaat
angehört und ein „Insider“ aber auch ein Glaubensfremder ist. Die wahre Gefahr
für unsere Kirche kommt nach dieser Schilderung aus der Kirche selbst. Kein
Zufall ist es, dass Judas Ischariot, der Jesus verriet, Jesu Jünger war. Diese
Benutzung von Gottes Wort zeigt zugleich, dass der Satan als Mittel seiner
Verführung Gott nachahmen kann und will. Der Herr schuf die Welt durch sein
Wort, aber Satan benutzt das verfälschte Wort, um zu zerstören was der Herr
erschuf. Kam nicht der Sündenfall auch durch das Wort, das Satan verdreht
hatte?
5. Wir wollen nicht vergessen, dass Satan Jesus
als den möglichen „Sohn Gottes“ anspricht, zumindest in den ersten zwei
Versuchungen. Am Schluss verlangt er dann von Jesus, dass er ihn, den Satan,
anbete. Damit wird gezeigt, dass es bei den Versuchungen um das Thema
Erbschaft, Erbe geht. Gottes Sohn dient dem Vater, doch Satan will ihn als
seinen Erben gewinnen. Achten wir darauf, dass Jesus bei seiner Kreuzigung auch
vom Erbe redet: vom menschlichen Erbe an Maria und Johannes, und zugleich
davon, dass er der göttliche Erbe Gott-Vaters ist: „Ich befehle meinen Geist in
deine Hände.“
6. Und zuletzt offenbaren die Orte dieser
Versuchungen ihren wahren Gehalt: Wüste ist, wie die Propheten uns sagen,
zugleich der Ort der besonderen Nähe des Gottes Israels zu seinem Volk, wo es
ganz und gar von Gott abhängig war. Aber zugleich ist diese Gegend der Ort der
Versuchungen, wo die Israeliten murrten und sich von Gott lossagen wollten. Der
Tempel ist der Ort von Gottes Nähe, wo sein Name wohnt, aber auch der Ort,
welcher zweimal zerstört werden musste wegen Israels Untreue. Die ganze weite
Welt, der Ort der dritten Versuchung, ist, was der Herr, der Gott Israels, für
uns erschuf, sie ist aber zugleich der Ort, wohin Satan abgefallen ist, um uns
zu versuchen. Diese drei Orte, Wüste, Tempel und Welt zeigen, wie allumfassend
die Versuchungen sind und worum sie sich drehen: Entweder Nähe zum Herrn – oder
Abfall von ihm; entweder Gottes-Dienst – oder Satans-Dienst.
Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes
Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Und er antwortete und sprach:
Es steht geschrieben (5. Mose 8, 3): „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein,
sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.“
Wer das Land Israel gut kennt, weiß, wie viele Steine es da
gibt. Zu Jesu Zeit war der Prozess der Entlaubung schon im Gang. Das Bild „Steine“
bedeutet tot, leblos. Bis heute legen die gesetzestreuen Juden Steine auf die
Gräber von Verstorbenen als Zeichen der Erinnerung an den leblosen Toten. Was
der Satan hier meint, ist: wenn Jesus dem Vater gleich ist, wirkt auch in ihm
die Kraft, Leben zu geben aus dem Leblosen, die Kraft des Schöpfergottes. Jesus
kommt dieser Aufforderung später nach, aber in seiner Art und Weise: In der
Speisung der 4000 und der 5000, in den Ruferweckungen des Jünglings zu Nain,
des Jairus Tochter, des Lazarus und in seiner eigenen Auferstehung von den
Toten. Satan aber will das Zeichen haben auf sein Wort hin. Er will wie Jesu
Gegner, die Pharisäer, dass die Zeichen erfüllt werden, wann und auch wie er
das haben will.
Doch Jesus antwortet: „Der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.“
Diese Antwort enthüllt Satans „Humanität“. – So wollte Judas auch, dass Jesus
nicht eingesalbt werde, sondern dass der Wert des kostbaren Öls den Armen
zukommen sollte. So klingt heute das soziale Evangelium auch: Wir sind vor
allem da, um gute Werke für die Armen und Hungernden zu tun. Aber Jesu Antwort
ist klar und unbestechlich damals wie heute: Wir brauchen Gottes Wort, welches
Leib, Geist und Seele erschuf, um zu leben. Er meint damit, dass das Brot nur
als Nahrung für unseren Leib dient, aber nicht für unsere ganze Person. „Was
hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an
seiner Seele?“
Heutzutage sehen wir in unserer Wohlstandsgesellschaft, wie
tief Jesu Antwort geht. Wir haben den äußeren Wohlstand, aber innerlich sind
wir hohl, leer geworden. Brot haben wir mehr als genug, aber von Gottes Wort
leben wenige Menschen. Deswegen sind so viele unter uns unglücklich, im
tiefsten Sinn unerfüllt. Selbstmord, Drogen und Alkoholmissbrauch – nicht unter
Hungernden – sind nur ein paar von diesen Symptomen.
Bei der zweiten Versuchung, als Jesus vom Tempel in die
Tiefe springen soll, um Gottes Macht herauszufordern, denke ich ebenso an Judas
Ischariot. Auch er wollte, Jesus solle seinen Willen erfüllen und die
Israeliten mit Gewalt von den Römern befreien. Sektierer mit ihren Heilungen
machen das auch. Sie nennen die Krankheit satanisch und verlangen Gehorsam
gegen Gott, dann würden die Kranken gesund werden. Was sie aber haben wollen,
ist Gehorsam gegenüber ihrer eigenen Person und Irrlehre. Krankheit tragen wir
am besten mit unserem gekreuzigten Herrn, denn der gibt uns die Kraft, mit ihm
zu leiden und dadurch mit ihm zu leben. In Jesu Antwort: „Du sollst Gott,
deinen Herrn, nicht versuchen“, erweist er sich als Gottes Sohn, indem er wie
in der ersten Versuchung sich ganz und gar unter des Vaters Willen stellt. In
der dritten Versuchung zeigt Jesus, dass er der wahre Erbe ist über das ganze
Himmelreich, nicht nur über eine vergängliche Welt. Die Welt mit ihrem ganzen
Glanz und Reichtum wird vergehen, nicht aber Gottes Wort.
Sohnschaft bedeutet und verlangt Gehorsam wie bei den
Gottesknechten Noah, Abraham, David, Hiob. Vollendeten Gehorsam finden wir beim
Sohn Jesus Christus, der nicht zu trennen ist vom Vater, und damit wahrer Gott
und wahrer Mensch zugleich ist. Überwunden wird die Todesangst bei der
Versuchung im Garten Gethsemane: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen“, und
der Versuchung am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Das alles kommt uns zugute, denn er hat „alles vollbracht“. Gerade da, wo wir
nicht weitergehen können, ist er weitergekommen: Er lebte aus Gottes Wort,
nicht um satt zu werden oder als Weltverbesserer; er vertraute auf Gottes Wege
und seinen Willen, er lebte als Gottes Erbe für uns im völligen Gehorsam, nicht
unter der Lust des Fleisches, die hat er für uns überwunden samt Sünde, Teufel
und Tod. Kann Jesus unser Vorbild sein? Diese Frage ist letzten Endes
unbiblisch, denn Jesus ist auch Gott, und seine Menschlichkeit bedeutet
absoluten Gehorsam, anders als unsere Menschlichkeit. Kann ich Vorbild für
meinen Dackel sein? Noch weniger kann Jesus mein Vorbild sein. Was bedeutet
diese Versuchungsgeschichte dann für mich persönlich?
Jeder von uns sollte sich dessen bewusst werden, dass, wo
Jesus den Versuchungen widerstand, wir Tag für Tag fallen. Es kommt zuerst
darauf an, dass Jesus diesen unseren Versuchungen widerstanden hat, für dich
und für mich. Er ist unser Siegesheld, aber er kann nicht unser Vorbild sein.
Nachdem er für uns gesiegt hat, sollen wir ihn ehren, verehren, denn er allein
ist dessen würdig. Wenn wir das tun, sollen wir uns aus Liebe und Dankbarkeit
seine Antworten zu Herzen nehmen so gut wir können, aus seiner Kraft sollen sie
auch unsere Antworten im Leben sein. Und wenn der Satan uns überlistet hat,
dann sollen Jesu Antworten uns zu echter Buße rufen, zu unserm Heil aus seiner
Vergebung und Überwindung.
Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern
von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.“ Wir sollen und
wollen lernen, Tag um Tag uns von seinem Wort zu nähren. Das Wort Gottes ist in
Jesus Christus Fleisch geworden. Jesu Wort warnt uns zugleich vor unserem
Materialismus und unserem „sozialen Evangelium“. Brot sättigt nur unseren
Bauch, zuviel davon lässt unseren Geist und unsere Seele verkümmern.
Jesus sagt: „Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen!“
Das bedeutet aber auch: „Dein Wille geschehe“. Dies Wort wird zweimal (und
damit gesteigert) von Jesus überliefert: beim Vaterunser und im Garten
Gethsemane. Dieses „Dein Wille geschehe“ sollte zu unserer täglichen Speise
werden. Zuerst sollen wir den Herrn bitten um das, was uns selbst wichtig ist.
Dann antworten wir auf unsere Bitte, indem wir seine Herrschaft über uns
anerkennen: „Aber Herr (der du viel besser weißt, was wirklich gut für mich ist),
dein Wille geschehe.“ Das kann sehr schwierig für uns sein, insbesondere
während Krankheit und Not, aber beide können unserem Glauben dienen zur
Züchtigung und Annäherung an unseren gekreuzigten Herrn.
Jesu weitere Aussage ist: „Du sollst anbeten Gott, deinen
Herrn (nicht Satan, und auch nicht deine Lüste), und ihm allein dienen.“ Das
versuchen wir täglich aus seiner Gnade und Kraft. Aber nur Jesus Christus
allein konnte dem Herrn immer dienen. Wenn wir uns selbst dienen, müssen wir
auf seinen Bußruf hören, den Ruf, ihn allein anzubeten und wirklich in seinem
Dienst zu bleiben.
Herr Jesus, das alles hast du vollbracht. Du kennst unsere
Schwäche, unseren Kleinglauben, unseren Egoismus. Aber gib uns die Kraft, dir
ganz und gar zu vertrauen, und wenn wir diesen Versuchungen nicht standgehalten
haben, komm du uns bitte eilends zu Hilfe, denn dich, unseren wahren Herrn und
Heiland, wollen wir anbeten, und dir wollen wir dienen.
Und nach sechs Tagen nahm Jesus
zu sich Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, und ging mit ihnen
allein auf einen hohen Berg.
Und er ward verklärt vor ihnen,
und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie
das Licht.
Und siehe, da erschienen ihnen
Mose und Elia; die redeten mit ihm.
Petrus aber hob an und sprach
zu Jesus: Herr, hier ist für uns gut sein! Willst du, so wollen wir hier drei
Hütten machen, dir eine, Mose und Elia eine.
Da er noch redete, siehe, da
überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke
sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe; den sollt
ihr hören!
Da das die Jünger hörten,
fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr.
Jesus aber trat zu ihnen,
rührte sie an und sprach: Stehet auf und fürchtet euch nicht!
Da sie aber ihre Augen
aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.
Und da sie vom Berge
herabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt dies Gesicht niemand
sagen, bis des Menschen Sohn von den Toten auferstanden ist.
Matthäus 17, 1-9
Für die Ostkirche ist die Verklärung Jesu besonders wichtig
und wird deshalb durch einen hohen Festtag gefeiert. Über die Verklärung wird
direkt nach Jesu erster Leidensankündigung berichtet, solch eine zentrale Rolle
spielt sie in der Geschichte Jesu. Was ist es, das sich hier auf diesem Berge
ereignet hat und was bedeutet das alles heute für uns?
„Nach sechs Tagen nahm Jesus Petrus und Jakobus und dessen
Bruder Johannes mit sich und führte sie allein auf einen hohen Berg.“ „Nach
sechs Tagen“ heißt, dass der siebente Tag angebrochen war, und der siebente Tag
bedeutet Gottes Tag, den Tag, an dem er ausruhte von seiner Schöpfung, weil er
am Ziel war. Schalom, Friede, Ruhe – weil er am Ziel war mit seinem großen
Werke.
Auch Jesus hat hier ein Ziel erreicht. Das „Schalom“ liegt
über ihm und denen, die ihm am nächsten waren. Petrus, als erster Jünger und
als der, der meist im Vordergrund gestanden hat bisher, ist auch dabei. Petrus,
der Mann, auf den die zukünftige Kirche gebaut werden sollte. Und Johannes, der
Lieblingsjünger, der einzige Jünger, welcher bei ihm am Kreuze war, ist auch
da. Johannes, der die Liebe Jesu in sich am tiefsten widerspiegelte. Auch
Jakobus ist dabei, um die Zahl drei voll zu machen, um den Weg zum neuen trinitarischen
Glauben anzudeuten.
Sie steigen miteinander auf einen hohen Berg, stehen da
gleichsam zwischen Himmel und Erde. Und hier auf dem Berge offenbart sich der
Herr. Schon öfters war das so. Denken wir nur an den Berg Sinai, wo das Gesetz
übergeben wurde, und welche Rolle der Ölberg in der Zukunft spielen soll. Hier
findet jetzt ein großes, zeichenhaftes Ereignis statt.
„Da wurde er vor ihnen verklärt, und sein Angesicht
leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ Denken
wir zurück und denken wir in die Zukunft. Zurück zu Mose, dessen Gesicht
leuchtete, als er vom Berg Sinai zurückkam, dass eine Binde über seine Augen
gelegt werden musste, damit das Volk nicht erblindete. Und wir denken vorwärts
an Jesu auferstandenen Leib, seinen verklärten Leib. Hier ist sein Körper von
Erlösungskräften durchdrungen, von Gottes Kräften. „Sein Gesicht leuchtete wie
die Sonne“ heißt es. „Das Gesicht Gottes ist Licht und erleuchtet die Welt“ (in
Hebräisch: das Kabod). „Und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ Wir
denken sofort an die weißen Kleider der Erlösten in der Offenbarung. Auch an
das Kleid Josephs können wir hier denken, das Zeichen der Erwählung, und an das
Prophetenkleid, das Zeichen des Amtes war, das anzeigte: hier gehört ein Mensch
dem Herrn. Auf Golgatha spielte das Kleid ebenfalls eine Rolle, als unter den
Heiden das Los darum geworfen wurde. Seine Erwählung wurde von da ab auch den
Heiden angeboten.
„Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten
mit ihm.“ Diese beiden sind die größten Vertreter des Alten Bundes. Mose gilt
bis heute unter den Juden als der bedeutendste Mann ihrer Geschichte, als der
wahre Vertreter seines Volkes, der von Angesicht zu Angesicht mit dem Herrn
redete, der seinem Gott ganz nahe war. Mose war auch der erste, der größte und
der bedeutendste aller Propheten. Als solcher war er das Werkzeug Gottes. Als
solcher vertrat er aber auch sein Volk dem Herrn gegenüber. Als Mose mit den
zehn Geboten vom Berg herunterkam und sah, dass sein Volk um das goldene Kalb
tanzte, hatte Gott da nicht gesagt: „Ich werde dieses Volk ausrotten.“ Aber
Mose trat in den Riss zwischen Gott und dem Volk Israel und sagte: „Nein,
lieber bringe mich um.“ Hier spricht er nicht nur für den Herrn, sondern auch
für sein Volk. Mose empfing die zehn Gebote vom Herrn, das ganze Gesetz, er
empfing das Recht Gottes. Und die Vorstellung vom Herrn als einem gerechten
Gott ist ein Grundgedanke des ganzen Alten Testamentes und des Judentums, bis
heute. Und Mose war schließlich der, welcher unter Gottes Führung sein Volk 40
Jahre lang durch die Wüste geleitete, bis an die Grenze des Heiligen Landes.
Diese Zeit war Heilszeit im eigentlichen Sinn, weil das Volk nur den Herrn als
Führer hatte. Alle Israeliten waren seine Knechte.
So soll es auch im zukünftigen Reich Gottes zugehen. Die
jüdische Geschichte hat bewiesen, dass dieses Volk nur einen
wahren Beschützer hat, nämlich den Herrn. Ohne ihn ist es der Welt
ausgeliefert. Es leidet wie sein Herr, nicht nur für sich, sondern für die
ganze Welt, für ihre Erlösung, für die Zeit der endgültigen Verklärung der
alten Schöpfung.
Elia war der vom Wort her mächtigste Prophet. (Mose war ein
schwerfälliger Redner und musste durch seinen Bruder Aaron sprechen.) Und Elia
war gleichzeitig der große Held, der gegen Hunderte von Baals-Priestern kämpfte
und sie besiegte. Was in unserem Zusammenhang aber noch viel wichtiger ist –
Elia starb keines natürlichen Todes, er wurde zu dem Herrn entrückt, und die
Bibel sagt an einer Stelle deutlich, dass er zurückkommen werde auf die Erde,
wenn der Messias kommt. Er soll eine Stimme in der Wüste sein, die dem Messias
den Weg bahnt. Dieser zurückgekommene Elia ist Johannes der Täufer, der den Weg
Jesu voraussagte. Zum Passahfest eines jeden Jahres, dem Fest, das zur Erinnerung
an die Befreiung aus Ägypten gefeiert wird, stellt man ein Glas Wein außerhalb
der Tür auf. Dieser Bereich gehört den Toten, hier waltet der Todesengel. Und
der Wein ist für diesen Elia bestimmt, dass er bald komme, um das messianische
Reich anzukündigen und die endliche Befreiung des leidenden Gottesvolkes in
Gang zu setzen.
Diese Begegnung zwischen den bedeutendsten Vertretern des
Alten und des Neuen Bundes zusammen mit Jesus gewinnt ihre tiefste Bedeutung
als Zeichen der Zukunft und des Reiches Gottes. Hier begegnen sich Jude und
Christ (auch wenn der Neue Bund hier nur von Juden dargestellt wird, von
Petrus, Johannes und Jakobus), aber hier sind in ihrem Kern die zwölf mal
zwölf, die 144000 aus den zwölf Stämmen Israels und, durch die wiederhergestellten
zwölf Stämme, die zwölf Apostel vertreten.
Im Neuen Bund ist diese Schau geändert und zum Teil
verworfen worden. Man hat gesagt, dass die Geschichte vom Verklärungsberg
zeigt, dass die Christen die wahren Nachfolger von Mose und Elia sind, dass die
Christen das neue wahre Israel sind, und dass die Juden jetzt grundsätzlich und
ein für allemal verworfen sind, dass sie als Juden das Heil Gottes nicht mehr
erlangen können.
Und mit diesem christlichen Bewusstsein haben wir dann im
Namen Jesu sein Volk Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch verfolgt, gehasst,
unterdrückt, bis hin zu den Gaskammern von Auschwitz und Treblinka, von Solibor
und Maidanek. Und damit haben wir uns über die Juden überhoben.
Aber Paulus sagt uns in Römer 11, dass wir selbst Gottes
Heil verlieren, wenn wir uns über die Juden erheben. Paulus legte damit
teilweise das Grundgeheimnis der jüdischen Erwählung aus, den vierfachen Segen
Abrahams, in dem es heißt: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen,
die dich verfluchen.“ Die Juden bleiben Gottes Volk, obwohl sie Jesus nicht
annehmen. Paulus sagt im Neuen Testament, dass der Herr sein Volk in der
Blindheit gelassen hat, dass er sie teilweise deshalb verstockt hat, damit das
Heil auch zu den Heiden käme.
Alle Beteiligten auf dem Berg der Verklärung waren Juden,
Juden im rassischen Sinn, Juden von ihrer Geschichte her, Juden im Sinne des
leidenden Gottesvolkes. Mose und Elia, Jesus von Nazareth, Petrus; Johannes und
Jakobus – sie alle wären im Dritten Reich als Untermenschen der Tortur
ausgesetzt, gefoltert und dann vergast und verbrannt worden. So haben wir
Christen dieses Bild verzerrt, wir haben unsere eigene Verklärung, unsere
eigene Erlösung verneint, weil wir dieses Volk nicht als Bruder anerkennen
wollten, und damit haben wir uns selbst das Gericht zugezogen. Das muss einmal
in aller Deutlichkeit gesagt werden. Die Juden haben immer wieder das Gericht
Gottes auf sich gezogen, für viel, viel leichtere Vergehen. Das können wir in
den prophetischen Büchern oft zur Genüge nachlesen. Indem wir unsere
Bruderschaft mit dem Volk Gottes ablehnen, lehnen wir auch seinen Herrn ab.
Über Jesu Kreuz stand „Jesus von Nazareth, der Juden König“,
und das bedeutet nicht, er war der Juden König, sondern er ist der Juden König,
und er wird es immer bleiben. Er hat sich für sein Volk verbürgt, er führt es
durch das dunkelste aller Täler bis in sein Reich. Für die Rückkehr aus dem
babylonischen Exil sagt der Prophet Jesaja: „Tröstet, tröstet mein Volk,
spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und prediget ihr, dass ihre
Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte
Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden.“
Nach 2000 Jahren der Unterdrückung des Volkes Gottes durch
die Christenheit, nachdem seine Würde zertreten war, als sein und unser Gott
aufs neue verhöhnt worden war, ist dieses Volk durch den glühenden Ofen
gegangen. Aber es wurde ein Weg zur Erlösung, ein Weg der Rückkehr ins Heilige
Land. Der Staat Israel ist genau drei Jahre nach der Zerstörung der letzten
Gaskammer gegründet worden.
Und wir sollten uns jetzt fragen – nicht, ob dies Volk
Gottes Volk ist, das sein Kreuz geteilt hat, das seinen Herrn als einziges Gut
hat, das durch den Neuen Bund gekreuzigt wurde, sondern, wenn wir das Gesagte
verstanden haben, sollten wir uns selbst fragen – sind wir immer noch Gottes Volk, gehören wir ihm, gehören wir Jesus von
Nazareth, dem König der Juden, oder ist unser Bekenntnis zu ihm nur ein
Lippenbekenntnis?
Das Bild der Verklärung soll unsere Identität, unsere
Zugehörigkeit ein für allemal feststellen. Wenn wir Jesus von Nazareth gehören,
gehören wir ihm zusammen mit den Menschen des Alten Bundes. Und wir sind in
diesem Bild nur durch Juden vertreten. Wenn wir unsere Bruderschaft mit diesem
Volk weiterhin verneinen, verneinen wir unsere Zugehörigkeit zu Jesus Christus,
zu dem König der Juden.
Aber das Gericht, selbst die Verfluchung seines Volkes war
bei dem Herrn nie endgültig. Er will auch zu uns, zu den Menschen des Neuen
Bundes, stehen. Er will unser König, unser Messias, unser Herr sein, aber er
will, dass wir, wie Petrus, empfinden: „Herr, es ist gut, dass wir hier sind“,
wir gehören mit den Vertretern des Alten Bundes zusammen. Er will, dass wir uns
als Brüder mit dem Volk des Alten Bundes versöhnen und gemeinsam unter seinem
Kreuz leben: Die Juden mit ihrem unsichtbaren, namenlosen Herrn, der im Dunkel
bei ihnen wohnen will, und wir mit dem offenbarten Jesus, dessen Ziel und
Bedeutung wir oft genug verleugnet haben.
Wir können den Weg nur zurückgehen – damit wir eine Zukunft
haben –, zurück zum Kreuz, zurück zu dieser Bruderschaft auf dem Berg der
Verklärung, zurück durch Buße, durch Erkenntnis und durch eine neue Bindung ans
Kreuz, an Jesus von Nazareth, den König der Juden. Unser Herr ist gütig und
barmherzig und vergibt allen Sündern, die wissen, dass sie Sünder sind, die um
Vergebung bitten, und die versuchen, durch seine Kraft ihr Leben zu ändern. Die
Verklärung Jesu ist das Bild seines zukünftigen Reiches: Juden und Christen,
Alter und Neuer Bund vereint in ihrem Herrn, erlöst von dem schrecklichen
Dunkel und Hass dieser Welt.
„Herr Jesus Christus, vergib uns, vergib diesem Volk um
deines Kreuzes Willen, um dieser Versöhnung willen.“
Die aber Jesus ergriffen
hatten, führten ihn zu dem Hohenpriester Kaiphas, wo die Schriftgelehrten und
Ältesten sich versammelt hatten. Petrus aber folgte ihm von ferne bis zum
Palast des Hohenpriesters und ging hinein und setzte sich zu den Knechten, um
zu sehen, worauf es hinaus wollte. Die Hohenpriester aber und der ganze Hohe
Rat suchten falsches Zeugnis gegen Jesus, dass sie ihn töteten. Und obwohl
viele falsche Zeugen herzutraten, fanden sie doch nichts. Zuletzt traten zwei
herzu und sprachen: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in
drei Tagen aufbauen. Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm:
Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen? Aber Jesus schwieg
still. Und der Hohepriester sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen
Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes. Jesus sprach
zu ihm: Du sagst es. Doch sage ich euch: Von nun an werdet ihr sehen den
Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des
Himmels. Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sprach: Er hat Gott
gelästert! Was bedürfen wir weiterer Zeugen? Siehe, jetzt habt ihr die
Gotteslästerung gehört. Was ist euer Urteil? Sie antworteten und sprachen: Er ist
des Todes schuldig. Da spieen sie ihm ins Angesicht und schlugen ihn mit
Fäusten. Einige aber schlugen ihm ins Angesicht und sprachen: Weissage uns,
Christus, wer ist’s, der dich schlug? Petrus aber saß draußen im Hof; da trat
eine Magd zu ihm und sprach: Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa. Er
leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagst. Als er
aber hinausging in die Torhalle, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die
da waren: Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth. Und er leugnete abermals
und schwor dazu: Ich kenne den Menschen nicht. Und nach einer kleinen Weile
traten hinzu, die da standen, und sprachen zu Petrus: Wahrhaftig, du bist auch
einer von denen, denn deine Sprache verrät dich. Da fing er an, sich zu
verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht. Und alsbald krähte der
Hahn. Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: „Ehe der
Hahn kräht wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und er ging hinaus und weinte
bitterlich.
Matthäus 26, 57-75
Seltsam in diesem Text ist zunächst die Sache mit den
falschen Zeugen. Die Stellvertreter des Volkes Israel sind gewillt, jedes
Mittel anzuwenden, welches zum Todesurteil für Jesus als Gotteslästerer
ausreichen wird. Aber der Lügengeist in diesen falschen Zeugen kann nichts
gegen ihn ausrichten. Erst als etwas Richtiges zum Vorwurf gemacht wird – „Er
hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen wieder
aufbauen“, schweigt Jesus. Die Wahrheit selbst verurteilt ihn zum Tode. Jesus
hat ja tatsächlich gesagt, dass „dieser Tempel“ abgebrochen, und dass er ihn in
drei Tagen wieder aufbauen werde. Er meinte damit, dass sein gekreuzigter und
auferstandener Leib der dritte messianische Tempel sei, und danach kam sein
Selbstzeugnis als der Menschensohn.
Wenn Jesus zum Tod verurteilt worden wäre durch Lügen,
könnten wir mit Recht sagen: Ja, die bösen Schriftgelehrten und Priester, sie
sind allein schuldig an dem Tod Jesu wegen ihrer Eifersucht, wegen ihrer
Unkenntnis seines Wesens und Tuns. Dann könnten wir immer als Christen sagen:
Ja, Unwahrhaftigkeit ist die Ursache für Jesu Tod und auch für die Verfolgung
gegen die Juden. Aber selbst wenn solche Aussagen an sich ein gewisses Recht
haben, geht das Problem viel, viel tiefer. Die Wahrheit selbst hat Jesus
Christus zum Tod verurteilt, nicht die Aussage falscher Zeugen.
Die Wahrheit, menschlich verstanden und religiös ausgelegt,
Jesu eigene Worte, verurteilen ihn zum Tod. Hat nicht David, der Vorfahre Jesu,
das Todesurteil über sich selbst ausgesprochen wegen Uria und Batseba? Jesus
spricht hier auch sein eigenes Todesurteil über sich, aber mit einem zweifachen
Unterschied: Statt das Urteil direkt auszusprechen, sagt zuerst sein Schweigen
zu diesem Vorwurf genug. Und er ist dennoch nicht schuldig, denn er ist, wie er
selbst bezeugt, des Menschen Sohn und Gottes Sohn, und sein Selbstzeugnis über
Kreuz und Auferstehen ist Wahrheit, und zwar göttliche Wahrheit, welche die
Schriftgelehrten und Pharisäer nicht wahrhaben wollen. Einfach gesagt, die
Wahrheit, zu der wir stehen, ist gefährlich für die Welt. Die Wahrheit, zu der
wir stehen, das Evangelium Jesu Christi, ist, dass er am Kreuz für unsere
Schuld und Sünde starb, dass er am dritten Tag auferstanden ist von den Toten
und jetzt zur Rechten des Vaters sitzt. Diese Wahrheit ist uns zu hoch, um sie zu
begreifen, da wir Sünder sind; aber durch den Heiligen Geist wissen wir um
diesen Wahrheitsgehalt. Jesus Christus wurde gekreuzigt wegen der Wahrheit
selbst, nicht vor allem wegen unseres Lügengeistes. Der Lügengeist der
Schriftgelehrten und Pharisäer wirkt als Konfrontation mit der Wahrheit selbst,
weil diese unsere Selbstgerechtigkeit endgültig in Frage stellt. Diese Szene,
in der Menschen Gott wie einen Verbrecher verurteilen, ihn sogar schlagen und
verhöhnen, ist sie nicht ein wichtiger Teil auch des heutigen Alltags? Jeder
der sagt: „Ich als mündiger Mensch (vielleicht als wissenschaftlich, sogar
theologisch gebildeter Mensch) werde über Jesus Christus urteilen, über den
Wahrheitsgehalt seines Kreuzes und seiner Auferstehung, seines Heils und seiner
Göttlichkeit“ – jeder, der so denkt und redet, wiederholt dieses Verhör Jesu.
Wir erinnern uns, wie auch Paulus so behandelt wurde in Athen, der Stadt der
Philosophen, als er Christus als den alleinigen, jedoch unbekannten Gott
predigte. Sie verhörten und verspotteten ihn, genauso wie Jesus verhöhnt und
verurteilt wurde.
Und wie versagten Petrus und auch die anderen Jünger, als
Jesus diesen so geraden Weg ging! Ihr Verhalten spricht Bände, auch für uns
heute. Es herrscht unter manchen Christen die Vorstellung, weil wir Gottes
Heiligen Geist empfangen haben, würden wir uns viel seltener versündigen als
die Jünger Jesu vor Pfingsten. War nicht der Petrus der Apostelgeschichte nach
der Ausgießung des Heiligen Geistes ganz anders als der versagende Petrus der Passionsgeschichte?
Durch tägliche Heiligung bekämen wir immer die Kraft, Gottes Willen zu tun. So
denken manche Christen. Aber seien wir ehrlich. Das tägliche Leben schaut oft
ganz anders aus. Täuschen wir uns und andere nicht. Die Bibel nennt die Dinge beim
Namen.
Jesu Wahrheit ist uns oft zu scharf und übertrieben genau. Lasst
uns ehrlich sein: Martin Luther hat auch den Heiligen Geist empfangen, war ein
großer Held Gottes, aber wie oft hat er trotzdem ganz und gar versagt,
insbesondere, als er älter wurde. Sind wir denn wirklich besser als Luther, als
der versagende Petrus und andere Jünger? Verfügen wir überhaupt über den
Heiligen Geist? Ist das nicht die allererste Frage?
Tatsache ist, dass vieles in der Kirchengeschichte, auch
unter gottesfürchtigen Männern und Frauen, menschliches Versagen zeigt, nicht
nur unseren Sieg durch den Heiligen Geist. Darüber hinaus müssen wir wissen um
häufige geistige Angst und Not, um Kleinglauben auch bei unseren großen
Glaubensmännern. Die Wahrheit ist, dass wir alle ganz mangelhafte,
hilfsbedürftige Christen sind.
Was sollen wir tun, wenn sich unser Kleinglaube immer noch
zu Wort meldet, wenn wir öfters versagen? Sollen wir dieses Versagen verneinen?
– Nein, denn Petrus weinte darüber bitterlich und musste später dreimal öffentlich
vor den anderen Jüngern Zeugnis darüber ablegen. Sollen wir dann wie Petrus
zuerst glauben, dass wir diesen Kampf zwar mit Christus, aber durch uns selbst
gewinnen können? – Nein, das sei uns auch fremd, denn der Kampf gegen Sünde,
Teufel und Tod ist nicht ein Kampf, den wir gewinnen können durch großen
Einsatz und durch unseren Eifer.
Was lehrt uns also diese Geschichte über unsere wahre Lage
und über Jesus Christus? Zuerst sollen wir wissen, dass der Herr, der zu uns
steht – denn er steht zu seinen Jüngern, auch zu versagenden – dass dieser
Herr, Jesus Christus, die Wahrheit selbst ist, viel tiefer, größer und schärfer
als einer von uns begreifen kann. Zweitens: Wir sollen wissen, dass wir immer
noch Menschen sind, versuchliche, schwache, fehlbare Menschen. Gegen den
unsichtbaren und überlegenen Bösen, Satan, können wir selbst gar nichts
ausrichten. Das sollen wir in aller Klarheit wissen. Drittens: Jesus Christus
vertritt uns, sowohl gegen die Welt als auch gegen eine weltlich ideologisch
denkende Kirche. Er steht für das Evangelium und damit für uns ein. Viertens:
Wir sollen wissen, dass er unsere Lage kennt, dass er weiß um unsere
Schwachheit: „Petrus, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“
Dieser Ruf des Hahns ist nichts anderes als Gottes Ruf an Adam: „Wo bist du,
Adam?“ Ein Ruf zur Wahrheit, der uns unsere wirkliche Lage vor die Augen
stellen soll. Petrus antwortet mit Buße wie David damals, und das soll, wie
Luther mit Recht sagte, unsere tägliche Andacht sein.
Einfach gesagt: nur wenn wir bis in die letzte Tiefe um
unsere Schuld wissen, sie wahrnehmen und erkennen, können wir errettet werden.
Buße ist unsere tägliche Speise als Christen, und so schmerzhaft das ist, so
wahr ist es auch. Jesus sieht uns, er kennt unsere Lage, er weiß um unser
Versagen, und er will uns helfen. Zuerst hilft er uns durch diesen Bußruf, dann
aber auch weiterhin. Er kräftigt uns durch sein Wort gegen die Mächte der
Finsternis in uns, sogar so, dass wir die Kraft bekommen, seine Wahrheit an
unsere verlorenen Nächsten weiterzugeben, wie Petrus es an Pfingsten so mutig
tat.
Aber der alte Adam bleibt immer noch in uns, Versuchungen
sind wir ausgesetzt bis an unser Lebensende.
Wir können diesen Kampf nicht gewinnen. Jesus aber hat ihn
ein für allemal für uns am Kreuz gewonnen. Was wir tun können, ist leben aus
seiner Kraft, nach seinem Wort, in seiner Gemeinde, und uns bewusst werden, dass
Christus täglich an uns wirkt durch Buße, dass er das Dunkel in mir bewusst
macht und erhellt durch sein Wort, dass ich ganz und gar abhängig von ihm
bleibe. Heiligung ist letzten Endes nichts anderes als totale Abhängigkeit von
Christus, von seinem Heil, Einverständnis mit seiner Führung, wann und wie er
will. Wir sind trotz alledem eine Siegesgemeinde. Durch Jesu Sieg haben wir das
Leben, das wahre Leben als seine Kinder. Gelobt sei er!
Aber die elf Jünger gingen nach
Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen,
fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und
sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum
gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des
Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was
ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt
Ende.
Matthäus 28, 16-20
So klar und so deutlich der auferstandene Jesus seinen
Jüngern seinen Missionsbefehl gab, so leicht finden es manche modernen
Christen, gerade diese Klarheit und Deutlichkeit zu übersehen und seinem
Missionsbefehl ganz andere Akzente zu geben, die an diesem Befehl vorbeisehen
und vorbeihandeln. Wie verstehen solche modernen Christen diesen Befehl, und
warum sehen sie ihn so? Menschen, nicht nur solche der Dritten Welt,
unternehmen es, mit einer allumfassenden Kritik des westlichen Imperialismus
und seiner Auswirkung auf ihre Länder, die Befreiung – ging sie friedlich oder
blutig vor sich – zu begründen. Manches an dieser Kritik war gerechtfertigt,
manches nicht. Niemand kann daran zweifeln, dass der missionarische Auftrag
eine wichtige Rolle im Imperialismus des 19. Jahrhunderts gespielt hat.
Sicherlich gab es auch ganz andere Motive wie Macht und Wirtschaftsinteressen,
aber in vielen Ländern waren es die Missionsgesellschaften, die starkes
Interesse daran zeigten, dass ihre (westlichen) Länder in den Ländern der
Dritten Welt eine wichtige Rolle spielten. Warum? Selbstverständlich, weil sie
Jesu Missionsbefehl ernst nahmen und weil sie von der ersten Missionszeit innerhalb
des Römischen Reiches wussten, dass die Mission erleichtert wurde, wenn äußere
Ordnung und Gerechtigkeit herrschten. Die Missionare der letzten Jahrhunderte
haben nicht nur das Wort Christi in fast jedem Teil der Welt bekannt gemacht,
wenn auch selbstverständlich nicht jeder einzelne Mensch erreicht werden
konnte, sondern sie haben auch bessere Schulen, medizinische Versorgung,
westliche Kultur und Zivilisation mitgebracht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Land nach dem andern
vom westlichen Imperialismus befreit, und innerhalb dieser Länder gab es in
ihrem Befreiungskampf natürlich einen deutlichen Feind: ihre „Unterdrücker“.
Zwar hatten die Europäer des letzten Jahrhunderts sehr viel Positives im Sinne
westlicher Zivilisation und Kultur verbreitet (auch wenn wir oft überheblich
waren und unsere eigenen Zwecke in den Mittelpunkt gestellt hatten, nicht die
Interessen der Eingeborenen), Positives auch in Beziehung zum Christentum. Aber
während ihren Befreiungskriegen haben die Völker dieser Länder nur das Negative
gesehen. Aus ihrer Sicht, die genauso eigengefärbt war wie unsere westliche
Sicht der Dinge, zerstörte der europäische Imperialismus ihre einheimische Art
des Lebens, ihre Kultur, ihre eigene Wirtschaft, ihren Glauben und vor allem
ihre Freiheit. Der Befreiungskampf dieser Völker war auch ein Kampf um ihre
eigene Identität. Leider können wir heute feststellen, dass viele dieser
befreiten Länder jetzt unter Diktaturen leben, dass ihre Wirtschaft sehr
schwach ist, vielleicht weil sie zu wenig und nicht zu viel verwestlicht waren.
Wir haben sie zu wenig vorbereitet auf die technologischen Änderungen, die der
Westen schon durchgemacht hatte. Merkwürdigerweise hat ihre „primitive“ Kultur
eine sehr große Rolle in unserer westlichen Kultur gespielt, vor allem in
Malerei und Plastik. Aber ihre eigene Kultur ist immer noch verwestlicht,
gespalten zwischen einheimisch und westlich. Aber in Beziehung zum Glauben
haben viele Menschen dieser Länder entweder gesagt, wir wollen unseren alten
Naturglauben zurückgewinnen, oder wir wollen ein Christentum unserer, nicht der
westlichen Art. Sie behaupten, dass wir Europäer ein Christentum entwickelt
haben, gleich ob evangelisch oder katholisch, das unsere Kultur widerspiegelt
und deswegen vielen von ihnen fremd bleibt.
Wegen dieser Anklage und wegen unserer eigenen
selbstkritischen Art hat sich das Missionsverständnis vieler moderner Christen
und auch so genannter Missionsgesellschaften geändert. Manchmal ist diese
Änderung nur äußerlich und letzten Endes positiv, indem Pfarrer aus jenen
Ländern selbst die Hauptlast der Mission in ihrem eigenen Land und Volk
übernehmen. Auch die Form des Gottesdienstes entspricht oft dem Leben jener
Menschen. So kann in Afrika der Gottesdienst stundenlang dauern, mit viel Tanzen
und Singen aus reiner Freude. So werden auch die neueren Kirchen in ihrem
eigenen Stil erbaut. Solche Änderungen sind zu begrüßen. Aber bei manchen geht
die Reaktion weiter, und zwar auf Kosten des Missionsbefehls selbst. Mission
bedeutet zum Beispiel für viele einfach gute Werke mit wenig Wortverkündigung:
Medizin, Landwirtschaft und andere Hilfen, aber nur diese. Für viele wird
Mission umgewandelt zu einer Art von Dialog: Wir akzeptieren euren
Naturglauben, aber wir wollen miteinander darüber reden, damit wir einander
besser verstehen. Ich habe selbst von einem modernistischen afrikanischen
Pfarrer gehört, der bei einer früher sehr würdigen Missionsgesellschaft sprach,
dass er sich mit seinem toten Großvater auf den Feldern unterhalte (das ist
Spiritismus, in Gottes Augen ein Gräuel) – und modernistische deutsche Pfarrer
sagten kein Wort dagegen. Einfach gesagt, in der Reaktion gegen westlichen
Imperialismus ist das Kind mit dem Bad ausgeschüttet worden. Mission wird angepasst
an anderen Glauben, an Götzen. Der Missionsbefehl wird zum mitmenschlichen
Gespräch mit vielen guten Werken umgedeutet. Die Dringlichkeit der Mission
fehlt oft, weil viele sagen: Jeder soll glücklich sein mit seinem Glauben.
Viele denken sogar, dass das Christentum, ja dass Christus selbst nicht die
endgültige und einzige Wahrheit sei. Wir seien Christen. Sie dürften Moslems,
Hindus, Buddhisten bleiben. Wir seien alle Brüder. So kann man es hören. Meinte
Jesus das in seinem Missionsbefehl? Warum dann dieser Missionsbefehl, und was
bedeutet er? Jesus spricht hier als Vollmächtiger, als Auferstandener, als
jemand, der bewusst sagt: „Mir (und niemand anderem) ist gegeben alle Gewalt im
Himmel und auf Erden.“ Diese Aussage lässt sich nicht relativieren, schmälern.
Nur er, sagt Jesus, habe die Vollmacht vom Himmel und niemand sonst, kein
Vertreter eines anderen Glaubens. Jesus befiehlt dazu, dass wir zu allen
Völkern auf Erden gehen müssen, um diese Menschen zu Jüngern zu machen und sie
zu taufen. Durch seinen eigenen Umgang mit seinen Jüngern und durch die
Apostelgeschichte lernen wir, wie das auszuführen ist, in seinem, nicht in
unserem Sinne. Und dazu verspricht Jesus, wenn wir das tun, wird er bei uns
sein alle Tage bis an der Welt Ende. Das bedeutet auch, dass er nicht mehr bei
uns sein wird, wenn wir seinem Missionsbefehl nicht gehorchen. Damit legt er
seinen Finger genau auf die Schwäche unseres „neuen“ Missionsdialogs, unserer
Gute-Werke-Mission auf Kosten seines dringlichen Befehls.
Und was passiert, wenn wir seinem Missionsbefehl nicht
folgen? Ein Dreifaches: Erstens: Paulus warnt uns im Römerbrief ständig, dass
Gottes Zorn auf den Völkern liegen werde, welche sein Wort nicht gehört haben,
ob es farbige oder europäische Völker seien. Das einzige Heil ist bereit in
Jesus Christus. Heil bedeutet hier Versöhnung mit dem Vater. Wer nicht an Jesus
Christus glaubt, mit ihm lebt, kann nicht errettet werden. So sagt uns
Christus. So sagt uns Paulus.
Zweitens: Wenn wir seinem Missionsbefehl nicht Folge
leisten, haben wir als Jünger Jesu versagt. Im Alten Testament werden wir
gewarnt durch den Propheten Hesekiel, dass wir ins Gericht kommen, wenn wir
Gottes Wort nicht weitersagen; oder dass Glaube ohne Werke kalt, leblos ist,
wie Jakobus uns ermahnt. Welche Werke können denn wichtiger sein, als das
weiterzugeben, was Jesus Christus für uns getan hat? Er hat unsere Gottesferne
(Sünde) auf sich genommen und Gottes Forderung nach Vollkommenheit (siehe die
Bergpredigt) selbst für uns erfüllt. Das ist wahre Liebe: Jesu Einsatz für uns.
Reine menschliche Liebe ist von unserer Sünde befleckt und hilft letzten Endes
niemand weiter. Wer seinem Nächsten hilft, ohne Jesus die Ehre zu geben, ohne
ihn in den Mittelpunkt zu stellen, ist letzten Endes überheblich und sich
selbst genug.
Drittens: Jesus kann erst wiederkommen, wie er selbst sagt,
wenn das Wort vom Kreuz zu allen Völkern gebracht worden ist. Wer sich weigert,
das zu tun, handelt entweder, als ob Jesus nicht wiederkommen werde (ein
Gedanke, welchen viele moderne Christen teilen) oder einfach gegen den Willen
seines Herrn.
Wir müssen aus den Fehlern einiger Missionswerke lernen. Die
Bibelbewussten Missionare waren dazu immer bereit. Niemals dürfen wir gegen die
Substanz von Jesu Missionsbefehl stehen, denn damit sind wir letzten Endes
gegen das Heil anderer Völker wie auch unseres eigenen Volkes und damit
folgerichtig auch gegen die endgültige Erlösung dieser Welt durch Jesu
Wiederkunft. Mission fängt jetzt und hier an, wie die Jünger ihre Mission an
ihrem Ort unter ihrem Volk anfingen. Jesus Christus befiehlt, aber er gibt uns
dazu auch die nötige Kraft.
Und die Jünger des Johannes und
die Pharisäer pflegten zu fasten; und es kamen etliche, die sprachen zu ihm:
Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, und deine
Jünger fasten nicht? Und Jesus sprach zu ihnen: Wie können die Hochzeitleute
fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen
ist, können sie nicht fasten. Es wird aber die Zeit kommen, dass der Bräutigam
von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten, an jenem Tage.
Markus 2, 18-20
Ich fühle mich immer persönlich angesprochen von dem Thema
Fasten, denn von der Neigung her tendiere ich eher in die andere Richtung.
Warum fastet man überhaupt? Fasten bedeutet, dass wir uns
enthalten von den Gütern der Schöpfung, denn alles, was Gott geschaffen hat,
steht uns als Menschen zur Verfügung, aber alles in Maßen und als Zeichen
seiner Zuwendung und Liebe. Fasten bedeutet, mich bewusst von den Gütern Gottes
zu enthalten, weil ich mir wohl bewusst bin, dass ich ein Sünder bin. Sünde
bedeutet oft auch Übermaß, Übermaß an Essen und Trinken, an Selbstgenuss jeder
Art, Übermaß vor allem in dem, wonach mich verlangt. Das zeigt, dass ich mehr
und mehr über das Gute der Schöpfung verfüge und darum ständig in Gefahr bin,
undankbar zu werden und alles als selbstverständlich anzunehmen. Fasten ist
biblisch gesehen ein Zeichen von Buße, Reue, denn mir soll klar werden, dass
nicht alles selbstverständlich ist, dass alle Güter der Welt von dem Herrn
kommen und letzten Endes ihm gehören. Und wenn ich faste, dann merke ich
schnell, sehr schnell, dass ich abhängig bin von dem, was der Herr mir gibt.
Der höchste Feiertag im Alten Bund, Yom Kippur, der Tag der
Versöhnung, ist ein Fasttag. Bei Sonnenuntergang, am Abend zuvor –, denn im
Alten Testament fängt der neue Tag mit dem Sonnenuntergang am Vorabend an –, isst
man eine festliche Mahlzeit im Bewusstsein: von nun an müssen wir uns
enthalten. Am nächsten Tag geht man früh in die Synagoge. Meistens bleibt man
fast den ganzen Tag dort, um seine Gedanken auf den Herrn zu konzentrieren und
nicht an den leeren Magen denken zu müssen. Zu Yom Kippur gibt es Gebete über
Gebete um unsere Schuld und Sünde. Es wird sogar gesagt, dass alle unsere Werke
mit Schuld und Sünde befleckt sind. Für mich ist die tiefste Aussage: „Herr,
ich habe mich in Schuld verstrickt, ohne zu wissen, dass ich gesündigt habe.“
Ja, so tief geht unsere Schuld, dass wir oft unfähig sind zu merken, dass wir
sündig sind. Wer nach einer Feier von Yom Kippur immer noch glaubt, dass das
Judentum nur ein Gesetzesglaube ist, hat dieses Fasten und dieses Bekenntnis
überhaupt nicht verstanden.
Nun verbietet Jesus seinen Jüngern zu fasten, anders als
Johannes der Täufer oder die Pharisäer. Jesus sagt: „Wie können die Hochzeitleute
fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen
ist, können sie nicht fasten.“
Jesus meint einfach, sein Kommen auf Erden bedeute Freude,
Heil, Überwindung. Jetzt ist nicht die Zeit, sich zu enthalten, traurig zu sein.
Natürlich rief Johannes als Vorbote Christi nach Buße, nach Reue, nach einer
Vorbereitung auf das Kommen Christi – und so soll es heute sein vor seiner
Wiederkunft –, aber Jesus kam damals auf Erden als Erfüllung. Jetzt ist die
Zeit da, ist erfüllt, er ist mitten unter uns. In Jesus Christus ist Gottes
Reich auf Erden in seiner Person sichtbar. In ihm hat sich uns Gottes Liebe
total zugewendet. Darum war das keine Zeit, um traurig zu sein, um zu fasten,
denn der Herr hat uns sein Alles gegeben, Jesus Christus, seinen eingeborenen
Sohn, und Christus gab uns sein Alles, Leib und Seele, in seiner Hinwendung zu
uns und vor allem am Kreuz. Da sollen wir antworten mit Freude, mit Nachfolge,
denn unsere Stunde ist da in ihm, die Stunde der Befreiung, der Erlösung.
Sonderbar ist es aber, dass alle christlichen Kirchen, außer
der evangelischen, wieder Fastentage eingeführt haben. Hat Jesus nicht gesagt: „Es
wird aber die Zeit kommen, dass der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann
werden sie fasten an jenem Tage.“
Warum kam Luther zu seiner Schlussfolgerung gegen den Brauch
des ganzen Christentums? Zuerst sah Luther als Mönch, dass das Fasten zu einer
Art von gutem Werk geworden war. Es gab Fastenzeiten, vor allem während der
Passionszeit, und Luther merkte, dass gerade das passiert war, wovor Jesus
gewarnt hatte. „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen wie die Heuchler,
denn sie verstellen ihr Angesicht, auf das sie vor den Leuten etwas scheinen
mit ihrem Fasten. Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein
Angesicht, auf dass du nicht scheinest vor den Leuten mit deinem Fasten.“ Jesu
Aussage steht in der Bergpredigt. Luther sah im Fasten eine Art Selbstschau und
gutes Werk, eine Art von Leistung, eine Art sich über andere zu überheben.
Damit verliert das Fasten seinen wahren Sinn. Fasten hat
mit Enthaltung zu tun, mit Buße. Wenn wir wirklich fasten, um viel aus uns zu
machen, eine Schau aufzuziehen, dann ist Fasten nichts anderes als Heuchelei,
Sünde. Es galt in der Kirche zu Luthers Zeit die Ansicht, die Fastenregeln
seien als Buchstaben und nicht wirklich geistlich zu betrachten. So konnten z.
B. Fische und Vögel an besonderen Fastentagen gegessen werden, aber Fleisch von
anderen Tieren durfte man nicht essen. Forellen oder Wachteln schmecken mir und
bestimmt auch den Mönchen zu Luthers Zeit genauso gut wie Schweinebraten oder
Schnitzel. Luther, glaube ich, bleibt hier seinen eigenen reformatorischen
Grundsätzen nicht vollständig treu: Allein Jesus Christus, allein die Heilige
Schrift, allein durch Glauben. Denn trotz jeden möglichen Missbrauchs von
Fasten haben weder Jesus noch seine Jünger in der Nachfolge das Fasten
verworfen. Jesus zeigt uns deutlich, was aus dem Fasten gemacht werden konnte,
und er warnt uns davor. Aber hat er uns nicht auch gezeigt, wie das Gebet missbraucht
werden kann? Trotzdem beten wir immer noch. Und zu Jesu Zeit haben seine Jünger
auf seinen Befehl hin nicht gefastet, aber Jesus selbst sagt, dass wenn er von
uns genommen wird, seine Jünger wieder fasten werden. In der Apostelgeschichte
wird das Fasten der Jünger nochmals bezeugt. Weil die katholische Kirche zu
Luthers Zeit öfters das Fasten missbrauchte, bedeutet das nicht, dass das
Fasten an sich falsch ist. Auch wir Evangelischen haben ja den Buß- und Bettag,
welcher eine Art von Ersatz für das Fasten ist, geht es doch dabei um Buße tun,
um Gebet. Trotzdem scheint mir diese Entwicklung in unserer Kirche im
reformatorischen, im biblischen Sinne nicht gerecht. Hat nicht Paulus gesagt,
entweder leben wir für unseren Magen oder für den Herrn? Und hat nicht Luther
die (fragwürdige) Empfehlung gegeben, um uns immer wieder in Erinnerung zu
rufen, dass wir keine Heiligen sind, sollten wir eine kleine Sünde pflegen.
Doch gerade Luthers „kleine Sünde“ hat ihn selber recht dick gemacht.
Ich meine, wir sollten überlegen, ob fasten nicht einen Sinn
für uns heute haben könnte. Für mich würde die Entscheidung besonders
schwierig. Ich erlebte in meiner Jugendzeit, dass Yom Kippur, der Fastentag der
Versöhnung, eine sehr tiefe Bedeutung haben kann und dass das Fasten
unweigerlich dazu gehört. Vielleicht brauchen wir Wohlstandskinder eine Art
Bremse, um zu merken, dass dem Herrn allein alle die Güter dieser Welt gehören.
Wir leben am Ende der Tage, und gerade Buße ist das Zeichen, zu welcher der
Endzeitprophet Johannes für diese Zeit, für die Zeit der Vorbereitung, aufrief.
Fasten, biblisch gesehen, ist eng mit Buße verbunden, als eine Art zu
verzichten auf die Freuden dieser Welt, in Vorbereitung auf das kommende Reich,
denn wer sich zu sehr an diese Welt bindet, wird dem zukünftigen Reich nicht
angehören .
Aber vielleicht hat doch
der alte Luther in einer gewissen Hinsicht recht, steht es doch geschrieben in
unserem Text: „Es wird aber die Zeit kommen, dass der Bräutigam von ihnen
genommen wird; dann werden sie fasten, an jenem Tage.“ Können wir das nicht so
verstehen, dass in der Zeit zwischen Kreuz und Auferstehung, auch Himmelfahrt
und Pfingsten weder Jesus Christus, noch sein Heiliger Geist bei uns war? Und
hat nicht Jesus als Auferstandener sogar gesagt: „Ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende“? Vielleicht hat Luthers Aussage eine gewisse, wenn auch
nicht absolute Berechtigung in diesem Sinne, dass für uns Christen alle Zeiten
letzten Endes Freudenzeiten sind, ob in Freude oder Leiden. Wir freuen uns doch
in Dankbarkeit über des Herrn Güte; und wenn wir leiden, wissen wir, wir leiden
mit dem Herrn. Vielleicht sind dann alle unsere Tage Freudentage in diesem
Sinne und Jesus Christus ist durch seinen Heiligen Geist jeden Tag unter uns.
Aber vielleicht geht auch, wie gerade Luther es betonte, der
Weg zu dieser Freude allein durch tägliche Buße, denn der natürliche Mensch
oder der Fresssack und der Säufer in uns muss gerichtet werden, damit wir zu
dieser Freude durchdringen und als verlorene Söhne und Töchter wieder
angenommen werden. Vielleicht gehört zu dieser täglichen Buße auch eine Art von
Verzicht, denn Jesu Reich ist nicht von dieser Welt, und seine Güter sind nur
Leihgaben, welche wir in begrenztem Maße benutzen dürfen, damit wir nicht an
dieser verlorenen Welt hängen bleiben.
„Herr, du allein weißt, was wir brauchen, um diese innere
Erneuerung, um wahre Buße zu erlangen. Du sollst zu jedem von uns persönlich
sprechen, ob Fasten, dieser Verzicht, nicht auch eine rechte Form sein kann für
uns. Aber, Herr, hüte uns vor der Gefahr des Eigennutzes, der Selbstschau und
der pharisäischen Werkgerechtigkeit, denn du allein bist unser Hab und Gut.
Amen.“
Und er fing an, sie zu lehren:
Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und
Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen
auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn
beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger
an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! denn du meinst
nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk
samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne
sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein
Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um
meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe
es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele
Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich
aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen
Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird
in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.
Markus 8, 31-38
Kaum ein Text in unserer ganzen Bibel ist für mich so
erschütternd, bewegt mich bis ins Mark, wie der Text, welcher diesem Absatz
vorangeht. Hier fragt Jesus seine Jünger, was die Leute von ihm halten, und
Jesus bekommt verschiedene Antworten. Aber dann schaut Jesus Petrus direkt an
und fragt: „Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“ Da antwortete Petrus und
sprach zum ihm: „Du bist der Christus!“ Warum ist diese Aussage so umwälzend?
Weil Petrus und auch andere Jünger (das bedeutet hier das „ihr“) als Vertreter
Israels jetzt wissen: „Jesus Christus ist der, auf den Israel immer gewartet
hat, auf den die jüdische Bibel, das ganze Alte Testament, hinzielt.“
Wir würden denken, jetzt wird Jesus ihn umarmen und sagen: „Jawohl,
du und ein paar andere wissen, so ist es.“ Aber nein, gerade jetzt zeigt Jesus,
was das wirklich bedeutet, der König der Juden zu sein, nämlich der wahre,
endgültige Leidensknecht Gottes. Nun erzählt Jesus Petrus und den anderen, was
seine Zielsetzung ist: „Und er fing an, sie zu lehren: Des Menschen Sohn muss
viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und
Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.“
Diese Aussage ist für Petrus und für die anderen bestürzend.
Zwar kann man von ihnen als Galiläer keine große Schriftkenntnis erwarten, denn
die Galiläer waren sprichwörtlich etwas weniger geschult in Gottes Wort als die
Judäer zum Beispiel, aber als Jünger Jesu können wir bei ihnen doch mit
gewissen tieferen Kenntnissen rechnen. Jeder Jude, der etwas von der Bibel
versteht, und besonders damals, als die messianische Erwartung so aktuell war
wie heute, weiß, dass der Messias kommen wird, Frieden in der Welt
aufzurichten, die Erlösung Israels unter den Völkern. Dann werden alle Völker
hinpilgern nach Jerusalem (Jesaja 2 und andere Stellen), um den Gott Israels
anzubeten. Und dieser Messias wird ein großer Held sein, wird mit Macht und
Herrlichkeit herrschen. Zwar gibt es verschiedene Stellen in Jesaja über den
Gottesknecht, insbesondere in Jesaja 53, welche den Messias als Leidensgestalt
darstellen, auch Psalm 22, der Kreuzespsalm; aber Israel hat viel eher einen
starken, gewaltigen Herrscher erwartet, der sein Volk mit mächtiger Hand von
den Römern befreien und sein Friedensreich in dieser Welt aufrichten wird.
Kreuz, Leiden bedeutete damals wie heute unter den Juden das, wovon wir befreit
sein möchten. Jesu Art und Weise, messianische Schriften zu erfüllen, auch
seine Art von Befreiung und Friedensschluss, war gerade das, was Israel nicht
erwartete. Deswegen weigerte sich Petrus gegen Jesu eigene Zielsetzung. „Und
Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren.“
Und dann gab Jesus eine Antwort für alle modernistischen
Theologen, die Jesus rein menschlich sehen wollen: „Er aber wandte sich um und
sah seine Jünger an und bedrohte Petrus.“ Gerade in dem Moment, als Petrus sich
zur wahren Erkenntnis durchgerungen hat, dass Jesus der Heiland ist, verleugnet
er das innerste Wesen dieses Heilandes, nämlich Leiden und Kreuz. Des Petrus
menschliche Denkart kennen wir heute nur allzu gut: Menschliche Not ist das
Schlimmste, was uns geschehen kann, wir müssen uns mit Händen und Füßen dagegen
wehren. Aber Jesu Weg, wie er selbst sagte, ist der Weg aller seiner wahren
Nachfolger und verspricht gerade Leiden.
Warum bezeichnet Jesus Petrus hier als Satan? An einer
anderen Stelle sagt er von seinem eigenen Volk, welches ihn nicht annahm, dass
sie die Kinder Satans seien, nicht die Kinder Abrahams. Was er meint, ist, dass
sie in diesem Moment durch seinen Widersacher, den Satan, sich von Gott, von
Jesus entfernt haben, und diese Gottesferne ist Sünde, Satans Bereich. Armer
Petrus, gerade in der tiefsten aller Erkenntnisse, die ihm geworden ist, dass
Jesus der lang ersehnte Messias sei, verkennt er den wahren Sinn und die
Zielsetzung seines Messias.
Und tun wir das nicht auch, Tag um Tag? Wie viele von uns
beten und meinen wirklich: „Dein Wille geschehe“? Doch wie viele von uns
glauben wie Petrus: Weil ich dich als meinen Herrn anerkenne, wirst du letzten
Endes meinen Willen geschehen lassen, denn ich meine es doch – wie Petrus – nur
gut. – „Dein Wille geschehe“ bedeutet auch die Erkenntnis bis ins Innerste, dass
der Herr für alle und alles über Tag und Stunde verfügt, nicht nur über die
Zeit seiner Wiederkunft. „Dein Wille geschehe“ bedeutet, dass Jesus ans Ziel
kommen wird, wann und wie er will. Ist es nicht wahr, dass der Satan mit
biblischen Worten und anscheinend im biblischen Sinne ihn herausfordert? Die
Zeichen, welche der Satan von ihm verlangt, sind göttliche Zeichen, wie auch
die der Pharisäer, aber sie verlangen diese Zeichen, wann und wie sie das haben
wollen, nicht wann und wie er das haben will. Wir verfügen niemals über den
Heiligen Geist, sondern dieser Geist kommt, wann und wie er will, und erreicht
dann seine Ziele. Richtige Mitarbeiter Jesu sein bedeutet, zu erkennen, dass
nur einer unser Meister ist, der Wirkende und Bestimmende, der wahre Gott
Israels, Jesus Christus. Was verlangt dann Jesus von uns? Er verlangt mitgehen,
hinter ihm, hinter dem Kreuztragenden. Er verspricht
uns nichts anderes als Leiden in der Nachfolge. Allein dadurch ist der Weg zu
seinem Reich bestimmt: Kreuz, mitgekreuzigt werden. Das heiß aber auch, dass
wir mit ihm auferstehen werden und sein Reich ererben.
Heute hören wir immer wieder, und das bestimmt unsere
nachchristliche Gesellschaft, dass Mitmenschlichkeit der höchste Wert sei. Wer
kann nach Auschwitz, nach den Straflagern in Sibirien, nach den Diktaturen und
der Dekadenz unserer Zeit wirklich glauben, dass der Mensch, überhaupt das
Menschliche, gut ist? Jesus sagt dazu nein. Noch entschiedener, er nennt
solches Denken sogar satanisch. Warum?
Weil Satan Adam und Eva gerade mit einem solchen Argument
verführt hat, wie er dann auch versuchte, Jesus zu
verführen. Satan will, so behauptet er wenigstens, den Menschen Gott gleich
stellen, in Gottes Bereich des ewigen Lebens eindringen. Gerade das ist
Sündenfall. Und eine Gesellschaft, in der Mitmenschlichkeit als der höchste
Wert angesehen wird, verherrlicht Satan und nicht Jesus Christus. – Oh, werden
heute viele sagen, dieser Jesus ist unmenschlich, er verlangt zu viel von uns.
Wir beten ab und zu mal, auch gehen wir in den Gottesdienst, vielleicht ein paar
Mal im Jahr. Wir sind getauft, konfirmiert, sogar christlich getraut. Das ist
genug, das reicht. Wahre Nachfolge aber bedeutet Tag für Tag: „Denn wer sein
Leben erhalten will, der wird’s verlieren, und wer sein Leben verliert um
meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.“ Seien wir uns
im Klaren darüber: wir werden alle unser Leben verlieren. Diese Welt ist nicht
die letzte und entscheidende. Wer aber weiß: Herr Jesus, ich bin schuldig an
deinem Kreuz, weil ich Tag um Tag allzu menschlich denke wie Petrus – wer das
weiß und immer wieder Buße tut, immer neu aufgehoben und weitergeführt wird
durch unseren Heiland, der wird Zukunft haben, nur der. So sagt uns Jesus. Wer
aber beharrt auf seiner Menschlichkeit, welche letzten Endes seine eigene
Herrschaft über sein Leben bedeutet, dem gilt, was Jesus sagt: „Was hülfe es
dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?
Denn was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse“?
Herr Jesus, du allein kannst uns
die Kraft geben, in deiner Nachfolge zu bleiben. Wenn wir schwach sind und
wissen um die sündige Herrschaft unseres eigenen Willens, sind wir gewiss, dass
du zu uns kommen wirst, uns aufzuheben und weiterzuführen, wie und wann du
willst, auf deinem guten und geraden Weg. Herr Jesus, du bist unsere Stärke,
auf dich allein vertrauen wir.
Es begab sich aber, da sich das
Volk zu ihm drängte, zu hören das Wort Gottes, dass er stand am See Genezareth
und sah zwei Schiffe am See liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und
wuschen ihre Netze.
Da trat er in der Schiffe eines, welches Simons war, und bat ihn, dass er’s
ein wenig vom Lande führte. Und er setzte sich und lehrte das Volk aus dem
Schiff.
Und als er hatte aufgehört zu
reden, sprach er zu Simon: Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, dass
ihr einen Zug tut!
Und Simon antwortete und sprach
zu ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen: aber
auf dein Wort will ich das Netz auswerfen. Und da sie das taten, fingen sie
eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten
ihren Gesellen, die im andern Schiff waren, dass sie kämen und hülfen ihnen
ziehen. Und sie kamen und füllten beide Schiffe voll, also dass sie sanken.
Da das Simon Petrus sah, fiel
er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, gehe von mir hinaus! Ich bin ein sündiger
Mensch. Denn es war ihn ein Schrecken angekommen und alle, die mit ihm waren,
über diesen Fischzug, den sie miteinander getan hatten; desgleichen auch
Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gesellen. Und Jesus sprach
zu Simon: Fürchte dich nicht; denn von nun an wirst du Menschen fangen. Und sie
führten die Schiffe zu Lande und verließen alles und folgten ihm nach.
Lukas 5, 1-11
Jedem von uns geht es irgendwann einmal so wie dem Simon
Petrus in dieser Geschichte. Auch wir gehen unserer Arbeit nach, tun Tag für
Tag das, was von uns gefordert wird. Durch Fleiß, persönlichen Einsatz und
Klugheit versuchen wir, mit den Problemen, die uns begegnen, fertig zu werden.
Petrus begab sich, wie schon so oft, abends auf den See von
Genezareth hinaus, um Fische zu fangen. Es gehörte zu seiner Berufserfahrung, dass
bei diesen klimatischen Bedingungen die Fische abends am leichtesten zu fangen
waren, weil sie während der Hitze des Tages die Tiefe des Sees aufsuchten. So
ging Petrus an seine Arbeit, besonnen und gut ausgerüstet.
Doch diesmal fing er nichts. So etwas können wir auch
erleben: wir bereiten uns vor, wir tun alles, damit unsere Arbeit klappt, aber
aus irgendeinem Grund haben wir keinen Erfolg. Jeder hat irgendwann einmal
einen schlechten Tag – vielleicht arbeiteten wir unkonzentriert, vielleicht
sind wir durch irgendetwas abgelenkt, vielleicht liegt das Problem auch
außerhalb von uns.
Die „Fische“ sind nicht, wo wir sie erwarten, das Holzstück,
das wir bearbeiten, hat nicht die gewünschte Qualität, mit dem Unterricht in
der Schule klappt es nicht, weil die Kinder unruhig sind. Die Ursachen liegen
oft bei uns selbst, manchmal auch bei anderen Menschen, oder sie sind durch das
Arbeitsmaterial bedingt.
Doch hin und wieder können wir sie nirgendwo entdecken –
alles geht schief, und wir wissen nicht warum.
Oder es wird noch schlimmer, noch bedeutungsvoller: Es geht
überhaupt nicht mehr weiter wie bisher. Wir haben uns zum Beispiel leergepredigt
oder unterrichtet, ohne dass ein Funke überspringt. Wir finden keine Freude,
keinen Sinn mehr in unserer Arbeit. Und dann werden wir in der Tiefe unsicher,
dann beginnen wir zu fragen: Was soll werden, was soll ich tun, warum geht es
so nicht weiter?
Ein solches Erleben, eine solche Unterbrechung unseres
routinemäßigen Handelns lässt uns den Weg zur Quelle wahrer Lebenskraft finden.
Plötzlich geht uns auf, dass Menschen und Dinge nicht einfach selbstverständlich
so sind, wie sie sind. Wer bin ich? Was kann ich? Wer ist mein Gegenüber? Was
ist meine Gabe und Aufgabe?
Wir merken, dass wir unter einer höheren Gewalt stehen, dass
unser tägliches Leben alles andere als selbstverständlich ist, sowohl unsere Fähigkeiten
als auch das, was wir damit ausrichten. Und nur, wenn wir das zutiefst wissen,
existenziell erfahren, dann wird die Gottesfrage, die Frage nach der Allmacht,
der Allwissenheit, der Allgegenwart Gottes aktuell.
Petrus erlebt in unserer Geschichte einen einschneidenden
beruflichen Misserfolg, zunächst, weil die Fische einfach nicht da sind, wo er
sie fangen will. Dann aber erfährt er in einer weit tiefer reichenden
Erkenntnis, dass er um seiner eigenen Ohnmacht willen nichts gefangen hat, als
der Herr ihm nämlich am nächsten Morgen zeigt, dass die Fische doch da sind,
auch wenn das gegen alle Norm, gegen alle Erfahrung ist, und dass der Erfolg
unseres Tuns letzten Endes von der Weisheit und Kraft Gottes allein abhängt.
Petrus erlebt gleichzeitig das „Ich kann nicht“, „Ich bin
ein sündiger Mensch“ und „Der Herr vermag alles“. „Auf dein Wort will ich mein
Netz auswerfen“, heißt nun seine Antwort. „Und als sie das taten, fingen sie
eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu zerreißen.“
Petrus brachte seine berufliche Erfahrung mit. Aber
letztlich waren die Fische, die er fangen wollte, Geschöpfe Gottes und nicht
absolut in seine Hand gegeben. Davon könnte mancher Fischer erzählen. Ich habe
selbst in Amerika einen ganzen Tag zu fischen versucht, sogar mit einem Boot
mit Radargerät. Trotzdem fingen wir nichts.
Die Schöpfung und das Geschöpf gehören in eine Gottesordnung
hinein, und auch wenn Gott uns Macht über die Tiere gegeben hat, so doch unter
der Bedingung, dass wir über sie herrschen, wie er über uns herrscht. Stattdessen
haben wir seine Schöpfung ausgeplündert. Eine Tierart nach der anderen stirbt
aus als Zeichen unserer Rücksichtslosigkeit.
Das Zurückweichen der Fische vor Petrus lässt sich deshalb
auch in prophetischem Sinn verstehen: Es wird einmal eine Zeit kommen, wo keine
Fische mehr da sind. Einiges davon erleben wir heute schon, wo doch selbst der
Hering, in früherer Zeit der gewöhnlichste aller Fische, von Jahr zu Jahr
schwieriger zu fangen ist.
Doch damals bei Petrus gab es noch Fische in reichem Maß,
nur nicht da, wo er sie erwartete und auch nicht zu der Zeit, wo er sie fangen
wollte. Das Fischen ist eben, wie jede andere Arbeit kein automatisch
abrollender Prozess mit sicher garantiertem Erfolg. Unser Tun ist abhängig
davon, ob der Herr uns Gelingen schenkt, ob er unseren Erfolg will.
Das sollte uns bei jedem Tischgebet vor Augen stehen: Alles
gehört dem Herrn und wir müssen darauf warten, dass er uns das Nötige gibt.
Aber unser Text geht ja noch weiter. Zu einem Zeitpunkt, wo
es aussichtslos erscheint, tat Petrus plötzlich einen großen Fang. Als sein
Netz am hellen Tag auf einmal voller Fische war, erkannte er zutiefst: „Ich bin
ein sündiger Mensch.“
„Warum kommst du zu mir, warum zeigst du deine Macht an mir,
wo ich doch so unwürdig bin?“ so mochte er gefragt haben.
Diese Reaktion des Petrus, das Erkennen seiner
Sündhaftigkeit, seine Angst, die vielleicht in ihm aufstieg, erinnert an den
Propheten Jesaja, als der Herr ihm erschien und ihn als seinen Zeugen
beanspruchte. „Herr, ich habe unreine Lippen, ich bin ein sündiger Mensch“, so
sagte er.
Alle Menschen, die von dem Herrn berufen werden, erleben
diese Angst, auch Maria überkam existenzielle Furcht vor der Größe des Herrn
und der Kleinheit ihrer eigenen Person. Ihre Unwürdigkeit, ihre Sündhaftigkeit
erschreckte sie. Martin Luther sagte von Maria in seinem Magnifikat, dass sie
der größte aller Menschen ist, voll wahrer Demut vor dem Herrn, nicht falscher
Demut, die doch nur eine Schau vor Menschen ist. Sie weiß, dass sie nichts ist,
nur eine einfache Magd des Herrn. Diese Demut ist bei dem Propheten und bei
Petrus das Ergebnis eines Lernprozesses.
Petrus erlebte ganz anschaulich: Am Abend, wo du dich sicher
fühltest und den Erfolg schon fast in der Tasche hattest, gingst du leer aus,
aber als der Herr bei dir war, füllten sich deine Netze wider alles Erwarten zu
einem Zeitpunkt, wo du nicht damit rechnen konntest.
Dieses Wachsen der Demut, das die Erkenntnis unserer
Unfähigkeit, unseres Versagens und ebenso die Offenbarung der Größe unseres
Herrn umfasst, ist der Weg der Buße. Auch Paulus wurde vom Herrn so gedemütigt,
dass sein widergöttliches Werk bloßgestellt wurde. Als Blinder, Schwacher wurde
er dann von dem Herrn berufen.
Solche Erlebnisse des Versagens, des Misserfolges begegnen
uns allen mehr als einmal im Leben. Plötzlich geht es irgendwo nicht mehr
weiter – mit der Arbeit, mit der Ehe, mit mir selbst. Aber gerade, wenn es dann
zum Leerlauf kommt, wird uns deutlich – oder sollte uns deutlich werden –, dass
alle diese Bereiche eben nicht automatisch „funktionieren“. Alles was ich habe,
meine Liebe, meine ganze Person, gehört dem Herrn. Und wenn ich außerhalb
seiner Kraft, seiner Führung, seiner Fürsorge lebe, dann kann es nur Leerläufe
geben, Leerläufe und schließlich den Tod des Geistes, der Seele und des
Körpers, das Ende all unserer so genannten Kraft.
Wir erleben immer wieder solche Leerläufe, damit der Herr zu
uns sprechen kann, damit er uns führen kann, damit er uns aufrichten und uns in
seinen Dienst berufen kann. „Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht!
Denn von nun an wirst Du Menschen fangen.“
Jesus Christus ist nicht nur Herr über die Fische, sondern
auch über die Menschen. Sein Ziel ist es, dass sie zu ihm zurückgebracht
werden, ihn annehmen als ihren Erlöser und Vater – „denn sie werden erkennen, dass
ich der Herr bin“.
Die Erkenntnis: „Ich bin ein sündiger Mensch, ich lebe für
mich, fern von dir“, führt zu einer Umkehr, führt zur Lebensänderung des
Petrus. Er weiß jetzt, dass seine Kraft, seine Gabe, seine Person dem Herrn
gehören. Aus dieser Erkenntnis heraus ändert er sein Leben, seine Richtung und
wird zum Diener des Herrn.
Das ist das Ziel Gottes mit uns allen, sein Schalom, sein
Friede in uns, diese Erkenntnis, dass er der Herr ist, dass er uns führen will.
Und die Folgerung daraus ist unser Gehorsam gegenüber seinem Ruf in die
Nachfolge.
Herr, brich in unseren Leerlauf
ein, in unsere Selbstherrschaft, strahle dein Licht und deine Klarheit aus und
mache uns zu Werkzeugen deines Friedens. Dein Weg ist der Weg der Wahrheit, der
Weg der Liebe, der Weg zum Ziel in deinem Reich. Du bist der Herr und wir deine
Kinder, du bist der König und wir sind dein Volk. Führe uns, leite uns Herr
Jesus Christus, dir zur Ehre, dir zum Ruhm!
Lasset eure Lenden umgürtet
sein und eure Lichter brennen und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn
warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, auf dass, wenn er kommt und
anklopft, sie ihm alsbald auftun.
Selig sind die Knechte, die der
Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich
aufschürzen und wird sie zu Tisch setzen und zu ihnen treten und ihnen dienen.
Und wenn er kommt in der
zweiten Wache und in der dritten Wache und wird’s so finden; selig sind diese
Knechte. Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde
der Dieb käme, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen.
Darum seid auch ihr bereit!
Denn des Menschen Sohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meinet.
Lukas 12, 35-40
Unser Text ist heutzutage nicht populär. Viele von uns
wollen nicht an die Zukunft Jesu Christi denken, dies meist deshalb, weil wir
sein erstes Kommen verabsolutieren und weil wir mündige Christen letzten Endes
nicht an Wunder glauben, an den Einbruch Gottes in diese Welt, und auch, weil
sein Kommen das Ende unserer jetzigen Welt bedeutet.
Heute ist es, im Gegenteil, weithin üblich, endzeitliche
Texte abzuwandeln und auf die Gegenwart anzuwenden. Man sagte, schließlich sei
die Zukunft nicht so wichtig wie die Gegenwart. Und Jesus Christus sei einmal
auf diese Welt gekommen, und damit habe seine Herrschaft über das Böse, über
alle unsere Ängste bereits ihre Vollendung erreicht. In solchen Äußerungen
spiegelt sich oft nur der mangelnde Glaube an seine Wiederkunft. Wir rechnen
heute nicht mehr mit Wundern, und in der Vergangenheit ist zuviel über seine
Wiederkunft spekuliert worden. Wir hörten die Prophezeiungen, aber er kam
nicht. Dann gibt es noch ethische und moralische Motive, meist in sozialem oder
politischem Gewand, aus denen heraus endzeitliche Texte nach Gutdünken zurecht gebogen werden. Es heißt dann: Die Botschaft Jesu
Christi bedeutet unsere Befreiung von Angst, Sünde und Not, und ebenso unsere
Befreiung von politischer Unterdrückung, von ungerechten gesellschaftlichen
Verhältnissen, von Herrschaftsstrukturen. Und darum ist die Gegenwart der
Mittelpunkt des christlichen Denkens. Die Welt muss verändert werden im Sinne
der Befreiung von diesen unguten Verhältnissen. Jesus hat den ersten Schritt
getan, und durch seine Kraft und nach seinem Beispiel werden wir es vollenden.
Aber Jesus Christus hat selbst seine Wiederkunft und deren
Bedeutung für seine Nachfolge betont. Wie sein Kreuz ohne seine Auferstehung
nicht vollgültig wäre, kein Beweis seiner Gottheit sein könnte, so hängen auch
sein erstes und sein zweites Kommen eng zusammen. Wenn wir als so genannte
mündige Christen Wunder verneinen, dann müssen wir auch konsequent sein und
Jesu erstes Kommen – als Gott in menschlicher Gestalt – verneinen. Das war
nämlich auch ein Wunder. Und wir müssen die allumfassende Bedeutung seines
Kreuzes auch ablehnen, weil dies Geschehen menschliche Begriffe, menschliches
Wahrnehmungsvermögen übersteigt, und seine leibliche Auferstehung müssen wir
genauso verneinen; auch sie ist menschlich gesehen unbegreiflich. Darum ist ein
ständiger Rückblick auf Jesu erstes Kommen und eine gleichzeitige Verleugnung
seines zweiten Kommens völlig inkonsequent. Das erste und das zweite Kommen
Jesu bedeutet den Einbruch Gottes in diese Welt, und
das ist an sich schon etwas Wundersames.
Wenn wir das Kreuz Jesu nur als Vorbild nehmen und glauben,
das Leben aus der Kraft dieses Vorbildes müsse dahin führen, dass wir uns
selbst nun im politischen und sozialen Sinn befreien, dann widersprechen wir im
tiefsten Grunde unserem Herrn, so sympathisch das manchen auch in den Ohren
klingen mag. Er hat die politische und soziale Befreiung seines eigenen Volkes
abgelehnt, trotz großer politischer Not und Unterdrückung, und er lehnte es
ebenfalls ab, Steine in Brot zu verwandeln – diese Versuchung kam von niemand anderem
als vom Satan. Das erste Kommen Jesu offenbarte schon das Elend und die
Hilflosigkeit der Menschen. Und sein zweites Kommen steht ebenfalls in
Zusammenhang mit unserem menschlichen und sogar christlichen Versagen. Es steht
nirgends in der Bibel, dass wir Christen unter der Gnade Gottes auch den Himmel
auf Erden verkündigen sollen. Zwar sollen wir das Licht der Welt sein, auch das
Salz der Erde, aber jeder Christ, der die Kirchengeschichte kennt, der ehrlich
mit sich selbst ist, weiß, dass das Christentum die Welt nicht erlöst hat, dass
wir trotz mancher, positiven Entwicklung und inneren Befreiung versagt haben
genau wie das Volk des Alten Bundes. Wir erwarten die endgültige Befreiung
nicht vom Christentum, sondern von Christus selbst.
Sein erstes und zweites Kommen hängen sehr eng miteinander
zusammen. Sein erstes Kommen bedeutet die Befreiung von der Knechtschaft der
menschlich unerfüllbaren Gesetze – auch die Befreiung von Dunkelheit, Sünde,
Leiden und Tod. Diese Befreiung geschah in den Augen Gottes und für Gott. Diese
Befreiung war aber zugleich für den Menschen innerlich persönlich erfahrbar.
Aber diese Befreiung von der Herrschaft der Welt, von der erdrückenden
Forderung der göttlichen Gebote; ist im geschichtlichen Sinn noch nicht
vollendet. Jesus betont, dass es Krieg geben wird, so lange die Welt besteht, dass
Ungerechtigkeit, Leiden, Angst und Not nicht aufhören werden. Aber er fügt
hinzu: Fürchtet euch nicht, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Das heißt, dass die Welt zwar innerlich erlöst, in Gottes Augen freigesprochen
ist, dass sie aber trotzdem im Äußeren dunkel bleibt.
Dabei darf man nicht übersehen, dass die Welt auch in uns
wohnt, dass es auch tief in uns dunkelt. Darum steht die Welt nach Jesu Kommen
unter einer doppelten Spannung: Jesus hat am Kreuz das Böse, Angst und
Verlassenheit, Sünde und Tod überwunden, aber diese Welt hat ihn nicht
angenommen, hat (wie es im Johannesevangelium steht) das Licht nicht begriffen.
Und dann herrscht diese Spannung auch in uns selbst. Wir
Christen leben in zwei Welten. Wir leben einmal in einer Welt, die voller
Versuchung, Angst und Not ist, oft in ungeheuer bedrängender Form, aber
gleichzeitig leben wir im Licht Jesu Christi, seiner vollkommenen Zukunft, der
vollständigen Erlösung entgegen. Paulus spricht von zwei Äonen: von der Welt
der verlorenen, alten Schöpfung, von Adams Weit, von der Welt der Versuchung
und der Sünde und von der Welt der Zukunft, der neuen Schöpfung durch Jesu
Kreuz und Auferstehung.
Darum warten wir, wartet jeder wahre Christ auf die
Wiederkunft Jesu. Trotz Gottes Gnade, trotz Jesu Kreuz und Auferstehung, trotz
aller positiven historischen und persönlichen Errungenschaften des Christentums
haben wir die Welt im tiefsten Sinne nicht geändert. Wir haben gefehlt, weil
wir Christus missbraucht haben, weil wir ihn nach unserem Wunschbild
umgeschaffen und hinter der Maske der Erlösung unseren Egoismus, unser eigenes „Christentum“
proklamiert und ausgelebt haben. Wir haben gefehlt, weil die Kräfte des Bösen,
trotz Jesu Kreuz, immer noch eine Herrschaft über diese Welt ausüben, und
manchmal sogar über uns und über unsere Kirche.
Jesu Licht ist aber nie erloschen. Zu allen Zeiten ist sein
Wort verkündigt worden. Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, als
aufrichtige Christen zu leben, zu allen Zeiten haben sie innerlich und
äußerlich Widerstand geleistet gegen die Welt, gegen weltliche Macht und
weltliche Herrschaft. Aber die Bibel sagt uns sehr klar, dass am Ende der Tage
die Welt so dunkel sein wird wie nie zuvor. Trotz Jesu Kreuz und Auferstehung,
trotz der großen Epochen des Christentums und trotz unserer geistlichen
Erkenntnisse wird Jesus allein Sieger sein, der Herr, der uns in dieser dunklen
Welt durch jede Not leitet. Zwar können wir als einzelne und auch als Gemeinde
große Kraft aus der Nähe Christi bekommen, wir können von Angst und
Verlassenheit, Sünde und Tod befreit werden, aber wir können die Welt selbst,
die alte Schöpfung, nicht endgültig befreien und überwinden. Aber gerade dazu
besteht ständig die Gefahr, dass wir versuchen, Jesu Kreuz und Auferstehung im
Sinne unserer Gerechtigkeit zu benutzen, im Sinne unserer Politik, im Sinne
unserer Mitmenschlichkeit, aber dann vielleicht nicht mehr im Sinne der Gerechtigkeit
Jesu, im Sinne seiner Befreiung, im Sinne seiner allumfassenden
Mitmenschlichkeit. Das Gesetz, die Forderung der Bergpredigt hat nur er allein
erfüllt. Wir Menschen auf uns gestellt, stehen diesem Anspruch auf
Vollkommenheit immer wieder hilflos gegenüber!
Darum müssen wir Christen lernen, in dieser Spannung, mit
dieser Spannung zu leben. Zugleich aber dürfen wir aus der Kraft des Kreuzes
und der Auferstehung Jesu leben. Wir wissen, dass er uns in der Not nahe ist.
Wir wissen, dass wir auch unsere Freude mit ihm teilen können. Wir wissen, dass
er uns freigesprochen hat von unseren Sünden, selbst vom Tod, und wir
versuchen, im Bewusstsein seiner Liebe und seiner Nähe zu leben, seine Liebe an
andere weiterzugeben. Aber wir wissen zugleich, dass das Dunkle immer noch tief
in uns steckt, dass die Finsternis der Sünde unsere ganze Welt überdeckt. Wir
leben in einer Welt voller Gewalt, voller Hass, voller Ungerechtigkeit, voller
moralischer und ethischer Verworrenheit. Und darum wissen wir, dass wir die
Wiederkunft Jesu Christi nötig haben, dass wir selbst endgültig befreit werden
müssen, dass sein Reich unsere Dunkelheit ein für allemal überwinden wird.
Und wir brauchen die Wiederkunft Jesu Christi, damit die
Welt, unsre Welt, endgültig befreit wird. Auch die Toten brauchen die
Wiederkunft Jesu Christi zu ihrer Befreiung. Sein Sieg hat seinen Grund in
seinem Kreuz und seiner Auferstehung, aber damals ging er allein,
stellvertretend für uns alle. Bei seiner Wiederkunft gehen wir alle mit in die
Auferstehung und zum Gericht. Dann wird alles Dunkel aufhören. Die Christus
angehören, werden völlig erlöst werden, und die ihm nicht angehören, werden
dann in die ewige Finsternis gestoßen werden.
Darum sehnen wir Christen uns nach einem Ende der alten
Schöpfung. Und darum sehnen wir Christen uns nach der Zukunft, nach einer neuen
Epoche, nach einer neuen Wirklichkeit, einem neuen Dasein in der Gemeinschaft
Jesu Christi. Bis dahin bleiben unsere Werke trotz Gottes Gnade Menschenwerke,
geprägt durch unseren Egoismus, verdunkelt durch unsere Sündhaftigkeit. Und
darum ist die Welt bis dahin, historisch gesehen, nicht erlöst, sondern bleibt
in einem Zustand des Wartens.
Gottes Werk ist vollkommen, alles was er tut, besteht in Ewigkeit.
Und er, unser Herr und Heiland Jesus Christus, wird kommen, um uns endgültig zu
befreien. Er wird in die tiefste Dunkelheit dieser Welt kommen, um die
Gefangenen zu befreien. Er wird es gewiss tun. Sein Reich komme! Gelobt sei
sein Name in Zeit und Ewigkeit.
Als am nächsten Tag die große
Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme,
nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna!
Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus
aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,
9): „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet
auf einem Eselsfüllen.“ Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als
Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben
stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er
Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum
ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dies Zeichen getan.
Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts
ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Johannes 12, 12-19
Diese Szene, Jesu Einzug in Jerusalem, ist eines der
sonderbarsten Geschehnisse in unserer ganzen Bibel. Jesus hat das ganze Land
Israel durchschritten, vom Norden, vom See Genezareth, bis in den Süden, um das
Reich Gottes zu predigen und Menschen zu heilen als Zeichen dafür, dass das
Reich Gottes in ihm, in Jesus, mitten unter ihnen sei. Dann kommt er endlich ans
Ziel, zur heiligen Stadt Jerusalem, dem Mittelpunkt der Welt, wo der heilige
Tempel steht, wo Gottes Name wohnt. Nun da er ans Ziel kommt, wird er von
seinem Volk als König begrüßt. Welch ein königlicher Empfang: „Hosianna! Gelobt
sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“ „Name“
bedeutet in der Bibel „Wesen der Person“. Was will er mehr? Konnte er mehr
haben? Er kommt in seine Stadt zur Zeit der Passahfeier, dem Fest der
Befreiung, und er kommt als Befreier, als der wahre, endgültige Loslöser.
Palmzweige sind Zeichen des Königlichen, und so begrüßt ihn sein Volk mit Wort
und mit Zeichen, es ist fast eine sakramentale Handlung.
Jesus ritt, wie es der Prophet Sacharja vorausgesagt hatte,
der auf dem Ölberg begraben liegt, auf einem Eselsfüllen. Dass es zwei Esel
waren (wie Matthäus uns überliefert), ist auch eine ZeichenhandIung. Dass sein
Königtum etwas ganz Neues sein wird, das wird unterstrichen durch die zwei
Esel, von denen einer vorher noch nie geritten wurde. Zu dieser Aussage Sacharjas
gehören auch die Worte: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König
kommt, reitend auf einem Eselsfüllen.“ Nochmals Wort und Zeichen, sakramental
in ihrem Wesen. Und dieses „Fürchte dich nicht“ bedeutet zugleich, dass Gott
selbst gegenwärtig ist und dass er kommt, Heil zu bringen. Es ist ein Tag der
Freude wie der Tag, an dem Maria den Engel empfing, der ihr verkündigte, dass
der Herr und Heiland durch sie geboren werden sollte.
Merkwürdig, mitten in dieser so vollen, so deutlich zeichenhaften,
fast sakramentalen Handlung, mitten in diesem Getümmel von erwartungsvollen
Menschen steht es geschrieben, dass Jesu Jünger dieses Geschehen nicht
verstanden hätten. Was soll das bedeuten? Was sie
nicht verstanden haben und erst später verstehen werden, ist der Sinn und das
Ziel dieses königlichen Einzugs in die Heilige Stadt. Jesus kam, um gekreuzigt
zu werden und dann am dritten Tage aufzuerstehen. Jesus hat seinen Jüngern
mehrmals von seinem kommenden Leiden erzählt und auch von seiner Auferstehung,
und jetzt waren seine Jünger verwirrt: Er tut genau die Zeichen, die über
unseren König vorausgesagt waren, aber dieser König soll doch für uns kämpfen,
uns befreien, damit die ganze Welt nach Jerusalem pilgern kann, den Gott
Israels in seinem Friedensreich anzubeten. Doch Jesus hat nur Leiden
angekündigt und dann etwas über seine Auferstehung gesagt. Nach dem Alten
Testament sollen alle Menschen an dem Tag des Herrn (Daniel 12) zum Gericht
auferstehen, nicht ein Mensch allein. Für die Jünger waren Wort und Zeichen
ihrem Sinn nach zwei verschiedene Dinge. Er tat die Zeichen, welche sie von
ihrem König erwarteten, aber Jesu Absicht war etwas ganz anderes.
Am Rande des Geschehens standen seine Gegner, die
Schriftgelehrten und die Pharisäer, wartend auf den Moment, wo sie ihn fassen
konnten, zuerst im Wort und dann in der Tat. Volksverherrlichung bedeutet ihnen
wenig, denn dieser Jesus von Nazareth stellte sich über die Schrift an Gottes
Stelle, redete und handelte, als sei er Gott selbst. Dabei waren die Schriftgelehrten
und Pharisäer doch Hüter der Schrift. Gottes Wort, und zwar Gottes Wort, wie
sie es verstanden, spielte hier die erste Rolle.
Was ging in Jesus vor? Niemand weiß es. Wir können nur
unsere eigenen, von der Bibel geprägten Vorstellungen haben. In dem Jesusfilm
(Hänssler-Verlag), welcher in jeder Hinsicht wörtlich historisch getreu ist,
sehen wir einen strahlenden Jesus, der empfangen wird wie es sich gebührt: von
seinem geliebten Volk als König der Juden. Vielleicht strahlend, weil er weiß,
so wird es am Ende geschehen, wenn er wiederkommt, Israel zu erretten. Aber in
einer ebenso textgetreuen Kinderbibel steht, dass Jesus mit Tränen in seinen
Augen einritt, nicht Tränen der Rührung, sondern der Trauer, weil der wahre Sinn und das Ziel seines Einzugs in Jerusalem von
niemand erkannt wurde.
Das Volk stellt ganz andere Erwartungen an ihn. Es wird von
ihm abfallen in der Stunde, in der er den Mächten und Kräften der Dunkelheit
ausgeliefert wird, eben den Mächten und Kräften in uns selbst. Seine Gegner
haben ganz und gar Recht, wenn sie Volksverehrung mit Verdacht und Vorsicht
genießen. Aber sie stehen gegen Jesus, obwohl die Heilige Schrift, die sie
vertreten, allein durch Jesus erfüllt wird, sie aber nur ihre eigenen
Vorstellungen vom Verlauf der Geschichte haben. Und seine Jünger bieten ihm,
wie in der ganzen Passionszeit, keinen Rückhalt, keinen Trost, denn sie
versagen ganz und gar. Sie verstehen das alles nicht: seinen Einzug in
Jerusalem und seine Vorstellung von Leiden und Auferstehung. Später versagen
sie weiter und verleugnen ihn, nachdem sie im Garten Gethsemane versagt haben
und dreimal eingeschlafen sind, statt mit ihm zu wachen, und dann beim Kreuz
versagen sie völlig – wie die Schafe, die ohne Hirten ratlos in die Irre gehen.
Der Palmsonntag bietet ein Bild äußerlichen Jubels und einer
inneren Leere; ein hohler Empfang für Jesus von seinem eigenen Volk, sogar von
seinen Jüngern. Was bedeutet das heute für uns? Genau das gleiche wie damals.
Er geht seinen Weg, und wir gehen den unseren, einen anderen: falscher Empfang,
falsche Deutung, innere Gegnerschaft.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten von heute sind nicht mehr
die Priester, sondern die Alltagsmenschen, die sagen: „Das ist nicht mein
Heiland, mein König; der geht mich nichts an!“ Solche Menschen lehnen Jesus ab,
weil sie wie die damaligen Pharisäer und Schriftgelehrten letzten Endes selbst
herrschen und sich in ihrem Tun und Lassen von Gott nicht dreinreden lassen
wollen. So glauben viele unter uns, sie werden auferstehen und zu Gottes Reich gehören, ohne dass sie hier, und zwar täglich,
mit Jesus Christus gelebt haben. Manche legen ein Lippenbekenntnis ab, indem
sie ab und zu einmal beten, aber mehr als ein Lippenbekenntnis bedeutet es
nicht, da es nicht aus ihrem Herzen kommt. Sie übergeben ihre Person nicht
Jesus, sie halten die Regie ihres Lebens immer noch in den eigenen Händen.
Einfach gesagt, die Schriftgelehrten und Pharisäer unserer Zeit sind unsere
Namenchristen, die große Masse von Menschen, die Jesus nicht als wahren Herrscher
und König über ihre eigene Person anerkennen wollen.
Das damalige Volk war angesteckt von messianischen
Erwartungen. Es begrüßte Jesus tatsächlich als seinen König, ohne sein wahres
Wesen, sein Kreuz, sein kommendes Leiden zu ahnen. Als Jesus seine Macht und
Kraft nicht zeigte gegen ihre politischen Feinde, die Römer, fielen sie zum
großen Teil ab. Solche Volksbewegungen, Volkserwartungen mit falschem Ziel und
Inhalt haben wir oft genug erlebt in der Geschichte. Hier in Deutschland zum
Beispiel vor fünfzig Jahren.
Und dann seine Jünger. Was sollen wir von diesen Jüngern
sagen, die so lange mit Jesus gelebt, alles von ihm gehört haben über sein
kommendes Leiden und seine Auferstehung und die das alles nicht wahrhaben
wollen? Was sollen wir sagen zu Jesu Verhalten diesen Jüngern gegenüber? Was zu
seinem Ausspruch Petrus gegenüber: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube
nicht aufhöre“? Warum tut Jesus das, wenn seine Jünger so schwer belehrbar
sind, ihn einfach nicht richtig verstehen?
Die Antwort wird heißen: er hat mit seinen Jüngern eine neue
Familie gegründet, welche mit dem Heiligen Abendmahl zu einem neuen Bund wird.
Er will uns, seinen Jüngern, zeigen: Trotz allen euren Verfehlungen, auch hier
im entscheidenden Moment, halte ich zu euch. Ihr gehört mir. Und gerade dieses
zu Jesus Gehören bedeutet, dass er allein über uns verfügt und nicht wir über
ihn. Natürlich verdeutlicht gerade auch das Versagen der Jünger, warum er zu
uns kommen musste, nämlich uns von uns selbst zu erlösen. Denn ohne ihn sind wir
alle hoffnungslos verloren.
Palmsonntag wie Karfreitag zeigen ein für allemal unser
Versagen, auch als Jünger Jesu – aber genauso seinen Sieg. Dieser tritt
besonders deutlich in unserer Schwäche zutage. Jesus spricht sein Ja zu uns,
gerade wenn wir unser Nein zu ihm aussprechen. Er hat uns erwählt und nicht wir
ihn, und jeder von uns kann ganz und gar sein Vertrauen auf ihn setzen, dass er
uns wie den verleugnenden Petrus zu sich zurückrufen wird aus unserem Versagen.
Er gibt uns nicht auf, auch wenn wir uns abgewandt haben, aber wehe uns, wenn
wir seinen Bußruf nicht hören wollen. Gerade am Palmsonntag ertönt er: „Hosianna!
Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel.“ Dieser
Ruf muss verstanden werden, wenn wir die Königsherrschaft in seinem Kreuz, in
seinem hingebenden Leiden anerkennen wollen. Er ruft uns zu ihm, der unser
König sein will, der die Herrschaft über uns gewinnen und behalten will.
Als der Pfingsttag gekommen
war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein
Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus,
in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und
er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem
Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist
ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren
gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses
Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder
hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber,
verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus
Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder
und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus
und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von
Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und
Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden. Sie
entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zu dem andern:
Was will das werden? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll
von süßem Wein.
Da trat Petrus auf mit den Elf,
erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer und alle, die
ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren
Ohren eingehen! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch
erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist’s, was durch den Propheten Joel
gesagt worden ist (Joel 3, 1-5): „Und es soll geschehen in den letzten Tagen,
spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und
eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen
Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und
auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie
sollen weissagen.“
Apostelgeschichte 2, 1-18
Niemand soll sich an das Pfingstgeschehen im Neuen Testament
wagen, ohne ein tiefes Verständnis seines alttestamentlichen Hintergrunds.
Dieser ist vierfach: die Geschichte vom Turmbau zu Babel; das jüdische
Pfingstfest, auch Bundesfest, Wochenfest genannt; das Sefirah, die fünfzig Tage
vom Exodus bis zum Bundesschluss am Sinai; die Ausgießung des Heiligen Geistes
auf Mose und die siebzig Ältesten (4. Mose 11).
Der Herr, der Gott Israels, schuf die Welt durch sein Wort.
Der Gesetzespsalm 119 sagt uns: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein
Licht auf meinem Wege.“ Das Wort Gottes, das gepredigt wird, und im Alten
Testament das prophetische Wort, ist der Weg zur Umkehr, zurück zum lebendigen
Gott Israels. Das Wort aber wurde verwirrt in der Urgeschichte, beim Turmbau zu
Babel. Gott verwirrte sein lebenbringendes Wort, weil die Menschen sich an
Gottes Stelle hatten setzen wollen (Erbsünde). Als Israel berufen wurde, war
das Wort nur für dieses eine Volk verständlich. Aber Jesus Christus befahl als
Auferstandener, als „das Wort, welches Fleisch geworden ist“ seinen Jüngern, zu
allen Völkern zu gehen mit dem Wort seines Sieges. Aber wie können sie das
erreichen, nachdem das Wort verwirrt war, verteilt unter viele Völker mit ihren
Sprachen?
Das Wortwunder zum neutestamentlichen Pfingsten, als die
Jünger in anderen Sprachen anfingen zu verkündigen, ist zeichenhaft die
Wiederherstellung der Einheit von Gottes Wort in und durch Jesus Christus, das
Wort Gottes für alle Völker.
Das so genannte Pfingstfest, Bundesfest oder Wochenfest,
war, wie alle alten israelitischen Feste, zuerst ein Fest in Verbindung mit
Wachstum und Ernte. Aber mit der Zeit bekam dieses Fest auch eine tiefe
theologische Bedeutung. Hier wird die Übergabe der zehn Gebote an Mose auf dem
Berg Sinai und auch der Bundesschluss des alten Bundes gefeiert. Aber unser
neutestamentliches Pfingstfest erinnert auch an einen Bundesschluss, oder
besser gesagt, an die Auswirkung dieses Bundesschlusses. Denn der neue Bund
wurde eigentlich mit der Einsetzung des heiligen Abendmahls am Gründonnerstag
gegründet – „…nehmet und trinket, das ist mein Blut des neuen Bundes“. Der alte
Bund ist kein missionarischer Bund, sondern ein historischer, gesetzlicher
Leidensbund. Durch den neuen Bund, seit der Ausgießung des Heiligen Geistes,
soll das Wort des Evangeliums zu allen Völkern gebracht werden, das Wort, dass
das Ziel der Berufung Abrahams (durch dich werden gesegnet alle Völker auf
Erden) jetzt in Jesus Christus gegenwärtig ist. Der alte Bund hat mit Stein
(tot, todbringend), mit den Gesetzestafeln zu tun, aber mit dem neuen Bund, wie
die Propheten Jeremia und Hesekiel vordeuteten, wird das lebendige Wort Gottes
ins Fleisch, ins Herz hineingeschrieben werden. Das ist der Hintergrund der
Ausgießung des Heiligen Geistes zum neutestamentlichen Pfingstfest.
Es waren genau fünfzig Tage zwischen dem Exodus des
israelitischen Volkes aus Ägypten und dem Bundesschluss am Sinai. Diese fünfzig
Tage (hebräisch Sefirah) haben eine besondere Bedeutung im Alten Testament,
denn fünfzig, sieben mal sieben plus eins, ist auch die Zahl für das heilige
Jahr und damit für Gottes Frieden, sein Ans-Ziel-Kommen für das Volk und das
Land. Nach jüdischer Tradition soll jeder Jude sehr bewusst diese „Sefirah“
miterleben, die fünfzig Tage bewusst mitzählen, die Tage von der Befreiung bis
zum Bundesschluss. Auch für uns Christen sind diese fünfzig Tage zwischen Jesu
Auferstehung von den Toten und dem Pfingstfest sehr wichtig, sind sie doch das
Zeichen der endgültigen Befreiung vom Tod und bestätigen den neuen Bund durch
die Ausgießung des Heiligen Geistes. Nun sollten alle Völker auf Erden mit dem
Wort von dem neuen, historischen, missionarischen Leidensbund in und durch
Jesus Christus erreicht werden.
Dass das Grundthema von Pfingsten zurückreicht bis in die
ältesten Schichten des Alten Testaments wird nicht nur bestätigt durch die
Beziehung zur Geschichte vom Turmbau zu Babel, sondern auch in der Thematik „Heiliger
Geist“. „Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ So kommt dieser Geist
Gottes zum ersten Mal gleich im Anfang vor im Alten Testament. In 4. Mose 11
wird der Geist auf Mose und die siebzig Ältesten, stellvertretend für das ganze
Volk, ausgegossen. Seither ist er da und lebt und wirkt. Hat nicht Paulus in
Römer 9 betont, dass der Gottesdienst immer noch eine Gabe Israels ist, auch
nach ihrer Ablehnung Jesu Christi? Gibt es denn überhaupt einen wahren
Gottesdienst (nicht Menschendienst!) ohne den Heiligen Geist? Aber die Funktion
des Heiligen Geistes im alten Bund ist nicht missionarisch, sondern im Sinne
eines Leidensbundes (Bluttaufe). Dieses Thema „Heiliger Geist“ entwickelt sich
weiter in der Prophetie wie bei Hesekiel, wo Gottes Geist den Propheten aufruft
und führt. In Joel 3 wird unser neutestamentliches Pfingstereignis vorgedeutet,
denn hier ist von einer allgemeinen Ausgießung des Geistes die Rede, nicht von
einer stellvertretenden wie in 4. Mose 11. Und bei der Pfingstpredigt des
Petrus ist Joel 3, wie Petrus selbst sagte, in Erfüllung gegangen. Die Jünger
waren alle versammelt am selben Ort, und zwar in einem Haus. Das neue Haus
Israel wird hier bestätigt und ausgerüstet mit Gottes heiligem Geist, mit der
Kraft seines Wortes. Wind und Feuer sind Zeichen der Gotteserscheinung. Dies
hatte Elia erlebt, sogar im leisen Säuseln des Windes als eine Vordeutung des
innigen Wehens der Barmherzigkeit Jesu Christi. „Und es erschienen ihnen Zungen“,
als Ort des Wortes, „und sie alle fingen an, zu predigen in anderen Zungen.“
Hier ist die Erfüllung von Joel 3 die pfingstliche Antwort zum Babelturm und
zugleich der Aufruf, Jesu Missionsbefehl zu erfüllen, auf dass alle Völker auf
Erden in Jesus Christus gesegnet werden könnten. Die lange Liste von Völkern,
die dabei waren, verdeutlicht, dass das Pfingstfest ein Opferfest war. Seit dem
König Josia um 620 v. Chr. durfte nur im Tempel in Jerusalem geopfert werden.
Deswegen waren so viele Völker anwesend. Mittelpunkt des ganzen
Pfingstgeschehens ist aber nicht dieses äußere Wunder, sondern die Predigt des
Petrus. Das Kennzeichen von Pfingsten, die Ausgießung des Heiligen Geistes, ist
nicht äußeres Stammeln, Zungenreden, irgendein Wunder oder inneres Erlebnis,
sondern das Wort Gottes, welches in Jesus Christus Fleisch geworden ist. Dieses
Wort richtet und erhebt. Der Heilige Geist weht nur durch das Wort und nicht
durch subjektive Erlebnisse mancher Sektierer. Das Wort ist die Kraft des
Lebens, der Schöpfungsmittler, das neue Leben in Jesus Christus.
Wie die Jünger und das Volk alle an einem Ort versammelt
waren, so sind wir, seine Gemeinde, jetzt im Gotteshaus am gleichen Ort
versammelt. Das mahnt uns, dass wir im neuen Bund aneinander gebunden,
miteinander verbunden sind. Wir sind Brüder und Schwestern. Wir gehören
zusammen zur neuen Familie Gottes in Jesus Christus.
Was predigte ihnen Petrus? Er predigte Jesus Christus auf
dem Hintergrund der biblischen Verheißung. Historische Predigt ist biblische
Predigt, ob im Alten Testament wie die prophetischen Predigten Hesekiels (Kapitel
16, 20 und 23) oder wie im Neuen Testament die Predigt des Stephanus. Jede
wahre biblische Predigt ist historische Predigt, denn wir müssen Jesus Christus
als den Erfüller dessen bezeugen, was im Alten Testament verheißen ist. Wenn
wir den alttestamentlichen Hintergrund nicht mehr vor Augen haben, können wir
Jesus im wahrsten und tiefsten Sinne nicht mehr verkündigen. Umkehr,
prophetischer Ruf ebenso auch Gebet dazu setzt dieses geschichtliche Wirken
Gottes voraus.
In einer seiner ergreifendsten Erzählungen zeigt der sehr
prophetisch bewusste jüdische Dichter Franz Kafka, dass historische Predigt
auch meine persönliche Predigt ist. Er erzählt, wie ein Mann in eine leere
Kirche trat, um sich vor dem Regen zu schützen. Plötzlich, es war nicht die
Zeit des Gottesdienstes, erscheint der Pfarrer, steigt auf die Kanzel und
predigt diesem Mann seine Geschichte. Kafka zeigt hier in letzter Tiefe, was
Predigt wirklich bedeutet, was sie beinhalten soll: nicht unsere Klugheit, auch
nicht unsere Wünsche, sondern das Wort (wie Jeremia und Hesekiel das
vordeuteten) dringt in unser Herz.
Meine historische Predigt schildert die Zeit der Erfahrung
meiner Bekehrung zu Jesus Christus, wie ich persönlich getroffen wurde, ganz
ähnlich wie es den 3000 Juden zu Pfingsten erging, nur eben in der heutigen
Gegenwart.
Diese Predigt bezeugt, wie das Wort Gottes, der Tröster, der
Heilige Geist, uns seither geführt hat durch die Zeiten der Not und der Freude.
Zusammenfassend wird diese Predigt über unseren Weg seit der
Bekehrung berichten, der uns zur Mission hinführte, denn das Ziel, auf welches
Pfingsten zusteuert, ist Mission. Was mich gerichtet und aufgerichtet hat, muss
ich weitergeben: das lebendige Wort Gottes. Pfingsten hat heute nur Bedeutung,
wenn wir selbst bekehrt sind, wenn wir selbst diese geschichtliche, tröstliche
Erfahrung mit Gottes Wort gemacht haben. Das müssen wir weitergeben, weil das
Wort Gottes in unseren Herzen brennt wie bei den Jüngern zu Pfingsten.
In den Tagen aber, da der
Jünger viel wurden, erhob sich ein Murren unter den
griechischen Juden in der Gemeinde wider die hebräischen, darum dass ihre
Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.
Da riefen die Zwölf die Menge
der Jünger zusammen und sprachen: Es taugt nicht, dass wir das Wort Gottes
versäumen und zu Tische dienen.
Darum, ihr lieben Brüder, sehet
euch um nach sieben Männern, die einen guten Ruf haben und voll heiligen
Geistes und Weisheit sind, welche wir bestellen mögen zu diesem Dienst.
Wir aber wollen anhalten am
Gebet und am Amt des Wortes. Und die Rede gefiel der ganzen Menge wohl; und sie
erwählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und
Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den
Judengenossen von Antiochien.
Diese stellten sie vor die
Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.
Und das Wort Gottes breitete
sich aus, und die Zahl der Jünger ward sehr groß zu Jerusalem. Es wurden auch
viele Priester dem Glauben gehorsam.
Apostelgeschichte 6, 1-7
Was uns heutzutage an diesem Text vielleicht am meisten
erstaunt, ist die Antwort der Jünger, als sie merken, dass Versäumnisse im
sozialen Bereich vorhanden waren. Statt den sozialen Bereich nun an die erste
Stelle zu rücken, weil Nächstenliebe das Christstein in die Tat umsetzt, statt
Verkündigung und Gebet in den Bereich der Theorie zu verweisen, antworten die
Jünger: „Wir selbst aber wollen weiter mit Gebet und Predigt dienen.“ Das passt
sicher nicht in das Bild vom Evangelium, das viele moderne Menschen haben. die
die sozialen und politischen Belange in den Mittelpunkt stellen möchten, die
sich nur mit den Unterdrückten beschäftigen und die Predigt und Gebet rein
sozialpolitisch geprägt sehen möchten. Sie fühlen sich bedrückt durch die
ungleiche Aufteilung der Güter dieser Welt, durch Hungersnöte und
Unmenschlichkeit und möchten das vom Evangelium her geändert sehen.
Die Antwort der Jünger ist die gleiche wie die Antwort Jesu
Christi. Auch er ließ sich nicht so in die nationale und soziale Frage
hineinziehen, dass er sie als Mittelpunkt unseres Daseins bewertet hätte. Für
ihn stand an erster Stelle die Frage nach Gott, die
Frage nach seiner Herrschaft und Allmacht und die Frage nach Sünde und Tod, die
unseren Geist und Körper verstrickt. Jesus hätte die Möglichkeit gehabt, die
nationale Frage zu beantworten und zu bereinigen, die Juden von den Römern, von
ihren schrecklichen Unterdrückern zu befreien, aber er tat es nicht.
In den Augen der damaligen Juden war das sicher auch
unmenschlich. Jesus Christus war in der Lage, die tiefste soziale Frage aller
Zeiten ein und für allemal zu beantworten, als der Satan ihn versuchte, Steine
in Brot zu verwandeln. Seine Antwort hieß: „Der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“
Seine Antwort ist vielleicht für die meisten Menschen
heutzutage ein Ärgernis – auch für viele Christen –, aber seine Antwort ist
Gottes Antwort. Priorität für Jesus Christus und seine Jünger hat weder die
politische Frage, die in dieser Zeit der Unterdrückung bestimmt sehr aktuell
war, noch die soziale Frage, die damals – wie heute – ebenfalls „auf den Nägeln
brannte“, sondern die religiöse Frage, die Frage nach der Herrschaft Gottes.
Warum war das so? Nicht weil die politischen Probleme unwichtig wären, oder
weil Hunger und physische Not übersehen werden dürfte – Jesus hat ja selbst den
Bedürftigen geholfen, wo er ihnen begegnete –, sondern weil es im Tiefsten um
Gottes Heil, Gottes Zusage, Gottes Vollendung geht.
Der hungrige Mensch braucht Brot, um zu leben. Ihm nur
Gottes Wort zu predigen, wäre zu wenig. Aber jeder Mensch hat nicht nur einen
Körper – als Gottes höchstes Geschöpf hat er Körper, Geist und Seele, und die
Wahrheit Gottes, seine Herrschaft, umfasst alle diese Bereiche. Die Nähe Gottes
im Gebet, die Überwindung unserer Sünde und unseres Todes am Kreuz Jesu geben
die letzte tiefste Antwort auf die Fragen unseres Menschseins. Da bleibt nichts
offen. Die Lust befriedigt unseren Körper – wenigstens versuchen wir es mit
diesem Weg –, aber die Liebe umfasst unsere ganze Person: Geist, Seele und
Leib. Darum ist Liebe mehr als Lust. Wenn Brot das zentrale Problem der Welt
wäre, dann könnten wir uns vielleicht nach und nach von der Armut zur Sattheit
hocharbeiten. Die tiefste Armut in der Welt findet sich heute nicht in der
dritten und vierten Welt, sondern bei uns. Wir denken mehr an unseren Körper,
an unser physisches Wohlbefinden als an anderes, und wir messen die ganze Welt
nach ihrem äußeren Reichtum. Tatsache ist, dass die Dritte Welt viel reicher
ist als wir, reicher im Geist, im Glauben, im Wissen darum, dass der Mensch
zwar Brot braucht, aber dass Brot nicht die endgültige Antwort auf seine
Probleme ist. Brot brauchen diese Menschen wie jeder andere, aber in den
ärmsten Teilen Afrikas wächst der christliche Glaube so stark, dass in einer
Gemeinde jeden Sonntag Hunderte von Taufen stattfinden, dass manche
Gemeindeglieder 30 bis 40 Kilometer weit mit einem Ochsengespann in die Kirche
fahren. Das ist wahrer Reichtum in äußerer Armut. Ich möchte nicht falsch
verstanden werden. Wir sollen die Hungrigen sättigen, so weit wir dazu in der
Lage sind. Aber neben ihrem physischen Hunger hungert ihr Geist nach Gott. Und
wir Übersatten denken nur an ihre äußere Armut und unseren äußeren Reichtum,
ohne zu merken, wie arm wir im Geist, in Gott sind und wie viel wir von ihnen zu
lernen haben.
Kehren wir zu unserem Text zurück. Mancher mag sich darüber
wundern, welche Leute hier als Almosenpfleger gewählt werden. Man suchte nicht
besonders tüchtige Menschen, mit entsprechender Ausbildung oder Erfahrung auf
diesem Gebiet, so genannte Spezialisten, wie wir sie heutzutage haben. Man
wählt stattdessen Leute, „die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes
und Weisheit sind“. Voraussetzung für echte soziale Arbeit ist demnach der
Glaube, der vom Heiligen Geist gewirkt ist, und die Weisheit, die biblisch
gesehen mit der Erkenntnis Gottes gleichgesetzt wird. Hier erhebt sich die
Frage: Ist soziale Arbeit nicht eine rein menschliche Angelegenheit, und ist
darum nicht die menschliche Begabung auf diesem Gebiet viel wichtiger als die
Tiefe des Glaubens? Fragen wir Sozialarbeiter nach ihrem Glauben, gehen wir ins
Sozialamt und erwarten, dass eine Bibel auf dem Tisch liegt, oder erwarten wir
nur äußere Hilfe von denen, die doch viel mehr geben sollten?
Die moderne Wohltätigkeit birgt große Gefahr in sich. Wie
viele Reiche spenden etwas, um sich ein gutes Gewissen damit zu erkaufen und
die Steuervergünstigung auszunutzen, aber ohne einen tieferen, echten,
persönlichen Kontakt mit der Not. Wie viele bekommen im modernen Sozialstaat
Brot, Geld, Hilfe für ihre physischen Bedürfnisse, aber keine Hilfe für ihre
geistliche Not. Die Hilfe wird meist unpersönlich gewährt, der leidende Mensch
als Gegenstand betrachtet, nicht als vollwertiger Mensch. Aber im tiefsten
Grund ist es doch so: wenn wir physische Not leiden, wenn wir arm und krank
sind, brauchen wir ja doch weit mehr als nur äußere Hilfe ,mehr als mitmenschlichen
Kontakt und Anteilnahme. Wir brauchen dann besonders das, was der Mensch
ohnehin nötig hat: eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, ein
sinnvolles Leben. Äußere Hilfe und menschliche Anteilnahme sind einfach nicht
genug. Und darum werden in der Apostelgeschichte die sieben Almosenpfleger nach
religiösen Maßstäben ausgewählt, nach der Tiefe ihres Glaubens und ihrer Erkenntnis
des Herrn.
Weil jeder Mensch in Jesu Augen einen tiefen Wert hat, darum
starb der Herr für uns, für jeden einzelnen von uns. „Was ihr einem von diesen
meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Diese Aussage
geht weit über die moderne Aufforderung zur Mitmenschlichkeit hinaus. Sie
besagt, dass uns in jedem Menschen Jesus Christus begegnet. Darum soll unsere
Anteilnahme umfassend sein und in die tiefsten Schichten der Not gehen, bis in
den Bereich von Sünde, Angst und seelischer und geistlicher Verlassenheit.
Wer das Wort vom Kreuz Jesu unter arme, elende, leidende
Menschen bringt, bringt ihnen das Licht. Er bringt ihnen die Botschaft, dass
der Herr selbst sie liebt. Er bringt das Wort des lebendigen Gottes, das
völlige „Ja“ zu uns am Kreuz, die Nachricht, dass Jesus für unsere Sünde
gestorben ist, dass er unsere Armut und Not, Verlassenheit und Krankheit mit
uns und für uns getragen hat und für immer tragen will. Soziale Arbeit erfüllt
nur dann ihre Aufgabe wirklich, wenn den Armen, den Verlassenen, den Kranken,
den Menschen in Not nicht nur ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden –
so wichtig das auch ist –, sondern wenn ihr ganzes Leben in Ordnung gebracht
wird – auch Geist und Seele. Wir leben im Westen in einer Welt großen äußeren
Reichtums und schrecklicher, innerer, geistiger Armut.
Das wird unter anderem erkennbar an der drastisch steigenden
Selbstmordziffer, durch die enorm verbreitete Abhängigkeit von Alkohol und
Drogen und durch die schreckliche Verlassenheit der Armen, Kranken und Alten
unter uns. Viele der Letzteren bekommen das, was sie äußerlich zum Leben
brauchen, gesellschaftlich aber sind sie in die Ecke geschoben, man beachtet
sie nicht mehr, weil sie nicht mehr jung sind, nicht gut aussehen, nicht reich
und gesund sind und weil wir denken, wir brauchten sie nicht mehr. Unsere
Gesellschaft ist reich, und sie ist äußerlich betrachtet in sozialer Hinsicht
viel gerechter, als man das in der Vergangenheit oft war, aber gleichzeitig ist
unsere Gesellschaft krank, sozial krank. Das Hauptkennzeichen dieses Kranksein
liegt darin, dass eine ständig zunehmende Zahl von Menschen keinen Sinn mehr im
Leben findet, kein Ziel mehr hat. Die Gesellschaft ist krank, weil so wenig
Menschen sich wirklich um ihren Nächsten sorgen. Wie oft kann man von
Auswanderern aus dem Osten hören: Politisch sind wir hier zwar frei, aber dort
haben sich wenigstens die Nachbarn um ihren Nächsten gekümmert, und nicht nur
um das eigene Vorwärtskommen. Das bedeutet keine Anerkennung für das unmenschliche
kommunistische System, denn diese Pflege der nachbarlichen Beziehungen gehört
zu einer alten Tradition. Aber unter uns wird diese Tradition zunehmend
abgebaut.
Die Lösung dieser großen sozialen und persönlichen Not ist
weder durch Bürokratie und durch Gesetze allein zu ermöglichen, noch dadurch
gegeben, dass mehr Menschen wirkliche Mitmenschlichkeit üben. Das tiefste
Problem, schlimmer als Armut, Alter, Krankheit, Einsamkeit und
Identitätsverlust ist, dass wir ohne Sinn und Ziel, ohne echte Aufgabe leben, ohne
eine positive Werteinstellung zu jeder Lebensphase, nicht nur zu der des
Jungseins. Und eine grundsätzliche Antwort auf diese Frage nach dem Sinn des
Lebens, nach dem Warum und Wieso, kann nur vom Glauben her
gegeben werden. Der Herr Jesus Christus liebt uns nicht nur theoretisch,
sondern in jeder Minute unseres Lebens ist er für uns da, das hat er am Kreuz
bewiesen. Er fordert jeden auf: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und
beladen seid, ich will euch erquicken.“ Nur in ihm, nur durch ihn kann unser
Leben einen wahren und dauerhaften Sinn bekommen. Er beurteilt uns nicht nach
unserem äußeren Reichtum, nach Erfolg und Klugheit, nach unserem Jungsein, nach
dem, was wir ihm geben können, sondern je größer unsere Not ist, desto näher
ist er uns. Er ging zu den Ärmsten und Verachtetsten seiner Zeit, und das
gleiche Angebot gilt heute noch für jeden von uns.
Darum haben die Jünger als Sozialarbeiter, als
Almosenpfleger diejenigen gewählt, die zwar nach menschlichen Maßstäben
vielleicht nicht die Erfahrensten waren, sondern sie wählten Menschen aus, die
voll heiligen Geistes und Weisheit Gottes waren, die sein Licht in die
Finsternis der Elenden hineinbrachten, in die Tiefe ihrer Verlassenheit, ihres
Verachtetseins und – nach den Maßstäben einer unmenschlichen, weil
unchristlichen Gesellschaft – ihrer Nutzlosigkeit.
Was sollen wir nun sagen?
Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde?
Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir doch
gestorben sind? Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus
getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten
durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn
wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleichgeworden sind in seinem Tod, so werden
wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein. Wir wissen ja, dass unser alter
Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, so dass
wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei
geworden von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass
wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus, von den Toten
erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen.
Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für allemal; was
er aber lebt, das lebt er Gott. So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde
gestorben seid und lebt Gott in Christus Jesus.
Römer 6, 1-11
Paulus verdeutlicht hier ganz genau, was die Taufe wirklich
sein soll, was es heißt, hineingetauft zu werden in Jesu Tod und dann
herausgeholt zum Leben, zum ewigen Leben in ihm. Damit wird dieses Taufwasser
zugleich Zeichen für Tod: Die ersten Christen, wie ja auch Jesus, wurden bei
der Taufe im Wasser untergetaucht und dann aus dem Wasser zum neuen Leben in
Jesus, vom Tod zur Auferstehung herausgeholt.
Kann man so etwas über einem Säugling sagen? Wäre es nicht
besser, nur Menschen zu taufen, welche sich für Jesus entschieden haben? Ist
nicht die Säuglingstaufe mehr zu einer Form geworden, dass Menschen sich selbst
zwar für Christen halten, wenn sie getauft sind, aber vielleicht gar nicht mit
Christus wirklich leben? Gibt es Säuglingstaufen im Neuen Testament? Diese
Fragen, welche nicht nur von Freikirchlern heute gestellt werden, sind äußerst
aktuell, und wir wollen hier biblische Antworten dazu suchen.
Wir sind, wie Paulus es deutlich sagt, in Jesu Tod getauft,
wie das zuerst war und immer noch sinnbildlich geschieht, unter Wasser, in den
Bereich des Todes gegeben. Die, welche so große Betonung auf unsere
Entscheidung für Christus in Beziehung zur Taufe legen, sollen sich aber
folgende Frage stellen: Wer eigentlich unter seinen Jüngern hatte sich für
Jesus entschieden, als er gekreuzigt wurde? Keiner, gar keiner! Die Jünger
gingen, wie der Prophet Sacharja voraussagte, in der Irre. Nur Johannes war bei
der Kreuzigung dabei, und zwar aus Liebe und Pflicht, aber nicht aus Glauben.
Während Jesus stundenlang am Kreuz hing, bekannte Johannes sich nicht zu ihm
als seinem gekreuzigten Heiland. Einfach gesagt: Jesus hat sich am Kreuz für
seine Jünger entschieden, als sie ihn im Stich ließen, nicht umgekehrt. Wir
sind in seinem Kreuz getauft. Seine Entscheidung für uns geht unserer
Entscheidung für ihn voraus. Deswegen sagte Luther so deutlich, dass wir
Säuglinge taufen, die zuerst gar keine Ahnung haben vom Kreuzesheil, wie die
Jünger, die damals auch gar keine Ahnung davon hatten.
Wer aber mit Christus gekreuzigt wird, der wird mit ihm
auferstehen, der wird in ihm wahres und ewiges Leben haben. Das gehört zu des Paulus zentraler Aussage. Hier wird die Taufe als
Angebot angesehen, genauso wie es das Kreuz ist. Wer diese Taufe, Jesu Kreuz,
annimmt und gekreuzigt wird mit seinem Heiland, der wird mit ihm auferstehen.
Die Jünger haben den gekreuzigten und auferstandenen Herrn nicht aus eigener
Entscheidung angenommen, sondern weil Jesus so entschieden hat, ist er ihnen
erschienen als ihr Herr. Seine Entscheidung für die Jünger ging hier auch ihrer
Entscheidung für ihn voraus. Dann sind die Jünger tatsächlich mit ihm
gekreuzigt worden und zwar im zweifachen Sinn des Wortes: sie lebten nicht mehr
sich selbst, ihrem alten, versagenden Selbst, sondern ihr altes Selbst war in
Christus gestorben. Zugleich waren sie aber mit ihm neugeboren. Später starben
sie dann als Märtyrer für ihren Heiland. Die Säuglinge, welche wir heute
taufen, können nur mit Christus auferstehen, wenn sie mit ihm sterben, und das
bedeutet, wenn sie im Glauben neugeboren sind in ihm, in ihrem gekreuzigten
Heiland. Das Kreuz ist das Angebot, sein Heilsangebot für uns sündige Menschen.
Aber das Heil erlangen wir nur, wenn wir dieses Angebot persönlich annehmen.
Selig sind nicht die, welche getauft sind, sondern die, welche getauft sind und
an ihn glauben. Lasst uns das niemals vergessen! Niemand kommt ins Himmelreich
wegen eines Taufscheins, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus und
ein Leben in der Nachfolge mit ihm. Deswegen soll ein Taufgespräch sehr ernst
genommen werden. Die Eltern werden verpflichtet, ihr Kind zu einem Leben mit
Christus zu erziehen, und wir Pfarrer sollen ihnen sehr klar und deutlich
sagen, was das bedeutet und beinhaltet: erziehen zum Gebet, erziehen zum Wort
Gottes (deswegen bekommen sie bei der Taufe bei uns eine Kinderbibel), erziehen
zur Zugehörigkeit zur Gemeinde Jesu, vor allem aber durch das eigene Beispiel.
Glaube ist nicht vererbbar. Wilhelm Busch sagte einmal: „Gott hat Kinder, aber
keine Enkelkinder.“ Kinder erziehen zu Christus, vor allem durch eigenes
Beispiel, kann aber den Weg zur eigenen Entscheidung
für ihn bahnen.
Wer das Neue Testament kennt, weiß, dass selbstverständlich zuerst
nur Erwachsene getauft wurden –, wir können keine neue Kirche auf Säuglinge
gründen. Aber bereits in der zweiten Generation werden Kinder allgemein
getauft. In der Apostelgeschichte, am Anfang der Gemeinde Jesu, steht an
mehreren Stellen wie bei Lydia, bei dem Kerkermeister und so weiter, dass sie
sich taufen ließen „mit ihrem ganzen Haus“. Kinder sind hier natürlich gemeint,
also eingeschlossen.
Trotzdem, trotz der Tatsache, dass Luther selbst wie alle
unsere großen Kirchenväter und Reformatoren als Kinder getauft wurden, trotz der
guten und richtigen biblischen Argumente für die Kindertaufe, ist die Kritik an
dieser Praxis auch sehr ernst zu nehmen. Jeder Pfarrer, der zu Christus und zu
seinem Wort berufen ist, soll nie ein Kind taufen oder die Kindertaufe
verlangen, wenn die Eltern aus Glaubensgründen dagegen sind. Kein Pfarrer darf
jemals eine Taufe vollziehen, ohne ernste und tiefe Gespräche über die
Bedeutung der Taufe und die Verantwortung der Eltern mit diesen geführt zu
haben. Und jeder Pfarrer soll es den Eltern sehr nahe legen, dass es vielleicht
viel besser wäre, ihre Kinder nicht zu taufen, wenn sie dieses Versprechen,
ihre Kinder zu Christus hin zu erziehen, nicht ernst nehmen wollen. Denn
tatsächlich ist eine falsche Einstellung zur Taufe ein Grund unter anderen,
warum unsere Kirche so lau geworden ist. Vollständig falsch ist die Meinung,
wer getauft sei, sei ohne weiteres ein wahrer Christ. Das ist ganz und gar
falsch und unbiblisch. Nur wer stirbt mit Christus, indem er Jesu Tod für sich
persönlich angenommen und in seiner Nachfolge gelebt hat, nur der ist ein
wahrer Christ, nur der wird Heil statt Verdammnis ererben.
Können wir überhaupt eine Taufe wichtig und ernst genug
nehmen? Was kann unsere Gemeinde jetzt tun im Blick auf die heutige Taufe? Eine
sehr alte Frau, die schon lange gestorben ist, erzählte mir einmal, wie sie vor
mehreren Jahrzehnten hier im Ort eine besondere Taufe erlebt habe. Der
Taufvater war ein Missionar. Er hat besonders lang und tief darum gebetet, dass
gerade dieses Kind sich einst seiner Taufe freuen und für Jesus entscheiden
möge, der sich für es schon entschieden habe. Tatsächlich sei das Kind ganz und
gar ein Christ geworden und habe sein Leben seinem gekreuzigten und
auferstandenen Heiland gewidmet. An dieser Geschichte können wir lernen, wie
wichtig unsere Gebete als gläubige Gemeinde für jedes Kind sind. Bitte betet,
wie auch ich es tue, bei jeder Taufe immer wieder neu für diese Kinder.
Und dann müssen wir bedenken, was ein Pate und eine Patin
bedeuten. Es soll jemand zusammen mit den Eltern die Verantwortung für die
christliche Erziehung des Kindleins übernehmen. Zwar steht in unseren Gesetzen,
dass von diesen Paten mindestens einer der Landeskirche angehören soll.
Natürlich kann auch der andere einer der großen Kirchen oder einer Freikirche
angehören. Das ist aber nicht genug. Paten sollten nicht gewählt werden nach
dem Verwandtschafts- oder Freundschaftsgrad, sondern nach ihrer Beziehung zu
Jesus. Wir Christen sind eine neue Familie in ihm. Hier geht es um das wahre
Leben selbst, um Christi zukünftiges Reich, um den Frieden mit ihm. Hier geht
es um das Heil und um nichts anderes.
Wir sollen angesichts des Angebotes der heiligen Taufe
niemals vergessen: Wer wirkt, wer macht das Angebot, und wer allein kann es
verwirklichen? Weder Eltern noch Paten noch mein Wille und meine
Entscheidungskraft, sondern allein Jesus Christus. Er wurde gekreuzigt, als
wir, seine Jünger, in der Irre gingen. Er ist auferstanden, als wir, seine
Jünger, ihn als ewig tot aufgaben. Er lebte und lebt immer noch unter uns, in
seinem Heiligen Geist, mit Gottes Macht und Kraft als der einzig richtige Weg,
die einzig gültige Wahrheit, ja das Leben selbst. Wie oft leben wir, als ob wir
selbst unsere Wege bestimmen, die Wahrheit selbstherrlich aussuchen, über unser
Leben selbst entscheiden könnten!
Aber wie Jesus seine Jünger niemals aufgab, trotz ihres
Versagens, so will er seine Hände über uns halten. Er will uns richten und
aufrichten durch sein Wort, welches in ihm Fleisch geworden ist. Er will uns
täglich Kraft und Führung erfahren lassen durch den Tröster, den Heiligen
Geist. Er will uns erneuern, wenn wir schwach sind und falsche Wege gegangen
sind. Und er will uns den schmalen Weg zu seinem Reich weisen und uns täglich
auf diesem Weg führen. Er will uns die Treue halten und uns die Kraft geben,
ihm treu zu bleiben – „weil wir ja wissen, dass unser alter Mensch samt ihm
gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde aufhöre, dass wir hinfort der Sünde
nicht dienen..., denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein
für allemal; was er aber lebt, das lebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch
dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid, und lebet Gott in Christus Jesus.“
Vergeltet niemand Böses mit
Bösem. Befleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. Ist es möglich, so viel
an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächet euch selber nicht,
meine Lieben, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.
Mose 32, 35): „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“
Vielmehr, „wenn deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke
ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln“ (Sprüche
25, 21+22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse
mit Gutem.
Römer 12, 17-21
Wenn wir das lesen, klingt unser Text zuerst schön und fein,
aber wenn wir darüber nachdenken, kann diese Aussage sehr an uns nagen. Hier
wird verlangt, dass wir wirklich unsere Feinde soweit als möglich lieben. Zwar
geht dieser Text nicht ganz so weit: „Rächet euch selber nicht, meine Lieben,
sondern gebet Raum dem Zorn Gottes.“ Aber wir dürfen nicht Böses mit Bösem
vergelten. Wir sollen, soweit wie möglich, mit allen Menschen Frieden halten.
Mit gutem Grund. Denn wenn wir Böses mit Bösem vergelten, hat dieses Böse in
unserem Hass und Zorn Macht über uns gewonnen. Und wenn wir keinen Frieden mit
unserem nicht friedfertigen Nachbarn haben, dann ist Unfrieden, Unruhe in uns
selbst. Darum ist diese Aussage so wichtig, und zwar nicht nur für unseren
Nächsten, sondern vor allem für uns selbst. Aber können wir immer so leben?
Jeder von uns, und ich als Pfarrer bin sicherlich keine
Ausnahme, hat Menschen, die nur darauf warten, bis wir einen Fehler machen –
und wer von uns vergisst oder versäumt nicht manchmal etwas? Wenn dann solche
Versäumnisse, Vergesslichkeiten passieren, dann fangen diese Menschen an, uns anzugreifen,
und zwar mit pharisäischem Eifer, als ob sie selbst immer in Ordnung wären,
ohne jeden Fehler. Wenn wir solchen Menschen gegenüber zugeben: „Ja, ich habe
einen Fehler gemacht“, dann wird unsere Offenheit nicht positiv aufgenommen,
sondern eine lange Liste von solchen Fehlern und Versäumnissen wird aufgezählt,
manche mit Recht und manche mit Unrecht. Der Zeigefinger wird erhoben, als ob
wir wirklich böse Menschen wären, und vor allem, als ob unsere Ankläger in
jeder Art vorbildlich seien. Was sollen wir dann tun? Ich glaube, dieses
Problem trifft jeden von uns in irgendeiner Form. Zwar sollen wir bereit sein,
Fehler und Versäumnisse einzugestehen. Zwar sollen wir den Frieden mit jedermann
suchen, aber es gibt Menschen (und vielleicht sind manche unter uns sogar
solche Menschen), welche nur darauf warten, dass wir Fehler begehen, Menschen,
welche sehr bewusst versuchen, uns das Leben zu erschweren. Sie halten sich
selbst für die wahren Christen, die wahren Ermahner. Was sollen wir tun, wenn
wir auf die Dauer allergisch auf solche Menschen reagieren?
„Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Befleißigt euch der
Ehrbarkeit gegen jedermann. Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit
allen Menschen Frieden.“ Dieser letzte Satz ist Zielsetzung unseres Textes. Und
wenn wir wissen, dass unsere Beziehung zu unseren Anklägern so geworden ist, dass
wir selbst innerlich in Unruhe nur darauf warten, bis sie auf dieses oder jenes
gegen uns den Finger erheben, dann sollen wir um des Friedens willen, nicht nur zwischen uns und den anderen,
sondern in uns selbst, soweit als möglich solche Menschen und ihre „Ich-weiß-es-besser-Art“
meiden. Meide das Böse! – denn durch solche Beziehungen zeigt sich das Böse
dann auch in uns. Natürlich müssen wir uns so stark wie möglich beherrschen,
dann aber auch versuchen, den Streit zu schlichten. Wenn alle diese Versuche
unser Gegenüber und unsere Beziehung zueinander nicht ändern, sollen wir diese
Art von Gereiztheit so gut wie möglich meiden, um unseret und um unseres
Nächsten willen.
Aber, jeder von uns soll ehrlich überlegen, ob und inwieweit
vielleicht er selbst der Herausforderer ist. Bevor wir kritisieren, sagt uns
Jesus, sollen wir den Balken aus unserem eigenen Auge entfernen. Und vielleicht
kann durch ein offenes Gespräch solch eine Beziehung gerettet werden. Wenn
nicht, wenn dieses Verhältnis zu festgefahren ist, sollen wir, um des Friedens
willen in uns selbst und mit dem Nächsten, soweit wie möglich Abstand halten,
Abstand auch von der Ungeduld in uns, welche als Zorn Böses ausbrüten kann.
So eine Aussage ist nun menschlich gesehen vielleicht
richtig, aber wo liegt die theologische Tiefe in unserem Text? Die Bibel deckt
unsere Schwächen auf und weiß auch, dass wir keine Engel sind, keiner von uns,
aber was hat diese Aussage mit Evangelium zu tun?
Interessant ist, dass sie mit Evangelium in seinem vollen
Sinne zu tun hat:
1. Indem wir uns selbst überlegen müssen, ob wir
nicht Böses mit Bösem zu vergelten bereit sind, ob wir ehrlich mit uns selbst
und mit anderen sind, und ob wir wirklich Frieden suchen, das bedeutet, uns von
Jesu Liebe bestimmen zu lassen, nicht von pharisäischer Selbstgerechtigkeit.
2. Indem
unsere Grenze und die unseres Nächsten aufgedeckt ist,
ist deutlich Gericht zu spüren – „Rächet euch selber nicht, meine Lieben,
sondern gebet Raum dem Zorn Gottes.“
Ist das wirklich neutestamentlich, dass wir auf Gottes Rache
warten? Jawohl, so ist es, aber nur so
verstanden:
1. Wenn wir über andere zu Gericht sitzen,
werden wir nach demselben Maßstab selbst gerichtet werden.
2. Wir sollen aus der Liebe und dem Frieden
Christi versuchen, so zu leben, dass diese Menschen und wir selbst verwandelt
werden durch ihn, denn der Herr liebt
nicht zu richten, sondern Gnade zu üben.
3. Unsere
Feinde sind nicht unbedingt Gottes Feinde. Wir müssen uns selbst immer
wieder fragen, ob ich mich selber nicht Gottes Zorn ausgesetzt habe mit meiner
Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit? Das
Gericht bleibt, Gottes Zorn, welcher nur zu überwinden ist durch Buße, indem
wir uns selber richten für unsere Lieblosigkeit, unsere Gottesferne. Trotzdem
bleibt Gottes Zorn über unseren Feinden, welche wirklich als Ankläger gegen uns
stehen (der Satan ist der Ankläger in der Bibel) und nicht bereit sind, mit uns
Frieden zu machen im Geiste Christi, sondern pharisäische Kritik und ihre
eigene Wichtigkeit in den Mittelpunkt stellen.
Nehmen wir zum Beispiel eine stark wachsende Gemeinde. Jedes
Wachstum bringt nicht nur das Positive mit sich, das Wachstum selbst, sondern
auch Wachstumsstörungen. So erlebt es jeder Teenager, der in jeder Hinsicht im
Wachsen ist, und so erlebt es jede Nation, welche im Wachsen ist, oder sogar
jede Wirtschaft, welche ihre Wachstumsphase erlebt. Selbst in einer wachsenden
Gemeinde gibt es solche Probleme, wie sie unser Text berichtet: Christen,
welche ihr besonderes „christliches Gegenüber“ haben. Manche Arbeiter waren
schon lange im Weinberg und sehen die Neuankömmlinge nicht als
Gleichberechtigte in Christus an: „Wir haben die Erfahrung; wir waren hier, als
die Gemeinde klein war und in Not; und vor allem, wir wissen, was wir gelernt
haben.“ Manche dieser Aussagen haben vielleicht ein bisschen Wahrheit in sich,
aber die Neuankömmlinge könnten mit genau dem gleichen Recht betonen: „Wir sind
neu im Glauben und deswegen viel eifriger; wir stehen näher zum Heiligen Geist,
gerade weil wir neu berufen sind; wir sind jung und die Jugend bestimmt die
Zukunft.“ Solche Standpunkte haben vielleicht auch ein bisschen Wahrheit in
sich. Aber die Wahrheit selbst in ihrer
ganzen Fülle ist Jesus Christus. Und Jesus ruft uns zu seiner Liebe, seinem
Frieden, seiner Erlösung, zur Eintracht in ihm. Er ist das Haupt und wir
sind die Glieder, und der ganze Körper leidet, wenn es Streit unter uns gibt,
wenn Böses mit Bösem vergolten wird, wenn hintenherum schlecht über andere
geredet wird, wenn wir nicht Frieden
suchen, sondern unser Recht. Jesus will nicht nur, dass wir aus seiner Liebe
und aus seinem Frieden mit unseren Mitchristen leben, sondern auch mit unseren
nichtchristlichen Bedrängern, und zwar um unsretwillen, dass das Böse, der Hass,
uns nicht überwindet, und auch um seinetwillen: „Wenn deinen Feind hungert, so
speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige
Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Was soll das bedeuten: „Feurige Kohlen auf sein
Haupt sammeln“? Das bedeutet, dass er noch hitziger wird. Wenn wir Böses mit
Gutem vergelten, kann unser Gegner noch ärgerlicher gegen uns reagieren, weil
er spürt, dass er Unrecht hat, und gerade
das kann er nicht ertragen. Aber diese Kohlen, welche auf seinem Kopf
verbrennen mögen wie die brennenden Kohlen auf Jesajas Lippen, können ihn auch
reinigen. Ist es nicht so, dass, wenn wir auf Hass mit Liebe reagieren, unsere
Gegner die Macht der Liebe spüren? Jesus Christus ist stärker als der Hass
(Satan), und ist es nicht so, dass diese Liebe ihren Hass und Neid Wegbrennen
kann, reinigen kann, jetzt im Gericht
Gottes hier, in der Buße, so dass sie dem endgültigen Gericht nicht übergeben
werden müssen?
Wer wirklich glaubt, dass Jesus Christus der Herr ist, soll
und muss auch glauben, dass er, die Liebe, stärker ist als jeder Hass und Zorn,
stärker sogar als unser Stolz. Wer
das glaubt, soll jetzt, in den nächsten Tagen und immer so gut er kann aus der
Güte, dem Frieden und der Liebe leben, und das bedeutet, aus der Kraft Christi.
Gott gebe uns allen, aus der Kraft seiner Liebe und seiner Kraft der Vergebung
mit unserem Nächsten zu leben, denn er, Jesus Christus, will unser Leben sein,
der Herr unseres Daseins und unseres Handelns.
Jedermann sei untertan der
Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott;
wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit
widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über
sich ein Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, sind nicht bei den guten
Werken, sondern bei den bösen zu fürchten. Willst du dich aber nicht fürchten
vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr haben. Denn sie ist
Gottes Dienerin dir zugute. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt
das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe
über den, der Böses tut. Darum ist’s Not, untertan zu sein, nicht allein um der
Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen. Derhalben gebet ihr ja
auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf solchen Dienst beständig bedacht.
So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt;
Zoll, dem der Zoll gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.
Römer 13, 1-7
Für uns heute sind solche Aussagen wie die von Paulus nicht
leicht anzunehmen. Ist es möglich, dass der Herr selbst die Obrigkeit über uns
gestellt hat, wenn diese Obrigkeit böse ist, wenn sie eine fast totale Macht
ausübt? Müssen wir dann wirklich „brav und lieb“ sein, so wie unser Text es
verlangt?
Zuerst müssen wir uns erinnern an manche Aussagen der
alttestamentlichen Propheten. Haben nicht diese Männer die Feinde und
Unterdrücker Israels als Gottesknechte bezeichnet? Erschreckend muss es gewesen
sein für die Judäer im 7. und 6. Jahrhundert vor Christus, aus dem Munde
Jeremias zu hören, dass das schreckliche, unbarmherzige Strafgericht der
Babylonier gegen Gottes Volk von Gott selbst hergerufen wurde. Der Herr pfeift
und seine Knechte kommen, ihm zu dienen. So wurde es auch gesagt bei den
Assyrern, welche Israel im Jahre 722 unterworfen haben. Ist es wirklich
möglich, dass der Herr, der Gott Israels, so gegen sein eigenes Volk vorgehen
kann? Ja, es ist möglich. Das Alte Testament bezeugt das deutlich. Israel/Juda
müssen durch Gericht, durch Leiden gehen um der Reinheit willen, dass sie
merken sollen, dass sie ganz und gar abhängig waren und sind von ihrem Gott. Dass
sie die Kinder Abrahams waren, half sehr wenig, denn der Herr wollte, dass sie
lieber Kinder Gottes wären. Sie müssen das Gericht, das weltliche Gericht so
erleben, gerade weil sie so weltlich
geworden waren, so sehr die Mächte und Kräfte dieser Welt an die Stelle Gottes
gesetzt hatten. Die Könige Israels und Judas haben zum Teil heidnisch
gelebt, ihre eigenen Kinder sogar den Götzen geopfert, ausdrücklich gegen
Gottes Willen und Gebot. Sie und die Hohenpriester haben ihre eigene Macht
aufgestellt, aber öfters nicht im Einklang mit dem, was der Herr durch die
Propheten verlangte. Und gerade weil die weltliche Macht an die Stelle von
göttlicher Macht gestellt wurde, mussten fremde Völker diese weltlichen Mächte
entmächtigen, und zwar im Namen des Gottes Israels. Darum mussten die
Israeliten lernen, sich fremden Herren zu beugen, politisch und sozial zu
beugen, damit sie gleichzeitig lernen sollten, sich wieder ihrem Gott zu
unterwerfen. Trotzdem lebte in Israel mit Recht die zutiefst religiöse
Vorstellung, dass der Gott Israels, König der Juden war und sein wird und dass
sein ideales Friedensreich ein Reich sein werde ohne heidnische Führer, denen
man sich gezwungenermaßen beugen muss, aber genauso ohne israelitische Könige,
die ihrem eigenen Willen und ihren Gesetzen folgten statt Gott selbst. Wir
müssen uns hier daran erinnern, dass der Herr, der Gott Israels nicht wollte, dass
Könige überhaupt über Israel herrschen sollten, denn er, der Herr Israels
selbst, wollte ihr König sein. Aber gegen seinen Willen hat sein Volk nach
einem weltlichen König verlangt. Gott gab ihnen Saul, der ungehorsam war,
danach David, aus dem der wahre König Israels, Jesus Christus, kam. Der wird
herrschen über das ganze Haus Israel im
religiösen und politischen Bereich in seinem ewigen Reich. Aber bis dahin
sind die Israeliten und auch wir Christen fremden Herrschern unterstellt,
welche Gottes Gericht an uns ausüben und zugleich für weltliche Ordnung sorgen.
So war es zu des Paulus Zeit unter dem schrecklichen
römischen Kaiser Nero. So war es aber auch in der Zeit von Jesu erster Ankunft,
denn er anerkannte mindestens äußerlich den Herrschaftsanspruch des Pilatus,
wenigstens äußerlich und mindestens für die damalige Zeit seiner Gegenwart.
Darum ist es so, dass wir Christen wie die Juden es gelernt haben durch die
Jahrhunderte, uns fremder Herrschaft zu unterstellen und unterzuordnen, weil
beide Bünde sich klar darüber bewusst sind, dass diese Mächte von dem Herrn
selbst eingesetzt sind. Leichter war es sicherlich für uns Christen, denn seit
dem 4. Jahrhundert waren die Herrscher über uns zumeist selbst Christen,
entweder Christen dem Namen nach, oder ausnahmsweise, wie manche jüdischen
Könige wie David oder Josia, wirkliche Gläubige.
Dann, in der jetzigen modernen Zeit wurden wir Christen vor
die Frage gestellt, wie wir uns verhalten sollten, als moderne heidnische „Kaiser“,
losgelöst von Gott und vom Glauben, nicht nur unsere Steuer, unseren Gehorsam
verlangten, sondern auch unseren Geist. „Heil Hitler“ war ein
Glaubensbekenntnis, und der moderne Kommunismus sagt offiziell, dass es keinen
Gott gibt. Können wir solchen Mächten und Kräften dienen, wenn wir Gott
gehorchen wollen? Er hat sie über uns eingesetzt wegen unseres Unglaubens, um
uns zu reinigen, wie die Babylonier über Juda. Oder müssen wir uns wehren um
unseres Geistes und der Seele willen? Hier trennen sich die Geister unter
gläubigen Christen, auch heute. Im Dritten Reich gab es die Erklärung von
Barmen, 1934, welche von Karl Barth und anderen verfasst wurde und welche die
Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass der Nationalsozialismus verlangte, was
Gott allein gehörte, nämlich unseren Geist und unsere Seele. Im Sinne von
Luthers Zwei-Reiche-Lehre wird festgestellt, dass wir Gott unter so einem
Diktator nicht geben könnten was ihm gehört, weil Hitler das selbst verlangte.
Und weil es unmöglich war, zugleich Gott und dem Kaiser, dem Führer, zu dienen,
weil sich der Führer an Gottes Stelle setzte, müssten wir uns wehren gegen
seine Herrschaft. Hat nicht Jesus selbst gesagt, man gebe dem Kaiser, was dem Kaiser
zusteht, und Gott, was Gott gehört? Aber unter Hitler war das zum größten Teil
unmöglich, denn der „Kaiser“ selbst war Massenmörder und verlangte das gleiche
von uns in seinem Dienste, wir sollten uns sogar gegen Gottes Volk des Alten
Bundes stellen. Leider wurden die Juden in der Barmer Erklärung gar nicht
erwähnt.
Andere gläubige Christen, ich meine natürlich nicht die
heidnisch beeinflussten „Deutschen Christen“, blieben fest an der alten
Tradition, und zwar viele von ihnen sicherlich aus tiefer Überzeugung. Waren
etwa nicht die Kaiser von Assyrien und Babylonien Massenmörder, sind sie selbst
nicht gegen Gottes Volk vorgegangen, und war das nicht letzten Endes vom Herrn
gewollt? Gewiss. Gebrauchte Gott nun diese Verfolgung im Dritten Reich nicht,
um die Juden ins Heilige Land zu treiben? Durch diese schrecklichen Leiden
wurde Gottes endzeitlicher Plan in seine entscheidende Phase eingeleitet. Aber, und das ist für uns wichtig: wer
konnte hier zwölf Jahre unter einer solchen Herrschaft leben, sich dem Kaiser,
dem Führer, unterstellen, ohne tiefsten Schaden an seiner eigenen Seele zu
nehmen? Viele so genannte Christen haben in dieser Zeit eine ungeheuerliche
Schuld auf sich geladen.
Dazu hat der bekannte jüdische Rabbi und Professor Pinchas
Lapide uns eine, glaube ich, noch tiefere Auslegung von Matthäus 22: „Gebet dem
Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ als Luther es verstand,
gegeben. Lapide zeigt uns mit Recht, dass diese Frage Jesus gestellt wurde in
Beziehung zu einem Groschen, auf dem der Kaiser als Gott dargestellt war. Und
so ausgelegt, konnte kein damaliger rechtgläubiger Jude mit Recht diesem Kaiser
Steuer bezahlen, denn das Geldstück selbst brach das erste und das zweite Gebot
– „Du sollst keinen Gott neben mir haben“ und „Du sollst kein Bildnis noch
Gleichnis machen von Gott“. Dazu lehrt uns Lapide, dass für einen Juden – wie
Jesus einer war – Gott letzten Endes alles gehört, weil er alles geschaffen
hat, auch unsere Person: Eigentlich, meinte Jesus, gehöre dem Kaiser gar nichts
– wenn wir Jesus richtig verstanden haben –, denn der Kaiser setze sich selbst
an Gottes Stelle, völlig zu Unrecht. Auch wenn Jesus selbst das heidnische
Römische Reich nicht zerstörte, stellt Rabbi Lapide mit Recht fest, so taten es
doch Jesu Nachkommen, wir Christen. Wir Christen zerstörten dieses Reich
letzten Endes in Christi Namen von innen heraus.
Im Angesicht dieser sehr komplizierten Geschichte der
Gottesvölker beider Bünde unter fremden Herrschern, im Angesicht dieser
biblischen Aussagen – was sollen wir tun, denn wir leben heute selten unter
wirklich „christlichen“ Herrschern, jedoch auch nicht unter Machtbewussten
totalitären Führern. Unsere Gesellschaft ist demokratisch und pluralistisch,
nicht christlich oder nur christlich dem Namen nach, also scheinchristlich.
Aber manchmal gibt es Gesetze, die gegen unser Gewissen, gegen Gottes Wort
verstoßen. Für unsere Zeit kann man folgendes biblisch feststellen: 1.) Wir
müssen die Ordnung dieser Gesellschaft in ihrem äußeren Rahmen akzeptieren und
bejahen. Die Demokratie ist keine gute Ordnung, wie Churchill es ausdrückte,
aber trotzdem besser als jede andere politische Ordnung. Wir Christen sollten
dankbar sein für die Freiheit, welche uns in der Demokratie gewährt wird, dass
wir missionieren können, Gottes Wort in Freiheit weitergeben. 2.) Wenn es
Gesetze gibt, welche gegen unser Gewissen verstoßen, weil sie gegen Gottes Wort
sind, z. B. dass Abtreibung, Kindermord, bejaht wird, dann dürfen wir uns
niemals anpassen an solche Gesetze, und wir müssen alles tun im demokratischen
Rahmen, um gegen solch ein Gesetz zu kämpfen (wie das in Amerika heutzutage
gemacht wird). 3.) Wir sollen aber niemals unsere Demokratie als göttlich
ansehen. Denn Jesus Christus ist unser König, und er wird in seinem Reich am
Ende der Zeiten politisch, sozial, gerecht herrschen. Wir sind jetzt, wie
Luther es ausdrückte, Fremdlinge auf dieser Erde. Wir warten, genauso wie die
Juden, auf Gottes gerechtes, ewiges, wahres Reich und seine Herrschaft. Unser
Leiden unter einer pluralistischen Gesellschaft, welche uns Freiheit gewährt,
aber gleichzeitig alles andere als christlich ist, ist ein Leiden, verursacht
durch unsere Schuld, durch unseren Unglauben, durch unsere Gleichgültigkeit.
Darum solch eine laue Gesellschaft. Darum diese Strafe Christi.
Wir müssen miteinander ausharren hier in der sterbenden alten
Welt bis zu Jesu Wiederkunft, bis er sich selbst zeigt als Herrscher, als
Richter, als Überwinder. Wir müssen ausharren in Geduld, in der Liebe, mit
dieser sehr großen unersetzlichen Hoffnung auf seine Vollendung, auf sein Reich
und seine Herrschaft. – „Denn sein ist das Reich und die Kraft und die
Herrlichkeit in Ewigkeit.“
10 Du aber, was richtest du
deinen Bruder? Oder, du anderer, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden
alle vor dem Richterstuhl Gottes dargestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben
(Jesaja 45, 23): „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie
beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.“
12 So wird nun ein jeglicher
für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasset uns nicht mehr
einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euern Sinn, dass
niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Römer 14, 10-13
Was bedeutet das Wort „richten“ in unserem Text? Heißt das, dass
wir kein Urteil über einen anderen fällen können, dass wir gar nichts sagen
dürfen, wenn wir glauben, dass der eine oder der andere im Recht oder im
Unrecht ist? Oder hat dieses Wort eine andere, vielleicht noch viel
weitreichendere Bedeutung?
Natürlich haben wir eine Meinung über andere Menschen und
ihr Tun. Unser christlicher Glaube setzt sogar ein solches Verständnis von
Maßstäben voraus. Wir halten uns an die zehn Gebote. Von Jesus, von Paulus
haben wir gehört, wie wir uns verhalten sollen. Sind
das nicht allgemeingültige Aussagen? Wie könnten wir leben ohne solche
Orientierungsmöglichkeiten, ohne eine Meinung, ein Urteil zu haben, auch über das
Tun anderer? Urteilslos, meinungslos zu leben würde bedeuten, keine Merkmale
mehr für Gut und Böse, für Recht und Unrecht zu besitzen.
Zu unserem Leben in dieser Welt gehört es, dass wir
Entscheidungen treffen müssen – persönliche und auch rechtliche. Wenn ich zum
Beispiel sehe, dass vor meinen Augen Menschen durch Rauschgift oder Alkohol
zugrundegerichtet werden, bin ich mitschuldig, wenn ich nichts dagegen
unternehme. Werde ich Zeuge eines Autounfalls, bin ich verpflichtet, anzuhalten
und zu helfen, soweit mir das möglich ist. Wir sind verantwortlich für unseren
Nächsten und können die Augen vor dem Bösen nicht verschließen. Es geht einfach
nicht, dass wir im Namen der Toleranz „leben und leben lassen“.
Wir müssen die Welt und das Geschehen um uns beurteilen und
danach dann persönlich und rechtlich leben und unsere Entscheidungen treffen.
Tun wir das nicht, verschließen wir unsere Augen, dulden wir unter dem
Deckmantel einer falsch verstandenen Freiheit Böses und Ungesetzliches, dann
kann das unsere Familie, vielleicht sogar eine ganze Gemeinde zugrunde richten.
Paulus ging sogar so weit, dass er wegen schwerwiegender
sexueller Verstöße ein Mitglied aus seiner Gemeinde ausstieß. Er sah die
Gemeinde als Organismus, in dem der Schaden eines Gliedes dem ganzen Leib
Unheil brachte, ihn in Mitleidenschaft zog. Wenn wir unter uns Verbrechen und
heidnische Bräuche dulden, dann leben wir gegen den Willen Christi und nicht
mehr als seine Gemeinde, als christliche Kirche. Gar zu leicht wird heute
gesagt: Alle Menschen sind nun mal Sünder – auch ich gehöre dazu. Wir sollten
dem Verhalten der anderen wohlwollend gegenüberstehen und ihr Verhalten passiv
oder aktiv billigen oder wenigstens stehen lassen.
Der große russische Dichter Dostojewski entwickelte im 19.
Jahrhundert eine Theorie der heiligen Sündhaftigkeit. Nach seiner Auffassung
müssen Christen bis ins Tiefste lernen, dass sie Sünder sind. Andernfalls
bleiben sie Pharisäer, die andere verurteilen, ohne zu wissen, wie tief die
Sünde in uns allen steckt Diese Theorie belegte Dostojewski durch biblische Beispiele
wie Mose, David, Saulus und Maria Magdalena. Sie alle waren große Sünder
gewesen, doch der Tiefe ihrer Sünde stand die Tiefe ihrer Errettung, die Größe
der Gnade Gottes gegenüber.
In unserer Zeit erleben wir es, dass Rauschgiftsüchtige,
Gewaltverbrecher, Menschen, die in sexueller Hinsicht völlig unverbindlich
leben, im tiefsten Elend, in der hoffnungslosesten Gebundenheit das Licht der
Befreiung durch Christus erkennen.
Doch gegen diese Auffassung lässt sich einiges einwenden:
Wir müssen nicht durch die „tiefsten Sümpfe“ waten, um zu wissen, dass wir
Sünder sind. Jesus hat es uns in der Bergpredigt, in seiner Auslegung des
Gesetzes sehr deutlich gemacht. Gott fordert von uns, dass wir den Hass
aufgeben, dass wir unsere Feinde lieben, dass wir außerhalb der Ehe sexuell
nicht begehren, dass wir vollkommen sein sollen wie er. Wer die Bergpredigt als
Maßstab für sein Leben ansieht, als Kernaussage christlicher Lehre, der erfährt
es täglich neu: Ich bin ein Sünder, ein Verlorener oder wie Jesaja es sagt: „Ich
habe unreine Lippen…“ Gerade ein Christ sollte von der Bergpredigt, von den
Lehren Jesu her wissen, wie verloren wir sind ohne sein Kreuz, ohne seine
Erfüllung des Gesetzes für uns – im geistigen und im physischen Sinne.
Auch wenn Jesus der einzige war, der das ganze Gesetz erfüllt
hat, so ist doch seine Aussage bis zum letzten i-Tüpfelchen auch für uns
verbindlich. Jesus hat die Bergpredigt an Menschen gerichtet und nicht zu sich
selbst gesprochen. Und darum brauchen wir nicht erst kriminell zu werden, um zu
wissen, dass wir Sünder sind. Wir brauchen nur das Wort Jesu zu lesen und ernst
zu nehmen.
Und doch steckt hinter Dostojewskis Aussage eine ernste
Wahrheit. Es ist zu allen Zeiten für Christen eine große Gefahr gewesen, sich
selbst, das eigene Verhalten als Maßstab für Christusnachfolge anzusehen. Von
diesem Blickwinkel her wurden dann die anderen beurteilt oder sogar verdammt.
An dieser Stelle liegt ein doppeltes Problem: Statt des Wortes Jesu wurde das
eigene Verhalten als gültige Norm für christliche Gerechtigkeit, für richtiges
Handeln angesetzt Alles, was davon abwich, wurde verurteilt. Und zum zweiten
wurden diese Urteile ohne jeden Vorbehalt gefällt, sie besaßen einen absoluten
Charakter. Wer außerhalb dieser subjektiven Normen lebte, galt als hoffnungslos
verloren, „verdammt in alle Ewigkeit“.
Doch an dieser Stelle weist Dostojewski darauf hin, wie tief
und allumfassend die Gnade Jesu ist. Er rettet die Verlorenen, die menschlich
gesehen nicht mehr zu retten sind, die hoffnungslosen Fälle: Saulus, der die
Christen verfolgte und in Massen hinrichten ließ, David, den Ehebrecher und
Mörder, Mose, den geflüchteten Totschläger, Maria Magdalena, die Prostituierte.
Gerade diese Beispiele zeigen uns, dass in Gottes Augen kein
Mensch ganz und gar verloren, abgeschrieben ist,
solange er lebt, und sei er auch ein Schwerverbrecher. Wenn Paulus Menschen aus
der Gemeinde entfernte, tat er das in der Hoffnung, dass ihnen das zur
Besinnung, zur Korrektur diente und dass sie den Weg zum Herrn und zu seiner
Gemeinde zurückfanden. Sein Urteil ging von Gottes Maßstäben aus, nicht von
seinem eigenen Gutdünken. Und trotzdem war es kein endgültiges, sondern ein
zeitlich begrenztes Richten.
Wir müssen den möglichen Wirkungen des Geistes Gottes Raum
lassen. Tun wir das nicht, setzen wir uns an Gottes Stelle und spielen uns als
Richter auf. Aber gerade das ist ein Beweis dafür, wie sehr wir selbst in der
tiefsten Sünde stecken, in der Erbschuld des Menschen, sein zu wollen wie Gott.
Er ist der Herr und nicht wir, er ist gerecht und nicht wir, er ist der
endgültige Richter und nicht wir. Er lässt seine Sonne aufgehen über Gläubige
und Ungläubige, er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte, er ist geduldig
und barmherzig und wird allein das letzte Urteil sprechen.
Doch das Gericht Jesu reicht, wie seine Gnade, viel tiefer
als menschliches Richten, ist viel umfassender. Jesus fordert Buße,
Sinnesänderung, Wandlung des Lebens, wenn er unser Herr sein soll. Maria
Magdalena darf keine Hure bleiben, Saulus muss seine Haltung der Gemeinde
gegenüber andern. Buße bedeutet immer Konsequenzen. So spricht er auch jetzt
als Richter zu jedem von uns. „Kehrt um! Tut Buße!“, so heißt es. „Mein Reich,
meine Gegenwart ist nahe. Folge mir nach! Deine ganze Person soll mir gehören!“
Dieses Urteil, dieses Angebot der Errettung ist zwar in der
Gegenwart noch für uns da, fassbar, greifbar, aber es gibt auch einen
Zeitpunkt, wo das nicht mehr der Fall ist. Einmal ist es zu spät für eine
Sinnesänderung – wenn der Tod uns überrascht oder unsere geistigen Kräfte
nachlassen.
Unser Text ist ein Ruf an jeden von uns. Wir sollen wissen, dass
Jesus der Herr ist und auch der endgültige Richter sein wird. Und unsere
Urteile sollen sich an seinem Wort orientieren und nicht an unserer eigenen
Person. Wir selbst sollen zu einer tieferen Glaubenshaltung hinfinden. Jesus
ist gegenwärtig – das gilt ebenso für uns wie für andere. Wer einen anderen
unter ein absolutes, endgültiges Urteil stellt, ist im Grunde kein glaubender
Mensch, weil er nicht ernsthaft mit Gericht und Gnade des Herrn rechnet. Er
versucht vielmehr, in eigener Regie zu denken, zu urteilen und zu handeln. Im
tiefsten Herzen empfindet er Jesus nicht als den Gegenwärtigen. Doch Jesus ruft
die Sünder zur Umkehr durch sein lebendiges Wort und auch dadurch, dass er sie
im Gewissen anspricht. Und wir sollen in seinem Auftrag Mahner und Warner sein,
aber nicht Richter. Das Wort Gottes soll das Schwert sein, das uns von unserem
Ich trennt, den in Christus gerechtfertigten Menschen vom selbstgerechten
Sünder.
Und darum soll sein Wort und sein
Geist zuerst und vor allem in uns selbst wirken, bevor wir damit zu unserem
Nächsten gehen. Zuerst sollen wir den „Balken aus unserem eigenen Auge
entfernen“, die Schuld bei uns selbst suchen und sehen. Als errettete Sünder,
als verlorene, aber vom Herrn gefundene Menschen dürfen und sollen wir uns dann
auch dem Nächsten zuwenden mit dem Wort von Gnade und Erlösung, das zugleich
ein richtendes Wort ist.
„Herr, du bist nahe allen, die dich suchen. Dein Wort soll
unsere tägliche Speise sein. Du allein gibst uns die Kraft der Vergebung und
die Kraft der Hinwendung zu unserem Nächsten, um ihm um seinetwillen das Wort
von der Erlösung, der Vergebung, der Überwindung der Sünde zu bezeugen. Du
allein bist unser Richter, unser Retter, unser Herr und Heiland.“
Darum werden wir nicht müde;
sondern ob auch unser äußerlicher Mensch verfallt, so wird doch der innerliche
von Tag zu Tag erneuert.
2. Korinther 4, 16
Diesen Wandel von der Betonung des äußeren Menschen zur
Wertschätzung des inneren Menschen hat wohl kaum jemand so stark und
augenscheinlich erlebt wie Rembrandt, der große christliche Maler. Als junger
Mann und selbstbewusstes Genie empfand er eine unendlich große Freude an der
sichtbaren Welt, am Äußerlichen. Er kaufte exotische Schwerter und Uniformen
und ließ seine Eltern mit Turbanen geschmückt für sich Modell stehen. Je
sonderbarer die äußere Aufmachung war, desto mehr imponierte sie ihm.
Neben dem Fremdartigen zog ihn alles Glänzende an. Mit
großer Freude malte er kostbare Stoffe und Metalle, um Verarbeitungsweise und
äußere Pracht hervorzuheben. Sein Geschäft blühte. Die vornehmen Bürger
Amsterdams ließen sich von ihm malen, und ihre Selbstsicherheit und ihr
Reichtum spiegeln sich in den Bildern. Das Exotische, das Andersartige und die
bürgerliche Selbstzufriedenheit sind die Merkmale der frühen Werke Rembrandts.
Und dabei erfasste der Maler mehr als jeder andere die geistige Haltung, die
hinter dem zur Schau getragenen Reichtum stand, das Mit-sich-selbst-zufrieden-Sein,
An-sich-selbst-genug-Haben. Rembrandt verstand diese Welt gut, es war auch
seine Welt.
Doch dann gab es eine Wende im Leben des Malers. Rembrandt
begann, sich mehr mit Licht und Dunkel zu beschäftigen. Zwar sind Spuren davon
auch schon in seinen ersten Werken zu finden, aber da ist es mehr ein grelles
Licht und ein nichts sagendes Dunkel.
Im Alter von fünfunddreißig oder vierzig Jahren wandte sich
Rembrandt den inneren Bereichen des menschlichen Daseins zu, geistigen
Strömungen, religiösen Welten. Auf seinen Bildern bekam der leere Raum zwischen
den Gegenständen immer mehr Wert für ihn. Hier entfaltete er geistige Kräfte,
hier fand die lebendige Stille Gottes einen Ausdruck. Das Spiel mit Licht und
Dunkel diente nun dazu, Wahrheiten des Glaubens darzustellen – Jesus Christus
als Licht der Welt. Rembrandts Licht durchdringt die Menschen, zeigt sie als
Sünder, in ihren Schwächen. Aber zugleich spürt man im Licht seiner späteren
Gemälde etwas vom wunderbaren Glanz der Gnade Gottes.
Ich denke da zum Beispiel an sein berühmtes Bild von der Judenbraut in Amsterdam. Dieses Gemälde hat eine ungewöhnliche Tiefe und Innerlichkeit. Zuerst fällt nur die Braut mit ihrem Verlobten ins Auge. Da wird einiges erkennbar vom Wesen der beiden und von ihrer Liebe zueinander. Doch je länger wir das Gemälde anschauen, desto durchsichtiger werden die beiden Menschen für uns, desto mehr erkennen wir auf dem Grunde ihrer Persönlichkeit ihr tiefes Leid, das aus ihrer Zugehörigkeit zum Volk Gottes herrührt.
Und auch den auferstandenen Christus aus der alten
Pinakothek möchte ich erwähnen. Man sieht die Gestalt des Christus, aber sein
Fleisch ist nicht mehr Fleisch – es ist zum Lichtleib geworden. Der junge
Rembrandt malte gerne menschliche Körper, äußere Sinnlichkeit, doch hier geht
es ihm um etwas anderes. Das Gesicht des Christus spricht nicht durch seinen
äußeren Ausdruck, sondern durch die innere Freude des Erlöstseins. Niemand ist
in die Welt des Auferstandenen so tief eingedrungen wie Rembrandt, niemand hat,
wie er, Bilder gemalt, die bis ins Innerste vordrangen, zum Erlöstsein, zur
geistigen Wahrheit. Man spürt hier gleichsam die Gewichtslosigkeit Christi,
seine Zeitlosigkeit, das Wesen des Lichtleibes.
Auch die Selbstbildnisse zeigen diesen Wandel in seinem
Schaffen. Kein Maler hat sich selbst so oft dargestellt wie Rembrandt. Die
frühen Porträts zeigen ihn meist als selbstbewussten Erfolgsmann. Zwar erkennt
man seinen scharfen, kritischen Blick, aber sein Auge bleibt am Äußeren hängen.
Der wertvolle Anzug, der Ausdruck: „Ich hab es geschafft“, sein weltlicher
Erfolg sind das Wichtigste. In den späteren Jahren
werden die Bilder inniger, aber auch erbarmungsloser im Hinblick auf die
Selbstdarstellung. Das Altwerden in all seiner Schwäche wird schonungslos
gezeigt, die verblasste Schönheit offenbar. Wir spüren, dass sein Auge immer
mehr ins Innerste geht, sich müht, bis zum Unsichtbaren vorzudringen. Hier
begegnen wir einem Mann, der auf jede Fassade verzichtet und gleichzeitig tief
in das Sein eindringt, das Wesen und die Wirkungen von Licht und Dunkel erkennt
und weit über materielle Dinge und menschliche Eitelkeiten hinaus einsetzt Hier
wird zutiefst deutlich, was es heißt, Christ zu sein: seine eigene Schwäche zuzugeben,
die Kräfte des Verfalls an sich selbst zu zeigen, den Balken aus dem eigenen
Auge zu ziehen.
Niemand kann diese Bilder ansehen, ohne dass der Gedanke
aufsteigt: So sieht auch deine Zukunft aus, so schwach, so hässlich wirst du
einmal sein, dieser Verfall des Körpers lässt sich nicht aufhalten, da hilft
auch die Raffinierteste Art von Kosmetik nicht. Doch zugleich tragen diese
Bilder einen Schimmer des Lichtes in sich. Der Glaube des Malers hat darin
seinen Niederschlag gefunden, der stille Friede und die Überzeugung: So wie ich
bin, werde ich von Gott angenommen, das Äußere meines Personseins zerfällt mit
der Zeit, aber das Innere wächst, entfaltet sich mehr und mehr zu Gott hin.
Diese Sicht der Dinge verstärkt sich bei Rembrandt zusehends. Die späten
Porträts sprechen von einer Welt der Erlösung, von einer Wirklichkeit jenseits
unserer sichtbaren Welt.
Rembrandt war ein gottbegnadetes Genie. Ob das auch uns
gewöhnlichen Sterblichen möglich ist den Verfall des Äußeren so klar zu
erkennen, ihn zu akzeptieren, den äußeren Menschen immer weniger wichtig zu
nehmen und uns nach dem Wachstum des inneren Menschen auszustrecken? Der
Lebenshunger vieler Jugendlicher lehnt das ab. Rembrandts Bilder offenbaren die
Wirklichkeit des Lebens. Die nutzlose Eitelkeit die falschen Hoffnungen, die
Vorstellung, dass das Leben ein Spaß sei – das alles wird durchsichtig. Und
daneben wird etwas vom inneren Leben, vom gegenwärtigen und zukünftigen
Erlöstsein in Christus sichtbar. Es ist schlimm, wenn die Selbstsucht das
letzte Wort hat wenn die Seele verhungert, wenn dem Verfall des Körpers kein
Ausgleich durch Geist und Glauben entgegengesetzt wird.
Auch ich möchte leben, aber ich meine, „leben“ bedeutet: „in
der Wahrheit sein“, „in der Liebe sein“, „im Licht des Glanzes Gottes zu sein“.
Leben kann ich nur durch das „wahre Leben“, durch Jesus Christus kennen lernen
und erfahren.
Wir wollen Gottes Schöpfung bewusst betrachten, seine Hand, sein Wesen, das Leben selbst wird hier offenbar. Die unendliche
Feinheit einer Blume oder eines Blattes können uns das lehren. Wer von uns
nimmt sich noch die Zeit und macht sich die Mühe, dem bewusst nachzuspüren? Was
ist Licht, was bedeutet der Raum, was der Duft der Blumen, die Stille des
Waldes, die Vielfalt des Wachstums auf einer Wiese, die Tiefe seiner Aussage.
Wir wollen sehen und hören, was unser Herr geschaffen hat. Der Vogel auf dem
Ast vor meinem Fenster und die Stimme in mir, die ihre Freude hinaussingen möchte über Erlösung und Überwindung des Dunkels – beides
spiegelt die Welt Gottes wider.
Sehen Sie die Menschen nicht so, wie sie gesehen werden
wollen: in ihrer äußeren Aufmachung, ihren Posen, ihrer Eitelkeit! Sehen Sie
vielmehr den inneren Menschen, der trotz aller Fassade bewusst oder unbewusst
eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung, nach Gott mit sich herumträgt! Sehen Sie
bis ins Innere des Menschen hinein, nicht nur bei anderen, sondern auch bei
sich selbst! Je tiefer sie sehen, desto tiefer können Sie auch empfinden. Dann
erkennen Sie den Raum Gottes, im Inneren der Dinge, im Inneren Ihres Ichs, im
Verloren- und Nacktsein unseres menschlichen Seins, in dem uns Christus
annehmen will.
Jeder Mensch sehnt sich nach Befreiung von sich selbst, von
Posen und Äußerlichkeiten. Und wir können einander zutiefst helfen, indem wir
uns nicht vom Glanz des Äußeren blenden lassen, sondern die Tiefe zu
durchdringen versuchen. Der Tiefe begegnen wir in Augenblicken, in denen wir
aufrichtig nachdenken, in denen wir stille werden, auf Gott und sein Wort
hören. Jesus Christus ruft einen jeden von uns, aber sein Ruf wird nur gehört,
wenn er bis ins Innerste dringt. Er ruft auch jetzt. Hören Sie auf sein Wort
und nehmen Sie es auf, wie Maria die Worte des Engels. Bewahren Sie seine
Worte, geben Sie ihnen Raum im Herzen. Dann wird das Äußere an Bedeutung verlieren
und der innere Mensch täglich wachsen durch Gottes Kraft.
Denn Gott versöhnte in Christus
die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter
uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an
Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi
Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!
Denn er hat den, der von keiner
Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit,
die vor Gott gilt.
2. Korinther 5, 19-21
Das Wort „Sünde“ klingt den Menschen heute unangenehm in den
Ohren. „Keiner von uns ist vollkommen“, so heißt es dann oft, aber wir
versuchen, so gut und verantwortungsbewusst zu leben wie möglich. Eine solche
Reaktion zeigt aber von vornherein, dass der Mensch Angst vor diesem Wort, vor
der Tatsache hat, die dahinter steht.
Der große christliche Dichter T. S. Eliot sagte einmal: „Der
Mensch kann wenig Wahrheit ertragen.“ Das gilt in besonderem Maß für die Art
und Weise, wie wir uns selbst sehen.
Sünde ist ein umfassender Begriff, er beschreibt den Zustand
des Menschen, nicht nur sein Tun. Entweder leben wir für den Herrn oder für uns
selbst, und wenn wir für uns selbst leben, dann führen wir ein Leben der Sünde
und des ewigen Todes. Wir befinden uns dann nicht in der Gegenwart des Herrn,
in seinem Herrschaftsbereich, auch wenn wir manchmal „Gutes“ tun, sondern wir
bejahen bewusst oder unbewusst die Herrschaft der Sünde, wir leben fern von
Gott.
Luther meinte, dass uns „einer immer reitet“ – entweder Gott
oder der Satan. Und Jesus sagte einmal: „Ihr könnt nicht zwei Herren dienen … wer
nicht für mich ist, der ist gegen mich.“
Wer von uns kann sagen, dass er wirklich bis in die Tiefen
seines Wesens hinein für den Herrn da ist? Ab und zu denken manche von uns
einmal an ihn, machen einen Versuch, mit ihm zu leben. Aber leben wir nicht
doch meistens für uns selbst und bestimmen unsere Welt, statt dass er sie
bestimmt? Gerade das ist Sünde. Diese Tatsache lässt sich einfach nicht
verharmlosen, denn aus solcher Entfremdung von Gott kommen böse Gedanken, böse
Worte und böse Taten.
„Ach“, mögen manche denken, „das ist übertrieben, wir sind
doch nicht böse, wir sind nur Alltagsmenschen.“ Aber waren nicht die Römer und
die Juden, die für die Kreuzigung verantwortlich waren, eigentlich auch nicht
böse, sondern „nur Alltagsmenschen“? Die Priester und Schriftgelehrten stellten
zu Recht fest, dass Jesus sich ständig an die Stelle Gottes setzte, mit
göttlicher Vollmacht zu reden beanspruchte und göttliche Zeichen tat. Und darum
sagten sie als „Alltagspriester“, dass er sterben müsse, weil er sich übers
Gesetz erhob, weil er Gott lästerte.
Sie hatten von ihrem Standpunkt aus recht, denn er hatte
sich auch deutlich über Mose gestellt: „Mose sagte euch … ich aber sage euch …“
Er hatte tatsächlich göttliche Rechte für sich beansprucht, aber die „Alltagspriester“
und „Alltagsschriftgelehrten“ wussten nicht, dass sie es auch tatsächlich mit
Gott zu tun hatten in diesem Jesus von Nazareth. Beinahe kann man Mitleid mit
ihnen haben, weil sie ihren eigenen Herrn, den König der Juden, nicht erkannten
und stattdessen die Gesetze und ihre eigenen Auslegungen dieser Gesetze
heiligten.
Gerade ihr Amt, ihr Festhalten am Gesetz, ließ sie blind
sein für den Geist Gottes in Christus. Sie sahen den Buchstaben und
verschlossen sich dem Geist. Sie fürchteten sich vor allem, was sie nicht
verstehen und kontrollieren konnten, vor dem, über das sie nicht verfügen
konnten. Und um dieses kleinlichen Denkens willen, um ihres allzumenschlichen
Benehmens willen wurden sie mitverantwortlich für die Kreuzigung ihres Herrn.
Ihr „Alltagsmenschsein“ ließ sie zu Mördern werden.
Und ebenso ging es Pilatus. Er hätte Jesus befreien können,
er allein konnte das letzte Wort sprechen, aber aus seiner „Alltagsangst“ vor
den Juden und aus seiner nichtalltäglichen Angst vor den Machtansprüchen Jesu
erhob er seine Hand nicht zum Einhaltgebieten. Jesus bedrohte seine Stellung,
wie er die Machtansprüche eines jeden von uns täglich in Frage stellt.
Pilatus aber wollte herrschen, als Machthaber im Lande
bleiben, und so geht es oft auch in unserem Alltag zu: wir wollen weiterhin
über unser Leben herrschen, und deshalb kreuzigen wir Jesus Tag für Tag. Wir
können nicht zwei Herren dienen – uns und Jesus Christus –, gerade weil es auf
beiden Seiten um einen absoluten und totalen Anspruch geht. „Ich will in
Freiheit entscheiden“, so heißt es dann, „als freier Mensch weiß ich, was
richtig und was falsch ist, als mündiger Mensch spreche ich das letzte Wort!“
Und damit entscheiden wir uns wie die Priester und wie
Pilatus gegen den Herrn. Es geht radikal um die Frage: Mein Wille, mein Weg,
meine so genannte Macht, oder sein Wille, sein Weg, seine Macht und Freiheit?
Der Mensch in der Sünde antwortet: Mein Wille, mein Weg, meine Macht sind
ausschlaggebend.
Darum brauchen wir nicht überrascht zu sein, dass
alltägliche Menschen, Menschen wie Sie und ich Kriegsverbrecher geworden sind,
Frauen und Kinder umgebracht haben. Und diese Möglichkeit ist durchaus nicht
nur auf das deutsche Volk beschränkt, solche Dinge können überall geschehen und
geschehen auch. Einem ganz alltäglichen Menschen wird befohlen, das Böse zu
tun, und dann tut er es, weil er an die Mächte dieser Welt glaubt, an die
Priester und Pilatusse dieser Welt – und nicht an den Herrn, an sein Wort, an
seine Wahrheit.
Manchen erschreckt es heute, dass sehr junge Menschen, oft
schon mit 12 oder 13 Jahren, in die Drogenszene geraten sind. Das Erlebnis des
Bösen ist auch bei diesen Kindern schon das gleiche wie bei Erwachsenen, sie
sind nicht weniger gefangen darin. Im Grunde sind sie noch Kinder, aber aus
Neugier, wegen des Gruppendrucks, weil es Mode ist, machen sie mit und sind
dann total verstrickt. Diese Kinder sind Menschen wie Sie und ich, nicht
besonders böse in sich.
So unheimlich ist die Sünde, so tief reicht ihre Kraft. Wir
können diese Mächte und Kräfte nicht verharmlosen. Wir Alltagsmenschen, Sie und
ich, können ebenso leicht zum Massenmörder werden, wir brauchen nur den Druck
von außen, nur die offizielle Erlaubnis, und schon begeben wir uns in eine
Abhängigkeit hinein, in eine totale Gefangenschaft. „Ihr könnt nicht zwei
Herren dienen …“ Jesus von Nazareth zeigte uns auf seinem Kreuzesweg, wie
erschreckend tief diese Macht der Sünde wirklich ist, und dann nahm er alles
auf sich für die, die ihn verfolgten und verspotteten, für die, die ihn
kreuzigten – für uns. Er starb, verachtet von der Welt, verachtet von den
Alltagsmenschen, verachtet von den Juden, die sich den großen Befreier vom
römischen Joch wünschten, ohne zu merken, dass der Gekreuzigte sie – uns – in
einer viel größeren Tiefe befreien wollte: von unseren Wunschträumen, von
unseren Plänen, von unserem Hass, von der Schuld und dem Tod.
Die Juden stehen hier symbolhaft für die ganze Welt: wir
wollen einen Jesus nach unseren Wünschen, gütig und liebevoll, der uns immer
gibt, was wir möchten. Wir wollen ihn für uns haben – er soll aber nicht über
uns bestimmen. Die Haltung der Juden damals zeigt den „Alltagsmenschen“
unverhüllt. Wir schreien nach einer Erlösung, wie wir sie uns vorstellen. Wir
glauben nur, wenn Wunder geschehen und wir Heilungen vor Augen sehen, und
halten an uns selbst, an unserem Volk, unserem Gesetz, unseren Wegen und
Traditionen fest und kreuzigen den, der uns von all dem befreien will, der
einen neuen Weg zeigt und bringt.
Inmitten dieser Schuld der Welt, inmitten ihrer
Verkehrtheit, ihrer Selbstsucht, ihrer Selbstgerechtigkeit, ihrem Spott und
Hohn hängt der Weltversöhner, der die Gemeinschaft der Sünder mit Gott
wiederherstellt.
Die Tiefe dieser Liebe, die Größe dieser Überwinderkraft
bleibt unbegreiflich. Wie konnte er angesichts des totalen Versagens, der
völligen Entblößung der menschlichen Natur rufen: „Vergib ihnen, denn sie
wissen nicht, was sie tun“ – wie konnte er gerade da schreien: „Es ist
vollbracht!“?
Damit versöhnte er solche Alltagsmenschen, solche
Verleugner, wie wir es sind.
Eine solche Liebe ist nicht zu verstehen. Sie hat nicht im
Geringsten etwas mit unserem Verdienst zu tun. Der Lohn für Gottesmord kann nur
in ewiger Verdammnis bestehen. Jesus aber antwortet mit neuem Leben, mit der
Durchbrechung des Gesetzes und des Todesfluches, mit dem Weg zu neuem und
ewigem Leben allein in ihm, durch ihn, im Glauben an ihn.
Diese Versöhnung reicht viel tiefer als unsere grenzenlose
Schuld. Wir schreien: „Kreuzigt ihn!“ Wir verspotten ihn: „Steig herunter vom
Kreuz!“ Unser Alltagsruf heißt: „Lass mich so leben, wie ich will! Gottes
Anspruch interessiert mich nicht! Kreuzigt ihn!“
Und dann verlangen wir: „Steig von deinem Kreuz herunter,
zeige deine Vollmacht für uns, wie wir sie sehen und haben wollen“, so dass
unsere verblendeten Augen, unser verblendeter Wille recht behalten, sich
durchsetzen können.
„Mein Wille geschehe!“, das ist der Ruf seines Volkes damals
gewesen, und das ist der Ruf der Welt heute. Und er antwortet mit dem Kreuz,
mit der Versöhnung, mit seinem Willen, der unser einziges Heil ist.
„Herr Jesus, wir sind nichts wert, nicht das Geringste haben
wir aufzuweisen. Warum hast du uns nicht verlassen, damals am Kreuz – ein für
allemal verlassen?
Aus einer Liebe heraus, die weit über alles menschliche Maß
hinausgeht, hast du damals dem grenzenlosen ,Nein’ der
Menschen ein umfassendes und endgültiges ,Ja’ entgegengesetzt, ein Ja zu allen
denen, die dein Kreuz annehmen und bejahen, zu denen, die die Tiefe ihrer
Schuld erkennen und dich als ihren Erlöser und Versöhner annehmen. Wir sind es
nicht wert, aber wir preisen deine Liebe.“
Wir ermahnen euch aber, liebe
Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die
Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses
mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und
gegen jedermann. Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in
allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch. Den
Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles, und
das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.
Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren
Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn
Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.
1. Thessalonicher 5, 14-24
Jede Aussage dieses Textes ist sicherlich eine Predigt wert.
Was mir aber zuerst ins Auge springt ist: „Seid allezeit fröhlich.“ Muss uns
das jemand sagen, dass wir allezeit fröhlich sein sollen? Christen sind
sicherlich nicht wie Politiker, besonders die der amerikanischen Art, welche
immer lächeln, als ob das Leben selbst nur ein großer Spaß sei. Fotografen –
ich denke hier vor allem an das Konfirmandenbild – wollen, dass wir immer
lächeln, dann sieht das Bild besser aus. Deswegen lassen wir das Bild nicht vor
der Konfirmation knipsen, wo jeder immer ernst dreinschaut, sondern nachher.
Was soll das bedeuten, „Seid allezeit fröhlich“? Schauen nicht die meisten
Menschen unter uns ernst drein, auch die Christen? Sind sie wirklich fröhlich?
Ich glaube, dass alle Aussagen unseres Textes Auslegungen, Schlussfolgerungen
sind des Satzes: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch.“
Fröhlich bedeutet hier nicht äußere Fröhlichkeit, immer lächeln, immer Spaß
haben. Viele lächeln ja aus Verlegenheit, manche, wie ich öfters bei Freunden
aus Asien merkte, als eine Art Maske, um ihren wirklichen geistigen und
seelischen Zustand zu verbergen.
„Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und
durch.“ Frieden bedeutet hier: Versöhnt mit dem Vater, dessen Zorn um des
Gesetzes, um der wahren Gerechtigkeit und Wahrheit willen, eigentlich auf jedem
von uns liegen müsste. Jesus hat uns ja in der Bergpredigt gezeigt, was der
Herr wirklich von uns haben will, nämlich Vollkommenheit: „Seid vollkommen, wie
euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Und zu dieser Vollkommenheit gehört ein
reines Herz – wer hat das, wer liebt immer seine Feinde – wer kann das, ohne Hass
und Begierde zu leben? Gottes Forderungen liegen auf uns, oder besser gesagt –
welches Glück! – auf Christus; denn er erfüllt das Gesetz, die ganze
Bergpredigt, fleischlich und geistlich. Er erfüllt sie für uns. Weil wir selbst
unfähig dazu sind, liegt Gottes Zorn auf uns, bis wir in Christus sind, in
seinem Frieden, versöhnt mit dem Vater.
Manche werden aber sagen: Nein, ich lebe, wie ich will, ich
kann auch glücklich, fröhlich sein ohne den Herrn. Äußerlich klingt das recht
überzeugend, aber, und dies Wort „aber“ mit seinen vier Buchstaben ist eines
der größten Wörter in der deutschen Sprache – ist das wirklich so? Können wir
fröhlich, wirklich fröhlich sein im Angesicht des Todes von Vater oder Mutter
oder des Ehegatten? Können wir fröhlich sein im tiefsten und schrecklichsten
Leiden? Können wir wirklich fröhlich sein, wenn uns vier oder fünf große, schwierige
Arbeiten in den nächsten Tagen bevorstehen? Unser Text sagt, dass wir allezeit
fröhlich sein sollen. Das bedeutet, dass
Fröhlichsein unser bestimmender Zustand sein soll. Noch genauer: Ist unsere
äußere Fröhlichkeit nicht eine Maske vor den anderen oder auch vor uns selbst,
etwa um uns abzuschirmen gegen nagende Fragen: Hat mein Leben wirklich einen
Sinn? Wozu lebe ich denn? Bin ich jetzt, wie ich bin, bereit zu sterben, wenn
ich abgerufen werde? Sind meine Lebensziele wirklich tragend? Glaube ich
vielleicht nur an mich selbst? Wenn es so wäre, wie kann ich alt und schwach
werden, Leiden und Tod entgegengehen? Viele von uns sind äußerlich fröhlich auf
Kosten ihrer Seele, denn wir leben, wenn möglich, an solchen Fragen vorbei. Wir
leben, ehrlich gesagt, ohne das Leben selbst zu verstehen, ohne es im wahrsten
und tiefsten Sinne zu bewältigen.
„Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und
durch.“ Hier wird gesagt, dass ich nur zu wahrer Versöhnung mit mir selbst, mit
dem Leben, mit dem Herrn komme, wenn ich den Gott des Friedens, nämlich Jesus
Christus, der Frieden und Versöhnung mit dem Vater für uns am Kreuz gewonnen
hat, als meinen Herrn und Heiland annehme. Das geschieht, indem ich meine
Person ihm ganz und gar übergebe: Freude und Leiden, Not und Verzweiflung,
Angst und Verlassenheit, das alles hat Jesus Christus am Kreuz für mich
getragen.
Ich wurde innerlich zutiefst berührt von einem Gespräch
nicht lange vor den Sommerferien. Ich sprach mit einer Frau, welche die Hölle
der Schmerzen so erlebt hatte, dass sie mir sagte: „So umfassend waren diese
Schmerzen, dass ich an gar nichts anderes denken konnte, auch nicht an Jesus.“
Aber dann strahlte sie, als sie sagte: „Aber trotzdem wusste ich auch in diesen
Schmerzen: Er trägt mich, er führt mich, er steht zu mir.“ „Er aber, der Gott
des Friedens, heilige euch durch und durch.“ Heilig bedeutet in der Bibel, das
was zu dem Herrn gehört. Die ganze Person dieser Frau war erfüllt von Leiden,
Schmerzen und Not, aber trotzdem wusste sie: „Ich steh’ in meines Herren Hand.“
„Fröhlich sein“ bedeutet, dass Jesus Christus mein Herr und
Heiland ist, dass sein Friede, seine Versöhnung mit dem Vater mir zugute
kommen, dass ich Tag um Tag zutiefst wissen darf: Er, Jesus Christus, der
allmächtige Herr, steht zu mir, er führt mich, er hebt mich auf, wenn ich
gefallen bin, auf ihn kann ich mich verlassen und ihm vertrauen. Dieses
Fröhlichsein, dieses Geheiligtsein durch und durch bedeutet nicht, was ich tue,
sondern, was er für mich getan hat, sein Kreuzeswerk der Liebe, des Friedens
und der Barmherzigkeit. Allezeit fröhlich sein heißt nicht, dass ich mich
anstrengen muss, um wahres Glück zu erlangen, sondern er hat sich angestrengt,
hat Leib, Geist und Seele für mich hingegeben, damit mir zugute kommt: Frieden
mit dem Vater und damit ewiges Leben zugleich zu haben. Er, Jesus Christus,
herrscht auch über die Zeit, über „alle Zeit“, und deswegen ist dieser
Glaubenszustand, das Geheiligtwerden durch und durch, zeitlos geworden, denn
der Herr ist Anfänger und Vollender der Zeit, auch meiner Zeit.
Es kommt nicht darauf an, dass ich als Christ mich äußerlich
glücklich geben kann oder muss, auch nicht, dass ich als gefallener Mensch
immer diese Fröhlichkeit spüre. Sondern das ist entscheidend, ob und dass Jesus
Christus Herr meines Lebens ist, Tag um darf ich, trotz jeder Anfechtung, trotz
jeder Not, trotz jeden Versagens wissen: Er wartet auf mich, auf meine Rückkehr
zu ihm, und zwar mit offenen Armen, und er nimmt mich sogar mit Ehren an, denn:
„Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, wenn mir
gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, allezeit meines
Herzens Trost und mein Teil.“ Manche Christen, sicherlich viele unter uns,
beneiden manchmal die Gottlosen um ihr äußeres Glück. Wir sehen, wie sie sich
austoben, wie sie anscheinend gar nichts bekümmert – so dass viele von uns
denken: Oh, ich würde gern so fröhlich sein. Was wir aber nicht merken, ist,
was hinter der feinen Fassade des äußeren Glückes dieser Personen geschieht.
Wie viele Leiden müssen auch sie ertragen, in Krankheit, in der Familie, im
Altwerden, im Schwachwerden. Und ihr Versuch, diese Wirklichkeit des Lebens zu
überdecken, ist zugleich ein Versuch, die Wahrheit nicht zu sehen, wie sie
wirklich ist. Ihre Fröhlichkeit ist Selbstbetrug. Sie wollen nicht sehen, wie
es wirklich um sie steht. Sie geben sich froh und glücklich, aber in ihrem
Herzen sieht es ganz anders aus. Wir Christen leiden auch, aber in dieser Not
können wir ehrlich mit uns selbst umgehen, ihr und allem Elend ins Gesicht
schauen, denn wir wissen, unser Heiland Jesus Christus ist unser Leidenskönig.
Er litt für uns an Leib, Geist und Seele und starb sogar für uns. Im Leiden und
in der Verlassenheit können wir auf ihn vertrauen, wo die weltlich Fröhlichen keinen
wahren Halt haben. Deswegen ist auch unsere Freude, unsere Fröhlichkeit echt.
Wir leiden zwar an uns selbst, an unseren Grenzen und Schwächen, aber wir
wissen, Christus nimmt diese ganze Not von uns, spricht uns frei, und schafft
uns damit Frieden und Versöhnung mit dem Vater. Und wir werden allezeit
fröhlich sein mit ihm, in seinem Reich, welches ein Reich der Erlösung, der
vollkommenen Freude ist.
Sonst hätte er oft müssen
leiden von Anfang der Welt her. Nun aber, am Ende der Zeiten, ist er einmal
erschienen, durch sein eigen Opfer die Sünde
aufzuheben. Und wie den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber
das Gericht: So ist Christus einmal geopfert, wegzunehmen vieler Sünden; zum
andern Mal wird er nicht um der Sünde willen erscheinen, sondern denen, die auf
ihn warten, zum Heil.
Hebräer 9, 26 b-28
Warum brauchen wir einen solchen Herrn? Einen Herrn, welcher
gekreuzigt wird, langsam zu Tode gequält, einen Herrn, welcher anscheinend
hilflos und machtlos starb? Warum brauchen wir solch einen Herrn?
Die Juden haben diese Frage im Allgemeinen so beantwortet:
Er kann nicht der Herr sein, weg mit ihm, kreuzigt ihn, lasst ihn verflucht
sein, wie es im heiligen Gesetz steht: „Verflucht ist der, der am Holze hängt.“
Für die damaligen Juden war Jesus wie für uns Christen heute mehr als eine
Herausforderung. Ihre Priester waren erstaunt und entsetzt, als Jesus das
Gesetz zutiefst in Frage stellte und mit diesem Gesetz umging, als ob es ihn
nicht wirklich angehe – Gottes heilige, unverbrüchliche Ordnung mit der Welt.
Jesus hebt mit einem Satz das ganze Reinheitsgesetz auf „Ihr seid nicht
verunreinigt durch das, was ihr esst, sondern durch das Dunkel in euren Herzen.“
Der ganz tiefe Sinn dieses Reinheitsgesetzes für Israel war jedoch, dass sie
abgesondert sein sollten von der Welt. Sie sollten würdig sein, dieser
verunreinigten Welt das Heil zu bringen, ihren Messias. Und jetzt redete Jesus,
der Jude Jesus, als ob Juden gar nichts besonderes, sondern beide, Juden und
Heiden unrein, zutiefst unrein im Innersten, im Herzen wären.
Und der Sabbat, der Tag der Gottesruhe! Dieser Jesus ging
mit diesem Gesetz souverän um, fast als ob es allein für ihn da wäre, für ihn
auszulegen und sogar zu durchbrechen. Hat er nicht seinen Jüngern erlaubt, von
den Gewächsen der Felder am Sabbat zu essen, in Gottes Ordnung, in seine Ruhe
einzubrechen, und hat er nicht auch am Sabbat geheilt? Was wäre der Alte Bund
ohne den Sabbat, ohne Gottes Ruhe, ohne seine damit verbundene große Erwartung
auf die messianische Erfüllung von Gottes Frieden, sein Schalom. Und hier kam
ein Jude, dieser Jesus, und ging mit Gottes Gesetz um wie mit einer
unbegrenzten Freiheit. Hat er nicht auch Menschen freigesprochen von ihren
Sünden, ohne Gott die Ehre zu geben? Das war Gotteslästerung! Unmöglich –
kreuzigt ihn! Die Empörung der Juden gegen Jesus erreichte ihren Gipfel, als er
gekreuzigt war. Jetzt sehen wir, wie es wirklich mit ihm steht. Gottes heiliges
Gesetz verflucht ihn, und sein Volk verhöhnt ihn: „Steig von deinem Kreuz
hernieder, wenn du Gottes Sohn bist. Wenn du unser König bist, warum hast du
uns nicht befreit? Du bist ein Verfluchter, ein Verlorener, das Gesetz hat das
letzte Wort über dich ausgesprochen.“
Und es war auch gang und gäbe im christlichen Abendland, das
Verbrechen, ihn, unseren Herrn und Heiland, umgebracht zu haben, den Juden
zuzuschieben. Sie haben ihn
gekreuzigt, sie sind seiner nicht
wert. – Und wir?
Öfters werde ich gefragt: „Sind die Juden nicht verflucht?
Sie haben doch Jesus umgebracht.“ Ich antworte im Sinne von Karfreitag: „Nur
wer Jesus umgebracht hat, kann von ihm gerettet werden.“ Hat Jesus nicht
ständig gesagt, er sei nur zu den Verlorenen, den Sündern, den Ausgestoßenen
gekommen, zu denen, welche wirklich einen Arzt brauchen, nicht zu den
Gerechten, den Selbstgerechten. Wenn nur die Juden verantwortlich sind für Jesu
Tod, dann können nur sie von ihm gerettet werden, denn das Kreuz setzt tiefste
Schuld von uns voraus, auch von uns Christen.
Wollen wir wirklich einen Mittler des Neuen Bundes? Wollen
wir bewusst als Sündige dieses Erbe Mitantreten, dieses Leidenserbe und die
tiefste Schuld als Gottesmörder, welche wir den Juden zugeschoben haben für
Jahrhunderte und Jahrtausende, oder wollen wir wie die damaligen Juden unser
Reinheitsgesetz, unsere Art von Sabbatruhe, unsere Art uns freizusprechen,
freigesprochen zu werden von Sünden? Wir als Neuer Bund sind im tiefsten Sinne
Miterben dieses Versagens Gott gegenüber, Christus gegenüber, weil wir Jesus
täglich weiterhin kreuzigen, genau in der
gleichen Art und Weise wie die damaligen Juden. Wollen wir nicht auch
unsere Ruhe? Gerade unsere Sonntagsruhe? Das bedeutet für die meisten lange schlafen, Ausflüge machen, Sport treiben… „Lasst mich in
Ruhe – ich will meine Ruhe haben.“ Wir arbeiten die ganze Woche, damit wir in
unserem Sinne am Sonntag zur Ruhe kommen. Die damaligen Juden haben zumindest
am Sabbat ihren Schöpfer geehrt, ihn in den Mittelpunkt gestellt. „Jeden
Sonntag in die Kirche gehen, das ist mir zu viel, ich bin auch ein guter Christ,
aber ich brauche meine Ruhe.“ Bekommen wir wahre Ruhe, Frieden, Schalom durch
unsere Entspannungskünste, oder bleiben wir dem Herrn etwas schuldig, dem
Gekreuzigten, weil wir seinen Tag in seinem Sinne nicht mehr beachten? Nein,
wir wollen diesen Gekreuzigten auch nicht sehen, vorne über dem Altar, wir
kehren ihm unseren Rücken, wir gehen in den Wald oder sonst wohin. So haben
auch seine Jünger, außer Johannes, dem Gekreuzigten ihren Rücken gezeigt.
Wir wollen unsere
Reinheit, wie sie uns gefällt. Durch unsere Putzwut haben wir saubere Autos,
schöne, glänzende Wohnungen, das ist unsere sichtbare
Reinheit. Öfters baden, schwimmen gehen. Ein Seitensprung, was ist das schon?
Viele machen es. Und Pornohefte, „Frei-ab-18-Filme“ und so. Die damaligen Juden
haben mindestens versucht, die Reinheit zu erhalten, nicht nur im äußeren
Sinne. Aber es gelang ihnen nicht wegen ihrer schmutzigen Gedanken. Wir fehlen noch viel tiefer in der Tat
selbst, in Ehebruch, Diebstahl. Beide waren im damaligen Israel fast
Fremdkörper, so selten wie Ufos heutzutage. Aber suchen wir in unserem Schmutz
wirklich die Reinheit bei und in Christus, welcher zu uns sagt: „Kommet her zu
mir, ihr Mühseligen und Beladenen“, oder machen wir weiter mit unserer Putzwut,
unseren sauberen Autos und dergleichen, mit unserer
Reinheit. Aber seine Reinheit lehnen
wir genauso ab wie die damaligen Juden. Wir leben so gut und ordentlich wie wir
können, wenn die Welt nur so wäre wie wir…
Warum brauchen wir überhaupt jemand, der uns von unserer
Schuld freispricht? Wir sind doch gute Bürger, nicht wahr? Wir versuchen, es so
gut wie möglich zu machen, wir leben anständig, und damit sprechen wir uns selbst frei von unseren Sünden. Dieses
Lied der eigenen Unschuld, dieser pharisäische Gesang zeigt uns, wie viel schlimmer
es mit uns wirklich steht als mit den damaligen Juden. Jene Juden haben ihr
Pharisäertum, ihr „Gott sei Dank, ich bin so und nicht wie dieser Zöllner“
durch ihren Glauben bestimmen lassen, aus dem, was sie für Gottes Gnade
gehalten haben, durch ihr Gesetzeswerk. Unser Gesetzeswerk hat gar nichts mehr
mit dem Herrn zu tun, oder sehr wenig, sondern mit unserer Gerechtigkeit. Wir
sind in Ordnung, weil wir richtig leben oder mindestens versuchen, es zu tun.
Sind wir dann wirklich besser als die damaligen Juden, oder kreuzigen wir nicht
täglich unseren Christus mit unserem „Ihn-nicht-Beachten“? Dafür beachten wir
uns umso mehr.
Der gekreuzigte Christus ist unser gekreuzigter Christus, wir
haben ihn ans Kreuz genagelt, weil er eine wahre Ruhe bietet und unsere
selbstgemachte Ruhe in Frage stellt, unsere sonntäglichen Selbstentspannungen;
weil seine Reinheit, seine Vollkommenheit unerträglich ist für uns
selbstgerechte und innerlich verschmutzte moderne Menschen. Der gekreuzigte
Christus ist unser gekreuzigter Christus, weil wir uns immer selbst
freisprechen von unserer Schuld. – Machen es nicht andere genauso, und
versuchen wir nicht, das Gute zu tun? Er passt nicht zu unserer
Selbstgerechtigkeit, darum kreuzigt ihn, verlasst ihn da über dem Altar, kehrt
ihm den Rücken. Er ist nicht, wie wir ihn haben wollen. Warum macht er die Welt
nicht besser, warum hängt er nur einsam, verlassen, anscheinend machtlos am
Kreuz. Lasst ihn, wir gehen unsere Wege…
Wer das alles sieht und weiß: ich bin unrein in Worten,
Gedanken und Taten, ich lebe nach meinem selbstgemachten Gesetz ein gottfernes
Leben in gesetzlicher Routine, ich suche Ruhe und lebe in Angst und Unruhe, ich
will Gott haben, wie ich ihn haben
will; wer das alles sieht und weiß, der nehme dieses Kreuz auf sich und folge
ihm, dem Heiland nach. Bei ihm ist viel Vergebung, wenn wir wissen, wie es um
uns wirklich steht und ihn um Vergebung und Führung bitten. Wer das alles weiß,
verbeuge sich unter seinem Kreuz, unter seiner Schmach, denn das ist unsere
Schmach, die Last unserer Schuld, die er täglich für und mit uns trägt. Wer das
alles sieht und weiß, der darf im tiefsten getröstet sein, denn Christus ist
für ihn auf die Erde gekommen, ließ sich für ihn kreuzigen, für die Sünder, für
die, welche zutiefst wissen, wie sie täglich gegen ihn leben.
„Herr Jesus Christus, du unser Opferlamm, nimm uns an, denn
wir sind Verlorene, denn wir sind
verantwortlich für dein Kreuz, wir sind hilflos, total arm und schwach ohne
dich. Nimm uns an in deiner erlösenden Armut und Schwachheit am Kreuz, nimm uns
an, wie wir wirklich sind, ohne Verdienst und ohne Wert in uns. Wir lohen dich,
wir preisen deine unendlich große Geduld und Barmherzigkeit.“
Es ist aber der Glaube eine
gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man
nicht sieht.
In solchem Glauben haben die
Alten Zeugnis empfangen. Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch
Gottes Wort gemacht ist, so dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.
Hebräer
11, 1-3
Durch den Glauben ward gehorsam
Abraham, als er berufen ward, auszugehen in ein Land, das er erben sollte, und
er ging aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Gast
gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit
Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung, denn er wartete auf die
Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.
Hebräer 11, 8-10
Es geht um die unsichtbare Wirklichkeit Gottes, wie wir sie
im Glaubensgehorsam erfahren.
Wenn wir heute mit Menschen über unseren christlichen
Glauben sprechen, hört man vielfach die Frage, wie man wohl an etwas glauben
kann, dessen man nicht sicher sein kann. Es ist unmöglich, Gott zu sehen, zu
hören. Wie sollte man hundertprozentig wissen, dass es ihn gibt?
Wir wollen diese Frage einmal umgekehrt stellen: Gibt es in
dieser Welt nur die Dinge, die man sehen, hören oder berühren kann? Ist damit
alles erklärt, was uns in dieser Welt begegnet? Und wenn es wirklich nur das
gäbe, was sich physisch wahrnehmen lässt, könnte diese Welt dann einen Sinn
haben?
Beginnen wir beim Menschen. Keiner bezweifelt, dass es
Menschen gibt. Wir können sie sehen, hören, betasten. Aber ist der Mensch nur
ein körperliches Wesen, das man physisch wahrnehmen kann? Was ist dann mit der
Welt unserer Gefühle, mit unserem geistigen Dasein? Unsere Gefühle sind nicht
zu sehen, zu hören oder betastbar, aber sie sind da. Wir erkennen es, wenn wir
lieben oder hassen, wenn wir Angst haben oder Freude erleben.
Ein menschliches Dasein ohne Gefühle wäre unmenschlich und
sinnlos. Was wäre ein Leben ohne Liebe und Leiden, ohne Freude und Aufregung?
Unser Leben gewinnt seinen Tiefgang aus diesem Bereich. Wer ohne Gefühle lebt,
ist im wahrsten Sinne leblos.
Doch nicht nur unsere Gefühle sind unsichtbar und doch
vorhanden, wahrzunehmen, sondern auch unsere geistige Welt ist nicht zu
übersehen. Was wären wir ohne unsere Gedanken und Träume, ohne Kunst und Musik,
ohne Literatur und Philosophie? Wir wären arm, sehr arm.
Wir können ein Bild zwar mit unseren Augen betrachten, aber
der Maler selbst schafft es aus dem Nichts, aus seiner Vorstellungswelt heraus
bringt er es auf die leere Leinwand. Und wenn wir die Werke großer Künstler
richtig betrachten, dann sehen wir nicht nur Farbe und Form, Linie und Fläche,
sondern wir erleben auch etwas von dem innewohnenden Geist, der das Bild
lebendig macht und beseelt. Man kann ihn nicht sehen, hören, betasten, aber man
spürt seine Wirkung.
Ähnlich ist es mit der Musik. Wir hören sie, aber wenn wir
bedeutende musikalische Werke im tiefsten Sinne erleben, dann begegnet uns noch
mehr, eine Welt von Gefühlen tut sich da auf, Zeit und Raum gewinnen andere
Dimensionen – und das alles kommt aus dem Nichts, aus der Stille.
Von Haydn sagte man, dass seine Pausen noch stärker wirkten
als seine Musik. Diese Pausen sind voller Spannung, in dieser Stille, diesem
Nichts öffnet sich unsere Seele ins Innerste hinein, spürt man die Nähe Gottes.
Und so geht es auch mit der Dichtung und der Vermittlung
hoher geistiger Werte. Das geschriebene Wort ist zwar zu sehen, zu lesen, aber
die Inspiration der Dichter, die Gedanken der Philosophen sind aus dem Nichts
entstanden, und ihr tiefer Gehalt ist nur durch ein inneres, feines Nachspüren,
durch ein Gemisch aus Verstand und Einfühlungsvermögen wahrzunehmen.
Um es in einem einfachen Bild noch einmal darzustellen: Das
sinnlich Wahrnehmbare spricht nur einen kleinen Teil unserer Person an. Wenn
wir mit einer Gruppe auf einen Berg steigen, um einen Sonnenuntergang zu betrachten,
sehen wir zwar alle das Naturereignis, aber von zehn verschiedenen Personen
würden es kaum zwei auf die gleiche Art sehen und, wenn sie es malen sollten,
wohl sehr verschieden darstellen. Und vielleicht würden wir vor allem die
Müdigkeit vom Weg den Berg hinauf, das Herzklopfen und die Abkühlung empfinden.
Aber das alles wäre ja doch nur ein sehr geringer Teil von dem, was wir
wirklich erleben.
Vielleicht freut sich einer besonders an der Größe des
Sonnenballs, der andere mehr an den goldrot gefärbten Wolken, ein dritter an
den Perspektiven, die sich vom Berggipfel aus ergeben, ein vierter lässt seine
Gefühle in all das hineinspielen und empfindet sie durch die Farbakzente
intensiver.
Auch das Sichtbare lässt sich nicht immer so einfach
beschreiben. Jeder sieht mit anderen Augen, die Wahrheit ist auch hier
subjektiv geprägt, nicht allgemeingültig. Der gleiche Sonnenuntergang auf dem
gleichen Berg zur gleichen Zeit bedeutet doch für jeden von uns etwas
Verschiedenes.
Unsere Gedanken und Gefühle, unsere Müdigkeit und unsere
Stimmungen färben auch ein solches Erlebnis, so dass es nur persönlich gewertet
werden kann. Das heißt, dass wir die Wahrheit einer Sache noch nicht erfassen,
wenn wir sie sehen, hören oder betasten können, weil diese Art der Wahrnehmung
eine subjektive ist. Unsere Erlebnisse sind immer mehr als, was die physische
Wahrnehmung umfasst, unsere Gedanken spielen eine weitreichende Rolle dabei.
Darum kann Sehen, Hören und Betasten kein Maßstab für die
Wirklichkeit einer Erfahrung sein, ihre volle Bedeutung bekommt diese erst im
Bereich der Gefühle und des Geistes. Ein solches Erlebnis wie das des
Sonnenuntergangs wird bei zehn Menschen in physischer und geistiger Hinsicht
auch zehnfach verschieden sein.
Damit steht die Frage im Raum: Woher nehmen wir dann den
Maßstab für die Wirklichkeit? Die meisten Menschen antworten darauf, ohne viel
darüber nachzudenken: Was ich sehe,
was ich höre, was ich fühle, was ich denke, was ich
begreifen kann, das ist die Wahrheit.
Wir machen uns unbewusst meist zum Maßstab aller Dinge.
Dieser Standpunkt ist aber unhaltbar, einmal weil wir nicht allein in dieser
Welt leben, und, was noch viel bedeutungsvoller ist, weil wir über unsere
Gefühle, selbst über unsere tiefsten Gedanken gar nicht wirklich Herr sind. Liebe
und Hass „kommen über uns“.
Die Welt unserer Empfindungen bringt immer wieder
Überraschungen mit sich. Die größten Dichter und Denker, selbst
Naturwissenschaftler wie Einstein, haben von Inspiration geredet. Plötzlich entsteht
ein Einfall. Aus dem Nichts tauchen Gedanken, Gedichte, Musik auf.
Daran wird offenbar, dass wir über unsere Gefühle nicht
allein bestimmen können, oft nicht einmal ganz und gar über unsere Gedanken.
Wie können wir dann Maßstab für die Wirklichkeit sein? Und
außerdem sind wir alle sterblich. All unser Erleben hört mit dem Tode auf. Wie
kann es dann Maßstab für die Wahrheit sein?
Alles, was ist, alles, was war, und alles was sein wird
besitzt einen inneren Zusammenhang. Wir kennen nicht alle Gesetze, die hinter
der Schöpfung stehen, und wir wissen nicht um die tiefsten geschichtlichen
Zugehörigkeiten, aber wir empfinden von uns selbst, dass wir eine
Persönlichkeit sind, auch wenn wir uns ständig ändern, und dass die
Weltgeschichte ein Prozess, ein Fortgang ist, auch wenn sie öfters rätselhaft
für uns bleibt, und wir spüren, dass die ganze Schöpfung eine Einheit ist, dass
Blumen und Bäume, Tiere und Menschen irgendwie zueinander gehören. Dieses
Wissen, das tief in uns steckt, ist eine Gotteserkenntnis. Es wird uns dabei
klar, dass hinter allem, was wir sehen, hören und betasten, einer steht, der
Sehen, Hören, Tasten erst ermöglicht hat.
Und wir wissen, dass uns die Liebe, die doch so
lebensnotwenig ist, als Geschenk gegeben worden ist, dass sie menschlich nicht
machbar und auch nicht erklärbar ist. Wir wissen auch, dass wir in Leben und
Geschichte hineingenommen sind, dass sie sich aber nach ihren eigenen Wegen und
unsichtbaren Gesetzen vollziehen.
Es gibt nur eine einleuchtende Erklärung für die Einheit der
Schöpfung, für den Fortgang der Geschichte, für das Geheimnis unserer eigenen
Person: dass nämlich einer diese Welt und was auf ihr lebt und webt, geschaffen
hat, dass einer den Menschen innerhalb einer Geschichte erschaffen hat, die er,
der Schöpfer selbst mitbestimmte, dass einer uns, trotz allen Wandels in uns,
als Persönlichkeit erschaffen hat, dass einer die Liebe möglich gemacht hat, dass
unser Leben einen wahren und tiefen Sinn haben kann, dass wir nicht nur Augen,
Ohren und Finger haben, sondern auch die Möglichkeit zu fühlen und zu denken, dass
wir aus dem Nichts, aus dem er die Welt erschuf, die tiefsten menschlichen
Erlebnisse haben dürfen.
Ohne unseren Herrn, ohne sein Schöpferwort wäre das alles
nicht möglich, wäre die ganze Welt, die Geschichte, die Liebe, die innere
Wahrheit nicht zu erklären, nicht zu verstehen. Ohne ihn existiert nichts, und
aus dem Nichts hat er alles durch sein Wort geschaffen, nach seinem
unsichtbaren und nur zum kleinsten Teil von uns enträtselten Gesetz gemacht.
Die eigentliche Aussage unseres Textes besteht nun nicht in
der Feststellung, dass unser Sehen, Hören, Tasten die Wahrheit nicht umfassen
kann, weil es zu wenig ist, zu persönlich ist, um allgemeingültig oder auch nur
für uns selbst Maßstab zu sein, sondern die eigentliche Aussage geht dahin, dass
die Wirklichkeit außerhalb des von uns Gesehenen, Gehörten, Betasteten bestehen
muss, weil dieses ja alles vergänglich und sterblich ist und nur der
Schöpferherr und Erlöser Jesus Christus, den wir nicht sehen können,
unsterblich ist und mit ihm seine Liebe, seine Wahrheit, sein Wort, das uns
durch Liebe und Wahrheit zu ihm ruft, zum Leben ruft, das uns von Selbstsucht,
vom Glauben an uns selbst, von der Bestimmung über uns selbst befreit und
heilt.
Die großen Glaubenden sind alle einen gemeinsamen Weg
gegangen – Abel und Noah, Abraham, Mose und David, Jeremia, Hiob, Petrus,
Paulus und Johannes. Jeder, der vom Herrn berufen wird, weiß: „Ich bin nicht
genug, ich kann die Welt nicht verändern und erlösen, ich kann das Böse nicht
überwinden, ich kann die Liebe nicht in die Welt bringen, ich kann meinem Leben
keinen wahren Sinn geben. Darum sollst du, Herr, meinen Weg bestimmen.“
Abraham wurde aus seiner Sippe gerufen, um dem Herrn in ein
Land zu folgen, dass er gar nicht kannte, dass ihm auch nicht genannt wurde. Er
musste folgen, viel aufgeben: Land, Sippe, Tradition der Familie. Er gehorchte,
weil er wusste, dass dieser Herr, der ihn rief, der Herr seines Lebens war, in
dem allein der wahre Sinn seines Lebens zu finden war.
Noah machte sich lächerlich, als er in einer Zeit großer
Trockenheit eine Arche baute. Die Wasserlosigkeit ringsum war für jeden
erkennbar.
Aber Noah hatte viel tiefer gesehen, er hatte im Nichts des
Herrn Wahrheit geschaut, und er gehorchte.
David erlebte an seinem eigenen Leib, dass Selbstermächtigung
in den geistigen Tod führte, in Ehebruch und Mord. Und bei aller weltlichen
Macht, die er besaß, bereute er nun seine Sünde und suchte den Herrn, um den
Weg ins wahre Leben zurückzufinden. Den Anlass dazu hatte eine Weisung aus dem
Unsichtbaren gegeben, ein Traum seines Propheten Nathan.
Johannes hat mehr als alle anderen Jünger die Kraft der
Liebe, die in Jesus Christus ist, zutiefst erlebt. Diese unsichtbare Kraft ist
viel tiefer, viel wirklicher als alles, was wir sehen, hören und betasten
können. Aus dieser Liebe heraus stand Johannes am Kreuz, als der vom Gesetz
verfluchte Jesus seine unsichtbare Erhöhung erlebte.
Wo gibt es unter uns einen Abraham, einen Noah, einen David,
einen Johannes? Wer ist sich bis in die Tiefe seines Seins dessen bewusst: Ich
bin ein dem Tode Geweihter; alles, was ich sehe, höre, betasten kann, ist dem
Sterben geweiht. Aber wie Hiob weiß ich, dass mein Erlöser lebt, ich weiß, dass
er die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, dass er für mich durch den Tod
gegangen ist, wegen meiner Schuld, wegen meinem Glauben an mich selbst, wegen
meiner Selbstbestimmung über mein Leben.
Wer das erkannt hat, der stellt sich auf die Seite des
unsichtbaren Herrn, den er zwar nicht sehen kann, der aber doch wirklicher ist
als seine eigene Person.
Liebende wissen um die unendliche Kraft der Liebe, Glaubende
wissen um die unendliche Kraft des Glaubens, Hoffende wissen um die unendlich
große Kraft der Hoffnung. Und sie wissen gleichzeitig, dass Liebe, Glaube und
Hoffnung unsichtbar und im Geheimnis Christi begründet sind. Sie sind
wirklicher als die ganze äußere Welt, wirklicher als alles Sehen, Hören und
Betasten.
Gelobt seiest du, Herr Jesus Christus, in Zeit und Ewigkeit,
unser Schöpfer, unser Erlöser und unser Vollender.“