Die verlorenen zehn Stämme und das ganze Israel
In der Ausgabe Nummer 4 Mai/Juni 1998 von Philadelphia, Kreuz und Reich schrieb D. Zimmer über die zukünftige Herrlichkeit Zions und sprach u. a. davon, dass nach Römer 11, 25-26 „ganz Israel gerettet werden“ wird. Zur Frage, wer dieses ganze Israel und wie die Stelle zu verstehen ist, erhielt er eine Anfrage aus D-02747 Strahwalde. Da diese Frage auch für einen größeren Leserkreis interessant sein dürfte, wollen wir die Antwort unseren Lesern zugänglich machen:
Werter Bruder P.! Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Zuschrift vom 28. Juni 1998. Gleich zu Beginn zitieren Sie aus meiner Darlegung: „Dieser Zustand dauert nur so lang, ‚bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist’ (Römer 11, 25). Und dann, wenn dies geschehen ist, ‚wird ganz Israel (das bedeutet aber nach dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift: der ganze Überrest!) gerettet’ (Römer 11, 26) und wieder in die Segenslinie gestellt werden.“
Ich hatte die Bibelstellen nach der revidierten Lutherbibel von 1984 zitiert. Sie haben natürlich Recht: Ganz wörtlich ist die 84er Lutherbibel an dieser Stelle nicht. Die Revisoren haben versucht, den Sinn so wiederzugeben, dass er von dem heutigen Leser möglichst genau erfasst wird. Wörtlicher ist da natürlich die Formulierung der revidierten Elberfelder Bibel: „Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Vollzahl der Nationen hineingekommen sein wird.“ Was dieses „Hineingekommen sein wird“ bedeutet, bleibt bei der wörtlichen Übersetzung dann wage. Ziehen wir verschiedene Bibelübersetzungen zu Rate, dann stellen wir fest, welche Möglichkeiten exegetisch vertreten werden, z. B.:
Menge
„Verstockung ist über einen Teil der Israeliten gekommen bis zu der Zeit, da die Vollzahl der Heiden (in die Gemeinde Gottes) eingegangen sein wird.“
Albrecht
„Verstockung ist über einen Teil von Israel gekommen, und die wird so lange währen, bis der Heiden Vollzahl (in die Kirche) eingegangen ist.“
Hoffnung für alle
„Ein Teil des jüdischen Volkes ist zwar blind für die Botschaft von Jesus Christus. Aber das wird nur so lange dauern, bis alle Heiden, die Gott dafür ausersehen hat, den Weg zu Christus gefunden haben.“
New Century Version
„Part of Israel has been made stubborn, but that will change when many who are not Jews have come to God (Ein Teil Israels wurde verstockt, aber das wird sich ändern, wenn viele, die keine Juden sind, zu Gott gekommen sind).“
Gemäß diesen Bibelausgaben bedeutet „eingehen“ so viel wie: „zum Heil gelangen“ (Luther 84), „in die Gemeinde Gottes eingehen“ (Menge), „in die Kirche eingehen“ (Albrecht), „den Weg zu Christus finden“ (Hoffnung für alle), „zu Gott kommen“ (New Century Version). An diesen Übersetzungen sehen wir, dass die meisten Ausleger der Meinung sind, dass die Vollzahl der Heiden erst den Weg zu Christus bzw. zu Gott und damit in die Gemeinde des Herrn gefunden haben muss, ehe Israel gerettet wird.
Sie aber meinen, dass vom Textzusammenhang her und da besonders im Licht von Vers 24 das Hineinkommen in den „edlen Ölbaum“ gemeint ist. Auch diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Letztendlich bedeuten alle diese Möglichkeiten meines Erachtens schlicht und einfach, dass Menschen das Heil erlangen, und das sollte uns Gott gegenüber froh und dankbar machen. Wer das Heil durch eine persönliche Bekehrung und Wiedergeburt erlangt hat, wird im selben Augenblick auch Glied der weltweiten Gemeinde Jesu Christi. Er wird nach 1. Korinther 12, 13 in den Leib Jesu hineingetauft und somit auch Teil des edlen Ölbaumes. Insoweit ergänzen sich die dargelegten Auslegungsmöglichkeiten. Ich meine deshalb nicht, dass wir an diesem Punkt streiten sollten. Auf eine Übersetzung jedoch, die ich für gefährlich halte, möchte ich an dieser Stelle noch hinweisen:
Dat Niee Testament plattdüütsch
„Een Deel vun dat Volk Israel is verstockt worrn; awers dat duuert bloots so lang, bit dat de mehrsten Heiden Christen worrn sünd.“
Hier scheint mir noch ein koloniales Verständnis aus dem vorigen Jahrhundert vorhanden zu sein: Die armen Heiden in der dritten Welt müssen erst christianisiert werden, ehe Israel dann schlussendlich auch gerettet wird. Man kann nur hoffen, dass die Herausgeber dieses Neuen Testaments ihre Übersetzung so nicht verstanden haben wollen.
Die Vollzahl der Nationen: nichtjüdische Menschen oder die zehn Stämme des Nordreiches Israel?
Wie Sie richtig schreiben, bleibt nun noch „zu fragen, wer mit der ‚Vollzahl der Nationen’ gemeint ist“. Sie haben ganz Recht, wenn Sie mir mitteilen, dass das griechische Wort „pleroma“ „Fülle, Vollzahl, Vervollständigung“ bedeutet und dass die „Fülle oder Vervollständigung ein bestimmter, füllender, vervollständigender Teil einer ganzen Größe“ ist. Wer ist aber nun wirklich „die Fülle der Nationen“? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie der Ansicht, dass es sich dabei um die Nachkommen Ephraims, des Sohnes Josephs, handelt, ausgehend von der Prophezeiung in 1. Mose 48, 19, dass Ephraim zu einer Fülle von Nationen werden wird. Aus Ephraim wurde später dann das getrennte Haus Israel, die zehn Stämme. Ihrer Meinung nach handelt es sich um die „von den Fachleuten (Theologen, Historikern, Politikern...) tot geglaubten 10 Stämme des Nordreiches Israel“. Der Begriff „Heiden“, hebräisch „goi, gojim“, griechisch „ethnos“, darf Ihrer Meinung nach nicht nur auf den weiteren Völkerkreis bezogen werden, sondern auch auf den engeren Kreis der Nationen Israels. Das Geheimnis Israels hat nach Ihrer Sicht wenigstens zwei Seiten: a) die Verstockung des Gesetzesteils Israels (vornehmlich das Haus Juda) und b) die Verwahrlosung des gesetzlosen Teils Israels (vornehmlich das Haus Israel, das zu Nationen wurde und im abendländischen Kulturkreis seine Heimat fand).
Mir ist diese Ansicht nicht neu, obwohl ich den Eindruck habe, dass sie im deutschen Sprachraum nicht so stark vertreten wird. Der englische Sprachraum mag da etwas stärker „befallen“ sein. Dort spricht man von dem „britischen Israelismus“. Zum ersten Mal sind mir diese Gedanken 1979 in Bremen begegnet. Damals hat die Missionsbewegung Operation Mobilisation ihr zweites Missionsschiff, die Doulos, in Dienst genommen. Anlässlich der Feierlichkeiten hielt ich mich einige Tage auf der Doulos auf und traf dort u. a. einen Juden, der eben diese Meinung, wie Sie sie mir dargelegt haben, in ähnlicher Form vertrat. Da ich damals nicht allzu viel dazu zu sagen wusste, habe ich mir seine Meinung angehört und sie auch behalten. Heute glaube ich, in der Lage zu sein, eine biblisch fundierte Antwort auf diese Frage geben zu können.
Sie sind weder von der Bibel noch vom Verlauf der Geschichte in der Lage, Ihre Ansicht wirklich zu belegen. Ich persönlich glaube, dass die von vielen Völkerkundlern und Theologen vertretene Meinung, dass die europäischen Völker Nachkommen Japhets und nicht Sems sind und deshalb auch nicht die zehn verlorenen Stämme Israels sein können, richtig ist. Ich kann dies natürlich aus dem Verlauf der Völkergeschichte auch nicht eindeutig belegen. Unsere germanischen Vorfahren treten erst durch ihren Kontakt mit dem römischen Reich in unseren Gesichtskreis. Zu dieser Zeit waren sie auf jeden Fall völlig heidnisch und glaubten an verschiedene Götter wie Thor oder Wodan. In ihrer Religion und ihren Sitten ist nichts festzustellen, was an israelitische Wurzeln erinnert. Wäre dem so gewesen, hätten die Juden im römischen Reich sich ihnen gegenüber sicherlich anders verhalten. Doch wie gesagt, dies ist meine persönliche Ansicht. Mit Spekulationen in die eine oder andere Richtung kommen wir so in der Lösung unserer Frage nicht weiter. Hier hilft nur die Rückbesinnung auf die Heilige Schrift selbst.
Israels Rückkehr in das Land seiner Vorfahren
Was lehrt nun die Bibel über Juda und Israel, besonders was die Zukunft betrifft? Ganz kurz als Einschub ein Stück biblische Geschichte: 926 v. Chr. wird das Reich Israel geteilt und existiert fortan nur noch als zwei Reiche, als Südreich Juda und als Nordreich Israel (die zehn Stämme). 722 v. Chr. wird das Nordreich Israel von den Assyrern zerstört. Die Bevölkerung geht in die Verbannung und verschwindet aus unserem Gesichtskreis. 586 v. Chr. geschieht unter den Babyloniern das Gleiche mit dem Südreich Juda aufgrund seines Abfalls von Gott und dessen Wort. Gottes Heilsgeschichte geht jedoch mit den Judäern weiter (man lese die Bücher Esra, Nehemia, Ester und die in diese Zeit fallenden prophetischen Bücher des Alten Testaments).
Die Weissagungen Jesajas und Jeremias
Wenn nun die Propheten des Alten Testaments von Juda und Israel sprechen, so beziehen sie sich auf das gesamte Zwölfstämmevolk, also beide Teile Israels. Und was sagen sie für diese beiden Teile für die Endzeit voraus? Es gibt so viele Verse, dass ich sie im Rahmen dieser Abhandlung gar nicht alle behandeln können. Deshalb will ich exemplarisch nur einige herausgreifen. Jesaja schrieb die 66 Kapitel seines Buches im 8. Jahrhundert v. Chr. und sagt in Kapitel 11, 12-13 voraus: „Und er (Gott) wird ein Zeichen aufrichten unter den Völkern und zusammenbringen die Verjagten Israels und die Zerstreuten Judas sammeln von den vier Enden der Erde. Und der Neid Ephraims wird aufhören und die Feindschaft Judas ausgerottet werden, dass Ephraim nicht mehr neidisch ist auf Juda und Juda nicht mehr Ephraim feind ist.“ Jesaja spricht hier deutlich von den beiden Teilreichen Israels und ihrer Zukunft. Die Feindschaft wird aufhören, und, man beachte es!, Gott wird Israel (die 10 Stämme!) „zusammenbringen“ und Juda (die Juden) „sammeln“. Wohin wohl? Auch darüber lässt uns die Schrift nicht im Unklaren.
Gehen wir in das 43. Kapitel des Propheten Jesaja! Dort wird „Jakob“ bzw. „Israel“ angesprochen (V.1), und dann lesen wir in den Versen 5-6: „Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde.“ In diesen beiden Versen wird eine gewaltige Sammlungsbewegung des Volkes Israel beschrieben. Wohin sollen sie denn gesammelt werden? Nach Erez Israel! Wir sind heute Zeitzeugen der Erfüllung dieser Prophezeiung. Wer hätte z. B. vor 1988 gedacht, dass die Juden der ehemaligen Sovietunion einmal nach Israel zurück dürfen? Und doch sagt Gott in diesen Versen schon rund 2.700 Jahre im voraus zum Norden: „Gib her!“ Und der Norden musste sie hergeben! Seit der Öffnung des eisernen Vorhangs 1988 sind allein aus der ehemaligen Sovietunion über 700.000 Juden in Israel eingewandert. Wenn wir doch nur Augen für das Handeln Gottes hätten!
Nun könnte jemand sagen: Gut, sie werden gesammelt, aber hier steht nicht deutlich, wohin. Gehen wir deshalb ein wenig weiter in den Propheten Jeremia. Jeremia wirkte im 5. Jahrhundert v. Chr., also in einer Zeit, in der die zehn Stämme des Nordreiches bereits in der assyrischen Gefangenschaft verschwunden waren und, wie Sie meinen, in der Folge zu den Völkern des Abendlandes wurden. Und ausgerechnet von diesen zehn Stämmen sowie vom Südreich Juda weissagt Jeremia folgendes: „Ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen“ (Jeremia 29, 14). „Denn siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich das Geschick meines Volks Israel und Juda wenden will, spricht der Herr; und ich will sie wiederbringen in das Land, das ich ihren Vätern gegeben habe, dass sie es besitzen sollen“ (Jeremia 30, 3). Haben sie es gelesen? „Das Geschick meines Volks Israel und Juda“! Die beiden Teile werden in der Endzeit wieder eins sein und zusammen in Israel wohnen!
Die Stämme Israels in der großen Trübsal
Auch das Neue Testament bestätigt uns die Rückführung aller Stämme Israels in das Land ihrer Väter. Heilsgeschichtlich befinden wir uns heute ungefähr am Ende des Zeitalters der Gemeinde Jesu Christi. Vor uns steht die Zeit der Trübsal (7 Jahre, die letzte Jahrwoche aus Daniel 9, 24-27), gefolgt vom tausendjährigen Reich. Für die Zeit der großen Trübsal wird uns in Offenbarung 7, 4-8 mitgeteilt, dass 144.000 Menschen aus „allen Stämmen Israels“ versiegelt werden, aus jedem Stamm 12.000. Dann werden uns die Namen der Stämme sogar aufgezählt, und in Offenbarung 14, 1 lesen wir: „Und ich sah, und siehe, das Lamm stand auf dem Berg Zion und mit ihm Hundertvierundvierzigtausend, die hatten seinen Namen und den Namen seines Vaters geschrieben auf ihrer Stirn.“ All das setzt doch voraus, dass Menschen aus sämtlichen 12 Stämmen bis dahin nach Israel zurückgekehrt sein werden, oder nicht?
Denken wir doch ja nicht, das heutige Volk Israel würde nur aus Nachkommen des Stammes Juda bestehen! In Israel weiß man wesentlich mehr über die eigene Herkunft als bei uns. Dort gibt es viele Menschen, die ihre Abstammung auf einen der zwölf Stämme zurückführen können. So sind z. B. alle, die den Familiennamen Levi, Levinsky, Cohen u. ä. tragen („Cohen“ ist hebräisch und heißt auf deutsch „Priester“) Nachkommen des Stammes Levi. Von den am 24./25. Mai 1991 durch die dramatische „Operation Salomo“ aus Äthiopien rückgeführten 14.500 Falachen sollen viele Nachkommen des Stammes Dan sein. Bekommen wir langsam offene Augen für das Handeln Gottes?
Die Stämme Israels im tausendjährigen Reich
Hesekiel 40 bis 48 beschreibt uns dann ausführlich den Zustand Israels im tausendjährigen Reich. In dieser Zeit wird sich in Jerusalem ein Tempel befinden. Die Stadt Jerusalem selbst wird das Zentrum Israels und der Welt sein. Die Grenzen Israels werden uns ebenso beschrieben wie die Landverteilung von Norden nach Süden auf die verschiedenen Stämme. Was uns nun interessiert, ist, wo die 12 Stämme wohnen werden und ob es überhaupt 12 Stämme geben wird.
Ich zitiere dazu Hesekiel 48, 1-7.23-29: „Dies sind die Namen der Stämme: Von Norden vom Meer an auf dem Wege nach Hetlon zu nach Hamat und Hazar-Enan, so dass Damaskus nördlich liegen bleibt, gegen Hamat: das soll Dan als seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben Dan soll Asser seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben Asser soll Naftali seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben Naftali soll Manasse seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben Manasse soll Ephraim seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben Epharaim soll Ruben seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben Ruben soll Juda seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen... Danach sollen die übrigen Stämme kommen: Benjamin soll seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben dem Gebiet Benjamins soll Simeon seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben dem Gebiet Simeons soll Issaschar seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben dem Gebiet Issaschars soll Sebulon seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben dem Gebiet Sebulons soll Gad seinen Anteil haben von Osten bis nach Westen. Neben dem Gebiet von Gad soll im Süden die Grenze von Tamar bis an das Haderwasser von Kadesch laufen und den Bach Ägyptens hinab bis an das große Meer. Das ist das Land, das ihr austeilen sollt als Erbteil unter die Stämme Israels, und das sollen ihre Erbteile sein, spricht Gott der Herr.“
In dieser Liste werden 12 Stämme genannt. Unter ihnen befindet sich auch Ephraim, von dem Sie meinen, dass aus ihm eine Fülle von Nationen geworden ist, die heute im abendländischen Kulturkreis wohnen, also die europäischen Völker bilden.
Zu ziehende Schlussfolgerungen aus dem biblischen Befund
Warum habe ich Ihnen diese Zusammenhänge so ausführlich geschildert? Um Ihnen zu zeigen, dass „die Vollzahl der Nationen“ nicht die zehn verlorenen Stämme Israels sein kann und schon gar nicht die Nationen, die ihre Heimat im abendländischen Kulturkreis fanden. Wenn dem so wäre, wären auch wir Deutschen Nachkommen eines dieser Stämme. Dann müsste Gott uns aus Deutschland nach Israel zurückführen. Stellen Sie sich das nur einmal vor: Wo sollen denn 80.000.000 Deutsche in Israel Platz finden? Und wo sollen die Millionen und Abermillionen anderen Europäer in Israel wohnen? Und was wird aus Europa? Bleibt das dann menschenleer? Wie passt das alles in den Zusammenhang und in die Voraussagen der Bibel?
Werter Bruder P.! Machen Sie die Angelegenheit doch nicht so philosophisch! Suchen Sie doch bitte nicht tiefere Erkenntnisse, wo keine sind! Ich bin davon überzeugt, dass in der Bibel vieles einfacher ist, als es im theologischen Bereich manchmal dargestellt wird. Sie schreiben mir: „Orthodoxe Schriftauslegung (auch pietistischer Prägung) hat es zum Teil an sich, an den Gedanken des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs im guten Meinen vorbei zu steuern.“ Ich glaube, was die Auslegung von Römer 11, 25-26 betrifft, trifft dieser Satz auch auf Sie zu, und ich würde mir wünschen, dass meine Ausführungen dazu beitragen, dass Sie diesen Gedanken fallen lassen, dass „die Vollzahl der Nationen“ sich auf die zehn verloren geglaubten Stämme des Nordreiches Israel bezieht und dass daraus die Völker Europas geworden sind. Sie sollten vielmehr die Bezeichnung „Nationen“ bzw. „Heiden“ (hebr. „gojim“, griech. „ethne“) als das verstehen, als was sie durchgängig in der Bibel verstanden werden: als die nichtjüdischen Völker!
Deshalb noch einmal Römer 11, 25, diesmal in der Textfassung der „Guten Nachricht“: „Gott hat zwar bestimmt, dass ein Teil des jüdischen Volkes seinen Ruf nicht hören kann. Aber das gilt nur so lange, bis alle, die aus den anderen Völkern berufen sind, den Weg zu ihm gefunden haben.“ Wiewohl auch diese Übersetzung alles andere als wörtlich ist, trifft sie meines Erachtens den Sinn doch richtig: „alle, die aus den anderen Völkern... sind“. Beachten Sie bitte auch den Textbestand der bereits weiter oben zitierten „Hoffnung für alle“: „alle Heiden, die Gott dafür ausersehen hat“. Dies ist nämlich die Bedeutung der Stelle. Gemäß Apostelgeschichte 13, 48 und Epheser 1, 4 hat Gott vor Grundlegung der Welt eine uns unbekannte Anzahl von Menschen aus allen Völkern dazu erwählt, gerettet zu werden und die Ewigkeit bei ihm in der Herrlichkeit zu verbringen. Alle diese Menschen zusammen bilden die „Vollzahl der Nationen“ bzw. „Fülle der Heiden“, und wenn der Letzte zum Glauben gekommen sein wird, wird diese Vollzahl erreicht sein und das Zeitalter der Gnade abgeschlossen werden. Dann wird der Bräutigam kommen, und die Tür wird verschlossen werden (vgl. Matthäus 25, 10). Diejenigen, die danach kommen, werden von ihm abgewiesen und zu hören bekommen: „Ich kenne euch nicht“ (Matthäus 25, 12).
Deshalb ist die Sache auch so ernst! Es gibt ein zu Spät! Heute noch ruft der Herr verlorene Sünder nach Hause, morgen könnte es schon zu spät sein! Wer sich seines Heils noch nicht gewiss ist, dem kann man nur zurufen: „Bekehre Dich noch heute, und ruhe nicht länger, bis Du zum Schwören gewiss weißt: Meine Sünden sind vergeben! Ich bin ein Kind Gottes!“
Ganz Israel oder Überrest Israels?
Sie sind an dem Satz hängen geblieben: „... wird ganz Israel (das bedeutet aber nach dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift: der ganze Überrest!) gerettet und wieder in die Segenslinie gestellt werden.“ Ich kann mir vorstellen, dass noch andere Leser an dieser Stelle Verdauungsschwierigkeiten hatten.
Wenn die Bibel davon spricht, dass ganz Israel gerettet wird, dann ist damit natürlich auch das ganze Israel gemeint. Nur: Wenn es so weit ist, wie sieht dann dieses ganze Israel aus? Wie ich bereits weiter oben dargelegt habe und wie Sie aus der jüngeren Geschichte selbst wissen, kehrt Israel mehr und mehr in das Land seiner Väter zurück. Sie kehren aber im Unglauben zurück. Nur die wenigsten glauben heute an ihren Messias Jesus Christus. Die Verstockung liegt immer noch über dem größten Teil des Volkes, und die Decke hängt immer noch vor ihren Augen, so dass sie die Wahrheit nicht erfassen können (vgl. 2. Korinther 3, 14-15). Dieser Zustand wird bis in die Zeit der großen Trübsal, der bereits erwähnten noch ausstehenden 70. Jahrwoche aus Daniel 9, 24-27, fortdauern. Und in dieser Zeit wird Israel dann Furchtbares durchmachen müssen. Nicht umsonst wird in diesen Tagen „eine solche Bedrängnis sein, wie sie nie gewesen ist bis jetzt vom Anfang der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, und auch nicht wieder werden wird“ (Markus 13, 19).
Israel, und besonders die Verständigen im Volk, werden vom Antichristen „verfolgt werden mit Schwert, Feuer, Gefängnis und Raub“ (Dan 11, 33). „Seine Heere werden kommen und Heiligtum und Burg entweihen“ (Dan 11, 31). „Die Stadt (Jerusalem) wird erobert, die Häuser werden geplündert und die Frauen geschändet werden“ (Sacharja 14, 2). Und nun kommt der Knackpunkt: „Es soll geschehen in dem ganzen Lande, spricht der Herr, dass zwei Teile darin ausgerottet werden sollen und untergehen, und nur der dritte Teil soll darin übrigbleiben“ (Sacharja 13, 8). Wenn zwei Drittel der Bevölkerung Israels während dieser Kriegshandlungen während der großen Trübsal umkommen, dann bleibt logischerweise nur noch ein Drittel der ursprünglichen Bevölkerung übrig, also ein Überrest. Und eben dieser Überrest wird dann das ganze Israel sein. In ihrer größten Not werden sie sich an den einzigen wenden, der sie wirklich retten kann, an ihren Messias Jesus Christus.
Dann werden sie endlich rufen: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“ (Matthäus 23, 39). Und dann wird Jesus in großer Macht und Herrlichkeit wiederkommen: „Aber über das Haus David und über die Bürger Jerusalems will ich ausgießen den Geist der Gnade und des Gebets. Und sie werden mich ansehen, den sie durchbohrt haben, und sie werden um ihn klagen, wie man klagt um ein einziges Kind, und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt um den Erstgeborenen“ (Sacharja 12.10). An jenem Tag wird etwas geschehen, was es bis dahin noch nicht gegeben hat: Ein ganzes Volk wird sich an einem einzigen Tag bekehren! Zeitgleich wird übrigens auch die zweite Hälfte von Römer 11, 26 in Erfüllung gehen: „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob!“
Ob all dieser wunderbaren Gedanken Gottes kann man nur noch staunend anbeten! Jedenfalls geht es mir so, und ich hoffe, dass Sie diesen kurzen Ausführungen in Sachen Prophetie folgen konnten. Es ist immerhin nicht so ganz einfach. Man muss sich die Mosaiksteine in der Bibel zusammensuchen, um ein klares Bild zu erhalten, und was noch weitaus schwieriger ist: Man muss die Mosaiksteine biblischer Prophetie richtig zusammensetzen! An diesem Punkt hapert es wahrscheinlich bei uns allen, und unter dieses Urteil muss ich mich zuallererst selbst stellen. Möge der Herr uns allen Gnade und Weisheit schenken!
Abschließende Bemerkungen
Abschließend und zusammenfassend muss also gesagt werden, dass es sich bei der „Vollzahl der Nationen“ bzw. „Fülle der Heiden“ in Römer 11, 25 tatsächlich um Menschen aus den nichtjüdischen Völkern und nicht um die verloren geglaubten zehn Stämme des Nordreiches Israel handelt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass diese „verlorenen“ zehn Stämme aufgrund des biblischen Befundes nicht die heute existierenden Völker des abendländischen Kulturkreises sein können und dass es sich bei dem in Römer 11, 26 genannten ganzen Israel, das gerettet wird, um den Überrest dieses Volkes handelt, der in der großen Trübsal infolge des Ausrottungskrieges des Antichristen übrig bleibt.
Ein Letztes liegt mir nun noch am Herzen: Lassen Sie uns bitte die Einheit des Leibes Christi aufgrund unterschiedlicher Erkenntnisse und Meinungen in Sachen Prophetie nicht aufs Spiel setzen!