Ernst Vatter, Bad Liebenzell

18. Juni 1987

31. Ludwig-Hofacker-Konferenz

Die Bibel ernst nehmen

 

Auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums kommt der Besitzer eines Wagens ans Auto zurück. Er sieht, dass der Kühler seines Autos von einem anderen Wagen eingedrückt worden ist. Er sieht aber auch ein Blatt Papier unter dem Scheibenwischer. Erwartungsvoll nimmt er es in die Hand. Was liest er da? Der Verursacher schrieb: „Während ich diesen Zettel schreibe, sehen sechzehn Personen zu und denken, dass ich Ihnen meine Adresse und Telefon-Nummer hinterlasse. Aber das tue ich gerade nicht. Auf Wiedersehen!“

Wir sagen empört: „Aber so etwas!“ Aber leben wir nicht in einer ähnlichen Schizophrenie zwischen Sein und Schein? Liebe Freunde, man kommt nur aus der auch evangelikalen Schizophrenie zwischen Sein und Schein heraus, wenn man ganz praktisch das Wort Gottes hinein nimmt in den Alltag.

 

Bibel contra Gefühle

 

Der Evangelist Fritz Binde hat einmal erzählt: „Eine Frau kam voll Entsetzen zu mir und sagte, dass der Heiland sie seit sieben Uhr morgens verlassen hätte. Sie habe das ganz genau gespürt.“ Ich kannte sie und versuchte, ihr diese seelische Stimmung auszureden, aber sie blieb bei ihrem Jammer. Da bat ich um ihre Bibel. Sie gab mir ihre Bibel. Gleichzeitig öffnete ich mein Taschenmesser und sagte: ,Wenn Sie es ganz genau gespürt haben, dass der Heiland Sie verlassen hat, dann erlauben Sie mir bitte, dass ich die Stelle Matthäus am Letzten aus Ihrer Bibel herausschneide.' Ich setzte das Messer an der Stelle an, wo es heißt: ,Siehe, ich bin bei euch alle Tage.' Doch da fuhr die Frau auf mich zu und rief: ,Sie werden mir doch meine Bibel nicht zerschneiden wollen!' ,Doch', sagte ich, ,entweder hatten Ihre Gefühle recht oder die Bibel. Wer soll denn jetzt recht haben, Ihr Gefühl oder Gottes Wort?' Da rief sie aus: ,Na ja, dann Gottes Wort!' Ab damals lernte sie sich auf Gottes Wort stützen und nicht mehr auf ihre Gefühlswelt.“

Wie oft ist das auch bei uns ähnlich. Ich kam mit siebzehn Jahre aus einer ungläubigen Familie zum Glauben und musste das daheim mitmachen, wie es halt so ist mit ungläubigen Eltern, die nicht in die Kirche gehen. Da fuhr ich eines Tages von Tübingen nach Stuttgart. Während der Fahrt hatte ich auf einmal den inneren Eindruck: Das, was du vorher geredet hast mit einem anderen Menschen, das war nicht recht. Ich saß am Fenster und sagte: „Jesus, vergib mir!“ Aber ich bekam keine Gewissheit. Wissen Sie, was ich getan habe? In Reutlingen-Betzingen, da stieg ich aus, schaute auf den Plan, wann der nächste Zug gehen würde. Dann nahm ich mein Neues Testament und ging hinaus auf eine Wiese. Das gab es damals noch in der Nähe des Betzinger Bahnhofs. Dort setzte ich mich unter einen Baum und schlug auf 1. Johannes 1, Vers 9: „So ihr eure Sünden bekennet, ist Gott treu und gerecht, dass er Sünde vergibt.“ Da betete ich: „Heiland ich danke dir; da steht's, und das glaube ich. Ob ich's spür' oder nicht spür’, ist mir völlig egal. Hab Dank, da steht es!“ Mit dem nächsten Zug bin ich weitergefahren voller Frieden.

Wäre das nicht auch eine Lösung manchmal bei Ihnen? „Da steht es!“ Weil's da steht und weil ich das glaube, darum habe ich's. Nicht weil ich's fühle oder spüre. Lasst uns weniger abhängig werden von unseren Gefühlen und mehr abhängig von der Bibel!

 

Die tausend Kleinigkeiten des Alltags

 

Sie sind das Exerzierfeld der Christen. Sie sind der Kampfplatz des Glaubens. Im Kampf des Glaubens gilt es, die Bibel und ihre Verheißungen in meine tausend Kleinigkeiten hinein zunehmen. Etwa Römer 6, 11: „Haltet euch dafür, dass ihr mit Christus der Sünde gestorben seid.“ Auf einmal brauche ich mich nicht mehr zu ärgern über das Laub, das vom Baum des Nachbarn herunterrieselt auf meinen schönen Rasen. „Ich danke dir, dass ich diesem elenden Laub gestorben bin.“ Ich praktiziere das zurzeit fast jeden Tag in meinem Garten. Ich habe gar nicht gewusst, dass Trauerweiden so oft ihre Blätter abwerfen. Kürzlich habe ich meine Frau gefragt. Sie sagt: „Ich weiß es auch nicht genau, aber es kommt oft vor.“ Da gilt es zu beten: „Herr, ich danke dir, dass ich diesen Trauerweidenblättern gestorben bin. Und dass ich nicht jeden Tag mit dem Besen rumfegen muss, sondern es einmal in drei Wochen tun kann. Weil's ja doch wieder kommt. Herr, ich danke dir auch, dass ich dem Miauen der Nachbarkatze gestorben bin“, – und die kann einem manchmal „auf den Wecker gehen“, glauben Sie mir’s.

Liebe Freunde, ich halte mich für gestorben. „Herr, ich danke dir, ich brauch nicht beim Lieblingsspiel der Gläubigen mitzumachen, nämlich bei ,EinschnapperIes und AusschnapperIes'. Ich danke dir, dass ich dem Bruder nichts nachtragen brauche, obwohl ich nachtragen könnte. Ich danke dir, dass ich es nimmer brauche.“

Es kommt Freude am Wort Gottes auf, das zur Realität wird! Wir dürfen überwinden, und wir können überwinden. Auch das Beleidigtsein!

Wir können überwinden die heruntergezogenen Mundwinkel, die sich über andere erheben, damit das eigene Licht besser evangelikal leuchtet. „Herr, ich danke dir, dass ich keine heruntergezogene Mundwinkel mehr zu haben brauche, sondern mit dir auch diesem Übelreden gestorben bin.“

Ich bin ein temperamentvoller Mensch; darum freut mich das Wort aus Psalm 139, 15: „Meine Wesensgestaltung, o Gott, war dir nicht verborgen.“ Wie oft habe ich schon für dieses Wort gedankt, weil ich mir eigentlich immer die liebevolle, vornehme Art meines Nachbarn gewünscht habe. Der regt sich nie auf. Ich dachte immer: „Ach wenn ich nur einmal so werden könnte!“ Aber ich werd's nie! Vielleicht mit achtzig. Was machen Sie denn da als „Täter des Wortes?“ Beten: „Herr, ich danke dir, dass ich nimmer zu explodieren brauche. Ich danke dir, dass ich diesem inneren Rumoren, das nach oben drängt, gestorben bin. Und ich danke dir, dass ich keinen Minderwertigkeitskomplex zu haben brauche; denn meine Wesensgestaltung war dir schon damals, als meine Mutter im Leib mich getragen hat, nicht verborgen. Du kennst meinen Kampf. Danke, Herr!“ So können wir mit der Bibel in den Kleinigkeiten des Alltags leben.

 

lm Bereich tiefster Not

 

Wir werden nicht von allen Krankheiten einfach befreit. Im Alter von neunundzwanzig Jahren musste ich in der Klinik in Tübingen meine Beerdigung mit meiner Frau besprechen. Was war das für ein Wort, das mir half, nicht zu verzweifeln? Es war das Wort, das ein Bruder mitbrachte und über mein Bett heftete: „Mit ewiger Liebe habe ich dich lieb.“ Das waren die letzten Worte, die ich aufnahm, bevor ich für zwei Tage ins Koma versank. „Mit ewiger Liebe habe ich dich lieb.“ Sehen Sie, mit solch einem Bibelwort kann man selbst dort leben, wo man Abschied nehmen muss. Wo man am Ende ist mit seinem Glauben, mit seinen Erfahrungen, mit seinem Zeugnis. Wo man sich nur an das anklammern kann, was Gott einem sagt.

Oder ich denke daran, wie ich als unheilbar Kranker mit Cortison mein Leben fristete, und ich wollte doch dem Herrn dienen als junger Missionar. Ich sagte: „Herr, warum ich? Du kannst doch.“ Da kamen Brüder und sagten: „ Wenn du richtig glauben würdest, dann würdest du gesund werden.“ Aber ich musste ihnen entgegnen: „Wenn der Herr das will, dann sagt er es zuerst mir; denn ich bin der Kranke, ihr seid ja gesund.“ Um meinen Weg zu finden, habe ich mich ans Wort gehalten: „Ja Herr, ich lass mir an deiner Gnade genügen; denn deine Kraft ist gerade bei Schwachen mächtig.“ Ja, es ist das Wort Gottes in tiefster Not, das einen durchträgt. Damals im brennenden Jumbo-Jet, da war's das Wort „Ich bin der gute Hirte“, das mich zur Ruhe brachte und das mich tröstete, wo ich nicht mehr weiter konnte. Das Wort Gottes als eine tägliche Angelegenheit.

Darf ich Ihnen sagen, worin unsere Freude besteht? Sie besteht darin, dass wir festhalten können auf Grund des Wortes: „Ich bin mit dir immer, ich kenne dich, und ich weiß alles.“ Allwissend, allgegenwärtig, allmächtig, das hinein nehmen in unser Leben, ob Not oder Anfechtung, ob Leid oder Freud, das hinein nehmen, da bricht Freude auf.

Kürzlich schrieb eine Missionsschwester aus Bangladesh: „Bruder Vatter, ich möchte Ihnen nur mitteilen: Die drei Mörder, die vor über zehn Jahren unseren Missionar Werner erschossen haben, diese Banditen wurden jetzt freigelassen; sie wohnen ganz in der Nähe unserer Klinik im Inland von Bangladesh.“ Ich konnte ihr nur zurück schreiben: „Halte du dich an das Wort aus dem Hebräerbuch: „Niemals, nie und nimmer, will ich dich verlassen und versäumen!“

 

Das Wort Gottes und die Zukunft

 

Gott bringt Gerechtigkeit und Frieden. Gott bringt die ökologische Erfüllung, nach der die ganze Natur sich sehnt und seufzt. Gott bringt die Erlösung seiner Gemeinde. Dann werden diese Fragen gelöst sein, die wir nicht lösen. Jesus kommt. Dann wird er abwischen alle Tränen von unseren Augen.

Vielleicht geht's Ihnen wie der Oma, die Kinder, Enkelkinder und Urenkel betreut hat. Als man sie in ihren neunziger Jahren fragte: „Freuen Sie sich auf die Ewigkeit?“, da sagte sie: „Sie glauben gar nicht, wie viel Tränen ich bei den Kindern, Enkelkindern, Urenkelkindern gesehen habe. Ich freue mich auf den Moment, wo keine Tränen mehr sein werden. Wo Er sie abwischen wird von allen Augen!“

Wir wissen: Das Schönste kommt noch! Ja, es war die Kraft des Wortes Gottes, mit dem Julie von Hausmann lebte, als ihr Bräutigam gestorben war im Warten auf ihre Ankunft. Dort in Westafrika dichtete sie: „So nimm denn meine Hände und führe mich. – Wenn ich auch gar nichts fühle von deiner Macht, du bringst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht.“ Sehen Sie, weil wir das Wort haben, die Verheißungen, und weil Gott keinen zuschanden werden lässt, der an diesem Wort bleibt, weil sein Wort gilt und ich mich an sein Wort festklammere, darum: „Auch durch die Nacht!“