44. Bibelkurs BK 44
Bei den Psalmen beten lernen II
Die Sprache, der Rhythmus, die Geschichte in den Psalmen
I. Die Sprache der Psalmen.
Der 3. Psalm ist das erste echte Psalmgebet. Psalm 1 und 2 haben uns vorbereitet, in der richtigen Einstellung zu beten. Psalm 3 ist ein Hilferuf: „Ach, HERR, wie sind meiner Feinde so viel!“ ist der erste Satz. Ein Mensch ist in Not und schreit um Hilfe. So fängt echtes Beten an. Das ist die Sprache des Gebets: Menschen rufen in ihrer Drangsal - in Leid, Schuld, Angst, Verzweiflung - zu Gott. Ihr Leben ist bedroht. Wenn keine Hilfe kommt, gehen sie dem Tod entgegen. Das Beten fängt an in der Verzweiflung. Unter dem Druck des Leidens beginnt der Mensch zu sprechen, - zu beten. Weinen - das sind die ersten Laute des neugeborenen Babys. Das kleine Kind schreit, um das zu bekommen, was es zum Überleben braucht: Nahrung, Wärme, Trost, Liebe. Wir haben keinen Instinkt, sondern die Sprache ist das Mittel, um Hilfe in der Not zu bekommen.
Was für die Sprache gilt, das ist auch für das Gebet wichtig. Jeden Tag sind wir mit irgendeiner Schwierigkeit konfrontiert. Der jüdische Nobelpreisträger (für Literatur) Isaac B. Singer (New York) sagt einmal: „Ich bete nur, wenn ich in Not bin. Aber da ich täglich in Problemen stecke, bete ich die ganze Zeit.“ Wir sollten dem Apostel Paulus folgen, der schreibt: „Betet immerzu, - ohne Auf-hören!“
Es ist gut, sich ein paar Gedanken über die Sprache zu machen, weil das Beten Sprache ist und weil wir von früh bis abend mit Sprache zu tun haben. Die Sprachforscher unterscheiden drei Gruppen von Sprache:
· Die Sprache des Herzens. (I) Es ist die Sprache der persönlichen Vertrautheit. Diese Sprache lernen wir als Kind zuerst. Anfangs sind es nur einige Laute, dann ganz einfache Namen: Mama, Papa. Diese Anfänge der Sprache bilden eine wichtige Basis für unser Leben, - für Geborgenheit und für Gemeinschaft.
· Die Sprache der Information (II) folgt danach. Wir lernen unsere Umgebung kennen, jeden Tag kommen neue Objekte dazu: Wasser, Finger, Flasche, Puppe ... Wir brauchen das, um uns in der Welt orientieren zu können. Vor allem in der Schule wird sie gebraucht.
· Die Sprache der Motivation (III) ( - einen Befehl, eine Aufforderung weitergeben: Geh! Komm! Bring mir das!...) Die Werbung, die Politik, die Propaganda arbeiten vor allem mit dieser Art.
Sprache II und III dominieren bei uns. Wir werden täglich von Informationen überschwemmt. Wir können im Lexikon oder im Internet ziemlich schnell alles erfahren, was wir wissen wollen. Ebenso werden wir jeden Tag aufgefordert, zu kaufen, zu sehen, zu probieren, zu lesen, zu reisen. Die Technik hat die Kommunikation gewaltig gefördert (Telefon, Handy, Computer...). Seit es Menschen gibt, werden täglich Neuigkeiten („Informationen“) ausgetauscht. Die Amerikaner haben ein deutsches Fremdwort: „Kaffeeklatsch“. Es wird viel geplaudert, aber wenig nach Sprache I. Der Apostel Paulus ermahnt in seinen Briefen Timotheus vier mal, das „lose Geschwätz“ zu meiden, denn es ist schädlich für den Glauben. - Aber die vertrauliche Sprache des Herzens, die tröstet, ermutigt, aufmuntert, verkümmert immer mehr. Und gerade diese Sprache brauchen wir, weil sie die Gemeinschaft stärkt und uns innere Kraft gibt. Wir kennen sie als Kinder, als Verliebte. Unter den Gläubigen sollte sie zuhause sein. Wir brauchen sie, um wirklich Mensch zu sein. Bei den Psalmen können wir sie lernen. Sie sind in der ursprünglichen Sprache geschrieben, die wir als Kinder lernten: die Sprache der vertrauten Atmosphäre. Bei den Psalmen kommen wir zu den Grundlagen unseres Lebens zurück.
II. Der Psalm 3 - ein echtes Gebet!
Ein Hilferuf kommt aus dem Herzen. Die Not des Beters ist groß, er selbst ist in Bedrängnis:
· er hat zahlreiche Feinde (V.2) - ( - viele Sorgen, - viele Probleme - wer kennt das nicht?)
· sie attackieren ihn (V.2) - (... und wie setzen uns Probleme, Sorgen und Menschen oft zu!)
· sie rauben ihm den Glauben, zerstören sein Gottvertrauen und seine Hoffnung. (V.3) - („Gott hilft doch nicht!“ - „Beten hat keinen Wert!“ - „Es hat alles keinen Sinn!“)
Aber der Beter (David) weiß, dass er bei Gott Rettung und Hilfe findet:
· Gott schützt ihn mit einem Schild. (V.4) - Wir sind nicht allein! Gott ist auf unserer Seite und setzt sich für uns ein. ER ist aktiv!
„Gott ist seine Ehre!“ - Er ist stolz auf seinen Gott, der ein mächtiger Herrscher ist und der ihn nie enttäuscht.
· „Gott richtet sein Haupt empor“ (V.4) - David ist nicht geknickt, Er hat wieder Hoffnung! Er hat keine Angst, auch wenn sich Zehntausende gegen ihn stellen.
· Das Gebet endet mit einer großen Zuversicht: „Der HERR erhört mich. ER hält mich. Ich fürchte mich nicht. Bei dem HERRN findet man Hilfe.“ (V.5-7)
Die Sprache der Psalmen ist manchmal ziemlich derb („Du schlägst meine Feinde auf die Backe und zerschmetterst der Gottlosen Zähne“ V.8). Eine ähnlich kräftige Sprache finden wir später in der Offenbarung des Johannes. Das bedeutet: unsere Gebete brauchen nicht besonders fein oder wohlformuliert zu sein. Wenn wir beten, können wir reden, wie es uns ums Herz ist, - wir müssen nur ehrlich sein. Gebete sind keine Engels-Gespräche. In diesem Psalm sind keine abstrakten Wörter. Es geht handfest um Not, Verzweiflung, - ums Überleben. Aber der Psalm endet mit Dankbarkeit und mit der Gewissheit: der HERR hilft, Sein Segen ist mit uns. (V.9)
Beten ist ein vertrauliches Gespräch mit unserem himmlischen Vater, dem wir alles sagen dürfen. Die Psalmen wollen uns nicht neue Informationen über Gott liefern, sondern uns ermutigen, mit Gott im Gespräch zu bleiben. - Der größte Kirchenlehrer des Mittelalters, Anselm von Canterbury (um 1100), schrieb ein berühmtes theologisches Werk über die Größe und Allmacht Gottes, das „Monologion“. Erst hinterher merkte er, dass er es in der falschen Sprache geschrieben hatte: er hatte ü b e r Gott geschrieben. Er schrieb es noch einmal - nicht in Sprache II sondern in Sprache I - als Gebet, das „Proslogion“ (= „Wort an Gott“). Die wahre Gottesgelehrtheit besteht nicht darin, dass wir viel über Gott reden - sondern dass wir viel mit Gott reden.
III. Geschichte - in den Psalmen.
Am Anfang von Psalm 3 steht eine kurze Bemerkung: „als David vor seinem Sohn Absalom floh“. Der Psalm bezieht sich also auf ein Ereignis im Leben Davids, auf eine Geschichte. Jeder Tag ist eine Geschichte. Das ganze Leben besteht aus Geschichten. Und hinter jedem echten Gebet steht eine Geschichte. Wir lesen Gott im Gebet nicht lange Listen vor sondern wir tauchen ein ins Leben. - In den meisten Psalmen steht am Anfang eine Notiz, die den Psalm mit einem Anlass verknüpft. Nur bei 34 Psalmen nicht. Oft sind es Hinweise für die Verwendung im Gottes-dienst. Die Gebete haben mit der Praxis zu tun, sie sind keine „geistigen Höhenflüge“. In unseren Gebeten dürfen der Lärm und der Frust des Alltags ihren Platz haben.
73 Psalmen sind von David oder für David. Er ist der bedeutendste Psalmdichter. Viele Psalmen sind mit Davids Leben verbunden. Das ist kein Zufall. Die Lebensgeschichte Davids ist die ausführlichste in der Bibel. Wir wissen mehr über David als über irgendeinen anderen Glaubens-menschen der Bibel. Und dieser David wird uns geschildert als einer, der sehr viel gebetet hat. Von Gebetsmenschen können wir viel lernen. Dabei ist zu beachten: David war kein Priester und kein Prophet, er war ein Laie. David war Schafhirte, 15 Jahre lang Guerilla-Kämpfer, Hofmusiker und Politiker. Er stand mitten in der Welt und doch war sein Leben ein geheiligtes Leben. Das echte Gebet gehört in das normale Leben hinein. - In alten hebräischen Handschriften von den zwei Samuelbüchern (die Davids Leben enthalten) waren Abschnitte frei gelassen, wo die Leser einen Psalm eintragen konnten, der einer Situation im Leben Davids entsprach. 17 Psalmen sind mit einem besonderen Ereignis in der Biographie Davids verbunden, der „ein Mann nach dem Herzen Gottes war“:
Psalm 3: Als David vor seinem Sohn Absalom floh.
Psalm 7: ein Lied wegen der Worte des Kusch, des Benjaminiters.
Psalm 18: als ihn der HERR von allen seinen Feinden - und von der Hand Sauls errettet hatte.
Psalm 34: als er sich wahnsinnig stellte vor Abimelech und dieser ihn fortjagte.
Psalm 51: als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Bathseba eingegangen war.
Psalm 52: als Doeg, der Edomiter, kam und es Saul anzeigte, dass David bei Ahimelech war
Psalm 56: als die Männer von Sif zu Saul sprachen: David hält sich bei uns verborgen.
Psalm 57: als David vor Saul in die Höhle floh.
Psalm 59: als Saul hinsandte und Davids Haus bewachen ließ, um ihn zu töten.
Psalm 60: als David mit den Aramäern Krieg führte und Joab die Edomiter im Salztal schlug.
Psalm 63: als David in der Wüste Juda war.
Psalm 142: als David in der Höhle war.
Zwei Dinge fallen auf: jedes erwähnte Ereignis zeigt eine Notlage an; kein einziger Hinweis berührt sein Amt als König. Aus Davids Leben werden vor allem die dunklen Abschnitte seiner Kampfzeit herausgehoben. Es sind uns viele Lobpsalmen überliefert, - aber angefangen hat das
Beten Davids in den Jahren des Kämpfens. „Die großen Dinge des Daseins werden nur betenden Geistern geschenkt. Beten lernt man aber am besten im Leiden.“ Dieses Wort des kath. Philosophen Peter Wust, der mit 56 Jahren an Zungenkrebs starb, stellt H. Thielicke als Motto an den Anfang seines Buches über das Vaterunser.
Israels Geschichte bildet noch in anderer Hinsicht einen Hintergrund zu den Psalmen. Der ganze Psalter besteht aus fünf Büchern, die das Gegenstück zu den fünf Büchern Moses bilden. Die Gebete des Psalters sind eine Antwort auf die Thora (= die 5 Bücher Moses). Die fünf Psalm-bücher und die fünf Mosebücher gehören eng zusammen, so wie die Finger zweier Hände sich zusammenfügen zum Gebet. Die Thora beginnt mit der Schöpfung und führt bis zum Einzug ins Gelobte Land. Sie bringt nicht nur persönliche Geschichten sondern entfaltet den großen Plan Gottes zur Erlösung der Menschheit. Gott redet nicht in den fünf Mosebüchern, um uns Informationen zu liefern. ER enthüllt uns Seine großen Gedanken und möchte darauf eine Antwort haben. Die Antwort erfolgt im Gebet. Die Psalmen helfen uns, auf Gottes Handeln in der Geschichte richtig zu antworten.
Sieben Psalmen gehen ausführlich auf Israels Geschichte ein: die Psalmen 77 und 78, 105 und 106, 135 und 136 - und Psalm 147. Es werden nicht nur die großen Taten Gottes in farbiger Sprache geschildert (zwei Mal werden die zehn Plagen in Ägypten aufgezählt) sondern auch die Fehler des Volkes Israel (besonders in Psalm 78 und 106). Bei diesen historischen Rückblicken wird Israel am strengsten in e i n e m Punkt getadelt: „sie vergaßen die Wundertaten Gottes“. Das hatte mehr Konsequenzen als man denkt: wer Gottes Machttaten vergisst, der hat auch die einzigartige Größe Gottes nicht mehr vor Augen - und gerät, sobald Probleme auftauchen, sehr schnell ins Sorgen, Grübeln und Rebellieren. (Das erleben wir im Alltag jede Woche!) Das geschah beim Volk Israel während der 40-jährigen Wüstenwanderung ziemlich oft und darüber war Gott zornig. - Aus diesem Grund ist es auch für uns heute sehr wichtig, immer wieder die großen Taten Gottes in der Geschichte Seines Volkes zu studieren, damit die Macht unseres Gottes unser Denken regiert - und nicht die Größe unserer Probleme. Die sieben historischen Psalmen sind uns da eine große Hilfe. Wir sollen sie nicht lesen, um unsere biblischen Geschichtskenntnisse aufzufrischen sondern um innerlich zu wachsen und im Glauben felsenfest zu werden. - In Hebräer 11 bringt der Apostel eine Definition und eine Laudatio auf den echten Glauben, der - wie Jesus sagt - Berge versetzt. Um klarzumachen, wie dieser Glaube aussieht, wirft der Apostel einen Blick in Israels Geschichte und zeigt uns skizzenhaft zehn historische Momentaufnahmen von Gottesmenschen, die durch ihren Glauben Großes vollbrachten. Er beginnt mit Abel und Henoch aus den ersten Kapiteln der Genesis, dann folgen Noah, Abraham, Sara, Isaak, Jakob, Josef, Mose und Rahab. Der Apostel begnügt sich nicht damit, den großen Glauben dieser Personen zu rühmen, sondern schilderte jedes Mal die geschichtlichen Ereignisse und das Ein-greifen Gottes. Wer den Glauben an einen großen Gott hat, erfährt auch, dass Gott aktiv wird. - Unsere Gebete sollen nicht hochfliegende Gedanken zum Ausdruck bringen sondern der echte Beter lauscht auf die Stimme Gottes im WORT und in der Geschichte und gibt dann darauf Ant-wort im Gebet. In diesem Punkt sind wir bei den Psalmen in einer erstklassigen Meisterschule. - Die Gläubigen lesen die Geschichte Gottes in der Bibel nicht wie den Bericht eines Journalisten, auch nicht wie die Gebrauchsanweisung eines Computers sondern wir studieren Gottes Wirken in der Geschichte, damit uns die Augen aufgehen für die Herrlichkeit Gottes und wir entdecken, was Gott uns selber durch die Geschichte sagen will. Gott will uns in die Geschichte mit hinein-ziehen. Wir können dabei zögern. Aber wenn wir uns voll hineinwerfen, nimmt ER uns in Seine Pläne mit hinein. Gott arbeitet mit Seinem kreativen WORT an uns und das Geschehen führt uns unwillkürlich zum Gespräch mit IHM. Wenn wir das tun, beten wir.
IV. Der Rhythmus in den Psalmen.
Die Heilige Schrift beginnt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer (hebräisch: Tohuwabohu)“. Es begann mit einem Chaos - aber Gott machte daraus einen Kosmos; kosmos (griechisch) heißt: Ordnung und Schmuck (Kosmetik!). So ist es auch mit unserem Leben. Am Anfang ist das Chaos. Nichts läuft so, wie Gott es will. Die Gedanken rebellieren, unsere Begierden zerstören unsere Tugenden, bei unseren Gefühlen ist ein ständiges Auf und Ab, wir können nicht einmal zehn Minuten lang nach Gottes Plan leben. Und dann fangen wir an zu beten - aber zuerst hören wir. - Was hören wir? Gott spricht zum Chaos: „Es werde Licht! - und es ward Licht.“ - „Gott spricht - und es geschieht, ER befiehlt und es steht da!“
(Psalm 33, 9) Im Schöpfungsbericht ist deutlich ein Rhythmus zu erkennen. „Gott sprach ... und es geschah!“ - „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag ....“ - „Und Gott sah, dass es gut war.“ Sechsmal werden diese Sätze wiederholt in einem festen Rhythmus. In das Chaos kommt Ordnung hinein. Rhythmus finden wir im Leben und in der Welt: die Mondphasen, das Ein- und Ausatmen, unser Pulsschlag, Abend und Morgen, das Schlafen und Wachen, Sommer und Winter. - Auch das Beten gehört in einen Rhythmus: Gott gibt uns den Heiligen Geist, das ist das „Einatmen“, das „Ausatmen“ ist das Beten. Deutlich wird das bei der Ausgießung des Heiligen Geistes (Apostelgeschichte 2). Sobald die Jünger vom Gottesgeist er füllt waren, fingen sie an zu reden, „sie rühmten die großen Taten Gottes“, wie das z.B. im Lobpreis des Psalms 105 geschieht.
Auch die Poesie des Psalters ist rhythmisch aufgebaut. Es gibt keine Sprache, die so sehr für Rhythmus geeignet ist wie das Hebräische: die hebräischen Wörter sind kurz (die meisten Wörter haben nur drei Konsonanten), die Sätze sind einfach, der Rhythmus wirkt wie Einhämmern. Auch die Propheten haben lange Passagen in dieser dichterischen Form geschrieben. Der Rhythmus geht ins Blut, heißt es oft. Die Psalmen sollen tief in die Herzen eindringen, deshalb haben sie diese rhythmische Form. Die Hebräer verwenden dabei nicht den Reim (wie bei unseren Gedichten) sondern den sog. „Parallelismus“, nach dem die meisten Psalmverse gedichtet sind. Parallelismus heißt: in einem Vers werden zwei Gedanken parallel zum Ausdruck gebracht, eigentlich zwei Mal derselbe Gedanke, aber der zweite Gedanke drückt den ersten mit ähnlichen Worten oder mit gegensätzlichen Gedanken aus. Im Psalm 114 ist fast jeder Vers so gedichtet. Zum Beispiel: „Das Meer sah es und floh / der Jordan wandte sich zurück. - Die Berge hüpften wie die Lämmer / die Hügel wie die jungen Schafe.“ Oder konträr im Psalm 1: „Der HERR kennt den Weg der Gerechten / aber der Gottlosen Weg vergeht.“ Im Volksmund sagt man: „Doppelt genäht hält besser“. Den Hebräern liegt also nicht so sehr am Wohlklang eines Reimes sondern ihnen geht es darum, dass der Inhalt des Gedichts im Gedächtnis fest sitzt. Wenn dann noch ein starker Rhythmus dazukommt, dann wird das noch verstärkt. Und genau das will Gott bei den Psalmen und durch die Botschaft der Propheten erreichen.
Gott hat Israel erwählt und damit auch die hebräische Sprache erwählt, weil Jahwe darin Sein dynamisches Wesen am besten zum Ausdruck bringen kann. Jeder Rhythmus im Leben will uns daran erinnern, dass wir nicht in einem wirren Durcheinander leben sondern dass es einen Gott gibt, der alles fest im Griff hat und dem nichts aus der Hand läuft. Wo Rhythmus ist, da ist auch ein Dirigent. Jeder Herzschlag, jedes hebräische Gedicht will uns sagen: nicht ein sinnloser Zufall sondern Gottes Weisheit und Kraft steuern die Welt.
Rhythmus und Parallelismus bewirken zusammen eine doppelte Intensität. Von daher versteht man, warum die Psalmen eine so starke Anziehungskraft haben und soviel Stärkung und Ermutigung weitergeben. In Israel ist es auch üblich, dass man die Psalmen laut liest. Dadurch wird die Kraft noch mehr offenbar. Die Psalmen gehen tiefer und sind kraftvoller als die meisten Menschen denken.
Die nächsten zwei Psalmen 4 und 5 schließen sich an einen fundamentalen Rhythmus an, der uns das ganze Leben und jeden Tag begleitet und dem kein Mensch ausweichen kann: der Rhythmus von Schlafen und Wachen. (Psalm 4 + 5). - Zuerst folgt das Abendgebet, der Psalm 4. Das ist nicht zufällig, sondern das hat seinen Grund. Für die Hebräer ist der Abend wichtiger als der Morgen, weil Gott diesen Rhythmus bei der Schöpfung eingeführt hat. „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ Der jüdische Sabbat beginnt mit dem Gottesdienst am Freitag-Abend. Genau beginnt der Sabbat, sagen die Rabbiner, wenn die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen sind. Abend und Morgen hängen mit der Erdumdrehung zusammen, sind also ein Teil der göttlichen Planung in der Schöpfung. - Der Schlaf ist wichtiger als die meisten denken: wir beginnen unser Leben, indem wir im Mutterleib schlafen; völlig passiv, werden wir in der Dunkelheit gebildet. In den ersten Wochen nach der Geburt sind wir mehr im Schlaf als wach und werden von außen versorgt. Wir sind jahrelang unfähig, unser Leben selber zu gestalten. Allmählich werden wir selbständig. Aber niemals werden wir den Zustand erreichen, dass wir einen 24-Stunden-Tag in völlig eigener Regie haben. Der Schlaf zwingt uns, unsere Selbstkontrolle abzugeben. Schlafen ist nicht nur etwas Biologisches sondern hat viel mit Glauben zu tun. Menschen des Glaubens legen sich abends zur Ruhe in der Gewissheit, dass Gott in der Nacht nicht schläft, sondern dass ER wacht und arbeitet. Menschen ohne Gottvertrauen sind auf sich selber angewiesen, sie können ihre Sorgen und Probleme nicht abgeben und sind deshalb auch meist von einer gewissen Unruhe
Unruhe geplagt. Der oft mit Schmunzeln zitierte Psalmvers: „Den Seinen gibt’s der HERR im
Schlaf“ (Psalm 127) bekommt von daher seinen tiefen Sinn. Der Psalm meint jene Menschen, die ein großes Gottvertrauen haben und fest überzeugt sind, dass Gott ihre Angelegenheiten in der Nacht übernimmt. Der Psalm 121 sagt: „Merk dir’s: der Hüter Israels schläft und schlummert nicht!“ ( - sondern ER arbeitet!). - Das ist auch der Grund dafür, warum Jesus bei dem Sturm auf dem See Genezareth im Schiff geschlafen hat: ER vertraute, dass Sein himmlischer Vater Wolken, Sturm und Winde lenkt und für sie sorgt. - Im Abendgebet befehlen die Gläubigen sich selbst und alle ihre Pläne und Aufgaben in Gottes Hand - in der Gewissheit: der HERR wird alles mit großer Weisheit und Liebe führen. Deshalb schließt auch dieser Psalm 4 mit einem bewunderswürdigen Gefühl der Ruhe und Sicherheit: „Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein DU, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne.“ Glauben heißt: gewiss sein, dass die ganze Welt - mein Leben, meine Familie, meine Arbeit, meine Zukunft - in Gottes heiligen Händen ruht. - Die gläubigen Negersklaven auf den Baumwollfarmen in den USA, die wahrlich genug Sorgen und Nöte hatten, sangen mit Freuden: „HE’s got the whole world in His hands“ - das ist der Text des ersten Verses; in den nächsten heißt es: „ ..... ER hat das Baby, - den Vater, - den Sohn, - die Mutter, - die Tochter, - dich und mich, - jedermann, - Sonne und Mond ... und die ganze Welt in Seinen Händen!“ Diese Gewissheit gab ihnen inneren Frieden und große Freude. Ihre Gospel-Songs sind heute noch ansteckend!
„Bringt Gott rechte Opfer“ (V.6) Das heißt: Legt den ganzen Tag abends auf den Altar Gottes als ein Opfer. Ein Opfer ist eine Gabe, die wir Gott geben, damit ER damit etwas machen kann. Wenn wir etwas opfern, dann geben wir unser Eigentumsrecht auf und schauen, was Gott mit allem machen wird. Der Tag war in unserer Hand, nun übernimmt ihn Gott in Seine Regie. Gott nimmt unsere Opfer und verwandelt sie. Auf dem hebräischen Altar war das sichtbar: das reinigende Feuer verbrannte das Opfer, der Rauch stieg zum Himmel auf. Was wir opfern legen wir in Gottes Hände - und Gott macht das Beste daraus.
Der Morgenpsalm: Psalm 5. In sechs verschiedenen Sätzen spricht David am Anfang dieses Psalms vom Gebet. Der Tag beginnt mit Beten. Damit werden wir vorbereitet für alle Aufgaben des Tages. Jeder Tag bringt Gefahren und Probleme. Die Hälfte des Psalms besteht aus einer Beschreibung der Feinde, die uns begegnen werden. Gott ist das Hauptthema in allen Psalmen. Aber an zweiter Stelle folgen die Feinde (nicht die Krankheiten oder die Sorgen). Am häufigsten wird in Psalm 5 das böse Reden der Feinde erwähnt (7 mal!). Worte können aufbauen - aber auch zerstören. Schon beim Beten merken wir, wie böse Gedanken uns ablenken wollen, um das Gebet für nutzlos zu erklären. Wir legen im Morgengebet den ganzen bevorstehenden Tag mit allen Gefahren, Ängsten und Hoffnungen auf den Altar Gottes als ein Opfer und vertrauen IHM.
Es ist beim Morgengebet, wie wenn wir auf einem Wachtturm stehen. Was wird der Tag alles bringen? Wir sind gespannt - aber auch ängstlich. - Die Jakobsgeschichte gibt uns dafür ein gutes Beispiel (1. Mose 31). Jakob musste von seinem Schwiegervater Laban, bei dem er 20 Jahre lang gearbeitet hatte, fliehen. Das Zusammenleben ging nicht mehr, es gab zu viel Streit. Bevor sie sich trennten, machten sie eine Vereinbarung. Sie bauten aus Steinen einen Altar mit einer Steinsäule, die sie Mizpa nannten, das heißt so viel wie „Wachtturm“. Dahinter liegt folgender Sinn: 20 Jahre lang hatten sich die beiden gegenseitig ausspioniert und übervorteilt. Jetzt wollten sie das aufgeben. Sie beide gelobten: „Der HERR wache über uns beide, wenn wir voneinander gegangen sind“ (1. Mose 31, 49) Sie verabschiedeten sich. Laban zog wieder nach Haran, Jakob nach Kanaan. Aber Jakob hatte schon ein neues Problem vor sich: er erwartete die Begegnung mit seinem feindlich gesonnenen Bruder Esau. Er musste sogar mit dem Schlimmsten rechnen. Da sah Jakob in der Morgenfrühe am Horizont etwas Seltsames: die Engel Gottes. „Das ist die Armee Gottes!“ rief Jakob. Er hatte es noch im Ohr: „Mizpa“ - „Der HERR wacht über uns!“ Jetzt schickt Gott ihm die unsichtbare himmlische Unterstützung. Wie wichtig war das jetzt für ihn! Was für eine Ermutigung bekam er durch dieses Signal! - An die „Mizpa“-Erfahrung sollten wir jeden Morgen denken. Im Morgengebet stehen wir vor dem allmächtigen Gott, der den ganzen bevorstehenden Tag überschaut und der über uns wacht. Und die Engelheere Gottes werden uns begleiten - um uns zu dienen und uns zu beschützen.
4. Mai 2002 Pfr. Gerhard Hägel, Bobengrün