Warum es so revolutionär für den Glauben ist, dass Christus in uns lebt.
Hans Peter Royer
Die Tatsache dass Christus in uns wohnt und wir in Christus sind, ist einzigartig. Sie hat mein Leben wahrscheinlich mehr geprägt als alle anderen Erfahrungen, die ich als Christ gemacht habe. Obwohl ich die Botschaft Jesu Christi in unserer evangelischen Kirche in Ramsau am Dachstein als 15-jähriger Teenager bewusst wahrgenommen und mich darauf eingelassen habe, blieb Gott für mich ein externes Wesen, irgendwo da draußen im All. Und trotz Anstrengung fiel es mir schwer, den christlichen Weg zu gehen. Als 19-Jähriger musste ich mir schließlich eingestehen, dass ich nicht in der Lage war, die Anforderungen des Evangeliums zu erfüllen und kam zu dem Schluss, dass das Christsein für fähigere oder moralisch bessere Menschen gedacht ist. Ich zog mich damals für mehrere Jahre von der christlichen Szene und auch von Jesus selbst zurück. Dieses Leben war zwar irgendwie einfacher, allerdings sehr oberflächlich und oftmals leer.
Mit etwa 25 Jahren las ich diesen Satz von Major Ian Thomas, dem Gründer der Fackelträger: „Christ-sein ist nicht leicht, Christ-sein ist auch nicht schwer, Christ-sein ist unmöglich![1]
Dieser Satz war für mich anfänglich verwirrend - aber gleichzeitig gab er mir die Hoffnung, dass es etwas geben muss, das ich noch nicht wusste. In den darauf folgenden Jahren lernte ich, dass dieses Etwas nicht „etwas" ist, sondern ein „Jemand", nämlich der auferstandene und lebendige Jesus Christus selbst. Ich fing an zu verstehen und zu erleben, dass nicht ich für Christus arbeiten muss, sondern dass er durch mich arbeitet und wirkt. Ich lebe in ihm und er lebt in mir.
Paulus beschreibt diese Einheit von Gott und Mensch als ein Geheimnis. In seinem Brief an die Kolosser lesen wir: „Diese Botschaft war in der Vergangenheit über viele Jahrhunderte und viele Generationen hinweg wie ein Geheimnis verborgen; jetzt aber wurde es denen enthüllt, die zu ihm gehören ... Und das ist das Geheimnis: Christus lebt in euch! Darin liegt eure Hoffnung: Ihr werdet an seiner Herrlichkeit teilhaben!" (Kolosser 1, 26-27)
Ein Geheimnis ist nicht dasselbe wie ein Rätsel. Ein Rätsel ist anfänglich völlig unverständlich, kann jedoch durch Klugheit und Intellekt gelöst werden. Wenn es gelöst ist, hat man völlige Klarheit. Ganz anders verhält es sich mit einem Geheimnis. Eine „geheimnisvolle Frau" zum Beispiel kann man zu entdecken oder ergründen versuchen. Indem man sich auf sie einlässt, kann man an ihrem „Geheimnis" teilhaben. Aber man kann sie nicht bis ins letzte Detail ergründen oder berechnen. So ist das Geheimnis des Christus. Obwohl man ihn nicht wie ein Rätsel aufklären oder lösen kann, kann man an seinem Leben teilhaben. Er entzieht sich unserer Berechenbarkeit - aber das Geheimnis seiner in uns wohnenden Gegenwart ist erfahrbar!
Ein Geheimnis zum Weitersagen - das klingt widersprüchlich. Ist es aber nicht! Denn das Geheimnis, um das es hier geht, sollte uns ohnehin „aus allen Knopflöchern" schimmern. Wer Jesus Christus kennt, trägt ein Geheimnis in seinem Herzen: „Christus in mir"! Was für eine schöne und zarte Beschreibung für ein Leben mit Jesus Christus! Denn wer mit Jesus lebt, hat nicht etwas Besonderes „an sich", sondern etwas Wunderbares „in sich" - ein Geheimnis, das den Namen „Christus" trägt. Doch keiner hat dieses Geheimnis nur „für sich", sondern immer auch „für andere". Das ruhige, freudige bewirkt mehr als wir uns vorstellen können.
Einer meiner geistlichen Väter, Pfarrer Gerhard Hägel aus Bobengrün, hat mich auf die Habilitationsschrift des deutschen Theologen Adolf Theissmann (1866-1937) aufmerksam gemacht. Dieser befasste sich mit der neutestamentlichen Formel „in Christo Jesu".[2]
Diese herausragende Formel „In Christus Jesus" kommt im Neuen Testament nicht weniger als 196-mal vor:
■ 164-mal in den Paulusbriefen (Epheser, 2. Korinther, Römer, Philipper, Kolosser)
■ 24-mal im Johannes Evangelium und seinen Briefen
■ 8-mal in der Apostelgeschichte und den Petrusbriefen.
Diese Formel ist deshalb so herausragend, weil sie das Verhältnis des Christen zum lebendigen Christus charakterisiert. Dieses winzige „en"/„in" Christus beschreibt die denkbar innigste Gemeinschaft des Christen mit Jesus Christus und ist der technische Ausdruck für den paulinischen Zentralgedanken der „koinonia" (= Gemeinschaft) mit Christus.
Theissmann schreibt: „Wenn sich diese Formel in der an Umfang verhältnismäßig so beschränkten paulinischen Literatur 164-mal findet und zwar in Beziehung zu wichtigen religiösen und ethischen Begriffen, kann die Wichtigkeit der richtigen Erklärung gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Es ist hier wirklich so, dass auf dem winzigen ,en montes doctri- narum (= Berge der christlichen Lehre) sich erheben: die ganze Auffassung der paulinischen Christologie und damit des christozentrischen Paulinismus überhaupt erhält ihr eigenartiges Gepräge nicht zuletzt durch die Stellung, welche man zu dieser Präposition (,en) und der mit ihr gebildeten Formel einnimmt."
In deutschen Übersetzungen sind die „in Christus"-Stellen manchmal nicht zu erkennen, weil das „in" oft mit „durch" oder mit „an" („glauben an") übersetzt ist. Speziell bei den neueren Übersetzungen kann man diese herausragende Formel nicht mehr wahrnehmen.
■ Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. (Johannes 6, 56)
■ Ihr werdet erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch. (Johannes 14, 20)
■ Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann ... wenn ihr nicht in mir bleibt". (Johannes 15, 4)
■ Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun. (Johannes 15, 5)
■ Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt und es ... (Johannes 15, 7)
■ Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Bedrängnis ... (Johannes 16, 33)
■ Wie du, Vater, in mir bist und ich in Dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube ... (Johannes 17, 21)
■ Ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne ... (Johannes 17, 23)
■ Damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen. (Johannes 17, 26)
Weil dieser Gedanke, dass Christus „in uns wohnt", ein Geheimnis ist, scheinen mir Bibelübersetzer oft versucht, es anders zu formulieren. Aber damit haben wir diese Passagen heute oft nicht in verständlicher Sprache. Es ist nämlich nicht dasselbe, ob ich „an" Christus glaube oder „in" Christus lebe. Denn wenn ich „an" Christus glaube, dann könnte Christus ohne weiteres extern wohnen und ich versuche dann eben krampfhaft, im Gebet zu ihm durchzudringen. Wenn ich jedoch „in" Christus lebe, dann ist Gott nahe, dann ist er hier, dann ist er mir näher als ich mir selbst bin - nämlich in mir\ Damit habe ich einen ganz anderen Zugang zu Gott.
Die Wahrheit, dass Christus in uns wohnt ist zentral und beeinflusst alle Bereiche des Lebens. Keine trockene Theorie, keine biblische Beliebigkeit - aber immer noch zu wenig beachtet von Theologen. Nur zum Vergleich: Über das Abendmahl haben wir etwa ein Dutzend Stellen im ganzen Neuen Testament. Wie viele Bücher wurden darüber geschrieben und wie viele verschiedene Standpunkte sind darin vertreten? Oder das ewige Thema Taufe? Darüber lesen wir etwa 30-mal. Wie viele Überzeugungen und Spaltungen gab und gibt es deshalb unter Christen? Die Tatsache, dass wir „in Christus" sind, kommt 196-mal vor, findet jedoch in ihrer Bedeutung wenig Beachtung.
Dabei ist die Formel „in Christus" die kürzeste Beschreibung eines Menschen, der sein Leben Jesus anvertraut hat. Die Wirklichkeit des uns innewohnenden Christus ist die „Wirklichkeit der Wirklichkeiten". Es ist die Erfüllung des hohenpriesterlichen Gebets Jesu, in dem er kurz vor seiner Kreuzigung für alle Gläubigen der Menschheitsgeschichte betet: „Ich bete auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben, damit sie alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, dass auch sie in uns eins seien." (Johannes 17, 20-21)
Jesus betete um die Einheit zwischen Gott und Mensch - die Einheit, für die wir von Beginn der Welt an geschaffen waren. Darum gibt es keine tiefere Wahrheit und keine größere Offenbarung als die Tatsache, dass wir in Christus sind und Christus in uns wohnt. Paulus identifizierte sich so sehr mit Christus, dass er sagen konnte: „Ich bin mit Christus gekreuzigt und nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir!" (Galater 2, 20)
Warum Christus in uns wohnen muss
Als 15-jähriger Teenager vertraute ich bewusst mein Leben Jesus an, im Glauben, dass mir damit meine Sünden vergeben sind und ich einmal in den Himmel kommen werde. An diesem Glauben halte ich bis heute fest - Gott hat es uns in seinem Wort so zugesagt. Aber ich lernte, dass der Grund, warum Jesus in diese Welt kam, eine noch tiefere Bedeutung hat. Er kam nicht nur, um uns von Schuld frei zu sprechen und uns an einen Ort ewiger Seligkeit zu bringen, sondern er kam, um uns Leben zu geben - Leben im Überfluss! (Johannes 10, 10) Und dieses Leben ist nicht irgendetwas, sondern ein Jemand, Jesus selbst, denn er ist das Leben (Johannes 14, 6).
In Römer 3, 23 lesen wir: „Denn alle Menschen haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren." Was ist diese verlorene Herrlichkeit? Bei Johannes lesen wir: „Er, der das Wort war, wurde Mensch und lebte unter uns. Er war voll Gnade und Wahrheit und wir wurden Zeugen seiner Herrlichkeit..." Jesus hatte diese Herrlichkeit! Aber was bedeutet das, was haben die Menschen gesehen, wenn sie Jesus anschauten? Sie sahen den Charakter Gottes offenbart in seinem Sohn. So, wie Jesus Menschen behandelte, sie heilte, barmherzig war und mit ihnen redete, konnte man in ihm den Charakter Gottes erkennen. Wer Jesus gesehen hat, hat den ewigen Charakter Gottes gesehen. Darum konnte Jesus sagen: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen." (Johannes 14, 9)
Der Mensch war ursprünglich geschaffen im Ebenbild Gottes und spiegelte den Charakter Gottes wieder (l. Mose 1, 27). Hätten wir Adam und Eva vor dem Sündenfall beobachten können, hätten wir an ihrem Charakter gesehen, wie Gott ist. Was haben Adam und Eva beim Sündenfall verloren? Die Herrlichkeit, den Charakter Gottes! Wir haben Gottes Geist, sein Wesen in uns verloren. Diesen Verlust nennt die Bibel den „Sündenfall".
Wäre Christus also nur gekommen, um unsere Sünden zu vergeben, so hätte er das auch extern machen können - erwirkt am Kreuz und zugesprochen vom Himmel. Wäre Christus nur gekommen, um uns einmal in den Himmel zu holen, so hätte er auch das vom Thron Gottes her schaffen können. Aber weil Christus kam, um uns Leben zu geben - indem er die Einheit von Gott und Mensch wieder hergestellt hat und so seinen Charakter wieder in den Menschen hinein gepflanzt hat -, musste er kommen, um in uns zu wohnen.
Aus seinem Buch „Dunkler als Finsternis - heller als Licht“.
„Christ-sein ist nicht leicht, Christ-sein ist auch nicht schwer, Christ-sein ist unmöglich!“ Major Ian Thomas