Hans Peter Royer: Die Bibel mit Jesus auslegen
Gibt es eine bibelgerechte Art, die Bibel auszulegen? Über eine biblische Hermeneutik und wie uns Jesus vom Gesetz frei macht. Von Hans Peter Royer
Die Art, wie man die Bibel versteht, auslegt und erklärt, nennt man Hermeneutik – ein Wort, das so klingt, als ob diese Disziplin Theologen vorbehalten wäre. Jeder Mensch aber, der die Bibel liest, praktiziert Hermeneutik. In der Stillen Zeit, in Bibelkreisen oder privaten Gesprächen wird Hermeneutik praktiziert – jeden Tag. Christen, die sich als „bibeltreu“ bezeichnen (ich zähle mich dazu), haben mich bereits als jungen Christen eine wichtige hermeneutische Grundregel gelehrt: dass ich immer die Bibel mit der Bibel auslegen muss. Eine gute Grundregel, ich praktiziere sie bis heute. Aber mit dieser Grundregel allein bin ich bald auf Grenzen gestoßen. Mit den „drei Gefäßen der Hermeneutik“ möchte ich das erläutern.
Die drei Gefäße der biblischen Hermeneutik
Wann immer wir die Bibel zu verstehen versuchen und auslegen, legen wir den gelesenen Bibeltext – bewusst oder unbewusst – in eines von drei Gefäßen:
Nr. 1: Hier hinein kommen ganz automatisch jene Bibelverse oder Passagen, deren Bedeutung zu jeder Zeit, für jeden Menschen und an jedem Ort der Welt gültig sind – egal, ob du heute in Stuttgart lebst oder im Jahr 1006 in Konstantinopel. Diese Texte sind in der Regel leicht zu erkennen und einzuordnen. Beispiel: Johannes 3, 16, Matthäus 22, 27
Nr. 2: In dieses Gefäß geben wir automatisch und unbewusst all jene Verse der Bibel, die – abgesehen von wenigen Ausnahmen – hier und heute für niemanden mehr gültig sind. Für einen einzelnen Menschen in Israel mag er eventuell noch gelten, aber ganz sicher nicht für mich in Österreich. Beispiel: Lukas 5, 4. Obwohl Jesus hier auffordert, im See Genezareth fischen zu gehen, kaufe ich mir kein Flugticket nach Israel, um das zu tun. Wir wissen, dass dieser Vers vor 2000 Jahren für Petrus galt. Anderes Beispiel: Apostelgeschichte 8, 26. Das Leben wäre einfach, gäbe es nur diese zwei Gefäße. Aber es gibt noch ein drittes – und das ist das „Problemgefäß“.
Nr. 3 – die Problemschachtel: Ein Gefäß für all jene Bibelpassagen, deren Prinzipien für alle Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit gelten. Das Ausleben allerdings und die Anwendung dieser Prinzipien ist abhängig von Kultur, Zeitepoche und Ort. Gut zu demonstrieren ist das an 1. Thessalonicher 5, 26. Paulus gibt den Christen hier ein ganz konkretes Gebot: „Grüßt alle Brüder mit heiligem Kuss.“ Ich war schon bei vielen christlichen Veranstaltungen in Europa, aber ich habe – mit einer Ausnahme – nie erlebt, dass Brüder sich beim Gruß geküsst hätten. Und schon gar nicht auf den Mund. Dabei würden sich all meine Besuchsziele als „biblisch“ bezeichnen – was ich, was nun diesen Vers anbelangt, nicht bestätigen könnte. Ich bin froh darüber, dass ich von Männern nicht geküsst werde. Aber was tun wir nun mit diesem Gebot des Paulus? Ganz einfach: Er kommt in Gefäß 3. Es stimmt nach wie vor, dass wir uns grüßen sollen. Aber wie das gemacht wird, ist abhängig von Ort und Zeit.
Völlig unbewusst und selbstverständlich ordnen wir verschiedene Bibelverse verschiedenen Gefäßen zu. Das ist völlig legitim. Ein Problem taucht nur dann auf, wenn wir glauben, es sei völlig offensichtlich, welche Verse in welches Gefäß gehören. An dieser Stelle beginnt in der christlichen Landschaft der Kampf darum, wer nun „wirklich bibeltreu“ ist und wer nicht.
John Stotts Nuss-Beispiel
Der englische Theologe John Stott hat dazu etwas Hilfreiches gesagt: Er vergleicht Hermeneutik mit einer Nuss. Eine Nuss besteht, grob gesagt, aus zwei Teilen – der Schale und dem Kern. Die Schale ist sicht- aber nicht essbar und darum für uns nicht so wesentlich. Der Kern ist das Innenleben. Der ist wesentlich für uns, denn er ist essbar. Stott sagt nun, dass manche Bibelverse wie eine Nuss betrachtet und ausgelegt werden müssen. Da ist einerseits der Kern, das Wesentliche bzw. die universelle Wahrheit – etwa das „Grüßt einander …“ Die Schale dagegen repräsentiert den äußeren Ausdruck dieser Wahrheit wie das „mit dem heiligen Kuss“.
In der Bibelauslegung scheinen mir zwei entgegengesetzte Fehler begangen zu werden: Entweder wir werfen die ganze Nuss (Bibelvers) in Gefäß Nr. 1 – Kern und Schale haben dieselbe Wichtigkeit. Der Gruß an sich und die Ausdrucksform als Kuss sind beide gleich wesentlich. Als bibeltreuer Christ musst du deshalb beides tun, sonst bist du ungehorsam. Oder wir werfen die ganze Nuss (Bibelvers) in Gefäß Nr. 2. Das hieße, der ganze Vers ist unwesentlich für Christen heute. Weil der Kuss eine kulturell geformte Ausdrucksweise ist, sei auch der Gruß kulturell zu verstehen. Deshalb könne man heute beides vergessen.
Die Vielzahl von Konfessionen und Gruppierungen ist entweder unsere größte Stärke oder unsere größte Schwäche.
Unterschiedliche Interpretationen der Bibel: Stärke oder Schwäche der Christenheit?
Ich möchte veranschaulichen, wie ich diese Spannung in den unterschiedlichen Interpretationen der Bibel erlebe. Ich sehe es als Vorrecht, dass ich in vielen verschiedenen Kirchen, Gemeinden und Konferenzen Christus predigen darf. Ich glaube, dass die Vielzahl von Konfessionen und Gruppierungen entweder unsere größte Stärke oder unsere größte Schwäche ist – abhängig davon, wie wir uns gegenseitig erkennen und wie wir voneinander reden.
Nicht selten spreche ich am Vormittag in einer und am Abend in einer anderen Gemeinde. In der ersten Gemeinde betrete ich den Gottesdienstraum und, obwohl viele Menschen da sind, ist alles sehr leise. Die Frauen tragen zum großen Teil Kopftücher, auf dem Podium sitzen ausschließlich Männer und die Gottesdienstbesucher unterhalten sich flüsternd. Auch Gottesdienstleitung und Predigt wird ausschließlich von Männern gemacht. Ich frage einen der Ältesten, warum das hier so ist. Darauf schaut er mich verwundert an und fragt: „Kennen Sie denn die Bibel nicht?“ Er verweist mich auf eine Stelle im 1. Korinther 11, 5: „Jede Frau aber, die mit unverhülltem Haupt betet oder weissagt, entehrt ihr Haupt.“ Da steht es doch! Dann frage ich ihn, warum denn dann die Frauen hier nicht weissagen (predigen) oder von vorne beten. Darauf antwortet er mir, dass dieses Detail nicht für heute gelte, weil ja an einer anderen Stelle stehe, dass Frauen schweigen sollten. Dieser Ansicht nach ist also das Tragen von Kopftüchern für Frauen eine universelle Wahrheit, das Predigen und Beten im Gottesdienst gilt jedoch für Frauen heute nicht mehr. Das Kopftuch kommt ins Gefäß Nummer 1, das Predigen ins Gefäß Nummer 2.
„Ihr seid nicht biblisch!“
Am Abend komme ich dann in eine andere Gemeinde. Ich muss sie nicht lange suchen, weil die Lautstärke ihrer Musik mir bereits die Richtung angibt. Beim Eintreten fühle ich mich eher wie in einem Kinosaal. Es wird laut geredet, einige beten in Zungen, Frauen und Männer predigen und sind im Ältestenamt vertreten. Ich frage wiederum einen der Verantwortlichen, warum sie das hier so machen. Darauf schaut er mich verdutzt an und fragt: „Ja, hast du keine Ahnung von der Bibel?“ Er verweist mich auf dieselbe Stelle 1. Korinther 11, 5 und erklärt mir, dass bereits dort Frauen in der Gemeinde geweissagt und gebetet haben. Dann frage ich ihn, warum dann die Frauen hier keine Kopftücher tragen. Darauf antwortet er ganz selbstverständlich: „Das gilt doch nicht mehr, das galt nur damals bei den Griechen.“ Also ist das Predigen und Beten für Frauen im Gottesdienst eine universelle Wahrheit – das Tragen der Kopftücher gilt aber nicht für heute: Kopftuch Gefäß Nr. 2, Predigtdienst von Frauen Gefäß Nr. 1. Die Tragödie daran ist nicht die unterschiedliche Betonung, sondern dass die eine der anderen Gruppe vorwirft, nicht „biblisch“ zu sein. Dabei hat die Art, wie wir jeweils einen Bibeltext interpretieren, meist vor allem mit unserer Vergangenheit zu tun: die Konfession, in der wir groß wurden, die Kultur, die uns geprägt hat und natürlich die Werte, die wir in der Familie anerzogen bekamen.
Unsere Interpretation [ist] immer gefärbt ist von unserer Kultur, Persönlichkeit, Erziehung und vielem mehr.
Niemand liest die Bibel „objektiv“
Es geht mir jetzt hier nicht darum, welcher Vers in welche Schachtel gehört, sondern darum, dass wir uns eingestehen, dass niemand von uns die Bibel 100 Prozent objektiv liest und beurteilt, sondern unsere Interpretation immer gefärbt ist von unserer Kultur, Persönlichkeit, Erziehung und vielem mehr. Und dieses Wissen sollte uns barmherzig machen miteinander. Ein Kriterium für die Bibelauslegung hat mir sehr geholfen. Es wurde für mich zu der wahrscheinlich wichtigsten hermeneutischen Grundregel im Verstehen der gesamten Heiligen Schrift: dass ich die Bibel mit der Brille Jesu auslegen muss.
Die Bibel mit Jesus auslegen
Vor knapp 20 Jahren sagte mir ein bibeltreuer Theologe: „Hans Peter, du musst die Bibel nicht nur mit der Bibel auslegen, du musst sie mit Jesus verstehen und auslegen!“ Das hat mich anfangs verwirrt, weil ich nicht wusste, wo da der Unterschied sein soll. Denn nur durch die Bibel ist es uns heute überhaupt möglich zu erkennen, wer Gott ist, wie er denkt und handelt. Vor einiger Zeit hatte ich ein Gespräch mit einem anderen bibeltreuen Theologen, der einen mir unvergesslichen Satz sagte: „Ich habe meinen Glauben nie an der Bibel festgemacht, sondern immer nur an Jesus Christus.“
Wir sprachen dann über Matthäus 17, 1–8, das Geschehen am Berg der Verklärung. Jesus nimmt hier drei seiner Jünger (den inneren Kreis) mit sich auf einen hohen Berg. Wahrscheinlich war es der Berg Hermon, ganz im Norden Israels, nördlich der Golan-Höhen. Dort begegnen diesen drei Jüngern neben Jesus zwei Erscheinungen aus dem AT – Mose und der Prophet Elia. In gewissem Sinne ist auf diesem Berg die ganze Menschheitsgeschichte vertreten: Mose repräsentiert das Gesetz, Elia repräsentiert die Propheten, die Jünger repräsentieren die Zeit der ersten Gemeinde und Jesus, als der Sohn Gottes, repräsentiert seinen Vater. Als die Jünger das sehen, sind sie verständlicherweise überwältigt: Petrus wollte gleich drei Hütten bauen – eine für Mose, eine für Elia und eine für Jesus. Für Petrus waren Mose, Elia und Jesus auf derselben erhabenen Stufe der Gottesnähe. Daran erkennen wir, dass Petrus noch nicht verstand, wer Jesus ist. Nämlich nicht nur ein Mensch wie Mose, Elia oder wir. Er ist nicht nur Mensch, sondern Gott. „Gott der Vater“ selbst schritt dann ein und stellt die Sache klar, indem er in einer Stimme vom Himmel her sagt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, ihn hört!“
Aus dieser Gottes-Erklärung lernen wir mindestens drei Dinge: „Gott der Vater“ hebt Jesus von allen anderen Menschen, Propheten und Gottesmännern heraus – er ist mehr als nur ein Prophet! Er bestätigt, dass Jesus der Sohn Gottes ist – nicht ein Sohn – sondern der Schöpfer aller anderen Menschenkinder. Und Gott stellt eine grundlegende hermeneutische Grundregel auf – „Auf ihn hört!“ – das heißt, wir müssen in erster Linie auf Jesus hören. Worin besteht nun der Unterschied zwischen dem, was Gott durch Mose oder Elia gesprochen hat, und dem, was Jesus sagte? Dazu müssen wir nachlesen, was das Neue Testament über Mose und Elia lehrt.
Was sagt das NT über Mose?
In Johannes 1, 17 steht: „Das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Hier wird klar: Wenn wir das Gesetz kennen lernen wollen, dann ist es ratsam, Mose zu lesen. Wenn wir jedoch Gnade und Wahrheit kennen lernen wollen, dann müssen wir auf Jesus Christus hören.
In Johannes 5, 39–40+46 sagt Jesus zwei Dinge. Dass wir Leben nicht in der Schrift an sich finden können, sondern nur bei Jesus, und dass Mose im Alten Testament über Jesus geschrieben hat. Das heißt: Um Mose recht zu verstehen, müssen wir ihn durch die Brille Jesu lesen. Nur in und durch Christus wird das Gesetz erfüllt und lebendig. Ohne Jesus bleibt es ein toter Buchstabe.
Der 2. Brief an die Korinther und vor allem der Brief an die Hebräer macht dies ganz klar (2. Korinther 3, 14–17). Ohne Christus bleibt eine Decke über dem Gesetz. Wir können es nicht richtig einordnen. Die Decke kann nur in Christus abgenommen werden. Das heißt auch, dass wir Mose nur durch die Brille Jesu (NT) recht verstehen können. Natürlich steht fest, dass alle Schrift von Gott eingegeben ist. Aber es ist offensichtlich, dass nicht alle Schreiber der Bibel eine komplette, letztgültige Offenbarung hatten.
Die progressive Offenbarung in der Bibel
In der Theologie nennen wir das die progressive (fortschreitende oder zunehmende) Offenbarung in der Bibel. An einigen Stellen ist dieses Prinzip leicht ersichtlich. Wenn z.B. in den Psalmen 6, 6 oder 115, 17 steht, dass die Toten nicht mehr an Gott denken, dann ist das etwas, was wir im Lichte der gesamten Heiligen Schrift anders sehen. Wenn man derartige Verse nicht im Lichte des NT auslegt, hat man ein Problem.
Was sagt das NT über Elia als Prophet? In Hebräer 1, 1–3 finden wir: Früher redete Gott durch Propheten … heute durch den Sohn! Gott hat immer und zu vielen Zeiten durch Propheten – auch durch Elia – geredet. Aber sein letztes Wort hat er in seinem Sohn Jesus gesprochen. Nur Jesus allein ist das „exakte Abbild“ seines Vaters. Er allein repräsentiert das Wesen Gottes. Das griechische Wort ist hypostasis – die Essenz, Substanz, das wahre Wesen Gottes. Wenn wir also in das Herz unseres himmlischen Vaters sehen wollen, müssen wir in erster Linie auf Jesus schauen. Gott hat sein erstes und letztes Wort weder durch Mose noch durch Elia gesprochen, sondern durch Jesus. Nur er ist das Alpha und Omega, der Anfang und das Ende und der Lebendige.
Gottes wahrer Charakter ist ersichtlich am Kreuz von Golgatha. Dort offenbarte Gott seine Liebe, indem er sich selbst in Jesus gab.
Wer Jesus sieht, der sieht den Vater
Einmal bat der Jünger Philippus den Herrn, dass er ihnen den Vater zeigen möge. Darauf antwortete Jesus in Johannes 14, 9: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ Weiter sagt Jesus: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10, 30). Gottes wahren Charakter, sein Herz, erkennen wir nicht im Buch Josua oder bei Mose, sondern allein in Jesus. Nur Jesus hat uns gezeigt, wie „Gott der Vater“ wirklich ist. Gottes wahrer Charakter ist ersichtlich am Kreuz von Golgatha. Dort offenbarte Gott seine Liebe, indem er sich selbst in Jesus gab. Paulus beschreibt es in 2. Korinther 5, 19: „Gott war IN Christus und hat die Welt mit sich selbst versöhnt.“ Jede Offenbarung Gottes (AT und NT) spielt eine wichtige Rolle. Aber niemand außer Jesus offenbart, wie Gott wirklich ist. Wer also wissen will, wie „Gott der Vater“ wirklich ist, darf nicht über Jesus hinweggehen. Jesus und seinen Worten müssen wir mehr Gewicht und größere Aufmerksamkeit schenken als allen vorangegangenen Offenbarungen. Wenn wir das versäumen, entwickeln wir ein falsches Gottesbild.
Die Bibel: Nicht jede Schrift hat dieselbe Autorität
Ja, die gesamte Schrift (66 Bücher) ist von Gott eingegeben, aber nicht alle Schrift hat dieselbe Autorität. An dieser Stelle schüttelt manch „bibeltreuer Christ“ den Kopf. Diese Tatsache aber ist in der Bibel selbst verankert: In Johannes 5, 36 sagt Jesus, dass sein Zeugnis größer ist als das des Johannes. Das hebräische Wort meint „gewichtiger“. Das Wort Jesu hat „mehr Gewicht“ als das des Johannes, obwohl Jesus selbst sagte, dass Johannes der Täufer der Größte aller Propheten ist.
Aus Kolosser 1, 15–19 lernen wir, dass die Fülle Gottes in Jesus ist – in niemand sonst. In Matthäus 11, 27 sagt Jesus: Niemand kennt den Vater außer nur der Sohn. Niemand – und das sagt Jesus! Das schließt auch Mose und Elia ein. Nur der Sohn ist die exakte Repräsentation des Vaters. Darum müssen wir die gesamte Bibel immer mit dem Geist, der „Brille Jesu“ auslegen. Wer das nicht beachtet, endet unweigerlich in der Falle der Gesetzlichkeit. Wenn ich Gesetz mit Gesetz auslege, habe ich immer noch Gesetz, aber kein Leben! Wenn wir Gesetz mit Gesetz auslegen, dann nehmen die Pharisäer und Gesetzeslehrer immer den ersten Platz ein und werden fälschlicherweise „richtige“ Beispiele für das Christsein. Wer Gesetz mit Gesetz auslegt, separiert sich von Andersdenkenden. Er sieht sich selbst auf der richtigen Seite, die anderen auf der falschen. Das Leben als Christ besteht dann zum großen Teil daraus, ein theologisches System zu definieren, abzugrenzen und zu verteidigen. Wenn ich dagegen Jesus als meine Mitte entdecke, dann muss ich nicht ständig Grenzen verteidigen, sondern kann mich auf das Wesentliche konzentrieren.
Der Alte Bund hat seinen Dienst getan – er hat uns zum Neuen Bund geführt.
Vom Sabbat zu Gott selbst
Es ist wichtig festzuhalten, dass der Alte Bund (AT) den Neuen Bund (NT) neu nennt. Das AT prophezeit einen Neuen Bund, der einmal kommen wird. Und der Neue Bund nennt den Alten Bund alt. Das heißt: Der Alte Bund hat seinen Dienst getan – er hat uns zum Neuen Bund geführt. Das Alte Testament ist deshalb nicht ungültig, weil wir ohne das AT den Neuen Bund gar nicht einordnen könnten. Dennoch ist das AT der Wegweiser zum NT.
In Hebräer 8, 13 wird das klar gesagt: „Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und sich überlebt, ist dem Verschwinden nahe.“ Gott hat den Alten Bund absichtlich (aktiv) und voraussehend ausdienen lassen. Jemand hat es einmal so formuliert: Die Wahrheit zu sagen, ist gut. Die Wahrheit in Liebe zu sagen, ist besser. Das Beste jedoch ist, die Wahrheit in Christus zu sagen. Denn nur er ist die Wahrheit. In Römer 9, 1 heißt es: „Ich sage die Wahrheit in Christus.“
Im 4. Gebot steht: „Du sollst am Sabbat nicht arbeiten.“ Was aber heißt das genau? Was zählt als Arbeit und was nicht? Die religiösen Juden versuchten, das genau zu definieren und kamen auf folgenden Konsens: Drei Datteln tragen war keine Arbeit. Vier Datteln tragen war Arbeit. Auf dem Wasser fahren war keine Arbeit – weil der Wind das Segelboot antrieb. So legten manche Juden einen Wassersack auf den Esel und ritten somit legitim am Sabbat zur Schwiegermutter. Das Gesetz nährt immer den Pharisäer in uns.
Als Jesus kam, legte er seinen Finger auf das wirkliche Problem dieser religiösen Menschen. Es war ihr verhärtetes Herz. Markus 3, 1–6: Jesus war betrübt über die Härte ihrer Herzen. Nichts in der Welt ist schwerer zu durchbrechen als ein verhärtetes Herz. Der Buchstabe, das Befolgen von Regeln, das Gesetz, verhärtet stets unser Herz. Nur der Geist Jesu kann hier ein Wunder wirken und ein solches Herz erweichen.
In Markus 2, 23–27 lehrt uns Jesus, dass der Sabbat um des Menschen willen geschaffen ist – nicht umgekehrt. Wir sind nicht unabkömmlich, wir dürfen einen Tag in der Woche ruhen. Wenn wir Aussagen des AT über den Sabbat nicht durch die Brille Jesu lesen, werden wir wieder Knechte des Gesetzes, von dem Christus uns befreit hat.
Selbst für unser Gottesbild gilt das. Jesus sagt, dass wir dann Söhne des Vaters sind, wenn wir unsere Feinde lieben und für die beten, die uns verfolgen. Im AT lesen wir öfter, wie Gläubige sich an ihren Feinden rächten. Als Jesus mit seinen Jüngern durch Samaria ging und sie eine Herberge suchten, wurden sie abgewiesen. Die Jünger fragten Jesus, ob sie nun Feuer vom Himmel bestellen sollten, das diese unwilligen Samariter verbrennt. In Lukas 9, 51–55 lesen wir, dass Jesus sie dafür tadelte. Interessanterweise hat der Prophet Elia im AT aber genau das getan. Er hat mehrere ungehorsame Menschen in Samaria verbrannt (2. Könige 1, 1–12/2. Könige 2, 23–24). Die Jünger Jesu kannten diese Geschichten und wollten vermutlich ein wenig Elia spielen. Das heißt: Hätte Elia zur Zeit Jesu das getan, was er im AT tat, dann hätte Jesus ihn getadelt.
Auch unser Bild von Gott dürfen wir also ausschließlich von Jesus ableiten! Wir kennen den Charakter Gottes, weil er sich zu 100 Prozent in seinem Sohn offenbart hat. Gott ist die Liebe (1. Johannes 4, 8+16) – und diese Liebe wurde in seinem Sohn sichtbar. Darum finden wir nichts in „Gott dem Vater“, das nicht genau so ist wie Christus.
Hans Peter Royer [†2013] war Leiter des Tauernhofs bei Schladming in Österreich. Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in dem Magazin aufatmen (3/2012).