Kann ich mich eigentlich auf Gott verlassen? Für viele Christen ist schon diese Frage gotteslästerlich. Doch in dem Buch, auf das wir uns gründen, kann sogar der Sohn Gottes seinen Vater verzweifelt fragen: „Warum hast du mich verlassen?" In den Psalmen wird Gott vorgeworfen: „Du kennst mich nicht mehr! Du überlässt mich meinen Feinden!"
Warum trauen sich trotzdem nur wenige, so zu beten, obwohl es ihre Erfahrung ist? Hängt es vielleicht mit einem Bild von Gott zusammen, das der berühmte Psalm 23 geprägt hat: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln"? Das hat der Beter in seiner Situation tatsächlich so erfahren. Aber Christen, die verfolgt werden oder schwerst krank sind, erleben Mangel.
Es hat mich tief erschüttert, als ich eine sterbende Bekannte auf der Intensivstation besuchte. In den zwei Stunden, die ich dort war, starben drei Menschen - ganz allein. Ich fragte den Chefarzt: „Gibt es denn hier keinen Pfarrer, keine Christen, die sich um diese Menschen kümmern?" Und er sagte: „Ich kann mich nur an wenige Besucher erinnern, die sich als Christen zu erkennen gegeben hätten. Vermutlich, weil viele mit diesem Elend hier auch nicht fertig werden."
Liegt das daran, dass oft nur die Bibelstellen im Vordergrund stehen, die uns Gott als ganz Nahen, Behütenden und Heilenden zeigen? Die Menschen der Bibel haben Gott auch anders erfahren. Und es ist eine Hilfe, wenn wir das nicht verdrängen, damit wir eben nicht enttäuscht werden. In manchen freikirchlichen Gottesdiensten ist es üblich, Christen aufzufordern zu erzählen, was sie in der letzten Woche mit Gott erlebt haben. Fast immer wird dann von kleinen oder großen Wundern berichtet. Ganz selten bekannte jemand: „Ich habe das Gefühl, Gott erhört mein Gebet nicht." Oder: „Ich habe anderes bekommen als das, um was ich gebeten habe." Oder: „Ich verstehe Gott einfach nicht mehr."
„Das Wasser steht mir bis zum Hals"
An einem banalen Beispiel möchte ich es deutlich machen: Ich hatte mal eine lange Phase, wo ich nicht einschlafen konnte. Für einen wehleidigen Menschen wie mich ist das schrecklich. Eines Nachts wälzte ich mich wieder hin und her und meine geplagte Frau meinte: „Lies doch in der Bibel!" „Hilft mir nicht!"
„Dann lies die Psalmen!" „Habe ich schon durch." „Dann lies sie noch mal!"
Dieser erneute Bibel-Tipp machte mich geradezu aggressiv. Mehr aus Wut schlug ich die Bibel noch mal auf und las plötzlich einen Psalmvers, der mir noch nie aufgefallen war. Ausgerechnet der große König David betete: „Das Wasser steht mir bis zum Hals" (Psalm 69, 2). Das war genau mein Empfinden. Geradezu glücklich merkte ich: Ich komme mit meiner Situation in der Bibel vor. Fortan konnte ich tatsächlich wieder besser schlafen.
Wie passt das nun alles zusammen: Auf der einen Seite: „Der Herr ist mein Hirte" - auf der anderen: „Das Wasser steht mir bis zum Hals"? Kann man sich also auf Gott nur teilweise verlassen? Nein! Wir können uns ganz auf Gott verlassen, wenn wir auch die ganze Heilige Schrift ernst nehmen und nicht nur Lieblingsverse. Nur dann werden wir nicht enttäuscht, weil wir erfahren:
1. Ich kann mich darauf verlassen, dass Gott das Beste für mich will auch wenn ich es im Augenblick nicht erkenne
Es gibt auch einen Segen von Gebeten, die nicht erhört werden. Im Dritten Reich saß die niederländische Schriftstellerin Corrie ten Boom zusammen mit ihrer Schwester in einer Baracke im KZ. Sie gingen sich gegenseitig auf die Nerven, vor allem, weil die Schwester die Angewohnheit hatte, Gott für alles zu danken. Eines Tages bekamen sie zu allem Elend auch noch Flöhe. Und die Schwester dankte am Abend selbst für dieses Ungeziefer. Für Corrie ten Boom eine unglaubliche Provokation: „Wie kannst du dafür dankbar sein, dass wir auch noch unter diesen schrecklichen Viechern zu leiden haben!" Corrie ten Boom erfuhr später, warum die KZ-Wärter sie nicht zur Ermordung abgeholt hatten: weil sie sich nicht bei ihr mit Flöhen anstecken wollten. Gott hatte also piesackendes Ungeziefer geschickt, um seine Leute zu retten!
2. Ich kann mich auf Gottes Plan verlassen
Viele Katastrophen auf Erden enden leider nicht mit Rettung. Auch Christen erleben Verkehrsunfälle, Erdbeben, Epidemien, schwere Krankheiten, sind völlig verzweifelt, fühlen sich total verlassen. So sind ausgerechnet in Japan - wo nur wenige Christen leben - 50 Kirchen bzw. Gemeindehäuser vom Erdbeben zerstört worden. Unter Christen wird gern Dietrich Bonhoeffers vertonter Text gesungen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen". Doch weiß jeder, was er singt, wenn er singt, was in der dritten Strophe steht: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern ..."? Der auf Gott vertrauende Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet. Können wir schweres Leid dankbar annehmen? - Auf jeden Fall haben wir als Christen in der Katastrophe als Einzige eine positive Perspektive: die Ewigkeit.
Karl Marx hat den Christen vorgeworfen, sie vertrösteten auf das Jenseits. Doch besser in auswegloser Lage Trost auf die Ewigkeit, als trostlos in der Katastrophe zu verrecken.
Marx behält freilich dann recht, wenn er Christen erlebt, die Armut und Ungerechtigkeit religiös übertünchen. Christen also, die nicht Schwachen, Einsamen und Fremden so viel Gutes tun, wie sie könnten.
3. Ich kann mich auf Gottes Zusagen verlassen
Im Programmheft des letzten großen Berliner Theatertreffens wird gefragt: „Warum geht man ins Theater?" - was ja Zehntausende Abend für Abend tun. Und die kühne Antwort lautete: „weil man auf ein Wunder hofft". Wir Christen brauchen nicht auf ein Wunder zu hoffen, wir können es erleben. Jesus hat etwas gesagt, was noch niemand zu behaupten wagte: Ihr dürft den Schöpfer dieser Welt Vater nennen! Eine so enge Beziehung ist einmalig in allen Weltreligionen. Im Islam ist Allah ein völlig unnahbares, fernes Wesen. Hinduismus und Buddhismus kennen nicht einmal einen persönlichen Gott.
Und Jesus hat uns nun aufgefordert, diesen Vater im Vaterunser (Matthäus 6, 9-13) um alles zu bitten, was wirklich wichtig ist:
- dass wir Brot haben, nicht Kaviar (es geht also um das Thema: Bescheidenheit);
- dass sein Wille geschieht, nicht unser (Thema: Demut - es gibt einen Boss über mir);
- dass sein Name erhöht wird, nicht unser (Thema: Das Ende aller Eitelkeit);
- dass wir nicht in Versuchung geführt, sondern vom Bösen erlöst werden (Thema: Das Leben ist ein Kampf zwischen Gut und Böse. Und wir müssen uns entscheiden.).
Die große Revolution
Und dann der größte Hammer. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern." Gott bietet Vergebung an, aber er will, dass auch wir vergeben! Mit jedem Vaterunser, das wir beten, haben wir also auch anderen zu vergeben. Was für eine revolutionäre Konsequenz: Nach jedem Gottesdienst - zu dem ja stets ein Vaterunser gehören sollte - darf es also eigentlich keinen Unfrieden, keine Bitternis, keinen Streit mehr in einer Gemeinde oder Familie geben, oder wir würden das Evangelium verramschen! Dann aber wäre es besser, nicht mitzubeten und die Schuld zu behalten!
Das Wunder des Gottesdienstes
Ich habe das einmal ein paar Wochen lang versucht, weil ich meinte, einem Verwandten nicht vergeben zu können. Ich habe es nicht ausgehalten. Ich wollte Frieden haben. Ich bekam ihn. Das ist das Wunder des Gottesdienstes, das kein Theater bietet.
Der legendäre Chef der Deutschen Bank, der von Terroristen der „Roten Armee Fraktion" ermordete Alfred Herrhausen, sagte einmal: „Die meisten Probleme entste-hen, wenn wir nicht zu Ende denken." Christen denken zu Ende, weil sie wissen, worauf es ankommt.
Eine gute Hilfe: Der Gang über den Friedhof
Vielen Menschen ist wichtig, dass ihre Namen positiv er-wähnt werden. Das ist so verständlich wie ehrenwert, aber noch nicht ewigkeitstauglich. Da ernüchtert ein Gang über den Friedhof. Der häufigste Spruch auf den Grabmalen lautet: „Wir werden dich nie vergessen" - meist schon umwuchert von viel Unkraut.
Die Eintrittskarte in den Himmel
Jesus Christus sagt: Wichtiger ist, dass unser Name im Himmel bekannt ist. Und wie erreiche ich das? Unser Herr verspricht: „Wer mich bekennt vor den Menschen, zu dem werde auch ich mich bekennen vor meinem himmlischen Vater." Die Eintrittskarte in den Himmel ist das Bekenntnis zu Jesus Christus in Wort und (!) Tat.
Ein Mann, der eine große Rolle in meinem Leben gespielt hat, hat Alzheimer bekommen. Er kennt jetzt weder meinen Namen noch den vieler anderer. Doch man braucht bei ihm nur den Namen Jesus zu erwähnen, dann hält er eine Predigt - wie früher. Der Name dieses Mannes ist im Himmel aufgeschrieben. Und darauf kommt es bei jedem von uns an.
Helmut Matthies
Erschienen am: 04.08.2011 (idea spektrum)