Gliederung:
1. Sich selbst im Licht der Bibel sehen
2. Den Nächsten im Licht der Bibel sehen
3. Vergebung praktisch
Manchmal scheint es so, als hätten wir Freude am Nicht-Vergeben. Doch sind wir wirklich glücklich, wenn wir nicht bereit sind, zu vergeben? Alles, was wir nicht vergeben haben, tragen wir mit uns herum, und das belastet uns. So hat niemand davon einen Vorteil, wenn er nicht vergibt. Deshalb müssen wir lernen, konsequent zu vergeben.
Aber warum klappt das so oft nicht? Warum gibt es so viele Schwierigkeiten bei einem so wichtigen Thema wie dem der Vergebung? Lasst uns in der Bibel nach Antworten suchen. Dabei ist es wichtig, mit uns selbst anzufangen und uns selbst im Licht der Bibel zu sehen, bevor wir lernen, den Nächsten im Licht der Bibel zu sehen und Vergebung praktisch auszuleben.
Wenn wir anfangen, uns selbst im Licht der Bibel zu sehen, erhalten wir zuerst eine schlechte Nachricht. Die Bibel zeigt uns nämlich in aller Offenheit, dass wir Sünder sind. Wir sind Menschen, die dem Maßstab Gottes nicht entsprechen. Wir können so, wie wir von Natur aus sind, auch nicht mit Gott Gemeinschaft haben, weil Gott heilig ist.
Weil wir aber alle das Bedürfnis nach harmonischer Gemeinschaft haben, versuchen wir ständig, bessere Menschen zu sein, als wir wirklich sind. Wir versuchen uns zu verstecken. Auf diese Weise können wir aber weder mit Gott noch mit den Menschen echte Gemeinschaft erleben, weil wir uns nie so zeigen können, wie wir wirklich sind.
Die befreiende Botschaft der Bibel ist, dass wir nicht länger Verstecken spielen müssen. Wir können und müssen vor Gott Sünder sein, wenn wir die befreiende Vergebung Gottes erleben wollen. So lesen wir in 1. Johannes 1, 8-9: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von jeder Ungerechtigkeit reinigt.“
Das Wort „bekennen“ (homo-logeō) heißt wörtlich im Griechischen „das Gleiche sagen“ und daher „zu einer Vereinbarung kommen“. Vergebung von Gott empfängt nur die Person, die sich selbst aufrichtig einschätzt. Das tut zuerst mal weh, nämlich einzusehen, dass ich Sünder bin und nicht fähig bin, meine Beziehung zu Gott zu heilen. Wenn wir aber verstehen, dass Gott uns durch und durch kennt und trotzdem liebt und annimmt, dann haben wir keinen Grund mehr, zu versuchen, besser zu sein, als wir wirklich sind. Wie befreiend ist es, dass wir vor Gott keine Schauspieler sein müssen. Wir müssen keine Heuchler (hypokritēs = „Schauspieler, Heuchler“) sein. Und trotzdem werden wir von Gott geliebt.
Wer das begriffen und durch Jesus Christus die Vergebung angenommen hat, der weiß: Für mich gibt es keine Verurteilung mehr (vgl. Römer 8, 1; Kolosser 2, 14). Gott nimmt mich mit meinen Schwächen an (vgl. Römer 15, 7), aber er verändert mich auch. Ich weiß: Gott ist dem Sünder gnädig, und er liebt auch mich. Diese Gewissheit hilft mir erstens, mich nicht ständig selbst zu rechtfertigen, wenn andere mit mir über Verletzungen sprechen, wodurch eine Heilung nicht stattfinden kann (wenn ich mich ständig rechtfertige). Zweitens hilft mir diese Gewissheit, auch mit anderen barmherzig zu sein. Wir wissen, dass Gott uns viel mehr vergibt, als wir zu vergeben haben, und weil Gott so barmherzig ist, sollen und dürfen auch wir barmherzlich sein (vgl. Lukas 6, 36). Außerdem erwarten wir dann nicht, dass der andere vollkommen ist, und wenn unser Maßstab nicht zu hoch ist, fällt uns das Vergeben leichter.
Um wen geht es, wenn ich vergebe, um mich oder um den anderen, dem ich vergeben soll? Heute betont man allgemein die befreiende Wirkung der Vergebung auf die Person, die dem anderen vergibt. Ist eine solche Haltung, die in erster Linie eigene Vorteile sucht, nicht im Grunde genommen egoistisch? Mit dieser Frage hängt die Frage zusammen, was denn eigentlich Vergebung ist. Die Antwort auf diese letzte Frage ist wohl nicht so leicht, wie wir vielleicht denken.
Die Bibel sagt uns, dass Gott Sünden vergibt, ja, dass im Grunde genommen nur Gott Sünden vergeben kann. Meistens wird in diesem Zusammenhang im Neuen Testament das griechische Wort aphiēmi gebraucht, das soviel wie „loslassen, fortschicken“ bedeutet. Wenn Gott vergibt, dann geht es nicht darum, dass Gott sich besser fühlt oder von einer Last befreit wird. Es geht immer um die Person, die Vergebung nötig hat. Auf dieser Person ruht eine Schuld, die sie belastet und eine gesunde Entfaltung verhindert. Die Schuld kann von dieser Person aber nur dann genommen werden, wenn sie dazu steht und um Vergebung bittet. Ist es nicht genau deshalb, dass wir oft nicht bereit sind, zu vergeben, weil wir der anderen Person dadurch etwas zufügen möchten? Solche Haltung ist egoistisch und macht uns selbst vor Gott schuldig.
Vergebung ist immer Barmherzigkeit und sucht das Heil des anderen. Dabei muss ich wissen, dass dieser andere wie ich eine von Gott geliebte Person ist und dass ich die Vergebung genauso wenig verdient habe wie diese Person. Wenn diese andere Person zu mir kommt, dann bin ich verpflichtet, die Last von der Schulter dieser Person zu nehmen (vgl. Matthäus 6, 14f.).
Wenn ich in erster Linie die Not des anderen sehe, der sich mit der Schuld herumträgt, werden meine eigenen Verletzungen nicht so im Zentrum stehen und auch nicht so schlimm sein. Dabei müssen wir sehen, dass selbst die schlimmste Person, die mich ständig verletzt, von Gott geliebt und im Ebenbild Gottes geschaffen ist. Auch sie hat im tiefsten Herzensgrund eine Sehnsucht nach Vergebung und Frieden, nach Versöhnung und harmonischer Gemeinschaft. Deshalb sollte es unser erstes Anliegen sein, den Nächsten so zu sehen, wie Gott ihn sieht, das heißt seine Sehnsucht nach dem Heil Gottes zu verstehen versuchen und uns dafür einzusetzen, dass er das Heil Gottes erlebt. Das wird uns leichter fallen, wenn Jesus Christus selbst das Zentrum unseres Lebens ist, wenn es uns also nicht um die eigene Ehre, sondern um Seine Ehre geht – nach dem Motto von Johannes 3, 30: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ Dann stehen Minderwertigkeitskomplexe, die Vergebung schwer machen können, nicht im Zentrum.
Diese Erkenntnis, dass es um die heile Beziehung der anderen Person zu Gott geht, wird mich davor bewahren, zu oberflächlich zu „vergeben“. Denn wenn eine Person nicht die Schuld erkennt und bekennt, gibt es im biblischen Sinn keine wirkliche Vergebung. Vergeben im eigentlichen Sinn kann nur Gott; wir können lediglich Gottes Vergebung bestätigen. Damit ist auch klar, dass Sünde im eigentlichen Sinn immer gegen Gott gerichtet ist. Eine zu oberflächliche „Vergebung“, die es in Wirklichkeit nicht geben kann, nimmt die andere Person nicht wirklich ernst, sondern denkt nur an eigene Vorteile.
Wenn wir diese Aspekte erkannt haben, wird uns das Vergeben leichter fallen. Doch wie kann Vergebung praktisch geschehen?
Vergeben heißt im Neuen Testament entweder die Schuld „loslassen“ bzw. „fortschicken“ (aphiēmi) oder „aus Gnaden gewähren“ (charizomai). Das kann sehr schmerzhaft sein, vor allem, wenn wir uns total falsch behandelt fühlen. Wenn wir jedoch den anderen, der seine Schuld bekennt, mit Gottes Augen sehen und selbst auf Gottes Kraft vertrauen, dann gibt es keine Schuld, die wir nicht vergeben können (vgl. 1. Korinther 10, 13).
Paulus fordert die wiedergeborenen Christen auf, einander so zu vergeben, wie Gott ihnen in Christus vergeben (charizomai) hat (Epheser 4, 32; vgl. Kolosser 3, 13). Wie hat Gott uns vergeben? Nicht, indem er sagte: „Das ist ja nicht so schlimm!“ Vielmehr hat er in Jesus Christus selbst die Schmerzen der Schuld getragen, damit wir davon befreit werden können (vgl. Jesaja 53, 3ff.!).
Gott sagt zu Israel: „Du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden, du hast mich ermüdet mit deinen Freveltaten. Ich, ich bin es, der deine Verbrechen auslöscht um meinetwillen, und deiner Sünden will ich nicht mehr gedenken“ (Jesaja 43, 24b-25; vgl. Jeremia 31, 34). Und weiter sagt er: „Ich habe deine Verbrechen wie einen Nebel ausgelöscht und deine Sünden wie eine Wolke“ (Jesaja 44, 22a). Gemäß Micha 7, 19 wird Gott „sich wieder über uns erbarmen, wird unsere Schuld niedertreten. Und du wirst alle ihre Sünden in die Tiefen des Meeres werfen“.
Wenn Gott uns die Sünden vergibt, dann denkt er nicht mehr daran in dem Sinn, dass er uns die Sünden nie mehr vorhält und dass die Beziehung zu Gott dadurch nicht mehr gehindert wird. Natürlich weiß Gott immer noch, dass wir gesündigt haben, aber er verspricht uns, die Angelegenheit nie mehr zur Sprachen zu bringen oder gegen uns zu verwenden (vgl. Jay Adams, 70 x 7, S. 12).
Wenn wir vergeben, dann versprechen wir, dem anderen die Sache nie mehr vorzuwerfen. Wahrscheinlich werde ich mit meinen Gefühlen noch zu kämpfen haben, aber der Entschluss ist fest, und mein Versprechen habe ich gegeben. Wir müssen also sehen, dass vergeben nicht Gefühlssache ist. Wenn ich jedoch im biblischen Sinn vergebe, werden meine negativen Gefühle nach und nach erstickt werden – ebenso wie bei einem Baum die Krone nach und nach stirbt, wenn die Wurzeln getötet (z. B. vergiftet) werden.
Damit es zu einer echten Vergebung kommen kann, ist ein offenes Gespräch nötig. Wir sollten nicht so schnell sagen: „Das war ja nicht so schlimm“, vor allem nicht, wenn wir nicht völlig davon überzeugt sind. Ein offenes Gespräch, bei dem jeder lernt, den anderen zu verstehen, kann die Beziehung wieder ganz neu herstellen. Dabei sind folgende Punkte zu beachten (vgl. Kurt Scherer, Vergebung, S. 14f.):
· Das Gespräch sollte im Gebet vorbereitet werden.
· Im Gespräch bleiben wir sachlich; wir konzentrieren uns auf die Sache, nicht auf unsere Gefühle, wobei wir bestrebt sind, unsere Gefühle unter Kontrolle zu haben.
· Wir sagen unsere persönliche Meinung, sind aber auch bereit, in aller Ruhe die Meinung des anderen anzuhören, ohne uns ständig zu vereidigen oder zu rechtfertigen. Wir versuchen, ihn zu verstehen und die Sache aus seiner Sicht zu sehen.
· Wir erkennen im anderen eine von Gott geliebte Person, die wie ich das Bedürfnis hat, verstanden und geliebt zu werden.
· Wir reden darüber, wie es zu der gestörten Beziehung kam, und sprechen einander die Vergebung zu.
· Wir bringen die Schuld gemeinsam im Gebet vor Gott.
Weiter gehen wir von der Gewissheit aus, dass Gott die Schuld vergeben hat und dass sie deshalb auch nicht mehr existiert. Also werden auch wir sie nie mehr gegen die andere Person verwenden, selbst wenn unsere Gefühle erst nach und nach völlig geheilt werden. Es gibt keine Verurteilung mehr für die, die in Christus Jesus sind und durch ihn Vergebung empfangen haben (Römer 8, 1), deshalb verurteilen wir uns auch nicht mehr gegenseitig, indem wir uns Schuld vorhalten.
Natürlich sind auch durch ein solches Gespräch nicht alle weiteren Probleme aus dem Weg geräumt. Verletzungen wird es immer wieder geben, wo Menschen es miteinander zu tun haben. Aber alte Wunden werden dann nicht ständig neu aufgerissen, wodurch Verletzungen viel schlimmer werden. Es ist wichtig, dass die „kleinen Füchse, die die Weinberge verderben“ (Hoheslied 2, 15), getötet werden, bevor sie sich so schnell vermehren, dass man sie fast nicht mehr ausrotten kann.