Warum ich trotz des Leides in der Welt Christ bin

 

SERIE Christen begegnen oft dem Vorurteil, dass ihr Glaube nicht mit dem Verstand vereinbar ist. Christliche Apologeten (von griechisch „apologia“ – Rechenschaft, Verteidigung) antworten darauf mit vernünftigen Argumenten. In einer idea-Serie erklären fünf Apologeten, wie man besonders weit verbreitete Einwände gegen den christlichen Glauben sachlich entkräften kann. Im vierten Teil antwortet Jürgen Spieß auf den Vorwurf, dass ein liebender Gott nicht so viel Leid auf der Welt zulassen würde.

 

„Geschichte ist die Wissenschaft vom Unglück des Menschen.“ So lautet das Motto des „Schwarzbuchs Kommunismus“. Wenn man sich mit Geschichte beschäftigt, weiß man, dass dieser Satz stimmt. In ihrer ganzen Historie haben Menschen gelitten. Sie litten an natürlichen Übeln wie Krankheiten, Erdbeben und anderen Naturkatastrophen. Sie litten an moralischen (von Menschen verursachten) Übeln wie Kriegen, Morden, Folter, Misshandlungen. Die von Menschen verursachten Übel sind im Verlauf der Geschichte nicht weniger geworden. Ganz im Gegenteil: Nie starben zusätzlich zu großen und kleinen Kriegen so viele Millionen Menschen durch ideologische Tötungen und Misshandlungen wie im 20. Jahrhundert. Man denke nur an Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot.

Leid kenne ich nicht nur durch den Blick in die Geschichtsbücher und die täglichen Nachrichten, sondern auch im persönlichen Leben: Vor vielen Jahren sind meine Frau und unser Sohn bei ei- nem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich komme nicht aus einem christlichen Elternhaus. Als Atheist haben mich folgende Themen beschäftigt:


1. Warum gibt es nicht nur Leid, sondern auch so viel Schönes in der Welt? Es stellt sich ja nicht nur die Frage: Wenn es einen Gott gibt, warum gibt es so viel Leid, sondern auch die Frage: Wenn es keinen Gott gibt, warum gibt es dann so viel Schönes? Wir machen ja nicht nur die Erfahrung von Leid bei Menschen und Tieren, sondern auch die Erfahrung von Schönheit in der Natur, der Kultur und vor allem in menschlichen Beziehungen. Wir brauchen deshalb eine Antwort auf beide Fragen. Der Glaube, dass unsere Welt einfach das Produkt von geistloser und zielloser Materie ist, wurde mir immer unplausibler.


2. Wofür soll ich mein Leben einsetzen, wenn es so viel Leid gibt und mit dem Tod alles aus ist? „Alle Lust will Ewigkeit“ – Friedrich Nietzsche (1844–1900) drückt hier aus, dass wir Wesen sind, deren Sehnsucht in dieser Welt nicht zur Erfüllung kommt. Deshalb bleibt bei allem Schönen, was wir auf der Erde erfahren, die Sehnsucht, dass es eigentlich mehr geben müsste.


3. Welche Hoffnung bietet der Atheismus in Bezug auf Leid und Tod? Der Atheismus ist trost- und hoffnungslos. Er hat keine Hoffnung auf Gerechtigkeit für Opfer und Täter in der Geschichte. Das ist schwer zu ertragen. „Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, dass die letzten Hoffnungen auf eine übermenschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich“ (Max Horkheimer (1895– 1973), atheistischer Philosoph). Wenn es Hoffnung auf Gerechtigkeit gibt, kann sie nur durch Gott erfüllt wer- den. Liebende wollen für immer zusammensein. Angesichts des Todes kann auch diese Hoffnung nur von Gott erfüllt werden.


4. Provoziert hat mich ein Gedanke, den ich später in einem Cartoon wiederfand, in dem eine Schildkröte anklagt: „Wenn ich Gott einmal treffe, werde ich ihn fragen, was er gegen Leid und Ungerechtigkeit gemacht hat.“ Eine andere Schildkröte antwortet: „Ich fürchte, wenn er uns trifft, stellt er uns die gleiche Frage.“

Während des Studiums bin ich Christ geworden. Was ist die christliche Antwort auf das Leid? Für den christlichen Glauben ist Leid die Folge der Trennung des Menschen von Gott. Der Mensch missbraucht die ihm gegebene Freiheit und verursacht dadurch moralische Übel und teilweise auch das, was als natürliche Übel gilt.


Die christliche Antwort ist die Aufhebung des Leids in der neuen Welt Gottes (Offenbarung 21, 1–7). Entspringt diese Vorstellung einem Wunschdenken? Wunschdenken sagt zunächst nichts über die Realität aus. Es gibt Wünsche, die in Erfüllung gehen, und Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen. Die entscheidende Frage lautet: Welche Gründe gibt es für die Hoffnung auf die Erfüllung unserer Wünsche? Die christliche Hoffnung ist kein Wunschdenken, denn sie hat einen Grund: Jesus Christus. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er die Trennung der Menschen von Gott überwunden. Den Vorwurf des Wunschdenkens kann man auch dem Atheismus machen, denn Atheismus ist der „Wunsch nach der sturmfreien Bude“ (Manfred Lütz). Falls der Atheismus wahr wäre, würden alle Menschen im Nichts vergehen. Der Atheismus ist also auch nach dem Tode von niemandem verifizierbar. Die christliche Hoffnung ist kein Wunschdenken, denn sie hat einen Grund: Jesus Christus. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er die Trennung des Menschen von Gott überwunden.


Die Sehnsucht nach mehr
Leiden kommt vom mittelhochdeutschen „Lidan“: in die Fremde ziehen. Elend heißt eigentlich „außer Landes sein“. In der deutschen Sprache weisen die Begriffe Leid und Elend darauf hin, dass diese Welt nicht unsere wahre Heimat ist. Wir sind Wesen, deren Sehnsucht in dieser Welt nicht zur Erfüllung kommt. Das Verlangen nach Ewigkeit, das Nietzsche beschreibt, hängt damit zusammen, dass Gott die (Sehnsucht nach) Ewigkeit in unsere Herzen gelegt hat (Prediger 3, 11). Deshalb bleibt bei allem Schönen, das wir auf der Erde erfahren, die Sehnsucht, dass es eigentlich mehr geben muss.


Christen setzen sich für andere ein
Führt der Glaube an die neue Welt Gottes nicht zu passivem Verhalten? Nein. Sondern ganz im Gegenteil. Zu allen Zeiten haben sich Christen für andere eingesetzt. Ein gutes Beispiel dafür findet sich in einem Brief des römischen Kaisers Julian (361–363). Er beklagt sich über den Erfolg der Christen, der allein darin begründet sei, dass sie sich um die Armen kümmerten – und zwar nicht nur um ihre eigenen, sondern auch um die Nichtchristen. Christen waren und sind von dem ewigen Wert eines jeden Menschen überzeugt und setzen sich deshalb gerade für Menschen ein, die auf der Schattenseite stehen.


Kann Gott Leid und Ungerechtigkeit nicht verhindern? Warum greift er nicht sichtbarer ein? Das christliche Glaubensbekenntnis spricht doch von der „Allmacht“ Gottes. „Das Bekenntnis zu Gottes Allmacht und Herrschaft besagt nicht zwangsläufig, dass alles Geschehen in der Welt – sei es gut oder böse, lebensfördernd oder vernichtend – unmittelbar auf Gott als einzige Ursache zurückgeführt werden muss. Die eigene Verantwortung der Menschen und die Existenz anderer, Gott widerstrebender Mächte und Einflüsse sind mit der Anerkennung Gottes als des allmächtigen Vaters nicht ausgeschlossen. Aber es wird – gerade angesichts entgegengesetzter Erfahrungen und Anfechtungen – mit dem Bekenntnis zu Gott als Herrn hervorgehoben, dass er die Macht und den Willen hat, sich gegenüber dieser Welt und Geschichte endgültig durchzusetzen“, so der Tübinger Theologieprofessor Hans-Joachim Eckstein.


Gott ist uns im Leid nahe
Die Antwort des christlichen Glaubens ist aber nicht nur die zukünftige neue Welt Gottes, sondern auch die Zusage der Nähe Gottes in unserem Leid. Diese Nähe habe ich nach dem Tod meiner ersten Familie unter anderem durch die Losungen erfahren. Am Todestag lautete sie: „Und das ist die Verheißung, die er uns gegeben hat: das ewige Leben“ (1. Johannes 2, 25). Weitere Losungstexte waren: „Haben wir Gott für das Gute gedankt, sollten wir das Böse nicht auch aus seiner Hand nehmen?“ (Hiob 2, 10). „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben ... uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist“ (Römer 8, 38–39). Die Nähe Gottes im Leid drückt auch der Psalm 23 aus. Der Beter wechselt vom Er („Er führet mich ...“) zum Du („Du bist bei mir ...), als er in leidvolle Situationen (ins Tal der Todesschatten ...) kommt.

In Athen sagt Paulus seinen heidnischen Zuhörern, dass Gott nicht fern von einem jeden von uns ist; er will von allen Menschen gesucht und gefunden werden (Apostelgeschichte 17). Diese Nähe Gottes gilt gerade auch im Leid.

Text veröffentlicht bei: ideaSpektrum 44.2020