Die Gewissensreligion

 

Wir haben gesehen, daß schon in intellektueller Beziehung die beiden Geistesrichtungen auseinander gehen. Beide Konfessionen haben große geistige Leistungen aufzuweisen und gewaltige philosophische Systeme hervorgebracht. Aber die Stellung, die das Denken in der Seele des  protestantischen Menschen einnimmt, ist eine andere als die beim Katholiken. Beim Protestanten ist das Geistesleben der einzige Weg zu Gott. Beim Katholiken gibt es eine jenseits der Geistigkeit liegende Macht, die unter Umständen den geistigen Prozeß gerade aus religiösen Gründen still stellen kann.

Aber dieser Gegensatz in der Lösung der intellektuellen Frage ist nur die Vorhalle für das Verständnis des letzten Gegensatzes beider Geistesrichtungen. Die Entscheidungsschlacht wird auf praktischem Gebiet geschlagen, auf dem Gebiet des Gewissens. Karl Holl[1] hat den Protestantismus als die „Gewissensreligion“ dargestellt, d. h. als die Religion, bei der der Weg zu Gott nicht durch irgendwelche sittlich indifferente Machterlebnisse oder ästhetische Eindrückte, sondern nur über das Gewissen führt, nach Luthers Wort: „Der Weg in den Himmel ist die Linie eines unteilbares Punktes, nämlich des Gewissens“ (via in caelum est linea indivisiblis puncti, conscientiae). Was ist damit gemeint? Um den Grundgedanken des Protestantismus zu verstehen, das „sola fide justificamur“, die Rechtfertigung allein aus dem Glauben, müssen wir ausgehen von der Seelengeschichte des jungen Klosterbruders Luther, die ihn an einen Punkt führte, wo er durch die Sakramente der Kirche und die Klosterübungen keinen Frieden mehr fand. Die Seelengeschichte des jungen Luther, die sich abspielte, ehe er öffentlich hervortrat, gehört zum Gewaltigsten, was in der Geistesgeschichte der Menschheit geschehen ist. Es ist nicht die Geschichte eines Einzelnen, es tritt darin etwas allgemein Menschliches zu Tage, was sich tausendfach wiederholt hat. Die katholische Geschichtenschreibung hat wohl nicht ganz mit Unrecht gesagt, der Mönch Luther sei ein Skrupulant gewesen, d. h. er habe an einer Seelenkrankheit gelitten, die in Klöstern von alters her gerade bei den ernstesten Ordensleuten eine häufigen Erscheinung ist und die die Moraltheologen des späteren Mittelalters pussilanimitas nannten. Was ist das für eine merkwürdige Krankheit? Der stumpfe Durchschnittsmensch kennt sie nicht. Aber jeder feiner organisierte Mensch, der auch nur einige Monate lang versucht hat, ein einziges Gebot Gottes ernst zu nehmen, etwa das Gebot, keusch zu sein, oder das Gebot, Gott über alle Dinge zu lieben, der wird sehr bald merken, wie nahe uns allen diese Krankheit liegt. Wir brauchen uns nur einmal klarzumachen, was das bedeutet, daß jede verlorene Minute unseres Lebens in alle Ewigkeit nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Jeder einzelne unreine Gedanke, der mir aufsteigt, während ich in der Gegenwart Gottes stehe, ist also unendlich ernst zu nehmen. Jede Abschweifung meiner Gedanken von ihrem Ziel kann mich um die ewige Seligkeit bringen. Jeder Gedanke, den ich denke, gleicht einem Fußtritt in eine weiche Masse, die nachher fest wird und die Fußspur für alle Zeiten aufbewahrt. Geschehenes kann nie mehr ungeschehen gemacht werden. Anselm von Canterbury sagte, ein einziger Blick gegen Gottes Willen irgendwohin geworfen, sei eine so große Sünde, daß sie nicht wieder gutgemacht werden könnte, auch wenn man alle Welten dafür hingäbe. Es ist kein Wunder, daß in den Klöstern gerade die Ernstesten, die wirklich den Versuch machten, ununterbrochen in der Gegenwart Gottes zu leben, von einer inneren Angst befallen wurden, die ihnen die Freude nahm, von der Angst Todsünden begangen zu haben, von der Furcht, ihre Beichte sei unvollständig und ungültig gewesen und sie seien unwürdig zum Sakrament des Altars gegangen. Diese Klosterkrankheit soll auch heute noch in Klöstern und Priesterseminaren häufig sein. Sie äußert sich darin, daß der Skrupulant immer wieder das Bedürfnis hat, zu beichten. Er ist am Samstagnachmittag zum Beichtstuhl gegangen, aber noch am gleichen Abend glaubt er, durch einen aufsteigenden Glaubenszweifel oder sinnlichen Gedanken die Gnade verloren zu haben. Am Sonntagmorgen eilt er wieder zum Beichtvater[2].

Dieses Skrupulantentum ist offenbar nur eine besondere klösterliche Form einer allgemein menschlichen Not, unter der die Menschen der großen Leidenschaft und des tiefen Ernstes zu allen Zeiten in sehr verschiedener Form gelitten haben. Es ist eine Krankheit, die bei jedem von uns jeden Augenblick ausbrechen kann. Es ist das, was Kierkegaard „die Krankheit zum Tode“ genannt hat, die Krankheit, an der alle Menschen heimlich leiden, wenn sie auch nur bei wenigen zum Ausbruch kommt. Jeder Mensch, der versucht, die Wirklichkeit Gottes ernst zu nehmen, erkrankt gewissermaßen an Gott. Er merkt: Kein Mensch kann in der Gegenwart Gottes leben, ohne zu verzweifeln. Er muß verzweifeln, wenn er nicht auf eine wunderbare Weise durch Gottes Gnade von der „Krankheit zum Tode“ geheilt wird. Was Luther im Kloster erlebte, ist gar nichts anderes, als was jeder Mensch mit starker Leidenschaft erlebt, wenn ihm etwa unter dem Eindruck eines schweren Schicksalsschlages mit einem Mal deutlich wird, daß Gott ist, daß er allgegenwärtiger Richter ist, der alles sieht, und dem wir keinen Augenblick entrinnen können. Luther hatte die Empfindung: Wenn Gott ist, wenn er mir näher ist als ich mir selber bin, wenn er mich von allen Seiten umgibt, wie es Psalm 139 heißt, dann ist das jüngste Gericht schon angebrochen. Der Todesaugenblick, dem entgegensehen, indem wir vor Gottes Angesicht treten werden, ist schon jetzt. Die kurze Spanne, die uns von ihm trennt, diese Sekunde angesichts der Ewigkeit, hat gar keine Bedeutung. Im jüngsten Gericht aber, das empfand Luther, wird niemand bei mir sein. Ich muß meine Sache ganz allein mit Gott ausmachen. In einer Wittenberger Predigt von 1522 sagt er: „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen...; ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir“[3]. Wenn aber Gott ist, so real wie wir ihn am jüngsten Tag fühlen werden, dann muß Gott fordern, daß ich ihn liebe von ganzen Herzen, von ganzer Seele, aus ganzem Gemüte und aus allen meinen Kräften. Er, der Geber alles Guten, kann verlangen, daß ich ihn aus ganzer Seele liebe. Jede Liebe zu Gott mit halben Herzen, etwa bloß aus Angst vor der Hölle, ist nicht nur eine verzeihliche Schwäche und Unvollkommenheit, nein eine furchtbare Sünde und Empörung. Damit fielen aber für Luther alle die Abstufungen in sich zusammen, die die Kirche bisher gemacht hatte, die Unterscheidung zwischen einer bloß knechtischen Furcht, einer noch aus eigensüchtigen Begehren hervorgehenden Gottesliebe, und einer Liebe zu Gott um seiner selbst willen. Die Kirche hatte Treppenstufen gebaut, die den Anfänger langsam von der knechtischen Furcht hinausführen sollten, bis in die Nähe der Gottesliebe. Erreichte man nicht das Letzte, so konnte man doch eine Vorstufe erreichen. Für Luther fiel dieses ganze System von Treppenstufen in sich zusammen. Denn Gott verlangt ja, wenn er ist, ein Ganzes, ein Ungeteiltes. Ihm gegenüber gilt der furchtbare Grundsatz: Alles oder nichts. Alles, was nicht das Ganze ist, ist nicht nur wertlos, nein, es ist Sünde und Empörung.

Was von der Gottesliebe gilt, gilt auch von der Nächstenliebe. Gott will, ich soll meinen Nächsten lieben wie mich selbst. Das schließt jede Bevorzugung eines Menschen vor dem anderen aus, also des Freundes oder der Geliebten. Ich soll, wenn ich Gottes Willen erfüllen will, also nicht etwa nur für einen wertvollen Menschen, nein, auch für einen Feind, ja für den gemeinsten Räuber (pro hoste et pro vilissimo latrone) jedes Leid auf mich nehmen, wenn nötig auch in den Tod gehen. Und zwar nicht mit Hängen und Würgen oder nur aus Anstand oder, wie im Buddhismus, um mich selbst zu kasteien und den Eigenwillen abzutöten, nein mit tausend Freuden (hilari corde), aus innerstem Wollen. Gott will keinen erzwungenen Dienst. Jede Liebe, zu der ich mich erst überwinden muß, ist vor Gott wertlos, ja sie ist Empörung. Denn ich habe dabei Gott etwas vorenthalten, was ihm gehört, ihm etwas geraubt, was sein ist.

Die Kämpfe Luthers drehen sich um das, was Ibsen in seinem Drama „Brand“ so eindrucksvoll dargestellt hat. Dieses Drama ist wie ein Nachklang von Luthers Klosterkämpfen und von Kierkegaards Kampf um Gott. Die Pflicht hält den Pfarrer Brand im Dorf am Strand im kalten Fjord fest, wo er seiner Gemeinde dienen muß. Aber er hat Frau und Kind. Dem Kind fehlt der Sonnenschein. Es siecht dahin und stirbt. Brand bringt es zum Opfer. Auch Frau Agnes ist bereit, es hinzugeben. Aber sie will wenigstens weinen dürfen um das Kind, das drüben auf dem Friedhof liegt, oder seine Kleidchen noch einmal ansehen. Brand aber sagt zu ihr: „Was du auch beutst, versinkt im Abgrund allzumal, sobald du den Verlust bereust“. Gott läßt nicht mit sich handeln. Gott spricht: „Wisse, daß ich viel begehre, alles fordere oder nichts.“ „Und gibst du alles, nicht dein Leben, so wisse: du hast nichts gegeben.“ Auch auf Luther könnte man diese Worte anwenden, die im Schlußakt dieses nordischen Seelendramas der verführerische Geist dieser Erde zu Pfarrer Brand sagt: „Drei Wörtlein sind der Herd deiner Krankheit, deren kalte Schauder dich mit Wahnsinn schlagen. Denen mußt du ganz entsagen, die aus dem Gedächtnis bleichen, die von jeder Tafel streichen, die sind all des Schreckgesichts, das sich anfiel, anzuklagen. – Sag sie! – Alles oder nichts.“

Das es Gott gegenüber nur dieses „Alles oder nichts“ gibt, das ist die Quelle von Luthers Klosterkämpfen. Wenn er betete, so quälte ihn die Frage: Hast du dabei wirklich den Akt der ganzen Gottesliebe in dir erweckt, ohne den das Gebet ja nur Sünde ist? Wenn er im Chor am Altar stand und sich zur Andacht sammelte, so merkte er: Je absichtlicher man sich zur Sammlung zwingt, desto leichter zerflattern die Gedanken. Schon das ist Sünde, daß man sich zur Andacht zwingt. So befiel ihn der Zweifel, ob seine Andacht eine volle restlose Hingabe gewesen sei. Luther sagt in Erinnerung an diese Zeit: „Ich hab auch wollen ein heiliger frommer Mensch sein und mit großer Andacht mich zur Messe und zum Gebet bereitet: aber wenn ich am andächtigsten war, so ging ich ein Zweifler zum Altar, ein Zweifler ging ich davon, hatte ich meine Buße gesprochen, so zweifelte ich doch; hatte ich sie nicht gebetet, so verzweifelte ich abermals“[4].

   In dieser Lage konnten ihm die Sakramente der Kirche, auch das Bußsakrament und der Beichtstuhl, keine Ruhe verschaffen. „Er beichtet täglich, beichtet auch das Kleinste, beichtet auch das Vergangene immer wieder.“ Aber er merkt, „daß er im Grund derselbe Mensch war wie zuvor[5].“ Diese Gewissensnot, die durch kein Sakrament, durch keine Kirche, durch keine menschliche Einrichtung irgendwie gestillt werden kann, ist keine vereinzelte Erscheinung. Wir haben sie überall, wo das Gewissen eines Menschen erwacht. Bei jeder Erweckung, die wir in neuerer Zeit erlebt haben, beobachten wir dasselbe Erwachen des Gewissens. So bei der großen Erweckung, die während der Kriegsjahre auf dem evangelischen Missionsgebiet in Nias in Holländisch-Indien entstand. Hier war auf rätselhafte Weise über ein ganz einfaches Naturvolk der Eindruck von Gottes Gegenwart gekommen. Sie fingen an, vor Gott zu zittern. „Gott ist nur eine Hand breit über mir“, sagten sie in ihrer primitiven Sprache. Im Bewußtsein der unentrinnbaren Gegenwart des allmächtigen Richters hatten sie den elementaren Drang, alles zu beichten, was sie auf dem Gewissen hatten. Die Häuser der Missionare waren schon von früh morgens an belagert von Menschen, die ihr Gewissen entlasten wollten. Manche, die es nicht übers Herz brachten, zu beichten, gingen in den Urwald und erhängten sich selbst.

Immer, wenn dieses Erwachen des Gewissens über einzelne oder über eine ganze Volksgemeinde kommt, stellt sich die furchtbare Entdeckung ein: Wir Menschen stehen in der Gegenwart Gottes und sind doch nicht imstande, Gott von ganzem Herzen zu lieben, wie wir sollten. Es ist auch in unseren besten Taten, auch in unserer Andacht, auch in unserer Askese, ja gerade in dieser, immer dieselbe heimliche unüberwindliche Selbstliebe. Wir mögen uns noch so sehr in der Zucht haben und die schlechten Regungen des Neides und der Schadenfreude niederkämpfen, wenn sie in uns aufsteigen; dennoch ist der erste Affekt (primus affectus), die erste unwillkürliche Regung unseres Herzens, wenn wir etwa von einem Unbekannten bei Nacht plötzlich angefallen und geschlagen werden, der Haß gegen den, der uns schlägt. Hinterher verzeihen wir ihm. Aber ehe wir uns dazu ermannen und uns zur Sanftmut entschließen, ehe die moralische Reflexion einsetzt, bricht unwillkürlich die Wut in uns hervor. Wir mögen unsere Empfindungen noch so sehr in der Gewalt haben; aber wenn wir etwa erfahren, daß der Mensch, der uns im Wege steht, der Konkurrent, der Nebenbuhler, einen großen Erfolg gehabt und aller Herzen erobert hat, so ist die erste Regung Neid. Schon einige Minuten später überwinden wir uns vielleicht und gratulieren ihm zu seinem Erfolg und freuen uns selbstlos darüber. Aber der erste unwillkürliche Affekt, der wie ein Blitzlicht die Tiefen unserer Seele beleuchtet, die Regung, durch die wir durch eine Öffnung hinuntersehen in die Abgründe unserer Seele, in unser wahres Wesen, ist Ärger und Haß. Die Überwindung der selbstsüchtigen Regungen durch Disziplin und Askese ist darum, wenn sie uns auch noch so vollständig gelingen mag, immer etwas Gewaltsames, ein Unterdrücken von etwas, das sich unwillkürlich in uns regt. Vor Menschen ist dieser Sieg über uns selbst eine heroische Leistung. Aber wir stehen in der Gegenwart Gottes. Gott will keinen erzwungenen Dienst, denn das ist keine Liebe von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Nur ein Wollen, das aus innerstem Drang geboren ist, aus dem jeder Rest von Sollen und Müssen, von Zwang und Gewalt verschwunden ist, also ein ganz freies und ungeteiltes Wollen könnte Gott gefallen. „Nullum violentum perpetuum“ (Nichts Erzwungenes hält stand). Erzwungenes Wollen hat keine Wurzeln in unserem innersten Wesen. Es gleicht der unter die Steine gesäten Saat, die nur spärlich aufgeht. Also sind auch gerade die Höchstleistungen menschlicher Selbstüberwindung, die von Menschen am meisten bewundert werden, die asketischen Übungen, bei denen der Mensch in der Klosterzelle sich geißelt und fastet, um sich zu besiegen, wenn wir sie in der Gegenwart Gottes betrachten, unrein. Denn es sind ja Gewaltakte, zu denen wir uns zwingen müssen. Vor Gott aber gilt nur eine freiwillige Hingabe des ganzen Herzens. Alles oder nichts. Jede halbe Hingabe ist Empörung. Auch in dem Verlangen, in den Himmel zu kommen und selig zu werden, liegt nach Luther dasselbe egoistische Begehren wie in der gemeinsten fleischlichen Begierde. Wenn wir wirklich Gott von ganzem Herzen lieben, so müssen wir ebenso freudig in die Hölle gehen, wenn Gott uns dorthin schickt. Wir mögen also ein Mönchsleben führen, um in den Himmel zu kommen, oder ein Weltleben, immer ist die Selbstliebe als zweiter Beweggrund dabei. Wir geben Gott nur ein halbes Herz.

Wir können also, sobald wir uns selbst wirklich kennen gelernt haben, vor Gott nur verzweifeln. Und kein Mensch kann uns aus dieser Verzweiflung retten. Denn jeder einzelne steht ja ganz allein vor Gott. Erst wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, sind wir wirklich erwacht. Wir stehen an der Stelle, an der wir entweder untergehen müssen oder Gott finden. Als Luther an diesem Punkt stand, war es ihm ohne weiteres klar: Wenn es in dieser Lage überhaupt eine Hilfe gibt, eine Rettung vor dem Untergang, so kann diese nur in einer ganz bedingungslosen Vergebung bestehen. Ich kann nicht das Geringste dazu tun, das diese Vergebung auch nur vorbereiten könnte. Denn das war Luther aufgegangen, und das geht jedem auf, dessen Gewissen wirklich erwacht ist: auch bei der frömmsten Handlung, durch die ich mich durch Gnade Gottes disponieren könnte, behalte ich immer etwas zurück. Sie ist also, wenn ich sie in der Gegenwart Gottes betrachte, nur eine neue Empörung gegen Gott. Damit ist aber der Gedanke unmöglich geworden, der Mensch könnte durch fromme Werke irgend etwas tun, um sich der Vergebung Gottes würdig zu machen, wir könnten, wenn auch nicht ein „meritum de condigno“ (ein Würdigkeitsverdienst), so doch ein „meritum de congruo“ (ein Angemessenheitsverdienst) aufbringen, um uns zu disponieren für die Eingießung der Gnade. Nein, auch diese frommen Werke sind, weil wir sie uns abringen müssen, nur eine neue Form der Auflehnung gegen Gott. Mönchs- und Weltleben sind nur zwei verschiedene Variationen derselben unreinen Melodie. Der Weltmensch, der seiner Natur die Zügel schießen läßt und aus seiner Selbstliebe keinen Hehl macht, ist „ein Gottloser rechter Hand“ (dextralis impius), der Asket, der seinen Egoismus auf eine sublimere Weise befriedigt, nämlich durch eine gewaltsame Unterdrückung seiner Natur, auf die er sich etwas einbildet, ist „ein Gottloser linker Hand“ (sinistralis impius).

Damit fallen alle Heiligkeitsunterschiede dahin, alle Abstufungen zwischen Weltleuten und Ordensleuten, die die Kirche gemacht hatte, wir mögen so oder so leben, „immer sündigen wir, immer sind wir unrein“ (semper ergo peccamus, semper immundi sumus). Es ist unmöglich, unsererseits auch nur das Allergeringste zu tun, das Gott bewegen könnte, uns zu vergeben. Mit allem was wir tun, kommen wir ja nur immer noch tiefer in die Auflehnung gegen Gott hinein, wir entfernen uns noch weiter von Gott. Wir können, wenn uns nicht auf eine wunderbare Weise geholfen wird, vor Gott nur an uns selbst verzweifeln.

Alles Weitere, was uns die Bibel über Gott und den Menschen, über seinen Fall und seine Befreiung sagt, ist nur von diesem Punkt aus sichtbar. Wir verstehen es nur, wenn wir bis zu diesem Tiefpunkt der Verzweiflung des Menschen an sich selbst gelangt sind. Man sieht ja manchmal aus der Tiefe eines Schachtes, der sich oben nach dem Himmel zu öffnet, in der Abenddämmerung einen Stern am Himmel, der oben über Tage noch nicht sichtbar geworden ist. Denn oben ist man durch die Tageshelle geblendet. Aber drunten, im Dunkel des Schachtes, erweitern sich die Pupillen. Von der Tiefe aus sieht man darum Dinge am Himmel, die man oben nicht sehen kann. So ist Gottes Handeln mit der Menschheit, wie die Bibel es beschreibt, nur aus dem tiefen Schacht der Verzweiflung des Menschen an sich selbst heraus sichtbar. In der Tageshelle, die auf der Oberfläche des Lebens herrscht, kann man Gott nicht sehen. Da erscheint die Heilsgeschichte, die die Bibel erzählt, wie ein Mythos, wie ein unwirkliches Phantasiegebilde. Nur in jener dunklen Tiefe, in der man den Abstand von Gott, das Ausgeschlossensein von seiner Gemeinschaft, in seiner ganzen Furchtbarkeit fühlt, erweitert sich der Blick, da geht uns die innere Notwendigkeit dessen auf, was Gott in Christus getan hat. Wenn wir in der Verzweiflung an uns selber stehen, dann sehen wir ohne weiteres ein: Soll in dieser Lage überhaupt noch Hilfe möglich sein, so kann die Hilfe nur von Gott kommen. Nur bei Gott ist auch das Unmögliche möglich. Wir können die Hilfe nur von Gott erwarten, von Gott allein. Gott muss das Werk beginnen, und er muss es auch vollenden. Er muss unser Verhältnis zu ihm ohne all unser Zutun auf eine ganz neue Grundlage stellen.

Wie Gott helfen soll, wenn er uns überhaupt helfen will, darüber können wir unsererseits nicht mehr bestimmen. Hier können wir nichts konstruieren oder postulieren[6]. Wir haben ja keinerlei Rechtsanspruch an Gott. Es steht bei ihm, was er tun will. Wenn zwischen zwei Personen ein Riß eingetreten ist dadurch, daß eine sich an der anderen versündigt hat, so ist es ganz allein Sache der beleidigten Person, den Ort der Verhandlung zu bestimmen, die Stelle festzusetzen, an der eine Versöhnung stattfinden soll, falls es überhaupt zu einer solchen kommen kann. Der Beleidiger hat dabei nichts dreinzureden. Soll also in der Lage, in der wir Gott gegenüber an uns selbst verzweifeln, eine Versöhnung überhaupt möglich sein, so ist es ganz und gar Gottes Sache, den Ort der Versöhnung zu bestimmen und die Art ihres Vollzugs. Wir haben keinen Einfluß darauf und können mit unserem Denken nichts darüber ausmachen.

Es kann also nur im reinen Tatsachenstil von der Erlösung gesprochen werden. Gott hat zur Erlösung der Welt einen Weg eingeschlagen, auf den kein menschliches Denken gekommen wäre. Es hat Gott gefallen, ein Volk unter den Völkern als Priestervolk auszuwählen und aus diesem Volk einer Person für alle Zeiten die Vollmacht zu geben, in seinem Namen das lösende Wort zu sprechen, das „Wort von der Versöhnung“, und dieses Wort durch sein Leiden und Sterben zu besiegen. „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber.“ Schon beim ersten Auftreten Jesu, als er dem Gichtbrüchigen sagte: „Dir sind deine Sünden vergeben“, wußten die Juden: entweder ist das Gotteslästerung, oder er ist der, der da kommen soll. Denn niemand kann Sünden vergeben als Gott allein.

Nur von jenem Tiefpunkt der Verzweiflung aus, an dem Luther im Kloster stand, ist dieses Wort für einen Menschen hörbar. Nur von dort her, von jenem tiefen Schacht aus, der unterhalb der Oberfläche des Lebens liegt, kann verstanden werden, was dieses Wort von der Vergebung durch Christus bedeutet. Es hat gar keinen Wert, wissenschaftlich über die Frage zu streiten, ob Christus wirklich die Vollmacht hatte, dieses lösende Wort zu sagen. Nur in der verzweifelten Lage eines Menschen, der angesichts des Todes unter der Last einer schweren Vergangenheit nach diesem Wort wie ein Versinkender nach einem Rettungsring greift, kann die Probe auf die Wahrheit desselben gemacht werden. Die ganze Botschaft der Apostel ruht auf der Gewißheit: Christus ist der einzige, der das kann, was kein Mensch kann, was im Munde eines unreinen Menschen eine gotteslästerliche Anmaßung wäre. Christus allein kann einem Menschen, der an sich selbst verzweifelt ist die Last abnehmen, ihn von der Verzweiflung heilen und mit Vollmacht zu ihm sagen: „Dir sind deine Sünden vergeben, gehe hin in Frieden!“ So oft in die Seele eines Menschen, der weiß, daß auch sein bestes Tun unrein und Empörung gegen Gott ist, dieses Wort wie ein Funke hineinfällt und zündet, so ist das ein absolutes Wunder Gottes. Denn es ist ja nichts in uns Menschen, was für Gott ein Anlaß sein könnte, uns nicht zu verstoßen, nichts, wodurch wir uns der Gnade würdig machen könnten.

Dieses Wunder, daß in einem an sich selbst verzweifelten Menschen unter dem Machtwort Christi die Gewißheit der Vergebung aufleuchtet, können wir nur im Glauben fassen. Sola fide justificamur. Mit dem Wort Glaube, das hier gebraucht wird, kann keine seelische Leistung gemeint sein, durch die wir bei unserer Begnadigung mitwirken würden, und wäre es auch nur durch Ausstrecken der Hand, um ein Geschenk in Empfang zu nehmen. Denn auch das Hinhalten eines Bettlergefäßes, das Ausstrecken der leeren Hand wäre ja als eine Tat unsererseits wieder unrein. Es würde dabei sofort jedem skrupulösen Menschen der Zweifel aufsteigen: Habe ich wirklich die Hand nach Gott ausgestreckt? Habe ich wirklich eine tiefe Sehnsucht nach Gott aufgebracht, ein Vertrauen zu ihm gefaßt von ganzem Herzen? Wir stünden also sofort wieder an dem Punkt, an dem die Skrupulanten standen, die aus dem Zweifel an der Echtheit ihrer Andacht nicht herauskamen. Solange wir noch nicht an jenem Tiefpunkt unseres Daseins angelangt sind, in dem wir uns selbst nicht mehr weiterhelfen können, glauben wir immer noch, wir können wenigstens ein Vertrauen zu Gott fassen, das für ihn ein Grund wäre, uns zu vergeben. Aber sobald wir an uns selber verzweifelt sind, wissen wir auch, daß wir Gott gegenüber nicht einmal eine empfangende Bewegung ausführen können, die vor ihm rein wäre.

Die Reformatoren haben deshalb den Glauben immer so beschrieben, daß der Gedanke an eine seelische Leistung ein für allemal ausgeschlossen ist. Luther sagt: „Ich pflege, damit ich diese Sache besser fasse, es mir so vorzustellen, als sei keine Qualität in meinem Herzen, die Glaube oder Liebe genannt werden könnte, sondern an die Stelle derselben setze ich Christum selbst und sage: Das ist meine Gerechtigkeit, er selbst ist die formale Qualität, wie sie es nennen“ (ego, soleo, ut hanc rem melius capiam, sic imaginari, quasi nulla sit in corde meo qualitas, quae fides vel caritas vocetur, sed in loco ipsorum pono ipsum Christum et dico: haec est iustitia mea, ipse est qualitas et formalis, ut vocant). Luther sagt im Galaterbrief-Kommentar bei der Erklärung des 2. Kapitels: Der Glaube ist nicht eine auf ein Objekt, nämlich Christus gerichtete Tätigkeit, nein, im Glauben selbst ist Christus anwesend (in ipsa fide Christus adest). Der Glaube ist die Finsternis, die nichts sieht, und doch sitzt in dieser Finsternis der im Glauben ergriffene Christus, wie Gott im Tempel sitzt mitten in der Finsternis (fides est tenebra, quae nihil videt, et tamen in istis tenbris Christus fide apprehensus sedet, sicut Deus in templo sedet in medio tenebrarum). Damit ist der Glaube ganz einfach beschrieben. Er ist die Gegenwart Christi in der Finsternis eines an sich selbst verzweifelten Menschenherzens.

Wenn sich das Wunder des Glaubens zuträgt, diese Anwesenheit Christi im verzweifelten Herzen, so ist die Seele mit Christus ganz allein, wie der Gichtbrüchige mitten in der drängenden Volksmenge mit Christus allein war, als er ihm Vergebung zusprach, wie die Sünderin in des Pharisäers Haus mitten unter der Tischgesellschaft mit Christus allein war, als er zu ihr sagte: „Gehe hin im Frieden!“ Darin liegt aber ein letzter Gegensatz gegen das katholische Christentum. Denn damit ist jedes menschliche Priestertum ein für allemal ausgeschlossen. Diese Aufhebung des menschlichen Priestertums durch Christus ist der Grundgedanke des Hebräerbriefes. Seit Christus kam und unsichtbar unter den Seinen gegenwärtig ist, gibt es keine Priester mehr. Die ganze Einrichtung von Priestern und Priestergeschlechtern, die für die Sünden der Menschen Opfer darbrachten, war nach dem Hebräerbrief nur ein vorausgeworfener Schatten des Kreuzes Christi, eine überwundene Vorstufe dessen, was mit Christus in die Welt eintrat. Seit Christus da ist, kann kein sündiger Mensch der selbst Empörer gegen Gott ist, es wagen, den anderen zu absolvieren. Christus ist eingesetzt als der „Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“. In ihm ist das Priestertum, das auf der heidnischen und alttestamentlichen Vorstufe befand, ein für allemal erfüllt und aufgehoben. Jeder Mensch steht unmittelbar ohne menschliche Vermittlung vor dem Einen ewigen Hohepriester. Jeder ist mit Christus allein. Kein Mensch kann in das schwebende Gerichtsverfahren zwischen Gott und einem anderen Menschen eingreifen. Seit Christus da ist, gibt es keine Priester mehr, sondern nur Boten, die das Wort Christi von der Vergebung durch die Welt tragen.

Der ganze Heilsglaube des evangelischen Christentums mit seiner Verzweiflung an uns selbst und seiner Gewißheit der Vergebung in Christus ist in den Worten zusammengefaßt, die Luther am 8. April 1516 an den bekümmerten Mönch Georg Spenlein geschrieben hat: „Darum, mein lieber Bruder, lerne Christum, und zwar den Gekreuzigten (ergo, mi dulcis frater, disce Christum et hunc crucificum). Ihm lerne lobsingen und an dir selbst verzweifelnd zu ihm sagen: Du, Herr Jesu, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde (de te ipso desperans dicere ei: tu es iustitia mea, ego sum peccatum tuum). Du hast angenommen, was mein ist, und mir gegeben, was dein ist, du nimmst an, was du nicht warst, und gibst mir, was ich nicht war.

Hüte dich darum, je solche Reinheit anzustreben, daß du vor dir nicht mehr als Sünder erscheinen willst, ja keiner mehr sein willst. Christus nämlich wohnt nur unter Sündern. Dazu kam er ja vom Himmel, wo er unter Gerechten wohnte, damit er auch unter Sündern Wohnung nähme. Solcher seiner Liebe sinne immer wieder nach, und du wirst seinen allersüßesten Trost schauen. Wenn wir nämlich aus eigenen Mühen und Qualen zur Ruhe des Gewissens eingehen wollen, wozu wäre er dann gestorben? Nein, nur in ihm, durch getroste Verzweiflung an dir und deinen Werken wirst du Frieden finden.“

 

 

aus „Das Wesen des evangelischen Christentums“ von Karl Heim, Professor an der Universität Tübingen. 3. veränderte Auflage. 1926



[1]  Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte.  I.  Luther, 2. und 3. Aufl. Tübingen 1923.

[2]  Heiler, Der Katholizismus, S. 261 ff.

[3]  Holl, Luther, S. 18 Anm.

[4]  Holl, Luther, S. 21. Anm.

[5]  Holl, Luther, S. 23.

[6]  fordern, voraussetzen.