5. Juni 1980
24. Ludwig-Hofacker-Konferenz
Mit dem Festhalten ist das
so eine Sache. Festhalten ist nicht immer sinnvoll; sondern nur dann, wenn der
Halt selbst, an den wir uns klammern, fest ist.
Es nützt
nur wenig, wenn ich im Omnibus stehend mich an meinem Nebenmann halte und er an
mir. Der Halt ist nicht fest. Beim nächsten scharfen Bremsen werden wir beide
miteinander den Halt verlieren und stürzen.
Festhalten ist nur
sinnvoll, wenn der Halt selbst fest ist. Wenn ich in einem Boot auf dem Niagara-Fluss
den großen Wasserfällen zutreibe, dann klammere ich
mich voller Angst an das Boot als einzigen Halt. Aber das nützt mir nichts,
weil das Boot nicht festgemacht ist, sondern ebenso treibt wie ich.
Festhalten ist nur
sinnvoll, wenn der Halt selbst fest ist. Aber wir erliegen immer wieder der
Versuchung und der Täuschung, uns dadurch einen festen Halt zu verschaffen, dass
wir uns an vergänglichen Dingen festhalten: Etwa an der Gesundheit: „Gib nur
die Hoffnung nicht auf; das wird schon wieder werden!“
Oder durch Festhalten am
Besitz: „Jetzt kann mir nichts mehr passieren!“
Oft suchen wir diesen Halt
an Menschen: „Er ist mein einziger Halt“, sagen wir. „Auf ihn kann ich mich
verlassen.“
Aber alle diese Hoffnungen
sind trügerisch. Sie können uns nicht geben, was wir von ihnen erwarten. Denn
sie sind ja auch in den Strom der Vergänglichkeit hineingerissen. Sie gleichen
dem Boot, an das wir uns klammern, das aber mit uns auf dem Strom der
Vergänglichkeit dem Abgrund des Todes zutreibt.
Was wir wirklich brauchen,
ist ein Halt, der seine Verankerung außerhalb der Vergänglichkeit dieser Welt
hat. Wir brauchen – im Bild gesprochen – ein Seil, das uns vom Ufer aus
zugeworfen wird; ein Seil, das nicht nur treibt, sondern das am Ufer gehalten
wird und das uns ans Ufer zieht.
Dieser feste Halt
außerhalb der Vergänglichkeit unserer Welt ist der ewige und allmächtige Gott.
Er, der Himmel und Erde gemacht hat. Er, der nicht der Vergänglichkeit
ausgeliefert ist, sondern der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er allein kann
unsere Zuflucht und unsere Hoffnung sein.
Aber er ist am Ufer und
wir sind mitten im Strom. Er ist in der Herrlichkeit, wir in Sünde und Elend
und Todesangst. Sein Thron ist unumstößlich, während wir ohne Halt dahin treiben.
Doch bei dieser Trennung
bleibt es nicht: Gott gibt seinen Sohn in das Elend und die Todverfallenheit
dieser Welt hinein. Er, Jesus, ist der rettende Halt, das Rettungsseil, das uns
zugeworfen wird. Er ist in der Ewigkeit Gottes verankert und ist in die
Vergänglichkeit unserer Welt eingegangen. Er ist in allem Gott gleich und ist
uns gleich geworden mit Ausnahme des einen, dass er seine Verbindung zum Vater
nicht aufgegeben hat. Ihm ist alle Macht und aller Halt gegeben: und er ist bei
uns.
An ihm gilt es
festzuhalten. Er ist der einzige Halt in dieser Welt, der fest und
unerschütterlich ist. Er allein kann uns geben, was wir suchen und brauchen: „Wer
sich an mich hält, der wird leben“, sagt Jesus.
Nun lassen Sie mich das
Bild von dem Seil weiter ausspinnen. Es geht mir dabei um die Frage, wie denn
unser Leben mit Jesus in Verbindung kommt? Wie wir denn diese Kraft Gottes in
unserem Leben erfahren? Was denn die Nahtstelle ist zwischen unserem Lebensboot
und diesem Seil?
Schon oft haben gut meinende
Menschen einem Ertrinkenden im reißenden Strom einen Rettungsring am Seil
zugeworfen. Aber der Ertrinkende hatte nicht die Kraft, sich daran
festzuhalten. Er wurde von der reißenden Kraft des Flusses mitgerissen.
Deshalb hat das Seil, das
uns Gott in der Person Jesu zuwirft, gleichsam einen Widerhaken, mit dem es in
unser Leben einhakt und das Boot unseres Lebens festhält.
Und dieser Haken ist das
Wort Gottes. Das Wort Gottes ist die packende und festhaltende Verbindung zwischen
Jesus und unserem Leben. In seinem Wort wird Jesus für uns fassbar. In seinem
Wort verbindet sich der ewige Gott mit uns Menschen im Strom der
Vergänglichkeit. Mit seinem Wort hakt er in unser Denken und Wollen ein. Im
Wort Gottes begegnet uns die Kraft Gottes; diese Kraft, die der Sogwirkung der
Sünde und der Vergänglichkeit standhält, ja die uns gegen den Strom zieht.
Festen Halt gewinnt unser Leben, wenn wir zulassen, dass das Wort Gottes bei
uns einhakt und festmacht; wenn wir zulassen, dass es uns herumreißt: heraus aus
der gewohnten selbstverständlichen Strömung, hinein in die Richtung, in die uns
Gott durch sein Wort zieht.
So hat Gott bei Noah
eingehakt, als er zu ihm sagte: „Mache dir eine Arche von Tannenholz.“
So hat Gott bei Abraham
eingehakt, als er ihn herausrief: „Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner
Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen werde.“
So hat Jesus in das Leben
des Petrus eingehakt mit seinem Ruf: „Komm und folge mir nach.“
Durch sein Wort hakt Jesus
in unser Leben ein und zieht uns zu sich und mit ihm auf einen neuen Weg, gegen
den Strom, gegen die Kräfte der Sünde und des Todes.
Am Wort Gottes hängt
unsere Hoffnung. Einen anderen Anhaltspunkt haben wir nicht.
Vielleicht sagen wir jetzt
enttäuscht oder zweifelnd mit Goethes Faust: „Ich kann das Wort so hoch unmöglich
schätzen.“ Was wir brauchen, sind nicht Worte, sondern Taten, Zeichen, Beweise!
Aber so wie uns die Kraft
der Liebe – von der das Hohelied sagt, dass sie stark sei wie der Tod – so wie
uns die Kraft der Liebe auch nicht in lauten, protzigen Krafttaten begegnet,
sondern im stillen unscheinbaren Wort der Liebe, so begegnet uns die Kraft
Gottes in seinem Wort.
Sein Wort ist der Grund
unserer Hoffnung. Das Wort der Schrift ist der Haken, an dem unsere Hoffnung
hängt. „Was er verspricht, das bricht er nicht.“
Davon erzählt die ganze
Bibel. Zum Beispiel:
Dass Gott zu Mose spricht:
„Ich will mein Volk aus Ägypten führen in ein Land, darin Milch und Honig
fließt.“ Dieses Wort Gottes erscheint fast lächerlich im Angesicht der
Realitäten: Angesichts der ganz anderen Absichten des mächtigen Pharao.
Gegenüber den gut ausgestatteten ägyptischen Heeren mit seinen Streitwagen.
Angesichts der unüberwindlichen geographischen und klimatischen Hindernisse:
Meer, Wüste, Hitze, Wasserlosigkeit.
Aber das Wort Gottes – oder
richtiger gesagt: aber Gott, der sich in seinem Wort geoffenbart und festgelegt
hat – ist stärker als die Verhältnisse: stärker als Pharao mit seinem Heer,
stärker als Meer und Wüste, stärker als die Festung Jericho, die den Weg ins verheißene
Land blockiert.
Gott bindet sich an uns in
seinem Wort und hält und erfüllt, was er in seinem Wort verspricht.
Wir müssen aber genau
aufpassen: Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche und Vorstellungen. Sondern er
erfüllt, was er verspricht.
Unsere Enttäuschungen
kommen meist daher, dass wir selbst die Ziele festsetzen und dann von Gott
erwarten, dass er uns an diese selbst gewählten Ziele bringt:
Wir ersehnen ein
konfliktfreies Leben und erwarten dann von Gott, dass er uns alle
Schwierigkeiten erspart oder aus dem Weg räumt.
Wir missachten die klaren
Gebote Gottes und erwarten gleichzeitig von ihm, dass er Leid und Unrecht in
unserer Welt verhindert.
Wir gehen eigene Wege,
aber erwarten gleichzeitig von Gott, dass er keinen verloren gehen lässt.
Und wenn Gott dann das
nicht tut, was wir von ihm erwarten, dann klagen wir ihn an: Wo bist du? Wie
kannst du das zulassen? Und auch beim Beten hören wir uns oft nicht in den
Willen Gottes hinein, sondern legen ihm unser Programm zur Erfüllung vor. Und
wenn er dann das nicht erfüllt, sind wir enttäuscht und sagen: Gott gibt es ja
gar nicht. Meine Gebete hat niemand erhört.
Aber Gott erfüllt nicht unsere
Wünsche. Sondern er erfüllt seine Verheißungen. Er erfüllt seine Zusagen
ohne Abstriche.
Nun werden wir fragen: Was
sagt er uns denn zu. Was ist die Hoffnung, die er unserem Leben und
dieser Welt setzt?
Im 3. Artikel des
Glaubensbekenntnisses wird diese Hoffnung umschrieben mit den Worten: „
Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben“.
Aber das ist noch zu
wenig. Die Hoffnung, die Gott unserem Leben setzt, ist mit weiter sehenden
Worten beschrieben: im 23. Psalm, in Jesaja 40-43, im Missionsbefehl, im 8.
Kapitel des Römerbriefes, in Offenbarung 21. Und auch das beschreibt noch nicht
die ganze Größe der uns in der Schrift geschenkten Hoffnung.
Die Größe dieser Hoffnung kann
man nicht in wenigen Sätzen beschreiben. Sie ist wie das weite Land, das am
Ufer des Stromes beginnt. Wer wollte dieses Land in wenigen Sätzen beschreiben.
Unser Leben reicht nicht aus, die Weite dieser Hoffnung zu erfassen. Ja die
Ewigkeit reicht nicht aus, Gott und seine Gaben vollkommen zu erfassen. Denn
das Ziel unserer Hoffnung ist er selbst und die Fülle seiner Gaben.
Und diese gewaltige
Zukunft steht uns offen. Unser Leben ist mit dieser Zukunft verbunden durch das
Wort Gottes, das uns begegnet und bei uns einhakt. Unsere Hoffnung hängt an
Jesus, der uns in seinem Wort begegnet und zum Vater zieht. Er will uns die
völlige Hoffnung geben durch sein Wort und durch die Kraft des Heiligen
Geistes.
Seit vielen Jahren und
Jahrzehnten ist dieses Ziehen Gottes durch sein Wort in unserem Leben spürbar.
Wir haben uns ziehen lassen und auf den Weg gemacht wie einst das Volk Israel
beim Auszug aus Ägypten. Aber vielleicht sind wir dann müde geworden, weil so
viele Beschwernisse und Hindernisse aufgetreten sind, dass wir das große Ziel
aus den Augen verloren haben. Weil andere Kräfte und Einflüsse von uns Besitz
ergriffen haben, die unseren Blick zurücklenken nach den Fleischtöpfen
Ägyptens: War das Leben ohne Gott nicht viel bequemer? Und wer sagt denn
überhaupt, dass es dieses Ziel gibt und dass wir dieses Ziel erreichen?
Bei diesen lähmenden
Zweifeln übersehen und vergessen wir oft, dass Gott sein Wort doch durch
mitfolgende Zeichen seiner Macht und Güte bekräftigt hat: beim Durchzug durch
das Rote Meer, im täglichen Manna, als er das Wasser aus dem Felsen gab, als er
einen Tisch bereitete im Angesicht der Feinde.
Auch in unserem Leben ist
das Ziehen Gottes in seinem Wort begleitet von Zeichen seiner Macht und Güte.
Wir sind auf demselben Weg wie Israel mit ähnlichen Erfahrungen.
Was uns in der Schrift
erzählt ist, ist uns zum Vorbild, zur Lehre, zur Ermahnung und zum Trost
geschrieben. Denn durch unser Leben geht derselbe Zug Gottes wie durch das
Leben der Patriarchen, wie durch die Geschichte Israels, wie durch das Leben
der Apostel.
Von ihnen können wir
lernen, dass der Weg, auf dem wir von Gott geführt und gezogen werden, kein
Spaziergang ist, sondern ein Kampf. Aber bei ihnen können wir vor allem auch
sehen, dass Gott hält und erfüllt, was er zusagt.
Wenn Gott durch sein Wort
bei uns einhakt und der Zug Gottes in unserem Leben wirksam wird, dann stehen
wir in der Spannung zweier sich widerstreitender Kräfte: der Kraft des Seiles,
das uns ans Ufer zieht und der Kraft des Stromes, der uns in eine andere
Richtung treiben will.
Diese Spannung gilt es
auszuhalten. Und das Aushalten dieser Spannung nennt; Paulus Geduld. Wörtlich
übersetzt heißt dieses Wort: „unter der Last bleiben“.
In diesem Spannungsfeld
steht das Leben jedes einzelnen Christen und das Leben der christlichen
Gemeinde: „als die Sterbenden, und siehe wir leben; als die Traurigen, aber
allezeit fröhlich, als die nichts haben, und doch alles haben“ (2. Korinther 6,
9-10).
Beide Kräfte wirken auf
uns ein: Das Ziehen Gottes in seinem Wort und der mitreißende Strom der Sünde
und des Todes.
Die Frage ist nur, welcher
Kraft wir Recht und Einfluss geben. Welchem Zug wir nachgeben.
Einer von den vielen, die
vor uns diesem Ziehen Gottes nachgegeben haben, nämlich der Apostel Paulus,
schreibt uns zur Lehre und Ermahnung: „Nicht dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich
jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen möchte, nachdem ich von Christus
Jesus ergriffen bin. Ich vergesse, was dahinten ist, und ich strecke mich nach
dem, das da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod
der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. Wie viele nun unter uns
vollkommen sind, die lasset uns so gesinnt sein“ (Philipper 3, 13-15).
Lassen Sie uns heute und
jeden Tag neu diesen Zug Gottes an uns festmachen und die Hoffnung festhalten:
Stark ist meines Jesu Hand,
und er wird mich ewig
fassen,
hat zuviel an mich
gewandt,
um mich wieder
loszulassen:
mein Erbarmer lässt
mich nicht,
das ist meine
Zuversicht.