Klaus Scheffbuch

06. Juni1985

29. Ludwig-Hofacker-Konferenz

Wort und Tat gehören untrennbar zusammen

 

Die Liebe Gottes begegnet uns in seinem Wort, mit dem er uns anredet. Und sie begegnet uns in seinem Werk; in dem, was er für uns tut.

Unser Herr predigte das Evangelium vom Reich Gottes, und er heilte die Kranken.

Seine Jünger haben von ihm den Auftrag bekommen, beides weiter zutragen, sein Wort und seine helfende Tat: „Gehet hin und saget ,das Reich Gottes ist zu euch gekommen' und macht die Kranken gesund“ (Matthäus 10, 7-8).

Die ersten Christen in Jerusalem „blieben beständig in der Apostel-Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“ – und sie teilten ihre Güter (Apostelgeschichte 2,  42-45).

Das erste Amt in der christlichen Gemeinde war das Amt der Apostel. Aber schon nach wenigen Wochen leitete der Heilige Geist die Gemeinde dahin, das Amt der Diakonie zu schaffen (Apostelgeschichte 6, 1-6).

Beides gehört untrennbar und gleichwertig zusammen: Mission und Diakonie, Seelsorge und Leibsorge, das Weitertragen der Liebe Gottes im Wort und in der Tat.

Haben wir als Christen heute diese wichtige Dimension unseres Glaubens im Blick? Oder sind wir dafür weitgehend blind?

Diakonie ist nicht nur eine Aufgabe der Diakonie und Diakonissen, der diakonischen Einrichtungen und der hauptamtlichen Mitarbeiter der Diakonie, sondern sie ist Auftrag und Ausdruck des Glaubens für jeden Christen und für alle Gemeinden. Und zwar nicht nur mit dem Geldbeutel durch gelegentliche Spenden. Sondern „Herz und Mund und Tat und Leben soll von Christus Zeugnis geben“. So heißt es in einer Kantate von Johann Sebastian Bach. Diakonie und Seelsorge haben dieselbe Wurzel. Sie beginnen damit, dass wir sehen lernen. Dass wir die Menschen, denen wir begegnen, mit den Augen Jesu sehen lernen und wahrnehmen.

Sehen wir die leidenden Menschen an unserem Weg: den kranken Nachbarn im Haus gegenüber oder im Krankenhaus? Die Alten und Gebrechlichen in unserer Nachbarschaft oder im Pflegeheim? Die ausländischen Mitbürger, die Asylanten, die farbigen Studenten? Sehen wir die Behinderten und ihre Familien? Sehen wir das Elend der Nichtsesshaften? Sehen wir die Not vieler Frauen, die meinen, auf Grund der Verhältnisse ihr Kind nicht zur Welt bringen zu können? Sehen wir die Ehepaare, die sich nicht mehr verstehen können; die Familien mit ihren manchmal unlösbar erscheinenden Problemen? Sehen wir die jungen Leute an der Ecke mit ihrer Hoffnungslosigkeit und ihren Enttäuschungen? Sehen wir die Gefangenen, die Strafentlassenen und ihre Familien? Wissen wir, wer in unserer Gemeinde arbeitslos ist und wie diese Familien finanziell durchkommen? Sehen wir die verschämten Armen in unserer Gemeinde? Welche Familien werden in unserer Gemeinde regelmäßig unterstützt? Wissen wir, wie klein manche Renten sind? Sehen wir die Suchtkranken und ihre Familien? Sehen wir die psychisch Kranken in unserer Mitte? Sehen wir die überlasteten Mütter und ebenso die kinderlosen Ehepaare?

Sehen wir den Lazarus vor unserer Türe oder sind wir blind dafür? Unser Herr öffne uns durch seinen Geist die Augen, dass wir sehend werden für die Not der Brüder und Schwestern, in denen uns unser Herr selbst begegnet.

Und dann? Was sollen und können wir dann tun, um Leidenden zu helfen?

Jedem Jünger Jesu sind viele Gaben anvertraut, mit denen er anderen dienen und helfen kann. Wir alle haben von unserem Herrn viel mehr Gaben zugeteilt bekommen, als uns bewusst ist. Im Neuen Testament heißt es: „Erwecke die Gabe, die in dir ist“ (2. Timotheus 1, 6). Es geht darum, diese Gaben zu entdecken und anzuwenden und wachsen zu lassen.

Lassen Sie uns doch ganz neu anfangen, auf Menschen zuzugehen, mit ihnen zu reden und ihnen mit unseren Möglichkeiten zu helfen: durch Besuche, durch Begleitung, durch Öffnung unserer Wohnungen und Familien, durch praktische Hilfsdienste, durch Vermittlung von Wohnung und Arbeit, durch Mitarbeit in Dienstgruppen für Ausländerkinder oder im Altenheim, durch Patenschaften für Familien oder Einzelpersonen, durch offene Angebote für junge Menschen, durch Zuhören und durch materielle Hilfen.

Und lassen Sie uns teilnehmen an der Arbeit der diakonischen Einrichtungen in unserem Ort oder Bezirk; an der Arbeit der Diakonischen Bezirksstellen und der Beratungsstellen, an der Arbeit der Diakoniestationen und der Altenheime, an der Arbeit der Jugendhilfeeinrichtungen und der Krankenhausseelsorger, an der Arbeit der Suchtkrankenberater und der Bewährungshelfer. Sie brauchen unser Mittragen und auch unsere Mitarbeit.

Und lassen Sie uns für diese Mitarbeiter und für die Leidenden beten. Beim Beten zeigt uns unser Herr durch seinen Geist, was wir tun können und was er durch uns tun will.

Wahrscheinlich denken Sie jetzt: Das ist ja eine uferlose Aufgabe! Wo sollen wir da anfangen und wo aufhören?

Lassen Sie uns doch einfach bei dem Notleidenden anfangen, der vor unseren Füßen liegt. So wird es uns im Neuen Testament gezeigt.

Die Schuld des reichen Mannes war nicht, dass er die Sozialstruktur seiner Zeit nicht geändert hat. Sondern seine Schuld war, dass er den Lazarus vor seiner Türe übersehen hat. Und auch Jesus hat nicht alle Blinden seiner Zeit geheilt, sondern den Blinden an seinem Weg durch Jericho. Petrus hat nicht allen Behinderten geholfen. Aber dem Gelähmten, der an seinem Weg zum Tempel saß.

Gott legt uns unsere Aufgabe vor die Füße. Fangen wir doch an, das Nahe liegende zu tun und dem Nächsten zu helfen.

Und wenn wir damit anfangen, dann stellt sich für uns nicht mehr die Frage des Aufhörens; weil wir bei diesem helfenden Tun nicht arm, sondern beschenkt werden. Gott lässt sich nichts schenken. Er beschenkt vielmehr die, die in der Nachfolge Jesu Schritte des Glaubens wagen.

Wer nur für sich selbst lebt, findet den Sinn seines Lebens nicht. Denn der Sinn unseres Lebens liegt nicht in uns selbst. Der Sinn unseres Lebens liegt nach dem Willen des Schöpfers in einer doppelten Ausrichtung unseres Lebens: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten.“ Wer sich im Glauben dazu einspannen lässt, für Gott und für den Nächsten zu leben, der gleicht einer Saite, die zwischen zwei Festpunkten gespannt ist und dadurch erst zum Klingen kommt.

Solche klingenden Saiten der Liebe Gottes sollen wir und unsere Gemeinden nach dem Willen Gottes sein.