Das
Wasser sprudelte plötzlich, wogte eine Zeit und wurde endlich wieder still und
ruhig. Ein Amerikaner kauerte auf dem niedrigen indischen Hafendamm, den Blick
auf die Stelle geheftet, wo ein dünnes Netz von Luftblasen, die aus der Tiefe
des Wassers kamen, an die Oberfläche emporstiegen. Einen Augenblick später
erschien ein schwarzer Kopf, und ein Paar lebhafte Augen blickten auf. Dann
kletterte der alte Perlenfischer auf die Mole, lächelte und schüttelte das
Wasser von seinem ölig glänzenden Körper ab.
„Ich
habe niemals einen besseren Taucher gesehen, Rambhau“, rief David Morse, der
amerikanische Missionar.
„Sehen
Sie sich diese an, Sahib!“ sagte Rambhau und zog sich eine große Auster aus den
Zähnen. „Ich glaube, sie ist gut“.
Morse
nahm die Auster, und während er sie mit seinem Federmesser öffnete, zog Rambhau
andere, kleinere Austern aus seinem Schurz.
„Rambhau,
sieh doch her!“ rief Morse, „das ist ein wahrer Schatz“. „Ja, sie ist ganz
gut“, sagte der Taucher mit einem Schulterzucken. „Ganz gut? Hast Du jemals
eine bessere Perle gesehen? Sie ist vollkommen, nicht wahr?“ Morse hatte die
Perle von allen Seiten geprüft, bevor er sie dem Hindu zurückgab.
„Doch,
es gibt noch bessere, viel bessere. Nun, ich habe eine...“ Er schwieg plötzlich
und begann dann wieder: „Schauen sie diese an“, sagte er „sehen sie diese
schwarze Schale, diese kleine Höhlung. Ihre Form selbst ist ein wenig länglich.
Aber sonst ist sie ganz ordentlich.“
„Du
bist zu kritisch, Du schadest Dir selbst, mein Freund“, sagte Morse traurig.
„Könnte ich je hoffen eine vollkommenere Perle zu sehen?“
„Das
ist genau das, was Sie sagten, als Sie von Gott sprachen“, sagte der Fischer.
„In ihren eigenen Augen sind die Menschen vollkommen, aber Gott sieht sie so,
wie sie in Wirklichkeit sind.“
Die
beiden Männer schlugen den staubigen Weg ein, der zur Stadt führte.
„Du
hast Recht, Rambhau. Und Gott bietet seine ganze Gerechtigkeit all denen an,
die einfach glauben und sein freies Gnadengeschenk annehmen wollen. Kannst Du
das nicht verstehen, mein Freund?“
„Nein,
Sahib. Wie ich Ihnen schon so oft gesagt: das ist zu einfach. Hier scheitert
eure gute Religion. Das kann ich nicht annehmen. Vielleicht bin ich zu stolz.
Ich werde etwas dafür leisten müssen, um meinem Platz im Himmel zu bekommen.
Andernfalls würde ich dort nicht zufrieden sein.“
„Oh!
Rambhau!“ sagte der Missionar, der seit Jahren für das Heil dieses Mannes
betete. „Oh! Rambhau, siehst Du nicht ein, daß Du auf diese Weise niemals in
den Himmel kommen wirst? Es gibt nur einen Weg, um selig zu werden. Bedenke das
doch, Rambhau! Du wirst alt. Dies ist vielleicht Deine letzte Saison zum
Perlenfischen. Wenn Du jemals die Perlentore des Himmels schauen willst, mußt
Du das neue Leben annehmen, das Gott Dir in seinem Sohn Jesus Christus
anbietet“ (Joh. 3, 16).
„Meine
letzte Saison! Ja! Sie haben recht. Heute ist mein letzter Tag, an dem ich
fische. Es ist der letzte Monat des Jahres, und ich habe Vorbereitungen zu
treffen.“
„Du
mußt Vorbereitungen für das künftige Leben treffen!“ „Genau das will ich tun.
Sehen Sie diesen Mann dort unten? Das ist ein Pilger, der vielleicht nach
Bombay oder Kalkutta wallt. Er geht barfuß und tritt auf die schärfsten Steine
– und sehen Sie doch, alle zwölf Meter kniet er nieder und küßt die Erde. Das
muß man tun. Am ersten Tag des neuen Jahres werde auch ich meine Pilgerreise
beginnen. Das ist mein Plan, den ich schon seit meiner Kindheit gefaßt habe. So
werde ich mir einen Platz im Himmel sichern. Ich will mich auf den Knien nach
Delhi begeben.“
„Armer
Mann! Bist Du verrückt? Es sind von hier neunhundert Meilen bis nach Delhi! Die
Haut von Deinen Knie wird sich durchscheuern, und Du wirst eine Blutvergiftung
oder Lepra bekommen, bevor Du überhaupt in Bombay bist.“
„Nein!
Ich muß nach Delhi gehen. Und dann werden mich die unsterblichen Götter
belohnen. Das Leiden wird mir süß sein, weil es mir den Himmel erkauft.“
„Rambhau!
Mein Freund! Das ist unmöglich! Wie könnte ich Dir zustimmen, daß Du Dir den
Himmel erkaufen willst, nachdem doch der Herr Jesus Christus für Dich gestorben
ist, um Dich zu erlösen“ (Römer 3, 24).
Aber
der Inder blieb fest.
„Sie
sind mein bester Freund, Sahib Morse. All die Jahre hindurch haben Sie mir
geholfen. Als ich krank und in Not war, waren Sie manches Mal mein einziger
Freund. Aber trotzdem können Sie mich nicht von meinem großen Wunsch abbringen,
mir das ewige Heil zu erkaufen. Ich muß nach Delhi.“
Alle
Bemühungen waren vergebens. Der alte Perlenfischer konnte nicht verstehen,
konnte das frei angebotene Heil in Christus Jesus nicht annehmen.
An
einem Nachmittag hörte Morse es an seine Tür klopfen. Er öffnete, und da stand
der alte Rambhau. „Lieber Freund!“ rief Morse. „Tritt doch ein.“ „Nein“, sagt
der Fischer. „Ich möchte, daß Sie mich nach Hause begleiten, Sahib. Ich habe
Ihnen etwas zu zeigen. Bitte weigern Sie sich nicht, mit mir zu kommen.“
Das
Herz des Missionars zuckte vor Freude. Vielleicht würde Gott nun endlich seine
Bitte erhören. „Aber natürlich begleite ich Dich“, sagte er.
„Sie
wissen, daß ich in etwa acht Tagen nach Delhi gehe“, sagte Rambhau zehn Minuten
später, als sie bei ihm ankamen.
Das
Herz des Missionars krampfte sich zusammen. Sie traten ein, und Morse setzte
sich auf einen Stuhl, den sein Freund nach seinem Plan gezimmert hatte und auf
dem er manches mal gesessen hatte, um dem Fischer den von Gott verordneten Weg
zum Himmel zu zeigen (Apostelgeschichte 4, 12).
Rambhau
verließ das Zimmer und kam bald zurück; er trug ein ziemlich schweres
englisches Geldschränkchen.
„Hier
sehen Sie! Mehrere Jahre habe ich dieses Schränkchen schon“, sagte er. „Es ist
nur ein Gegenstand, den ich darin aufbewahre. Davon will ich Ihnen jetzt
erzählen. Sahib Morse, ich hatte früher einen Sohn.“
„Einen
Sohn? Aber davon hast Du mir nie etwas gesagt!“
„Nein,
Sahib, ich habe Ihnen nie etwas davon sagen können.“ Seine Augen wurden feucht.
„Jetzt muß ich Ihnen davon erzählen, denn ich gehe bald fort, und wer weiß, ob
ich jemals wieder zurück komme! Mein Sohn war ebenfalls Fischer. Er war der
beste Perlenfischer der ganzen indischen Küste. Er konnte am schnellsten
tauchen, er hatte das schärfste Auge, die kräftigsten Arme, den längsten Atem
von allen Perlenfischern. Wieviel Freude machte er mir! Er träumte immer davon,
die prachtvollste Perle zu finden, die man je entdecken würde. Er fand sie
eines Tages. Aber als er sie vom Meeresboden losriß war er schon zu lange unter
Wasser gewesen. Er starb kurz darauf.“ Der alte Fischer ließ den Kopf sinken,
und einen Augenblick zitterte er am ganzen Körper ohne ein Wort zu sagen.
Endlich
fuhr er fort: „in diesen ganzen Jahren habe ich die Perle gehütet, aber jetzt
gehe ich bald fort und werde wohl nicht wieder kommen; ich möchte Ihnen die
Perle geben, meinem besten Freund.“ Der Greis ließ das Geheimschloß des
Geldschränkchens aufspringen und entnahm ihm ein sorgfältig eingewickeltes
Päckchen. Er öffnete es behutsam und enthüllte ein riesengroße Perle, die er in
die Hand des Missionars legte. Es war eine der größten Perlen, die man jemals
an der indischen Küste gefunden hatte, und sie erstrahlte in einem Glanz, den
die geschliffenen Perlen niemals erreichen. Sie würde einen märchenhaften Preis
erzielt haben. Einen Augenblick lang blieb der Missionar stumm und betrachtete
diese einzigartige Perle.
„Was
für eine wunderbare Perle, Rambhau!“
„Diese
Perle ist vollkommen, Sahib“, antwortete der Inder ruhig. Der Missionar hob
schnell seinen Kopf. Ihm war eine Idee gekommen. „Rambhau“, sagte er, „das ist
eine wunderbare Perle. Erlaube mir, daß ich sie kaufe. Ich gebe Dir gern zehntausend
Dollar.“
„Was
wollen Sie damit sagen, Sahib?“
„Nun,
ich würde Dir fünfzehntausend geben, oder, wenn mehr nötig ist, würde ich
arbeiten, um den Preis zu verdienen.“
„Sahib“,
sagte Rambhau beinahe schroff, „diese Perle ist unbezahlbar. Kein Mensch auf
der Welt hat genügend Geld, um sie zu kaufen. Eine Million Dollar würden nicht
genügen. Ich will sie Ihnen nicht verkaufen. Sie können sie nicht erwerben wie
einen Kieselstein.“
„Nein,
Rambhau, ich will sie nicht annehmen. So gerne ich sie haben möchte; auf solche
Weise kann ich sie nicht annehmen. Ich bin vielleicht stolz, aber diese Art,
sie zu bekommen, ist zu leicht. Ich muß die Perle bezahlen oder arbeiten, um
sie zu verdienen.“
Der
alte Perlenfischer wurde verwirrt.
„Sie
verstehen mich ja überhaupt nicht, Sahib. Sehen Sie nicht, daß mein einziger
Sohn sein Leben gegeben hat um diese Perle zu besitzen und ich niemals erlauben
würde, sie zu verkaufen, zu welchem Preis auch immer? Es ist das Leben meines
Sohnes, das ihr den Wert verleiht. Ich kann sie nicht verkaufen, sondern ich
will sie Ihnen schenken. Würden Sie sie annehmen als ein Beweis der Liebe, die
ich zu Ihnen habe?“
Der
Missionar schwieg beklommen. Eine zeitlang konnte er kein Wort hervorbringen,
dann ergriff er die Hand des alten Fischers: „Rambhau“, sagte er leise,
„verstehst Du nicht? Gerade das, was Du eben gesagt hast, sagt Gott Dir!“
Der
Fischer betrachtete den Missionar lange Zeit mit einem tiefen Blick; und
langsam, sehr langsam, begann er zu begreifen.
„Gott
bietet Dir das Heil umsonst an. Dieses Heil ist so hoch über jedem Preis, daß
niemand auf der Welt es kaufen kann. Millionen von Dollar würden nicht im
entferntesten genügen. Kein Mensch kann es sich verdienen. Ein Leben, das
Millionen Jahre dauern würde, wäre zu kurz. Niemand ist so gut, daß er es sich
verdienen könnte. Es hat Gott die Hingabe seines einzigen Sohnes gekostet, um
Dir den Zugang zum Himmel zu erwerben. Du könntest diesen Zugang nicht in einer
Million Jahren erwerben, nicht mit hundert Pilgerreisen. Alles, was Du tun
kannst, ist, es anzunehmen als einen Beweis der Liebe Gottes zu Dir, der Du ein
Sünder bist. Rambhau, ich würde die Perle gerne annehmen, sehr demütig, und
Gott dabei bitten, daß ich mich Deiner Liebe würdig erweise. Rambhau, willst Du
nicht auch demütig das große Geschenk des Himmels annehmen, das Gott Dir
anbietet, in dem Bewußtsein, daß es Ihn das Leben seines einzigen Sohnes
gekostet hat, um es Dir zu schenken?“
Der
Greis weinte heiße Tränen. Der große Schleier hob sich vor seinen Augen. Endlich
hatte er begriffen.
„Sahib,
nun verstehe ich es. Ich glaube seit zwei Jahren an Jesu Lehre, aber ich konnte
nicht glauben, daß sein Heil umsonst sein soll. Endlich begreife ich. Es gibt
Dinge, die zu unschätzbar sind, die wir nie kaufen oder verdienen können.
Sahib, ich will das Heil in Jesus Christus annehmen!“
G.
C. Willis