16.01.2006

Prof. Dr. Peter C. Hägele, Abt. Angewandte Physik

 

Sind die Naturwissenschaften atheistisch?

 

Richard Lewontin, Genetiker an der Harvard-Universität, schrieb vor einigen Jahren: „Unsere Bereitschaft, naturwissenschaftliche Aussagen zu akzeptieren, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen, ist der Schlüssel zu einem Verständnis des wahren Kampfes zwischen der Wissenschaft und dem Übernatürlichen. Wir stellen uns auf die Seite der Wissenschaft trotz der offenkundigen Absurdität einiger ihrer Konstrukte, [...] trotz der Toleranz der Forschergemeinschaft für unbegründete Storys, weil wir uns von Anfang an dem Materialismus verpflichtet wissen. Es ist nicht so, dass uns die Methoden und Institutionen der Wissenschaft irgendwie zwingen würden, eine materielle Erklärung der phänomenalen Welt zu akzeptieren, sondern wir sind im Gegenteil durch unser apriorisches Festhalten materiellen Ursachen dazu gezwungen, einen Forschungsapparat und Begriffe zu schaffen, die materielle Erklärungen produzieren [...] Zudem ist dieser Materialismus absolut, denn wir können keinen göttlichen Fuß in der Tür zulassen.“ Auch der bekannte Evolutionsbiologe Stephen Gould verwahrte sich aus materialistischer Sicht gegen einen „Divine Foot in the door“.

 

Diese Äußerungen zeigen in erfrischender Klarheit, dass es bei der so unerfreulichen Debatte um Schöpfung und Evolution keinesfalls immer um objektive Wissenschaft contra hinterwäldlerisch erscheinende Religiosität geht, sondern dass hier oft Weltanschauung gegen Weltanschauung antritt. Auf diesem Hintergrund ist es nützlich, sich erneut klar zu machen, was die Naturwissenschaften eigentlich aussagen können und wie sie mit weltanschaulichen, religiösen Gesamtsichten zusammenhängen.

 

Etwa seit Newton, seit dem Zeitalter der Religionskriege, werden die Naturwissenschaften auf der Basis eines „methodischen Atheismus“ betrieben. Metaphysische Fragen nach dem Ganzen, nach Sinn, Plan und Ziel und vor allem Fragen nach Gott werden offen gelassen, ausgeblendet. Offen gelassen – weder negativ noch positiv beantwortet! Gott soll ausdrücklich nicht als Erklärungsfaktor und Lückenbüßer in den Theorien auftreten. Diese Leitidee  ermöglichte weltweite, erfolgreiche Forschung über weltanschauliche und religiöse Differenzen hinweg, stand dabei aber persönlichen Glaubensüberzeugungen nicht im Wege. Der tief gläubige Newton ist selbst ein Beispiel dafür.

 

Mit der Methodik des Experiments (Empirie) und der Theoriebildung  mittels der Strukturwissenschaft Mathematik lassen sich Struktur- und Funktionsfragen (Kausalzusammenhänge)  mit immer höherer Präzision beantworten. Die Klärung von Wie-Fragen ist damit die eigentliche Domäne der Naturwissenschaften. Wie laufen Prozesse in Raum und Zeit ab? Es gelingen kausale Beschreibungen, welche Voraussetzung der fortschreitenden technischen Beherrschung der Welt sind.

 

Im Zuge rascher Erfolge wurden die Naturwissenschaften allerdings immer wieder verabsolutiert und als zuständig für alles erklärt. Der „methodische Atheismus“ wurde für viele unversehens zum dogmatische Atheismus, also zur Leugnung der Existenz Gottes im Namen der Wissenschaft.  Dass dies eine methodische Grenzüberschreitung darstellt und keineswegs aus wissenschaftlichen Ergebnissen folgt, verdeutlichte bereits das obige Zitat von Lewontin.

 

Sowohl die Vertreter des „Intelligent Design“ als auch atheistisch orientierte Naturwissenschaftler scheinen sich darin zu gleichen, dass sie die Tragweite naturwissenschaftlicher Aussagen überschätzen. Wo ein Designer methodisch ausgeklammert ist, da kann man innerwissenschaftlich auch keine Aussagen über ihn und seine Pläne machen. Natürlich ist es einem Christen unbenommen, im Evolutionsgeschehen Gott als Schöpfer am Werk zu sehen. Er darf dieses Bekenntnis nur nicht wissenschaftlich zu objektivieren suchen. Ebenso ist die materialistische Leugnung eines Designers möglich, aber nicht wissenschaftlich begründbar.

 

Entscheidend wichtig ist doch, dass mit der genannten methodischen Vorentscheidung und dem Handwerkszeug von Experiment und struktureller Theoriebildung nur ein bestimmter Aspekt der Wirklichkeit präpariert wird, eben der Funktionsaspekt. Für viele andere Aspekte sind die Naturwissenschaften aufgrund ihrer speziellen Methodik blind: Sie sind blind für Qualitäten bei mentalen Zuständen. Das Erlebnis der Farbe „rot“ wird nicht hinreichend durch Frequenzangaben charakterisiert. Sie sind blind für ästhetische Fragen. Schon Einstein hat das karikiert. Sie sind blind für Werte und können keine Werturteile über die Objekte ihrer Untersuchung abgeben. Wie der Natur- und Technikphilosoph H.-D. Mutschler betont hat, sind sie auch blind für Zwecke und Absichten. Ein technisches Gerät mag naturwissenschaftlich vollständig beschreibbar sein, sein Zweck muss vom Konstrukteur erfragt werden. Die Naturwissenschaften sind auch blind für ethische Fragen. Sie können zwar zur Beantwortung ethischer Fragen beitragen (etwa durch Gutachten), haben aber keine wissenschaftsimmanenten  Bewertungskriterien. Die Gleichungen der Elektrodynamik sind nicht gut oder schlecht, sie gelten eben. Und schließlich sind die Naturwissenschaften blind für Sinn- und Zielfragen, Fragen nach der Herkunft der Welt und die Fragen nach einem Schöpfer.

 

Weder im praktischen Lebensvollzug noch in der persönlichen Weltanschauung geben wir uns allerdings mit dieser beträchtlichen „Unterbestimmtheit“ der Wirklichkeit durch die Naturwissenschaften zufrieden. Jeder eignet sich deutende und sinnstiftende Aussagen aus Philosophien, Weltanschauungen oder Religionen an. Und solche Antworten sind meist recht  lose mit naturwissenschaftlichen Aussagen verbunden und empirisch nicht abzusichern. Es fällt auf, wie unterschiedlich etwa die Weltanschauungen von Naturwissenschaftlern sind, die den gleichen wissenschaftlichen Kenntnisstand haben. Es gibt verschiedene Wahlmöglichkeiten, naturwissenschaftliche Ergebnisse in eine Gesamtsicht der Welt einzubetten. Der Tübinger Biophysiker A. Gierer spricht von der „metatheoretischen Mehrdeutigkeit der Welt“:

 

„Weil unterschiedliche Auffassungen mit dem inhaltlich gleichen objektiven Wissen über die Wirklichkeit verträglich sind, kann die Wissenschaft zwischen ihnen grundsätzlich nicht eindeutig entscheiden. Kurz gesagt, die Wissenschaft vermag die metatheoretische Mehrdeutigkeit der Welt nicht aufzuheben.“ [...]

„Aus der `metatheoretischen Mehrdeutigkeit der Welt' folgt, dass es keine Interpretation der `Welt als Ganzes' gibt, die den Anspruch auf alleinige wissenschaftliche Gültigkeit erheben könnte.“

 

In einem Interview hat Gierer das konkreter ausformuliert:

„Man kann eben die Welt - auch in Übereinstimmung mit wissenschaftlicher

Erkenntnis und logischem Denken - zum Beispiel atheistisch oder im Glauben an

Gott interpretieren,

das Bewusstsein als Urgegebenheit oder als Eigenschaft des Nervensystems ansehen,

dem Geist oder der Materie die Priorität für das Verständnis der Welt zuschreiben,

mathematische Zusammenhänge als vorgegebene Fakten oder als Produkte menschlichen Denkens ansehen,

dem einzelnen Leben und der Geschichte den einen, anderen oder gar keinen Sinn unterlegen,

den Menschen als Ziel oder Zufallsprodukt der Evolution ansehen. [...]

Da gibt es ein weites Spektrum von Möglichkeiten für die Interpretation des

Menschen und der Welt [... ]

 

In jedem Fall aber ist die Wissenschaft, die ihre eigenen Voraussetzungen

reflektiert, mit verschiedenen Interpretationen des Menschen und der Welt und

daher auch mit verschiedenen Religionen, Kulturen und Lebensformen vereinbar.“

 

Diese Mehrdeutigkeit mag unbequem sein, - kann man sich doch nicht einfach auf ein „die Wissenschaft sagt“ zurückziehen. Sie ist aber zugleich Freiheit der Wahl, die man sich keinesfalls nehmen lassen sollte!

 

So versuchte vor Jahren der Physiker F. Capra mit krausen Argumenten zu zeigen, dass die moderne Teilchenphysik ausschließlich mit östlicher Religiosität zusammenpasst.

 

Und wenn nun heute der amerikanische Philosoph D. Dennett (SPIEGEL-Gespräch 52/2005, S. 148-150) behauptet, dass „die Evolutionslehre die Welt der Bedeutung, des Sinns, der Ziele und der Freiheit mit der Welt der Naturwissenschaften vereint“, so verknüpft auch er eine naturwissenschaftliche Theorie mit deutenden Begriffen und macht sie so zur Weltanschauung. Das mag er tun. Ärgerlich ist aber, dass er sich dabei ausschließlich auf Naturwissenschaft beruft. Gerade einem Philosophen sollten die von Gierer formulierten Mehrdeutigkeiten doch geläufig sein! Und wenn er im Namen der Wissenschaft sagt, „Es gibt da draußen niemanden, dem ich danken könnte“, so ist auch das eine methodische Grenzüberschreitung. Mitmachen muss man sie nicht.

 

Es wäre zu wünschen, dass alle Beteiligten an dem neu aufgeflammten Streit um Schöpfung, Design und Evolution sich über die methodischen Grundlagen ihrer Argumentation Rechenschaft geben – das würde wesentlich zur Versachlichung und Klärung beitragen.