20.05.2002
„Als sie aber das
hörten, ging’s ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den anderen
Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun? Petrus sprach zu ihnen:
Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesus Christus zur
Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes.“
Apostelgeschichte 2, 37-38
Liebe Gemeinde,
Als sie das hörten, gab’s einen Ruck! War es solch ein „Ruck“, wie ihn manche
sich so dringlich wünschen? Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog wünscht,
durch unsere ganze Gesellschaft solle ein „Ruck“ gehen. Das verkünden
Großplakate an den S-Bahn-Stationen. Dass es sogar in der Brüdergemeinde
Korntal einen Ruck im Gemeindeleben brauche, „bevor Gott einen Ruck tun kann“,
das proklamierte einst mit geradezu prophetischem Ernst der geniale Korntaler
Knabeninstitutsleiter Professor Dr. Pfleiderer.
Gottes Geist jedoch geht es nicht immer um solch einen Ruck. Denn selbst der
beste „Ruck“ verpufft. Oft erstaunlich rasch. Sogar der Ruck einer schweren
Erkrankung wird durch die Alltäglichkeiten wieder zugedeckt. Wird der „Ruck“
von Erfurt länger anhalten als der Ruck voll panischer Angst samt Hamsterkäufen
anlässlich der Kuba-Krise (sofern Sie überhaupt noch wissen, was das denn war)?
Wie lange hat der Ruck angehalten, als damals vor dem Golf-Krieg die Angst vor
einem Weltenbrand uns packte? Wie war’s mit dem weltweiten Schrecken, durch die
Anschläge vom 11. September 2001 ausgelöst?
O heil’ger Geist, kehr bei uns aus!
Gottes Geist beherrscht meisterhaft auch das „stille, sanfte Sausen“. So war
es, als etwa der Glaube an Jesus schließlich die Galla- und Oromo-Stämme
erreichte. Ludwig Krapf hatte es so sehr ersehnt, dass es „sprungschnell“ vorwärts
gehen möge. Aber erst nach unvorstellbar langer „Inkubations“-Zeit ging es
vorwärts.
Ganz gewiss kann auch der „Ruck“ zu Gottes Arbeitsweise gehören. Wie damals an
jenem Internationalen Jüdischen Pfingsttreffen in Jerusalem. Die Predigt des
Petrus hatte einen „Ruck“ ausgelöst. Nicht nur eine „Besinnung“! Sondern einen
richtigen Gottesschrecken: „Weh uns, wir vergehen! Es ist ja alles, alles
falsch gelaufen! Das haben wir doch nicht gewollt! Gibt es denn gar keine
Rettung?!“
Die jahrzehntelang gewohnte Festfolge war jäh abgebrochen. Die Gesänge waren
verstummt. Die Hochstimmung war verflogen. Wenn Gottes Geist die Szene
beherrscht, dann werden nicht immer Gefühle hoch geheizt. Dann kann es auch jäh
aus sein mit Begeisterung.
Lange Zeit war ich der Überzeugung, Gottes Geist sei spezialisiert auf Freude,
auf Erweckung, auf lobpreisende Lieder. So hatten wir es schon einst in der
Nachkriegszeit gelernt: „Unser Land für Jesus! Freude überall! Durch das Dunkel
dringet seines Geistes Strahl. Und von ihm erklinget froher Lieder Schall!“
Aber dann musste ich mich korrigieren lassen durch jenes Bekenntnis des
Propheten Micha: „Ich bin voll Kraft, voll Geist des Herrn, voll Recht und
Stärke, dass ich Israel – also dem geliebten Volk Gottes, dem Volk des Eigentums
– seine Übertretung und seine Sünde anzeigen kann“ (Micha 3, 8)!
Das ist wesentlich am Heiligen Geist. Das ist das entscheidende Werk des
Geistes, den Jesus ausgießt: „Er wird den Menschen die Augen dafür auftun, was
Sünde ist“ (vgl. Johannes 16, 8f).
Das würden wir uns doch gerne ersparen! Dieses Aufdecken: Es ist alles nichts!
Wir waren so gut in Fahrt, aber dann kam dieser „Radarblitz“, der offenkundig
machte: Wir sind dran! Wir sind entdeckt! Wir sind gestellt! – Das ist ja auch
das Kennzeichen wirklich „geist“-erfüllter Prophetie: Das Gewissen wird
geweckt! Was bisher verborgen war, was bisher „drunten gehalten“ blieb, was
bisher vertuscht wurde – auch vor uns selbst - , das wird rücksichtslos
entlarvt, entdeckt, entrümpelt, entziffert (vgl. 1. Korinther 14, 22 ff).
Gottes Geist macht uns die Augen auf dafür, was Gott traurig macht, was für ihn
belastend ist, was Sünde ist. Dann wird als tote Routine aufgedeckt, was uns
bisher als treue Gewohnheit vorkam. Als Majestätsbeleidigung des heiligen Gottes
wird uns vorgehalten, was wir bisher als fromme Sitte empfanden. Es wird uns
klar: Was wir bisher als tröstlich gehört haben, hätte uns eigentlich
aufschrecken sollen. Was wir bisher als Ermutigung verstanden haben, hätte uns
unruhig machen sollen. Wenn wir uns mit anderen Zeitgenossen verglichen, dann
waren wir dankbar dafür, dass es uns nicht wie sie aus der Gemeinde heraus
gespült hatte. Dabei hätten wir merken müssen, wie viel bei uns lau geworden
war.
Heinrich Giesen, der unvergessliche Direktor der Berliner Stadtmission, hielt
einmal zu Pfingsten eine unvergessliche Kurzandacht in der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Er zitierte die Liedzeile: „O heil’ger Geist,
kehr bei uns ein!“ Pause. Und dann sagte er, ja er schrie es förmlich
verzweifelt in den religiös-feierlichen Kirchenraum: „ O heil’ger Geist, kehr
bei uns aus !“ Sense! Aus! Das war’s dann!
Das war ein rhetorischer „Ruck“. Der Heilige Geist Gottes jedoch kann mehr tun,
mit oder ohne Ruck. Er kann es zu einer notwendigen geistlichen „Kehrwoche“
kommen lassen. Dabei wird dann – wie es im Schwäbischen so anschaulich heißt -
„hinten vorgekehrt“!
Was damals „hinten vorgekehrt“ wurde
Was wurde denn damals bei den frommen Juden aus aller Welt von hinten nach
vorne „gekehrt“? Was hatten denn sogar solche Leute „unter das Sofa“ gekehrt?
Diese Leute waren ja fromm, keineswegs nur scheinheilig. Sie hatten sich’s doch
viel kosten lassen, bei diesem zentralen Gottesfest dabei zu sein? Für manche
war dafür eine wochenlange Reise notwendig geworden. Wochenlang waren sie von
zu Hause weg. Das war „ins Geld gelaufen“. Schon allein das siebte die
religiösen „Mitläufer“ aus. Für reine Gaffer war die ganze Geschichte zu
aufwändig. Wer zum jährlichen Pfingstfest nach Jerusalem kam, dem war’s mit
seinem Glauben ernst. Der ließ es sich etwas kosten, Glied des Volkes Gottes zu
sein. Jedes von denen damals hätte das Glaubensbekenntnis zur Aufnahme in die
Brüdergemeinde ablegen können, ohne schauspielern zu müssen.
Damals am Pfingsttag jedoch kam heraus, dass ihnen ihr Glaube gereicht hatte,
so wie er nun einmal war. Ein Glaube voll Gottvertrauen, voll Dank für Gottes
treue Führungen, ein Glaube, an Gottes Willen orientiert, geborgen in der
Gemeinschaft des Volkes Gottes. Was brauchte es denn mehr? Diesen Jesus von
Nazareth hatten auch sie nicht gebraucht. Ihr Glaube war eingerichtet auf ein
wohltuendes Einvernehmen mit Gott. So nach der Melodie: „Wenn ich nicht in den
Himmel kommen sollte, wer denn dann? Wenn Gott an uns nicht pure Freude haben
sollte, an wem denn eigentlich sonst? Er ‚kennt auch mich und hat mich lieb‘!“
Einen Erlöser, der sie aus dem Verderben und aus dem Verlorensein rettet, -
nein, so etwas brauchten sie eigentlich nicht. Mit einem „Retter“ Jesus wussten
sie nichts anzufangen - also mit dem Jesus, den Gott dazu zum „Herrn“ gemacht
hatte, dass man seinen Namen „Herr Jesus“ anrufen konnte, wenn man „gerettet“
werden wollte.
Dass sie - ehrlicherweise - mit Jesus nichts anfangen konnten, dass sie ihn
nicht ehren konnten, wie der Vater geehrt wird, dafür hatte ihnen nun Gottes
Geist die Augen aufgemacht.
Der ganze Christenglaube besteht elementar darin, dass „verlorene und verdammte
Menschen“ – wie ich und wie Sie – den Namen „Herr Jesus“ betend anrufen, weil
sie überzeugt davon sind: Er lebt, er hört sie, und er reißt sie aus dem
Verderben heraus und hinein in eine unbeschreibliche Gemeinschaft mit IHM. Man
kann doch nur jedem Menschen gratulieren, dem Gottes Geist bewusst macht – wie
vielen von denen damals -: „Ich brauch‘ dich, o ich brauch dich, Jesus!“
Solche Bereitschaft zur Buße kann Gottes Geist wirken: Verlangend zu sein nach
einer totalen Umkehr des Denkens, zu einem Neu-Denken und Um-Denken, zu einer
Um-Orientierung. Der schwäbische Evangelist Eugen Zimmermann, beheimatet hier
in Korntal, hat quer durch Württemberg – ja hinauf bis in die Uckermark und bis
nach Rügen – oft solches Umdenken ausgelöst, viel an solchem Hungern und
Dürsten nach dem Retter Jesus. Aber als es 1927 mit dem damals 65-Jährigen zum
Sterben ging, da überfiel ihn die Angst: „War denn mein ganzes Christsein echt?
Waren mein Evangelisieren und meine Seelsorge mehr als nur Routine?“ Das
Gewissen klagte ihn an. Der Geist Gottes sorgte bei ihm für ein gründliches
Hinten-Vorkehren. Da sagte ihm ein seelsorgerlicher Freund: „Lass dir doch vom
Geist Gottes alles durchstreichen; denn auch das bestgemeinte Evangelisieren
ist befleckt. Erbitte für dich nichts als die Vergebung des Jesus, der für dich
Rettungsbedürftigen gestorben ist!“ Am Abend jenes Tages ließ Eugen Zimmermann
den Freund nochmals zu sich rufen, um ihm zu sagen: „Ich hab’s gemacht, wie
du’s gesagt hast. Nun kann ich danken!“ Dass sogar vorbildliche Evangelisten
bis ins Sterben hinein solche Buße brauchen, daran erinnert das Bibelwort auf
dem Korntaler Grabstein von Eugen Zimmermann: „Sie haben den Verkläger
überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses“.
Aber auch dies wurde damals an jenem Pfingsttreffen von Jerusalem, als Jesus
den Geist Gottes, die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen hatte, von hinten
nach vorne gekehrt:
Im Normalfall setzen wir Menschen alle viel zu viel auf das, was wir tun
können!
„Da ging’s ihnen durchs Herz und sie sprachen: ...Was sollen wir denn tun?“
Eigentlich hätte Petrus hämisch antworten können: „Ätsch, gar nichts könnt ihr
tun!“ Wo jedoch Gottes Geist voll Sanftmut wirkt, da gibt’s weder Häme noch
überlegenen Zynismus. Deshalb sagte Petrus, damals zum „Fels der Gemeinde“
gemacht:
Lasst euch auf diesen Namen Jesus taufen. Dann werdet ihr empfangen!
Um den Namen Jesus ging es damals, um diesen Namen geht es heute, nicht um
irgendwelche Taufpraktiken! Es soll festgemacht, geradezu aktenkundig, testiert
festgemacht werden, versiegelt, dass wir diesem Jesus Christus gehören wollen
Das „bringt’s“, dass wir als Eigentum des Jesus auch an demselben Geist Gottes
teilhaben, der auch Jesus durchdrungen hat.
Es gibt in unseren Tagen viel Sehnsucht nach einem richtigen „Ruck“ unter
Christen. Wie viel Programme, Konzeptionen, Modelle, Aufrufe, Rezepte gibt es,
Bücher und Kongresse zum Thema „en masse“. Schlagworte für probate Mittel
machen die Runde und werden von anderen als Reizworte empfunden. Bei den
meisten dieser Reformvorschläge ist durchaus einkalkuliert, dass ohne den
Heiligen Geist nichts läuft. Befremdlich bleibt nur, dass so viel davon die
Rede ist, was Menschen und Gemeinden zu tun haben, zu unternehmen haben. Dabei
kann Jesus das tun, was wir nicht zu tun vermögen! Wir dürfen doch Jesus nicht
die Freude an dem wegnehmen, was er so gerne selbst anpacken, was er so gerne
persönlich tun will. Der Heilige Geist bindet sich eben nun einmal
ausschließlich daran, dass Jesus als dem Retter die Ehre gegeben wird. Dort
wird die Gabe des Heiligen Geistes empfangen, wo alles bewusst neu auf diesen
Namen Jesus gesetzt wird. Jesus kann mehr tun, wirken, schaffen, als wir je
verstehen, planen, erbitten und tun können!
Gottes Geist spricht sehr persönlich mit uns
„Was sollen denn wir tun?“ das war die Frage gewesen. Es war offenbar sehr
nebensächlich gewesen, was die „Oberen“ tun sollten, die Sadduzäer und die
Pharisäer und die ganzen Mitglieder des Hohen Rates. Vielmehr war jeder
einzelne selbst dran. „Wir“!
Der Heilige Geist – so hat es Jesus selbst gemeint – kann und wird den Menschen
die Augen dafür auftun, wo es bei ihnen selbst nicht stimmt. Er kann die
schmerzhafte Erkenntnis auslösen: Kann Gott denn wirklich an mir Freude haben?
In den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg verzehrte sich bis zum
totalen körperlichen Ausgebranntsein der Neutestamentler und damalige Hallenser
Propst Julius Schniewind. Für meine Generation war Schniewind auf derselben
Augenhöhe wie etwa Bonhoeffer. Was aber Schniewind noch mehr leerbrannte als
Pfarrermangel und Besatzerwillkür, als Hunger und Frieren, war die Predigtnot
in den dortigen Gemeinden. Einem Freund klagte er einmal, geradezu unter
Tränen: „Wer sagt denn dem gottlosen Schniewind, wie er gerettet werden kann?“
Das sagte der tiefgründige Forscher der Bibel, der edle, vorbildliche Christ
Julius Schniewind.
Wir hätten so gerne, dass Gottes Geist viel Ermutigendes sagt, viel Tröstliches
uns wissen lässt, viel Mitreißendes uns zuspricht. Aber vielleicht vernehmen
wir so wenig vom Geist Gottes, weil er auf anderes spezialisiert ist. Im
letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des treuen Zeugen Jesus an Johannes,
werden die Gemeinden fast ausnahmslos gewarnt, geweckt, gemahnt. Und dann heißt
es da immer wieder: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden
sagt!“ Der höre! Der halte stand! Der gehe „auf Empfang“!
Amen.