Rolf Scheffbuch

 

Wie geht´s weiter?

 

01.01.1998

 

 

„...lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat...

Epheser 5, 8

Jahreslosung 1998


Wie geht's weiter?

Wie geht's weiter, liebe Gemeinde?
Das bewegt viele, gerade an einem Tag wie heute. Wir hätten es gerne, dass das neue Jahr wäre wie ein unberührter Sandstrand im Licht der aufgehenden Sonne, der uns einlädt zum befreiten Losrennen. Oder dass das neue Jahr wirklich wäre wie eine weite weißglänzende, vom Neuschnee überzogene Schiabfahrt, die uns lockend dazu auffordert, erste Spuren zu hinterlassen. "Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag" (Goethe). Aber bei vielen unter uns stimmt dies nicht. Für die einen, die im vollen Leben stehen, sind die Terminkalender schon bis weit hinaus gefüllt. Für andere, die einst über einen vollen Terminkalender geseufzt haben, ist jetzt beherrschend die Angst vor der Leere der kommenden Tage - die Angst davor, nicht mehr gebraucht zu werden.

Ich kann gar nicht all das aufzählen, was Menschen nur zögernd den Fuß über die Schwelle des neuen Jahres setzen lässt. Wie soll's denn weitergehen mit der schmerzenden Hüfte, mit den Atembeschwerden? Wie soll's denn weitergehen mit den Spannungen in unserer Familie? Wie soll's weitergehen mit dem Menschen, um den wir uns sorgen? Wie soll's weitergehen, wenn die Schere zwischen meinen Einkommen und den Verpflichtungen immer mehr auseinander klafft?

Eigentlich müsste ich jetzt rasch "Amen" sagen. Dann hätte ich etwas Zeit dafür, um mit einzelnen aus unserer Mitte ganz persönlich zu reden. Um einfach einmal zuzuhören, was ihnen diese Frage "Wie geht's weiter?" so beschwerlich macht. Dafür sollten wir uns auch untereinander viel mehr Zeit nehmen und einander gegenseitig viel mehr Vertrauen gewähren.
Heute morgen jedoch haben Sie ein Recht darauf, verlässlich von mir weitergesagt zu bekommen: Auch an der Schwelle eines neuen Jahres wartet Jesus darauf, dass wir bewusst mit ihm die Schritte von Tag zu Tag wagen! Jesus hat sich zuverlässig festgelegt: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matthäus 28, 20). Jesus ist wirklich der gute Hirte, bei dem es erfahren werden kann: "Auch wenn ich wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir" Psalm 23, 4)!
Bei Jesus kommen wir in eine Atmosphäre der Ehrlichkeit hinein. Wir brauchen uns nicht mit Hoffnungen und Wünschen darüber hinweg mogeln, dass es auch "Unglück" gibt. Jesus hat ja andeutungsweise Auskunft gegeben auf die Frage, wie es mit unserer Welt weitergehen wird. Nämlich dass Geldentwertung, Kriege und Kriegsängste, Hungersnöte, Erdbeben und andere Katastrophen erst der Anfang der Gurtswehen der neuen Welt Gottes sein werden (Matthäus 24, 6-8). Viel schlimmer wird die Not der weltweiten Verführung sein, gerade auch der religiösen Verwirrung, das Lossagen von aller Ordnung, das Erkalten und Erstarren der Liebe (Matthäus 24, 11-12).
Aber in alledem wird es auch die Nähe Jesu im Heiligen Geist geben (vgl. Markus 13, 11). Leute, die mit Jesus rechnen, sitzen keinem Trug auf. Mitten in verzweifeltesten Notlagen können sie erfahren, so wie es Paulus erlebt hat: "Aber der Herr stand mir bei" (2. Timotheus 4, 17).
"Mit Jesus" kann man auch nüchtern mit dem eigenen Tod rechnen. Jesus hat es festgelegt, als er sterbend am Kreuz hing, dass es "mit ihm" Hoffnung und Zukunft gibt, sogar für einen, den man auf dieser Welt loshaben wollte. Jesus hat zu ihm gesagt: "Wahrlich, amen, ganz gewiss - wirst du mit mir im Paradies sein!" (Lukas 23, 43)!
Machen Sie doch einfach den heutigen Gottesdienstbesuch mit Ihrem Beten und Singen zu einem bewussten persönlichen Bekenntnis: "Ja, Herr Jesus, das soll auch für mich gelten, dass ich mit dir ins neue Jahr hineingehen will!"
Wie geht's weiter?
Aber wie geht's denn auch weiter? Wir haben uns alle schon oft viel vorgenommen. Gerade auch an Übergängen zu einem neuen Jahr. Aber - nun einmal ganz ehrlich! - wie ist's denn weitergegangen? Bei vielem ist's einfach schade gewesen, sogar elend schade, dass wir mit unseren guten Vorsätzen gescheitert sind. Die Bibel kennt das. Denken Sie nur an das erschütternd ehrliche Eingeständnis des Apostels Paus: "Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht!" (Römer 7, 18).
Obwohl jedoch Paulus um unsere menschliche Schwäche wusste, machte er in heiligem Ernst klar: Leute, eines darf nicht passieren! Die Liebe, mit der uns Christus geliebt hat und liebt, darf nicht verpuffen; sie darf nicht an uns abtropfen!
Das hat er gemeint, als er den Satz schrieb, der uns nun ein ganzes Jahr lang als Jahresmotto dienen soll: "Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat" (Epheser 5, 2). Wie anschaulich konnte Paulus von dieser Liebe Christi reden! Wie eine Mutter ihr hilfloses Kind von allem Kot reinigt, so hat Christus seine Leute gereinigt; er hat sie gepflegt und umsorgt, damit sie "keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen" hätten (Epheser 5, 26ff). Aus dieser fürsorglichen Liebe sollen wir nicht ausbrechen. Wir sollen gerne in dieser Liebe bleiben. "Lebt in der Liebe!" Genauer gemeint ist eigentlich: Führt euer ganzes Leben so, dass es eingehüllt bleibt in diese Liebe, umsorgt bleibt durch diese Liebe, angewiesen bleibt auf diese Liebe, verlangend bleibt nach solcher Liebe!
Bei Jesus kann man erfahren: Er bewahrt mich vor meinen eigenen Torheiten. Er trägt mich. Er versteht mich wie sonst niemand auf der Welt. Er führt mich, sogar dort, wo ich nicht mehr weiß, wie's denn weitergehen soll. Er redet zu mir durch seine biblischen Boten, wie es gut für mich ist. Er tritt vor Gott für mich ein, bevor ich morgens mein erstes Gebet zu ihm sprechen kann. Er bringt Zerbrochenes zurecht. Er trägt mir Versagen nicht nach. In seinen Augen habe ich einen Wert, der weit über das hinausgeht, was ich an mir selbst für wertvoll halte. Er möchte aus dem Fragment meines Lebens einmal vor Gott etwas Ganzes machen.
In dieser Liebe zu bleiben, in ihr zu leben, ist keine Selbstverständlichkeit!
In diesen Monaten werden wir daran erinnert, dass vor zweihundert Jahren Ludwig Hofacker geboren wurde. Er wurde gerade dreißig Jahre alt. Sein Körper war zeitlebens von schwersten Krankheiten gezeichnet. Doch hat Jesus aus dieser Ruine eines Körpers und aus dem Bruch eines Lebens etwas Ganzes gemacht. Hofacker hat mit den paar Predigten, die er halten konnte, eine ganze Kirche zur Sache gerufen, und das bis heute! Aber als es nach schwerem Leiden bei ihm zum Sterben ging, da war er davon überzeugt, dass er "die Hölle tausendmal mehr verdient hat als den Himmel". Kurz vor seinem Tod jedoch kam eine geradezu heitere Ruhe über ihn. "Wie ist's denn gekommen?", fragte ihn sein Freund. Da sagte Hofacker: "Ich bin ins Nachdenken darüber gekommen, was das für eine Schande ist, dass ich die ausgestreckten Liebesarme Jesu dauernd schnöde abweise, weil ich meine, ich könne es nicht annehmen, ich sei zu schlecht dazu. Nun habe ich mich einfach entschlossen, es gelten zu lassen, dass die Liebe Jesu mir gilt. Seitdem ist mir's wohl!"
Das muss der Entschluss sein, der wichtiger ist als alle gutgemeinten Vorhaben: "Ich will's einfach gelten lassen, dass die Liebe Christi mir gilt! Ich möchte in der Liebe Christi leben!" So soll's weitergehen mit der Liebe Christi - auch bei Ihnen und bei mir!
Noch einmal: Wie geht's denn weiter?
Noch einmal möchte ich fragen: "Wie geht's weiter?" Denn unser Jahresmotto ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem großen Zusammenhang. Gottes Wort aber ist zu großartig, als dass wir's nur als Steinbruch missbrauchen dürften. Deshalb die Frage: "Wie geht es denn dort in dem biblischen Brief weiter?"
Der ganze Satz lautet: "Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns gibt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch." Da wird nun von der Liebe geredet, die in der Verbundenheit mit Jesus auch auf uns abfärben soll. Mitten in einer Welt, die vor lauter Egoismus und Lieblosigkeit immer kälter wird, soll es Menschen geben, die Liebe üben und Liebe weiteeben können.
Das gibt es. Das hat wohl jedes von uns schon erfahren: Zuwendung und Anteilnahme von Großmüttern und Patentanten, Ermutigung von Erzieherinnen und Lehrern, Fürsorge von Jugendmitarbeitern ... Von all diesen menschlichen Vorbildern können wir viel lernen. Aber Paus erinnert uns an Jesus, der die Seinen geliebt hat bis ans Ende, bis dahin also, da er schon wusste, dass sie ihn verraten, verleugnen und verlassen werden (Johannes 13, 1).
Bei Jesus war und ist bis heute nicht die geringste Spur von Eigenliebe, von Selbstsucht, vom Verlangen, gut herauszukommen. "Er hat sich selbst gegeben", sich selbst dahingegeben. Er hat sich selbst verleugnet (vgl. Matthäus 16, 29). Es ging ihm nirgends und nie um sich selbst. "Es jammerte ihn der Menschen" (Matthäus 9, 36). Das war's! Nichts mehr! Er wollte nicht die Echtheit seines Wesens beweisen durch Taten der Liebe. Er wollte auch nicht die Frage provozieren: "Warum tust du denn das; wer bist denn du?" Bei ihm ging's nicht nach dem modernen Grundsatz: "Tu Gutes und rede darüber!" Von dieser Liebe Christi sollen wir uns gestalten lassen.
Jesus wollte Menschen helfen, aber er wollte vor allem Gott eine Freude machen. Gott sollte Freude daran haben, wie er Menschen liebt. Es sollte für Gott ein Wohlgeruch sein, so wie einst in Israel manche Opfer als "wohlgefällig für Gott" galten (vgl. 1. Mose 1, 4; 2. Mose 29, 18). Was Jesus tat, sollte seinem Vater im Himmel "wohlgefallen" (Matthäus 11, 26).
Wie viel Resignation und Verbitterung gab es schon bei großen Wohltätern der Menschheit und auch bei kleinen Entwicklungshelfern, wie viel Bitterkeit bei Ärzten und Notfalldiensten, bei Menschen, die sich selbstlos einsetzten in der Resozialisierung und bei Entschuldungsmaßnahmen! Denn nicht umsonst gibt es das Sprichwort: "Undank ist der Welt Lohn!"
Solange wir auf ein Echo der Dankbarkeit warten, auf Erfolg, auf ansteckende Vervielfältigung unseres Liebens, werden wir meist enttäuscht werden müssen. Jesus aber will uns aus diesen Enttäuschungen herausholen. Wir können auch in diesem neugeschenkten Jahr "vor Gott" und "für Gott" leben!
Das ist mehr als ein religiöser Firnisüberzug! Unser kleines Leben kann hineingenommen sein in die Pläne Gottes, der da ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir dürfen und können uns anvertrauen dem Gott, der da war, und der das ist, und der das kommt. "Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen" (Kolosser 3, 23).Dann wird's weitergehen, auch mit der Liebe Christi. Bestimmt!


Amen.