02.08.1998
„Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in
dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts;“
Epheser 5, 8
Liebe Gemeinde,
am Jüngsten Tag wird es vernichtend sein, wenn man ausgeschlossen sein muss von
Gottes neuer Welt. Aber nicht erst an jenem Tag! Schon heute ist es
verzweiflungsvoll, wenn man den Eindruck haben muss: Es gibt Gottes Hilfe,
Gottes Plan, Gottes Wirken; aber ich stehe wie "daneben"! Hat Gott
denn mich abgeschrieben? Hat Gott auf mich verzichtet?
Die ganze vollkommene Welt Gottes ist doch weniger als eine Handbreit von uns
entfernt. "Der Herr ist nahe!" "Das Reich Gottes ist nahe
herbeigekommen!" Es ist "mitten unter uns"! Haben denn Sie
Zugang zu dieser Wirklichkeit? Oder klingt alles, was Sie von dieser Welt
wissen, wie die Information über ein herrliches Ferienparadies - irgendwo fern
von Ihnen?
Ich muss Ihnen bekennen: Ich hatte mich so auf diesen Sonntag gefreut, auf
diesen Gottesdienst mit Ihnen, auf diese Predigt. Aber bei der Vorbereitung kam
ich mir vor wie ein Anfänger, der einfach nichts zustande bekommt. Der erste
Predigtentwurf lag vor mehr als einer Woche schon zum Druck bereit. Aber dann
habe ich ihn wieder zurückgezogen. Denn ich hatte den Eindruck: "Das ist's
nicht!" Das ist nicht das, was Jesus gesagt haben will.
Zugleich damit überfielen mich die Fragen: "Habe ich denn die Antenne
verloren für das, was Gott gesagt haben will? Bin ich zurückverwiesen auf mein
bisschen Verstand, um den Predigttext auszuwellen zu einem frommen Aufsätzlein?
Bin ich für Gottes Reden noch wach, hörfähig, aufnahmebereit?"
Da wurde mir dieser Predigtabschnitt Anlass zum Gebet: "Herr Jesus, mache
mich doch wach! Sprich du neuschaffend, alles Verschossene aufbrechend zu mir:
'Werde wach'!"
Der Weckruf Jesu ist nötig
Der Weckruf Jesu ist wirklich nötig: "Wache auf, der du schläfst!"
Ich möchte Ihnen eine Entdeckung mitteilen, die ich in der Bibel gemacht habe.
Die Bibel denkt ja sehr groß vom Menschen. Es gibt kein Buch der Weltliteratur,
das höher vom Menschen denkt. Er ist das Geschöpf Gottes, das Gott ganz nahe
steht. Aber zugleich wird mit großem Schmerz konstatiert: Dieser von Gott
geliebte Mensch ist wie blind, wie verschlafen und verschlossen, wenn es um
Gott selbst geht.
Ach was, doch nicht einfach "der Mensch" ist blind. Sondern sogar
Leute, die zum Himmelreich gehören wollen, sind verschlafen. "Das
Himmelreich ist gleich zehn Jungfrauen, die sich aufmachten, dem Bräutigam
entgegen!" Gut, fünf von ihnen waren nicht ganz so vorausschauend wie die
fünf Klugen. Aber auch sie freuten sich auf den Bräutigam. Sie wollten dabei
sein beim Fest. Sie wollten wach bleiben, um den Erwarteten zu empfangen und
festlich zu geleiten. Aber alle, die törichten und die klugen Brautjungfern,
sind eingeschlafen. So hat es Jesus uns eingeschärft.
Im Garten Gethsemane hatte Jesus die Elite-Auswahl seiner Jünger um sich
geschart mit der herzlichen, inständig geäußerten Bitte: "Wacht mit mir!
Bloß eine Stunde! Wachet und betet!" Aber als er kam, fand er sie
schlafend, ihre Augen waren voller Schlaf. Und "er ließ sie!"
Schrecklich! Da, als es um höchste Geistesgegenwart gehen sollte, um das
Herbeiflehen von Gottes Nähe, da war es, wie wenn eine Schlafsucht ausgebrochen
wäre.
Die biblischen Jesusberichte erzählen vom unüberbietbaren Höhepunkt dessen, was
die Jünger Jesu überhaupt erleben konnten. Auch der großartigste
Medienspektakel, den wir aufbieten könnten, wäre stümperhaft im Vergleich zu
dem, was die Jünger erlebten: Da war die lichte Wolke aus Gottes Herrlichkeit,
die alles in strahlendes Licht tauchte. Da war die Gottesstimme aus der Wolke.
Da waren die Erscheinungen von Mose und Elia, der großen Gotteszeugen. Was aber
wird berichtet von Petrus und von seinen Gefährten, die damals dabei sein
durften? Nur dies: "Ihre Augen waren voller Schlaf!"
Johann Christoph Blumhardt, der Pfarrer und Seelsorger von Möttlingen und Bad
Boll, konnte sagen: "Der Teufel singt besonders gerne das Schlummerlied
vor: 'Schlaf, Kindlein, schlaf!'" Blumhardt hatte ja ein Gespür für
dämonische Taktik. Wir sollten es ihm abnehmen, noch viel mehr uns aber von den
nüchternen Hinweisen der Bibel sagen lassen: Wir sind keineswegs so hellwach,
wie wir cleveren Leute uns meist vorkommen. Mindestens dann, wenn Gott uns
etwas mitteilen will, wenn er uns zu etwas gebrauchen will, wenn er uns Grosses
erleben lassen will, dann kommt etwas dazwischen (haben Sie es nicht auch schon
erlebt?), dann sind unsere Gedanken aufgewühlt von anderen Dingen, dann sind
wir mit unseren Aufnahmeorganen weit weg. Das ist dann noch einmal etwas
anderes als damals in der Schule, wenn uns dann und wann der Lehrer zur Sache
rufen musste: "Scheffbuch, aufwachen!" Es gibt religiöse Absencen, es
gibt religiöse Bewusstseinsstörungen, die nur durchbrochen werden können, wenn
Jesus ruft: "Wache auf, der du schläfst!" Das kann nur Jesus. Dazu
braucht es seinen Weckruf: "Kumi! Steh auf! Wach auf!"
Alles im Licht Christi sehen
Ganz dicht neben uns gibt es einen Blickpunkt, von dem aus die ganze Welt samt
unserem Leben total anders aussieht. Paulus hatte es ganz persönlich erlebt.
Damals vor Damaskus umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel. Es war
keine Naturerscheinung. Die Stimme, die zu hören war, machte es klar: "Ich
bin Jesus!" Paulus hätte davon reden können, wie damals Christus ihn
erleuchtet hat. Er hätte berichten können, wie mit dieser Erleuchtung, wie mit
diesem Wachwerden plötzlich alles anders aussah, alles in total anderes Licht
getaucht war. Das hat er ja auch in anderen Briefen getan. Er hat es
geschildert, dass er mit einem Mal seinen Gerechtigkeitsfanatismus, sein
Vollkommenheitsstreben erkannte als Schadengeschäft, als ekligen Kot. Er hat's
bezeugt, wie mit einem Mal von ihm das Entehrtwerden, die Schmach und all die
erlittenen Gemeinheiten im Licht Jesu erkannt wurden als "Gemeinschaft mit
Jesu Leiden".
Aber hier im Brief an die Gemeinde in Ephesus erzählt Paulus nicht von
persönlich Erfahrenem, vielleicht steht es hinter seinen Worten. Aber nicht
ausführlich wird davon gesprochen. Denn er will bewusst objektiv reden. Er
verweist auf eine göttliche Gesetzmässigkeit mit der Formel: "Darum heißt
es: 'Wache auf, dann gibt's Erleuchtung'!"
Es klingt so, wie wenn ein Experte verweist auf eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes. Die gilt! So zitiert Paulus hier den Propheten
Jesaja, den von Gott besonders beglaubigten Zeugen: "Mache dich auf, werde
licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn erscheint über
dir!" "Nicht mehr Sonne und Mond sollen dir scheinen, sondern der
Herr wird dein Licht und dein Glanz sein" (vgl. Jesaja 60, 1f.; Jesaja
60,19 f).
Das gilt heute. Es gilt in Korntal und auch auf Haiti. Wir können herauskommen
aus unserer Verschlossenheit für das Eigentliche. Wir können wach werden für's
Wesentliche. Objektiv-verlässlich ist Gott darauf aus. Und Jesus will es
ermöglichen, dass wir dafür wach werden.
Im Stillen bewundere ich den Paulus. Er hätte - jeder rechte Schriftgelehrte
tut das bis heute, und wir Pfarrer tun es oft ihnen nach - zeigen können, dass
er in der Fülle der Bibel zuhause ist. Er hätte mit Bibelzitaten nur so um sich
werfen können. Er hätte aufweisen können, dass jetzt mit einem Mal in Erfüllung
geht, was vorausgesagt ist: nämlich dass Menschen von Gott gelehrt, von Gott geleitet
werden, wie sie mit Gottes Augen sehen lernen.
Aber offenbar hat sich's Paulus verboten, selbst ins Rampenlicht zu treten.
Vielmehr will er, dass die Gemeindeglieder in Ephesus und mit ihnen auch wir,
die wir dies Wort zugeteilt bekommen, ins Licht Jesu treten.
Darum nimmt Paulus nur dieses Bild vom Erleuchtetwerden, vom Licht auf und
dreht es seelsorgerlich so, dass wir zwei Facetten dieser Jesuswirklichkeit in
den Blick bekommen.
Einmal: Wo Licht ist, da kann etwas wachsen. Da gibt es Frucht. In St.
Petersburg wurden am Straßenrand herrlich große Wassermelonen verkauft.
Erstaunt fragten wir: "Wachsen denn die auch hier?" Lächelnd sagte
uns die russische Führerin: "Nein, wir haben ja nur zwei bis drei Monate
Sommer hier im Norden. Diese Früchte wachsen in der Sonne, etwa unten auf der
Krim!" Die Menschen in Petersburg hätten sicher gerne auch solche Melonen
im Garten vor ihrer Datscha. Aber nicht das Wünschen macht es, dass es zur
Frucht kommt, sondern allein das Licht der lebenspendenden Sonne. So hätten
gerne sicher viele Menschen Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit im Vorgarten ihres
Lebens. Aber nur das Licht Jesu kann bewirken, dass Güte, Gerechtigkeit und
Wahrheit heranreifen und zu Früchten werden, die auch andere erquicken und
laben. Das es so etwas gibt, dafür steht schon allein die Geschichte Korntals
gut.
Aber dann erinnert Paulus daran: Im Licht kann man klar sehen. Im Dunkeln sind
alle Katzen grau. Im Dunkeln kann man gut munkeln. In der Dämmerung unserer
Welt können Konturen nicht klar erkannt, Entfernungen nicht richtig
eingeschätzt werden, Farben nicht richtig wahrgenommen werden. Paulus macht dem
normalen Menschen keinen Vorwurf, dass er Ungutes, Schändliches und
Verwerfliches gar nicht in seiner ganzen Gefährlichkeit erkennt. Aber wir, die
wir von Christus erleuchtet sein könnten, wir sollen wissen, was "auch zu
sagen schändlich" ist. Vor allem aber haben Menschen, denen Jesus als
Licht aufstrahlt - und hoffentlich gehören wir doch dazu! - den Blick als
Experten und Fachleute Gottes, mit dem wir erkennen können, "was dem Herrn
Freude macht", was ihm wohlgefällig ist.
Ja, ja, ja, das haben wir schon oft gehört, so oder so ähnlich. Mir ist ganz
neu aufgegangen: Damit ist ja für uns schon ein Stück von Gottes zukünftigem
Wirken vorweggenommen. Normalerweise wird ja erst vor dem Richterstuhl Christi
offenbart werden, was gut und was böse ist. Aber nun soll uns wie eine
Vorausvergütung, wie eine Voranzahlung auf das große Kommende dies zuteil
werden, dass wir ein von Jesus justiertes Urteilsvermögen bekommen.
Wie ich das brauche! Damit ich nicht meinen Scheuklappenblick verwechsle mit
Gottes Urteil. Damit ich nicht all das, woran ich mich so gewöhnt habe, als von
Gott gut geheißen ansehe. Damit ich mich nicht mit meinen sehbehinderten Augen
zum Richter über andere mache.
Ich möchte wach werden für die Gotteswirklichkeit. Fürs Wesentliche. Ich möchte
wach werden für das Licht Jesu. Ach was! Jesus ist es, der will, dass ich wach
werde, dass ich mich wach machen lasse, damit er uns erleuchten kann.
Amen.