Sonntag, 13. August 2006
Prälat i.R. Rolf Scheffbuch
Thema: „Nicht am Sattsein zugrunde gehen“
Jeremia 1, 1.4.9-10
28/06
Liebe Gemeinde!
Nein, es war nicht vermessen! Er konnte gar nicht anders, dieser junge Jeremia. Er musste Worte und Begriffe aus dem heiligen Schöpfungsbericht benützen. „Das Wort des Herrn <b>geschah!</b>“ Beim Hebräischlernen bekommt man den Anfang der Schöpfungsgeschichte eingetrichtert: „Gott sprach, es werde Licht! Und es wurde Licht!“ (jehi or, wajehi or). Denselben Begriff verwendete Jeremia. Nur so konnte er klar machen, was ihm widerfahren war. „Das Wort, von Gott geladen, sprengt Tür und Riegel auf“ (Arno Pötzsch). Da war nicht einfach eine kleine religiöse Idee zu dem Jeremia herein geschneit gekommen. Sondern da hatte Gott sich mit Urgewalt zu Wort gemeldet. Eben wie bei der Schöpfung.
Weil sein Reden bei uns greifen soll, darum bietet Gott offenbar elementare Schubkraft auf. Dann wirkt sein Reden bei uns wie „ein nicht zu löschendes Feuer“, und „wie ein Hammer, der Felsen zertrümmert“. So lesen wir’s bei Jeremia im Originaltton (vgl. Jeremia 20, 9; Jeremia 23, 29).
Gott will mit seinen Leuten reden
Wenn es anders wäre, wenn Gott den Kontakt mit uns abbrechen würde, das wäre schlimm! In den zurückliegenden langen Wochen der Hitzewelle haben wir es miteinander erlebt: Es ist bedrückend, wenn Gott „den Himmel zuschließt, dass kein Regen mehr kommt“ (vgl. 5. Mose 11, 17). Erst recht bedrückend müsste es doch sein, wenn Gott schweigt. Es ist doch schon unter leiblichen Geschwistern kaum auszuhalten, wenn sie nicht mehr miteinander sprechen. Es ist lähmend, wenn Blutsverwandte einander den Gruß und das Gespräch verweigern. Erst recht wäre doch uns Menschen der Lebensfaden abgeschnitten, wenn Gott sein Wort zurückhalten würde. David, der König und Vorbeter Israels, hatte es beim König Saul erlebt, wie grauenhaft es ist, wenn Gott schweigt, wenn Gott nicht mehr antwortet, wenn Gott sein Wort nicht mehr an mich richtet (vgl. 1. Samuel 28, 6). Darum heißt es immer wieder in den Psalmen Davids: „Mein Gott, schweige doch nicht! Dass ich nicht gleich werde denen, die in die Grube fahren (Psalm 28, 1, vgl. mit Psalm 35, 22; Psalm 109, 1).
Drum ist es wie ein großes, tiefes Aufatmen, wenn Gott mit seinen Leuten redet. So war es etwa in jenen Jahren, als der junge Samuel in der Stiftshütte Israels heranwuchs. Lapidar heißt es in den biblischen Berichten: „Zu der Zeit war <b>des Herrn Wort</b> selten“ (1. Samuel 3, 1). Das war – wenn ich’ s recht verstehe – keine Strafmaßnahme Gottes. Es war nicht Gott, der sich rar gemacht hatte. Sondern mitten im Heiligtum gab es niemand mehr, der „auf Empfang geschaltet“ hatte. Vielmehr ging es im heiligen Bezirk der Stiftshütte munter und fröhlich zu. Es gab Dankgebete und Segensworte in Fülle samt Lobpreisorgien und himmelstürmenden Gesängen. Aber „des Herrn Wort war selten“ geworden. Da ist es dann wie ein elementares Aufatmen, was von dem jungen Samuel berichtet wird. Der kleine Bursche betete: „Rede, Herr, dein Knecht hört!“
Es gibt also noch Schrecklicheres als dies, dass Gott schweigt, nämlich, dass Gott redet. Dass er klar reden lässt. Dass er Menschen würdigt mit Boten seiner Wahrheit. Aber dass das irgendwie gar nicht bei ihnen „rüberkommt“. Dass Gottes Reden an uns wie „abprallt“. Dass Gott uns anruft – und wir kriegen gar nichts mit. Wir wollen ja Gott gar nicht abweisen wie einen lästigen Zeitschriftenwerber. Aber – Gott redet, und wir bleiben leer!
Ist das nicht die eigentliche Not unserer Tage? Wir haben in Gottesdiensten und Bibelstunden, in Kirchenmusik und Radiosendungen, in einer Flut von besten Büchern, in großartig aufgemachten Zeitschriften – von „family“ bis „idea-Spektrum“ – das Wort Gottes erklärt, verständlich und anschaulich gemacht, interessant dargeboten. Aber wenn mich einer fragen wollte „Was nimmst du jetzt von der vergangenen Woche als Wort Gottes mit?“, dann käme ich in größte Verlegenheit.
Gott ist darauf aus, uns das Ohr zu öffnen
Diese Not hat einmal der rheinische Seelsorger Paul Humburg offen angesprochen. Er hat damit vor 75 Jahren einen geistlichen Ruck ausgelöst, weit über das Rheinland hinaus. Er sprach vor allem jungen Menschen aus dem Herzen, als er fragte: „Warum ist es denn alles so schrecklich flach geworden in meinem Christ-Sein? Es will nicht mehr zu dir reden, das alte Gotteswort, wie es früher zu dir sprach. Es ist etwas erlahmt zwischen Gott und dir, herüber und hinüber.“
Wie kann es denn dazu kommen? Normalerweise streut Gott doch sein Wort in Fülle, geradezu verschwenderisch aus, so wie ein Sämann mit vollen Händen die Körner in die Furchen wirft. So hat Jesus uns das klar gemacht (vgl. Matthäus 13, 3f u. 19). Wenn nun die „Samenkörner“ des göttlichen Wortes gleich gar nicht in das Erdreich eindringen, dann mag das an mancherlei liegen: Etwa dass ein Menschenleben einem Trampelpfad gleicht, der durch viele Zeitgenossen und Eindrücke fest gestampft wurde. Oder dass Enttäuschungen und Sorgen dem Boden die letzte Spur von Feuchtigkeit entzogen haben. Aber es kann eben auch ganz andere Gründe haben.
Bei mir etwa kann das Wort Gottes oft deshalb nicht eindringen, weil es in mir flüstert (etwa bei Pro Christ, wenn Ulrich Parzany so packend zu Jesus einlädt): „Das alles ist ja schön, gut und sicher auch wichtig für viele, die das hören können. Aber ‚brauchen’ tust doch du das nicht, vielleicht andere, die das „nötig haben“ oder denen das gut tun könnte. Aber du hast doch das alles schon längst intus! Du bist doch eher in der Lage, von der Warte deiner Erfahrungen aus das alles samt der Musik und mit allem Gesprochenen zu beurteilen!“
Auch damals zu Lebzeiten des Jeremia war genau dies die Not. Wir können es in den Aufschrieben des Jeremia lesen: „Als es ihnen gut ging, sprachen sie: ‚Ich will nicht hören!’ So haben sie es ihren Lebtag lang getan.“ An Gottes Reden gingen sie achtlos vorüber (vgl. Jeremia 22, 21). Aber damit standen sie nicht allein. Zu allen Zeiten ist das geradezu der Normalfall – gerade bei Menschen, die gar nicht ohne Gott leben wollen.
Mit ganz großem Bedauern hat Jesus das einmal diagnostiziert. Damals war er umringt von überaus religiösen, sogar an Jesus interessierten Leuten. Aber Jesus musste sogar bei ihnen feststellen: „Bei euch findet mein Wort keinen Raum“ (Johannes 8, 37, erst jüngst konnten wir es in der täglichen Bibellese entdecken)! Sie hatten sich Zeit genommen für Glaubensgespräche, ja! Aber das Wort des lebendigen Gottes, von Jesus als dem Sohn des lebendigen Gottes überbracht, war nicht in sie eingedrungen! Sie waren blockiert für diese Anrede Gottes. Das war ihre Not, so wie es zu allen Zeiten die Not der Menschen ist, die bisher schon einen Weg mit Gott gegangen sind.
Damit hat sich Jesus nicht abgefunden. Er hat nicht abgelassen, eindringlich, anschaulich, persönlich werbend Gottes Wort „geschehen“ zu lassen. Jesus hat es so nachhaltig „geschehen“ lassen, dass er vor seinem Gang an das Kreuz seinem Vater rapportieren konnte: „Die Worte, die du mir gegeben hast, die habe ich ihnen gegeben. Und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass du mich gesandt hast“ (Johannes 17, 8).
Dazu möchte es Gott so gerne bringen. Er will keine Opfer und andere großen Leistungen von uns haben. „Aber die Ohren will er uns auftun“ dürfen (vgl. Psalm 40, 7)! „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren“ (Lukas 11, 28). Das war es, was damals auch der junge Jeremia begriffen hat: Dass der heilige Gott noch einmal zu hör-unwilligen und hör-unfähigen Leuten reden will; das ist Gnade. Es ist ein Wunder - größer als alle Heilungen und Speisungen -, wenn religiös geimpfte Menschen, die immun geworden sind gegen alles zu direkte Anreden Gottes - von Gottes Wort getroffen - erfahren: „Des Herrn Wort geschah zu mir!“
In Galizien wurde von jenem etwas wunderlich scheinenden Rabbi erzählt, der aufsprang, als aus den heiligen Schriften die Worte gelesen wurde: „Der Herr aber sprach!“ Er rannte aus dem Synagogengottesdienst, durch die Tür der Synagoge hinaus auf die Straßen des ostpolnischen Schtetls und rief immer nur, geradezu verzückt: „Der Herr sprach!“ „Der Herr sprach!“
So ähnlich, aber sicher noch viel elementarer, hat es der junge Priestersohn Jeremia erlebt. Von Kindertagen an war er gewiss an viel religiöses Gesäusel und Gerede gewöhnt. Aber das, was er dann erlebt hat, das war noch einmal etwas ganz anderes: „Das Wort des Herrn geschah zu mir!“
Es sind Sternstunden Gottes, wenn Gott auch noch einmal mit Ihnen und mit mir etwas Neues vorhat! Darum sollten wir jedes Mal, wenn wir die Bibel aufschlagen - oder auch nur das Losungsbüchlein -, wir sollten jedes Mal, wenn wir uns zum Gottesdienst aufmachen, beten: „Lehr mich fein hungrig sein nach dem Wort des Lebens, sonst leb ich vergebens“ (Philipp Friedrich Hiller).
In anderen Regionen Deutschlands wird etwas überheblich lächelnd über uns württembergische Christen erzählt: „Wenn die frommen Schwaben das Abendmahl feiern und dabei zum Empfang von Brot und Wein in Gruppen vor den Altar treten, dann ist ihnen meist wichtiger als die Gaben des Mahles die Frage: ‚Welches Wort werde ich mitbekommen? Welches Bibelwort wird uns als Entlasswort zugesprochen? Welches Wort nehme ich mit? Welches Gotteswort wird mit mir mitgehen’?“
Es braucht uns nicht peinlich zu sein, dass man uns so etwas nachsagt. Wir brauchen doch einen neu entschlossenen Willen, Gott dringlichst zu bitten: „Überwinde doch du mein schreckliches Sattsein!“ Der Gott, der uns anschließen möchte an den Lebensnerv seines Redens, der möchte so gerne diese furchtbare Blockade unserer Sattheit aufbrechen, aufbrechen dürfen.
Die alten Choräle und geistlichen Lieder können uns dafür wecken. Wie hat es doch Gerhard Teerstegen getroffen: „Gott rufet noch. Ob ich mein Ohr verstopfet, er stehet noch an meiner Tür und klopfet. Er ist bereit, dass er mich noch empfang. Er wartet noch auf mich; wer weiß, wie lang?“ (EG 392, 4)
Von Gott muss man auch Kritik annehmen können
In der Schluss-Strophe dieses Liedes von Teerstegen heißt es: „Herr, rede nur, ich geb begierig acht!“ Kann man das so einfach frisch von der Leber weg nachsingen? Was ist denn, wenn Gott zu mir redet und ich merke: Jetzt hat er etwas von dem entdeckt, was ich doch eigentlich verbergen wollte, was ich herunterspielen wollte? Es würde uns doch viel wohler sein, wenn Gottes Reden auf nichts als auf Ermutigung gestimmt wäre, auf Bestätigung: „Mach so weiter!“
Ein ehemaliger Studienkollege von mir hat einmal den kühnen Vorschlag gemacht: „Man sollte doch einfach all das aus der Bibel herausschneiden und nicht mehr drucken, was uns bedrückt, was uns ängstet und was unser Gewissen belastet. Evangelium heißt doch ‚Frohbotschaft’. Alles also, was uns nicht in freudige Stimmung versetzt, hat nichts mit dem evangelischen Glauben zu tun. Es darf nicht als Wort Gottes unter die Leute gebracht werden.“
Wie vordergründig! Denn damals hat es Jeremia weder geschmeckt noch Spaß gemacht, in die Welt der Völker hinein zu rufen: „Gott will nicht nur ‚bauen und pflanzen’, sondern er will zuerst einmal ‚ausreißen und einreißen’, ‚zerstören und verderben’. Denn Gott will nun einmal die Welt nicht so lassen, wie sie eben ist. Bevor seine gute neue Welt kommt, muss Gott manches lieb Gewordene „zurückbauen“ (wie wir heute vornehm sagen, wenn wir das harte Wort „abbrechen“ vermeiden wollen).
Auch bei uns entdeckt Gott so manches, was ihm weh tut. Uns, die wir zu ihm gehören sollen, mutet er zu, dass er offen darüber mit uns reden kann. Eine rein harmlose Konversation wäre nicht nur oberflächlich, sie wäre unehrlich. Um Gott aber ist eine Atmosphäre der Ehrlichkeit. Wenn Gott redet, dann macht er auch klar, was vor ihm keinen Bestand haben darf, was er nie und nimmer sanktionieren wird. Und das betrifft nicht nur den Christopher Street Day, sondern vor allem das, was Gott bei uns kränkt. Das ist nicht immer zum Grinsen und zum Hurra-Rufen! Wir dürfen ruhig erschrecken, wenn Gott mit uns „ein Wörtchen zu reden“ hat. Ja, wir sollten unruhig werden, wenn es in unseren Gottesdiensten und bei unserem Hören auf Gottes Wort nicht dazu kommt, dass Gott uns wissen lässt: „Du, da ist bei dir etwas nicht in Ordnung!“
Unter Freunden kann man offen reden. Meine Frau darf mir - mindestens manchmal - manches kritisch vorhalten, was mich bei anderen Menschen auf die Palme bringen würde. Erst recht muss es doch unser Gott wagen können, uns auch Kritisches wissen zu lassen. Das war es doch, was uns vor einer Woche Pfarrer Dr. Hannah Josua nahe bringen wollte. Gott behandelt uns als seine vertrauten Freunde, wenn er uns nichts von dem vorenthält, was ihm auf dem Herzen liegt.
Jochen Klepper hat uns das Lied geschenkt „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr!“ Darauf kommt es an! Dabei hat Klepper lebenslang erlitten, dass eben nicht alles „schmecken“ muss, was Gott seinen Freunden mitteilt. Doch die ganze Würde derer, denen Gott das Ohr geweckt hat, besteht eben darin: „Gott hält sich nicht verborgen!“ Ich kann wissen, wo ich mit Gott, mit mir selbst, und mit der Welt dran bin!
Es könnte noch einmal mitten unter uns Ungeahntes geschehen. Die Gemeinde des Christus Jesus könnte einmalig dastehen in der Welt von heute, unüberbietbar und unverwechselbar, wenn es dazu käme: „Das Wort des Herrn geschah zu mir, zu uns!“ Ach lasst uns doch noch einmal anfangen, verlangend zu beten: „Rede, Herr, deine Magd / dein Knecht hört!“
„Dein Wort ist unsres Herzens Trutz und deiner Kirche wahrer Schutz. Dabei erhalt uns lieber Herr, dass wir nichts andres suchen mehr“ (EG 246, 7; Nikolaus Selnecker)!
Amen.