30.05.1999
„In dem
Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und
erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein
jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien
deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und
sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner
Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus
ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner
Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König,
den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir
und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm,
und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt,
dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.
Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll
ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende
mich! Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's
nicht; sehet und merket's nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre
Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch
hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren
und genesen. Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst
werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst
daliegt. Denn der HERR wird die Menschen weit wegtun, so dass das Land sehr
verlassen sein wird. Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es
abermals verheert werden, doch wie bei einer Eiche und Linde, von denen beim
Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein.“
Jesaja 6, 1-13
Liebe Gemeinde!
Dass die Katze um den heißen Brei herumgeht, ist klug. Wenn jedoch Christen um
den Brei herumreden, dann wird's peinlich. Leider ist das oft so.
Dass der Glaube an Gott Halt gibt, das stimmt ja. Aber es ist doch nicht das
Entscheidende! Dass Gott trösten kann, das stimmt ja. So steht es sogar in der
Bibel. Er will trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Aber das Entscheidende
ist noch einmal etwas anderes. Dass Gott auf rechter Straße führen kann, hatte
sogar der König David in einem seiner Psalmbekenntnisse wichtig gemacht. Aber
noch wichtiger war ihm: "Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, nimm
deinen heiligen Geist nicht von mir! Tilge alle meine Missetat. Gib mir einen
neuen, beständigen Geist.... Ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du,
Gott, nicht verachten ... Herr, tue meine Lippen auf, dass mein Mund deinen
Ruhm verkündige" (Psalm 51, 11-19).
Erfahrene Gottes-Wirklichkeit
Gutes über Gott zu denken und zu sagen, das ist eine Sache. Jener Israelit
namens Jesaja war sicher darin große Klasse. Im Tempel und in den
Gottesdiensten war er zuhause. Aber noch einmal etwas total anderes war es, als
sich ihm der so vertraute Tempelraum unendlich weitete, als er mit einem Mal
hineingerissen war in Gottes-Wirklichkeit. "Ich sah den Herrn sitzen auf
einem hohen und erhabenen Thron, sein Saum füllte den Tempel, die Schwellen des
Tempels (also die wohlgegründeten Fundamente des Tempelgebäudes) bebten vom Ruf
der Engelchöre: 'Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth! Alle Lande sind
seiner Ehre voll!' "
Plötzlich stöhnte Jesaja auf wie ein Schwerverletzter: "Mit mir ist's
aus!" "Weh mir, ich vergehe!" Vor Gott kann ich doch nicht
bestehen mit all dem, was ich geschwatzt habe an Unnötigem, an Halbwahrem, an
Zerstörerischem, an Gemeinem! Meine unreinen Lippen! Und ich hatte gemeint, es
würde Gott freuen, wenn meine Lippen sich auftun würden, um Gottes Ruhm zu verkündigen.
Kaum hatte er dies Bekenntnis gesprochen, da erlebte er es: Gott kann und will
Unreinheit wegätzen, wegbrennen, wie ein Krebsgeschwür unter der Kobaltkanone
zerfällt. So hatte er Gottes-Wirklichkeit erfahren. Schon David hatte sie
erlebt. Er hatte das Erlebte in den Jubel gefasst: "Wohl dem, dem die
Übertretungen vergeben sind. Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht
zurechnet ... Ich bekannte dir meine Sünde, meine Schuld verhehlte ich nicht
... Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde ... Errettet will ich gar
fröhlich das rühmen" (Psalm 32, 1-7).
Jesaja ging es ebenso wie David. Er wollte das Erfahrene verkündigen. Als Gott
gefragt hatte: "Wer will mein Bote sein?", da ging es nun Jesaja über
die Lippen, die zuvor so viel Nichtiges geschwatzt hatten: "Hier bin ich,
sende mich!"
Wie wenige andere hat dann Jesaja diese Gottes-Wirklichkeit bekannt gemacht. Wo
zu seiner Zeit sogar herausragende Gottes-Profis religiös um den Brei
herumredeten, wo sie den heiligen Gott verharmlosten als Kumpel und als
Vereinsfreund (siehe Jesaja 28, 7ff; Jesaja 29, 9-16; Jesaja 30, 9ff), da
bezeugte er den Heiligen Israels, den wirklichen Gott. Ihn kann man nicht
beschummeln. Zu versuchen, ihn mit Opfern bestechen zu wollen, ist eine
Schmähung Gottes. Kennt ihr denn seine Majestät? Merkt ihr denn weniger als das
liebe Vieh? Das schreit, wenn seine Futterkrippe leer ist. Merkt ihr denn
nicht, wie leer es in euch und um euch ist? Merkt ihr nicht, dass ihr von Gott
abgefallen seid und dass Gott euch gar nicht mehr hören will?
Zugleich aber, fast in gleichem Atemzug, rief Jesaja hinein in sein Volk, was
er auch als Gottes-Wirklichkeit erfahren hatte: Sogar wenn eure Sünde blutrot
sein sollte, möchte und kann Gott sie schneeweiß machen. Bekehrt euch doch zu Gott,
dem Starken! Diese Gottes-Wirklichkeit hatte er erfahren. Diese
Gottes-Wirklichkeit bezeugte er.
Darauf kommt es an
Wer Gottes-Wirklichkeit erfahren hat, kann sie auch glasklar bezeugen. Der ist
von Gott zu einem Herold mit einer Nachricht gemacht, die unüberbietbar ist.
Nämlich: Vor Gott müssten wir alle normalerweise vergehen; aber wohl allen,
denen er gnädig ist (vgl. Jesaja 30, 18).
Vermutlich würden die meisten von uns es gar nicht ertragen, in die unverhüllte
Gottes-Wirklichkeit hineingerissen zu werden. Wir würden vergehen. Aber zu
allen Zeiten hat Gott einzelne Menschen dadurch zu Gewissensweckern gemacht, zu
unverzichtbaren Gottesboten, dass er sie stellvertretend für uns hineingerissen
hat in die grenzenlosen Schrecken u n d in die unüberbietbaren Tröstungen der
Gottes-Wirklichkeit. Jesaja war einer der ersten. Aber auch Augustin war einer.
Und Martin Luther. Auch John Wesley, Charles Haddon Spurgeon, Ludwig Hofacker,
Aloys Henhöfer, Magdalena Sibylla Rieger, Mutter Canz, Samuel Hebich (drüben
auf dem Alten Friedhof bestattet), aber auch Wilhelm Busch und Dora Rappard.
Sie alle und noch manch andere mehr haben es fast nicht zum Aushalten erlebt:
"Weh mir, ich vergehe". Und auch das andere: "Wohl dem Menschen,
dem die Übertretungen vergeben sind". Darum brauchten sie nicht um den
Brei herumreden. Wilhelm Busch sagte in seiner letzten Predigt als
altgewordener Jugendpfarrer von Essen: "Andere können phantasievoll und
dichterisch schön von allem nur Denkbarem reden, so wie Salomo redete von der
Zeder auf dem Libanon bis hin zum Ysop, der aus der Mauer wächst. Ich hatte nur
eine Nachricht: 'Meine Seele soll sich rühmen des Herrn, dass Elende hören und
sich freuen! ... Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, er
hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben!' "
Immer wieder sind Menschen aus allem Vordergründigen herausgerissen worden und
hineingestellt worden in die ganze Gottes-Wirklichkeit. Petrus, der Fischer vom
See Genezareth, war einer von ihnen. "Hilf dir selbst, dann hilft dir
Gott", das war seine Lebensmaxime gewesen. Darum flickte er lieber seine
zerrissenen Netze als dem Rabbi aus Nazareth zuzuhören. Aber dann kam der
Augenblick, wo er nur noch stöhnen konnte: "Herr, geh von mir hinaus! Ich
bin ein sündiger Mensch!" Jedoch gerade ihm sagte Jesus auf den Kopf zu:
"Fürchte dich nicht, ich will dich zu einem Menschenfischer machen!"
Das war erschreckende und zugleich zurechtbringende Gottes-Wirklichkeit.
Gottes-Wirklichkeit erfuhren die Menschen auf dem pfingstfestlichen Tempelplatz
von Jerusalem. Mit einem Mal ging es ihnen durch und durch, dass sie sich an
der Kreuzigung des Heilandes Jesus mitschuldig gemacht hatten. Zutiefst
betroffen fragten sie: "Was sollen wir denn tun? Können wir denn noch
herauskommen aus dem Fluch, aus der namenlosen Schuld?" Da konnte es jener
Petrus ihnen bezeugen: Ja, ihr könnt euch durch Jesus retten lassen aus allem
Verkehrten; ihr könnt den Namen Jesus anrufen und gerettet werden!
Immer war es dieselbe Gottes-Wirklichkeit - daran sei heute am
Dreieinigkeitsfest erinnert - : Damals, als Jesaja den Herrn Zebaoth von ferne
schaute, und auch damals, als Petrus von Jesus gestellt wurde, ja auch damals,
als Gottes Geist über Menschen in Fülle ausgegossen worden war. Die Trinität
ist keine schwierige Denksportaufgabe, kein religiöses
"Um-die-Ecke-gedacht-Rätsel", vielmehr ist es die bibelbestätigte
Erfahrung von Menschen aller Zeiten: Die Wirklichkeit Gottes lässt uns
erkennen, dass Gott alles Recht dazu hätte, uns zu vergessen, ja uns zu verstoßen.
Aber Gott möchte dort sogar blutrote Sünde schneeweiß machen, wo wir unsere
Verlorenheit erkennen und bekennen. Wo dies geschieht, da ist der Herr Zebaoth
am Werk, da haben wir's mit Jesus persönlich zu tun, da ist der Heilige Geist
am Wirken. Schuld soll erkannt werden, und Schuld soll vergeben werden. Darauf
ist der drei-eine Gott aus. Dies untrügliche Kennzeichen kann uns bewahren
davor, auf Trug hereinzufallen. Man kann nicht monotheistische Religionen
zusammenmixen, nur weil es ihnen allen um Gott geht. "Wo ist ein Gott wie
du, der Sünde vergibt ...!" Nicht jeder, der viel von Jesus hält und
redet, meint den Retter aus Verlorenheit. Der Heilige Geist kann wohl Wunder
und Freude wirken; vor allem jedoch lässt er mich deutlicher erkennen, wie
angewiesen ich bin auf die Erlösung von Sünden. Das ist's, was der drei-eine
Gott erfahren lassen will.
Erfahrene Gottes-Gegenwart
Vor einem Jahr hatten wir auf unserer Hofacker-Pfarrerfreizeit einen
norwegischen Bischof als Bibelarbeiter. Dieser seelsorgerliche Bruder sprach
vor seiner ersten Bibelauslegung ein Gebet, das uns allen zu Herzen ging. Es
lautete: "Lieber Heiliger Geist, zeige uns Jesus, damit wir den Vater
erkennen und leben!" Wir alle empfanden es - und es war mehr als eine
Stimmung -, dass dies schlichte Gebet wirklich ein Himmelsschlüssel war, der
uns den Zugang eröffnete für eine Stunde Gottes-Gegenwart.
Wie sah das aus? Über mich kam eine ganz große Trauer, dass ich meinen Gott so
oft enttäuscht hatte. Es war kein blitzartiges Erschrecken. Es war mehr ein
immer deutlicheres Gewahrwerden von vielem, was ich bis dahin gerne im Nebel
gelassen hatte, zugedeckt und unerforscht. Zugleich aber war das so etwas wie
ein Staunen, wie ein Hochgefühl: Mein Gott schickt mich nicht weg. Vielmehr
will er wegnehmen, er will all das aufräumen und wegräumen, was mich belastet,
was ich darum gar nicht bis ins eigene Bewusstsein hatte hochkommen lassen. So
wirkte sich die Gottes-Gegenwart heilsam aus. Die uns durch den norwegischen
Bruder Anderson bezeugte Gottes-Wirklichkeit war geprägt von Wahrheit, vom
Aufdecken verborgener Not: von Kleinglauben, der Gott nichts zugetraut hatte,
von Selbstgerechtigkeit, von Verletzungen, von Überheblichkeit, ohne Gott
auskommen zu können. Die bezeugte Gottes-Wirklichkeit war aber auch geprägt vom
seelsorgerlichen Zuspruch: "Vergiss nicht, wie viel Gutes Gott dir tun
will und tun kann, indem er all deine Sünde vergibt!"
Drum lassen Sie mich mit Ihnen und für uns alle beten: "Lieber Heiliger
Geist, zeige uns Jesus, damit wir den Vater erkennen und leben!"
Amen.