Rolf Scheffbuch

Leben im Alter – reif zum Abbruch?

 

 

Der Abbruch gehört nun einmal zum Neubau

Klagen will ich nicht, o nein! Ich bin Gott für jeden Tag dank­bar, den er mich erleben lässt. Aber nüchtern betrachtet muss ich auch bei mir feststellen: Es wird von Tag zu Tag weniger. Es wird weniger mit dem Gehör, mit der Leistungskraft, mit dem Namensgedächtnis, mit der geistigen Spannkraft im Straßenverkehr. Es wird weniger. So ist nun einmal das Le­ben. Schlimm wäre es jedoch, wenn ich in der Verbundenheit mit Gott stagnieren oder gar Rückschritte machen würde.

Denn dass normalerweise zum Neubau auch der Abbruch des Bisherigen gehört, das wissen wir Schwaben als geübte „Häusles-Bauer". In der Ortsmitte von Korntal, wo ich seit 14 Jahren wohnen darf, wird gerade ein hässliches Loch aufgerissen. Zu­vor waren ganz proper scheinende, sogar ehrwürdige Traditi­on atmende, einst mit Architektenkönnen gebaute Häuser ab­gerissen worden. Aber der Abriss war nur der Anfang für den beschlossenen Neubau eines schönen Gemeindehauses. So ähnlich arbeitet auch Gott. Wenn er Großes zu bauen vorhat, dann muss zuvor das Vorläufige abgetan werden.

Dann ist es aber doch keine Panne, wenn Christen nicht vor Schmerzen bewahrt werden, wenn gerade Christen unter schrecklicher Ohnmacht leiden, wenn sie Enttäuschungen mit Kindern und Enkeln erleben, erst recht aber mit sich selbst. Wenn Trauer um Angehörige und Angst sie lahmen wollen, dann hat Jesus weder geschlafen, noch hat er seine Leute aus dem Blick verloren. Im Gegenteil! Dann sind die, die Christus gehören, in die Spezialbehandlung Gottes aufge­nommen worden. Diese hat das Programm: Durch Leiden zur Herrlichkeit (vgl. Römer 8, 17)!

Es bleibt also nicht bei einer immer mehr zerfallenden Ruine unseres Lebens. Selbst dann nicht, wenn mit uns - schwä­bisch gesagt - „nicht mehr viel los ist". Denn es soll nicht bei den Bruchstücken dessen bleiben, was wir einst dargestellt haben. Das hat uns der Apostel Paulus im Auftrag von Jesus eingeschärft: „Wir werden nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert" (2. Korinther 4, 16).

Körperlicher Zerfall ist bei jungen Menschen unnatürlich. Bei uns alten Menschen jedoch ist er organisch. Wie merken wir über dem Älterwerden, dass es an unserem Leib „brö­ckelt". Viele älter Werdende haben Angst davor. Schließlich haben sie bei Eltern und Großeltern erlebt, was beim Altwer­den an Eigenheiten zutage kommen kann. Plötzlich greifen die durch Anstand anerzogenen Bremsen nicht mehr. Auch ist es verletzend, nicht mehr gebraucht zu werden. Es tut weh, ohnmächtig erleben zu müssen, dass man nichts mehr leisten kann.

Bei älter Werdenden ist aber auch die Gemeinschaft mit Jesus gefährdet. Sie ist bedroht durch die Gefahren der Routine, des Stillstandes, ja auch des Rückschrittes und sogar des Abdriftens. Jesus hat nüchtern vorausgesagt, dass „viele abfal­len" werden.

Alte Menschen, wie auch ich einer bin, sind gefährdet. Nur zu schnell wird nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Glau­bensleben zu einer baufälligen Ruine. Mit dem Löchrigwer­den des Gedächtnisses fängt es an. Zwischen Leben-Wollen und der Angst vor jeder kommenden Nacht „verdunstet" das Vertrauen nur zu schnell. Einst noch so lebendiger Glaube kann absterben. Die üblichen Symptome sind eindeutig: Die Treue im regelmäßigen Teilnehmen am Gemeindeleben will „zu viel" werden; über so viele Gottesworte wird hinweg ge­hört, weil sie schon so altbekannt zu sein scheinen. Die brü­chig gewordene Stimme gilt als Entschuldigung dafür, dass die Choräle und Glaubenslieder verstummen. Ein mit viel Jammern geschürtes Selbstmitleid verstellt das Vertrauen, dass Jesus auch in Zeiten großer Beschwerlichkeiten und not­voller Schwäche seinen Leuten treu bleibt.

Christen können elend müde werden. Unheimlich verzagt. Früher habe ich das nicht gewusst, wie stark selbst bewährt scheinende Christen elementar ins Zweifeln kommen kön­nen: „Ist es denn etwa doch nichts mit meinem Glauben? Habe ich mir selbst etwas vorgemacht mit meinem Vertrauen auf Jesus? Ich wollte doch allem Widrigen mutig trotzen als rechter Christ, aber jetzt bin ich so schwach. Es ist alles so anders als am Anfang des Glaubens. Mein Christsein ist zwar noch nicht ganz ins Stocken geraten, aber es ist so voll von Routine. Auch das Beten. Die Worte der Bibel wollen nicht mehr recht sprechen. Ist denn das mit Christus nur Einbil­dung gewesen, Selbstbetrug, Illusion?"

 

 

Christen sind angewiesen auf Glaubensstärkung

Wir Alten brauchen Glaubensstärkung! Wissen das unsere engsten Angehörigen? Wissen das die Christen unter unseren Nachbarn und Freunden? Wissen das diejenigen, denen das Vorrecht des Verkündigens anvertraut ist? Ahnen sie, dass ich mit dem Gebet zu Jesus in die Gottesdienste und Gemeinschaftsstun­den komme: „Stärk" in mir den schwa­chen Glauben"? Wir Alten haben doch demnächst die entscheidende Bewäh­rung des Christseins zu bestehen, näm­lich „beim letzten Kampf, wann ich von hinnen scheide".

Umso wichtiger ist das dringliche Ge­bet: „Lass mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr!" Dies nachzu­beten, darin verwirklicht sich wahrer Christenglaube. Christen brauchen sich nämlich nicht vollkommener zu geben, als Christus sie haben will.

Zum Dranbleiben müssen sich Christen ganz bewusst bereiten lassen. Die Zusammenkünfte der Ge­meinde haben darin ihren ersten Sinn. Nicht erst bei uns Al­ten, aber bei uns besonders. Die regelmäßige Teilnahme am Gemeinde-Gottesdienst will wie die Regelmäßigkeit einer morgendlichen Tabletten-Einnahme dazu helfen, dass Chris­ten nicht abfallen. Und zwar nicht erst dann, „wenn sich Ver­folgung um des Wortes willen erhebt" (Matthäus 13, 21). Sondern auch schon dann, wenn sich Schwierigkeiten des Altwerdens einstellen, wie ungeahnte Einbrüche von schwerer Krank­heit, Trauer, Sorgen um Kinder und Enkel, samt den drücken­den Lasten der Sorge, ob denn das Ersparte reicht.

Erst recht aber hier sollen jüngere Christen wach dafür sein, seelsorgerlich die „Last des anderen zu tragen". Wenn der eine vom elementaren Zweifel überfallen wird: Gehöre ich verlässlich zu Jesus?, dann sollten die anderen Christen das merken, das wissen und ihn im Namen Jesu nicht loslassen. Wir sollten uns in unseren Kreisen, Gemeinden und Grup­pen, in Gemeinschaftsstunden und in Hauskreisen anste­cken lassen von der heiligen Entschlossenheit unseres Herrn Jesus: „Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich's auferwecke am Jüngsten Tage" (Johannes 6, 39). Wir sollten es darum den Angefochtenen in die Ohren und ins Herz schreien: „Und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles; und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen" (Johannes 10, 28+29).

 

 

Abbruch im Zeichen des Neuen

Da wo wir Abnahme und Verlust, selbst das Sterben der Allernächsten als schmerzliche Leere erleben, möchte Jesus umso mehr Raum in uns gewin­nen. Dann soll es noch deutlicher wer­den: „Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit" (Kolosser l, 27). Das hat der Apostel gemeint, als er sagte, dass der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert wird (vgl. 2. Korinther 4, 16).

Mit dem „inneren Menschen" meint Paulus nicht all das, was im Keller un­serer Seele schlummern mag. Vielmehr meint er den unsichtbaren Jesus. Jesus will „durch den Glauben in den Herzen wohnen" (vgl. Epheser 2, 22; Epheser 3, 16f). Solches „Wohnen" hatte ja Jesus selbst angekündigt: „Wer mein Wort halten wird, zu dem werden mein Vater und ich kommen und Wohnung bei ihm nehmen" (Johannes 14, 23).

Bis zur Sterbestunde des Heilandes waren es Höhepunkte, wenn Jesus Menschen geheilt und gespeist, wenn er Tote aufer­weckt hat. Seit dem Auferweckungsmorgen jedoch sind solche Höhepunkte weit überboten worden. Denn durch sein Sterben und Auferstehen hat Jesus dies in Kraft gesetzt: Auf das Innigste will er sich mit denen verbinden, die ihm der Vater gegeben hat! Dieses Verbundensein mit Jesus ist dann Größeres als alle Hei­lungen, die doch nur Heilungen auf Zeit sind. Jesus aber will mit den Seinen Gemeinschaft herstellen, die ewig gilt.

Johannes Goßner (1773 - 1858) schrieb einmal über seinen Freund Martin Boos (1762 -1825), was wir so auch von Diet­rich Bonhoeffer und von Jochen Klepper wissen: „Am leben­digsten und kräftigsten war die Ausstrahlung seines Glau­bens, wenn er im Feuer der Verfolgung stand, wenn er körper­lich schwach war und dazu hin noch von allen Seiten angefochten wurde durch Lästerungen, Drohungen, Inquisiti­onen und Einkerkerungen. Dadurch lernten viele kennen -mehr noch als durch seine Verkündigung -, dass es das wirk­lich gibt, Christus in uns, die Hoffnung der Herrlichkeit."

Die Welt um uns herum - und viele Christen mit ihr - gieren nach Begeisterndem, nach Wundern, nach Sieg, nach neuen Methoden und nach neuen Stilen. Lasst uns doch bewusst eine Gegenbewegung starten, eine bibelgemäße und je­susgemäße Gegenaktion! Uns soll nichts anderes so wich­tig werden wie dies, dass Christus in uns Wohnung nimmt und immer mehr Raum bekommt!

Wir brauchen kein Aufputschmittel, das uns wieder „auf Touren bringt". Keine begeisternde Stimmung soll versu­chen, uns zu heilen. Kein religiöses Reizklima kann uns das geben, was doch Jesus so gerne zerbrochenen Men­schen und innerlich ausgebrannten Christen sein möchte. Jesus Christus allein kann es dazu kommen lassen, dass äußerlich zerbrochene Menschen nicht müde bleiben, sondern dass sie „Tag um Tag" erneuert werden.

Das soll uns das größte Wunder sein, dass Jesus Christus in uns wohnen und wirken möchte. Auch wenn Gott dazu das Zerbrechen des „äußeren Menschen" benützt, gibt es kein größeres Wunder als dies: „Der innere Mensch wird erneuert."

Wir brauchen also nicht verzweifeln, wenn unser „äuße­rer Mensch" verfällt. Wir stehen dann doch nicht am Rand eines Abgrunds. Sondern wir stehen auf des Heilands Lis­te als Kandidaten seiner kommenden Herrlichkeit. Wir können gespannt sein auf „mehr Jesus"!

Der Abbruch hat begonnen, weil der Plan mit dem Neubau unter Dach und Fach ist. Wir wollen darum auch Jesus nicht vorschreiben: „Wenn du überhaupt etwas kannst, dann repariere meinen maroden Körper!" Vielmehr wol­len wir nüchtern mitten im Zerbrechen des äußeren Men­schen damit rechnen: Der innere Mensch wird Tag um Tag erneuert. Gott liegt daran, dass gerade auch Ältere Tag um Tag die Ration an Jesus-Gegenwart zugeteilt bekommen, die für jeden Tag nötig ist. Niemand soll aufgeben müssen, bevor es zu dem „Bau" kommt, „von Gott erbaut, der ewig ist im Himmel" (2. Korinther 5, 1).

Licht im Osten Nr. 2/2009