29.12.2002
„Und siehe, ein Mann
war in Jerusalem, mit Namen Simeon; und dieser Mann war fromm und
gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der heilige Geist war mit
ihm. Und ihm war ein Wort zuteil geworden von dem heiligen Geist, er solle den
Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam
auf Anregen des Geistes in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den
Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm
er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen
Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast;“
Lukas 2, 25-29
Liebe Gemeinde!
Der Kinderlein Spott ist es schon längst geworden, nämlich das eigentlich recht
gut gemeinte Verslein „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt!“ Bei den kids
heißt es nämlich: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du
Weihnachten verpennt!“ Zugegeben, „verpennen“ ist nicht gerade die „feine
englische Art“, etwas auszudrücken. Auch ist es für todmüde Menschen sicher
eine Hilfe, über die Weihnachtstage schlafen, nichts als schlafen zu können.
Schlimm jedoch ist es, wenn Menschen verschlafen, dass Jesus so unaussprechlich
nahe ist. Schlimm ist es, wenn verträumt wird, dass Jesus uns so nahe ist, wie
nirgends in anderen Religionen die Gottheit je erfahren werden kann. Wie schade
ist es, das zu verpassen! Aber leider ist es üblicher, als man meinen sollte.
Angefangen hat es damals - gleich nach der Geburt des Jesus. Bis heute setzt es
sich tragisch fort: Anstatt dass Menschen aufatmen im Wissen „endlich gibt es
auch für mich einen Heiland!“, bleibt es beim „business as usual, „weiter in
der Tagesordnung!“ - Wie bedauerlich ist das!
Da war das Kleinkind Jesus in den Tempel von Jerusalem gebracht worden. Zum
ersten Mal war Jesus an dem Ort, von dem er dann als Zwölfjähriger bekannte:
„Ich muss doch sein in dem, was meinem Vater gehört!“ Kein Wunder, dass es
Jesus später immer wieder zum Tempel zog. Wie oft berichtet uns die Bibel:
„Jesus war im Tempel und lehrte!“ Das Heiligtum in Jerusalem war für Jesus
Heimat! In heiligem Eifer wachte er darüber, dass mit diesem „Bethaus für alle
Völker“ kein Missbrauch getrieben wurde. Der Tempel in Jerusalem war für Jesus
nicht eben irgendeine religiöse Anbetungsstätte, so wie die Samariter ihre
Gottheiten auf dem Garizim anbeteten und die Muslime ihrem Glauben in Mekka
huldigen. Nein; denn „das Heil kommt von den Juden“! Die Juden wussten, wen sie
zu Jerusalem anriefen. Erst recht wusste das Jesus!
Eigentlich hätte doch damals, als Jesus in den Tempel getragen wurde, wahr
werden können, ja wahr werden müssen: „Du, Tochter Zion, freue dich – und du,
Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir!“ Eigentlich hätte man sich
vorstellen können, dass Jesus mit Pauken und Trompeten empfangen worden wäre,
dass die Priesterscharen durch Gottes Geist alarmiert worden wären, dass der
Hohepriester -– gekleidet in festlichsten Ornat – den empfangen würde, der da
kam in Namen des Herrn. Jedoch nichts von alledem wird berichtet. Der
knackig-aktiv-fromme „erste Sturm“ des frommen Tempelbezirkes verschlief den
einmaligen Augenblick. Verpennt!
Damals, in jenen Jahrzehnten wurde der Tempel umfassend renoviert, gewaltig
erweitert, großzügig den Anforderungen angepasst. Es war eine helle Freude, das
Bauwerk wachsen zu sehen. „Welche Steine! Welcher Bau!“ Souveräne
Architektenkunst! Der so lange erwartete „König der Ehren“ sollte einmal
feierlich einziehen können! Aber dass der Ersehnte mitten unter dem Baulärm und
auch mitten unter den Besucherströmen schon gekommen war , das haben die
meisten schlicht nicht mitgekriegt. Sie haben das Kommen des Heilands verpennt.
Außer zwei „Altchen“. Sie gehörten zum etwas verstaubt angesehenen Inventar des
Tempels - genauso wie die erneuerungsbedürftigen Opferstöcke und die
abgetretenen Teppichläufer. Die beiden Veteranen jedoch waren hellwach in jenem
außerordentlichen Moment. Sie waren durch Gottes Geist hellwach gemacht. Sie
hatten sich hellwach machen lassen!
Auch im Alter kann man hell wach sein für Gottes besondere Stunden.
Gut, auch ich kenne das Sprichwort: „Alter schützt vor Torheit nicht!“ Das ist
nun einmal Lebenserfahrung. Wir Älteren müssen bedauernd zugeben: „Meist stimmt
es ja, sogar manchmal bei uns!“ Im Alter werden auch die Chancen begrenzter,
mit Gott ganzen Ernst zu machen. Das Alter hat seine besonderen
Glaubensgefährdungen: den Zweifel an der eigenen Gewissheit und auch Zweifel an
der eigenen Treue – ob denn das bisschen Zutrauen zu Gott durchhalten wird? –,
Zweifel, ob ich denn von Gott wirklich angenommen werden kann.
Darum tröstet es uns Senioren, was hier von dem am Rand des Grabes stehenden
greisen Simeon berichtet wird und von der uralten Hanna: Mit wem Gott einmal
angefangen hat, mit dem möchte er auch ans Ziel kommen! Keines von solchen
Leuten braucht sich zu sorgen, er werde schließlich doch noch Gott lästig. Er
hat zugesagt: „Ich will euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet. Ich
will euch heben, tragen und erretten“. Ja, Gott kann Alten sogar die Würde
geben, dass sie Zeugen für die Wahrheit Gottes werden. So war’s doch damals in
Jerusalem. „Durch zweier Zeugen Mund wird allerwegs die Wahrheit kund“. Das ist
uraltes Menschheitsgesetz. Wenn es jedoch um Zeugen geht, etwa vor Gericht oder
bei der Werbung für einen Artikel, dann bemüht man sich um Zeugen, die Eindruck
machen, die gut aussehen und möglichst nicht zu alt sind, die etwas aus sich
machen können. Über die beiden altersschwach daherschlurfenden Senioren von
Jerusalem hätten sicher sogar die Pro-Christ-Kamera-Leute einen Schwenk
gemacht; denn bei aller Liebe und Hochachtung für Ältere kann man doch mit so
etwas keinen Staat machen!
Aber der im Himmel sitzt, lacht über solche Vordergründigkeiten! Unser Gott
kann auf all das verzichten, was in Menschenaugen attraktiv zu sein scheint.
Schon hier, ganz bei den ersten Anfängen der Jesusgeschichte wird deutlich, wie
einmal seine Gemeinde aussehen soll: ein paar ungelehrte Karpfenfischer, ein
Zöllner, ein Zweifler, eine ehemals von Dämonen besessene Frau, nicht viel
Weise, nicht viel Edle, ein paar Hafenarbeiter und ausgemusterte Matrosen in
Korinth, ein abgehalfterter Synagogenvorsteher, schließlich mit der
Purpurkrämerin Lydia von Philippi eine Frau des mittelständischen Handels. Wir
trauen unserem Gott zu wenig zu, wenn wir klagen: „Wir sind leider nur die
Kirche der Alten, der bürgerlichen Mittelschicht, der kleinen Leute!“ Zwar
steht hinter solchem Herummosern die missionarische Sehnsucht, dass wir um der
Ehre des Herrn Jesus willen ausbrechen können aus den uns eng scheinenden
Grenzen.
Aber „aufbrechen“ das tun nun einmal nicht wir. Sondern „der große Hirte der
Herde“ hat sich vorbehalten, dass ER bestimmt, wann und wie seine Herde aus der
Enge heraus geführt wird. Wie er das tut, das vollzieht sich meist so, dass es
den Gesetzen des sonst üblichen Managements spottet. Damals hat Gottes Geist
die beiden greise Gewordenen wach gemacht. Einzig sie! Sie allein waren „voll
da“! Sie, über die man doch sicher oft genug in Jerusalem gelächelt hat. „Die
mit ihrem Spleen, zu meinen, sie würden noch den Messias erleben!“ Diese beiden
Belächelten jedoch wurden durch Gott gewürdigt, Kronzeugen zu werden für Jesus.
Sie wurden mit ihren schütteren, brüchigen Alters-Stimmen für wert gehalten,
Gottes Akklamationschor zu werden: „Der da ist das Licht für die Heiden und die
Krönung Israels!“ Die beiden Veteranen durften die Proklamation vorwegnehmen,
die dann auf dem Berg der Verklärung Gott selbst über Jesus erschallen ließ:
„Das ist Gottes lieber Sohn!“ „Der ist’s, auf den alles ankommt!“
Gott kann Menschen als Gnade gewähren, dass sie alt werden dürfen. Es ist ja
auch etwas Schönes, in Würde alt werden zu können. Es ist etwas Besonderes,
Lebenserfahrung bündeln und weitergeben zu können. Aber noch weit
wünschenswerter ist es, im Alter noch einmal eine Periode geistlichen Erkennens
zugelegt zu bekommen. Ein Gespür für Gottes Geist. Eine Empfindsamkeit dafür,
was Gott will. Ein Gespanntsein darauf, Jesus noch einmal ganz neu zu verstehen.
Darum sollte die Bitte von uns Ruheständlern sein: „Lieber Gott, bringe uns in
heilige Unruhe! Ich möchte von dir wach gemacht werden für das, was in deinen
Augen wichtig ist. Ich möchte ein Kronzeuge dafür sein, was man an Jesus haben
kann!“ - „Lass uns in deiner Liebe und Kenntnis nehmen zu!“ Uns Alte!
Hineingerufen hatten Simeon und Hanna ihre Entdeckung in das Tempelgeviert.
Aber auch da war es verklungen. Die Festpilger waren zu sehr beschäftigt mit
ihren religiösen Programmen und Gesängen. Und so verpassten sie den „Trost
Israels“, die konzentrierte Nähe Gottes.
Maria und Joseph waren mit dem kleinen Jesuskind nach Nazareth gezogen. Aber
auch da erregte der Heiland Gottes kein Aufsehen. War’s „det denn schon
jewesen“? Aufschub eines neuen Startversuchs? Ach was! Jesus hat als der Retter
mitten unter unseren Menschenbedingungen gelebt – dort in Nazareth. Alles, was
er später so eindrücklich und anschaulich formulierte in Bildern und
Gleichnissen, hatte er in Nazareth gesehen, um uns das Reich Gottes in unseren
Begriffen anschaulich machen zu können. Gottes Heilsprogramm war im Vollzug –
auch in Nazareth. Es war, wie wenn der kommende Sonnenaufgang sich ankündigt
durch in allen Farben aufstrahlende Wolken. Aber Nazareth hat’s verschlafen.
Sie wollten diesen Jesus loshaben. Sie stießen ihn aus der Stadt hinaus.
Dass die Nähe des Retters Jesus nicht wahrgenommen wird, dass sie verpennt
wird, das war von allen Anfängen an Normalfall. Gott gebe, dass wir zu den
Ausnahmen gehören! „Wache auf, der du schläfst, so wird dich Christus
erleuchten!“
Das Entscheidende an Jesus
Für das Entscheidende an Jesus muss Gottes Geist die Augen öffnen und das
Verstehen. Der fromme und gottesfürchtige Simeon war kein Priester, kein
Schriftgelehrter. Betont wird: es war ein „Mann“, ein ganz gewöhnlicher Mensch.
Außergewöhnlich war, dass von ihm berichtet werden konnte: Er hatte eine
Antenne für Gottes Geist; „der heilige Geist war mit ihm“. Dieser Geist Gottes
hatte es ihm, dem alten Mann, ganz gewiss gemacht: „Dein Sterben kommt nicht,
bevor du nicht Christus, den Herrn, Gott in Person, gesehen hast!“ Das war
schon außerordentlich, ungewöhnlich genug! Wer von uns hat so etwas schon
verlässlich mitgeteilt bekommen? Jedoch nicht genug damit! Denn diesen Mann
Simeon hatte Gottes Geist in die unerklärliche Unruhe gebracht: „Du musst
unbedingt noch heute morgen, am besten jetzt gleich in den Tempel! Los! Nicht
zuwarten!“ Er kam „auf Anregen des Geistes“ in den Tempel, gerade als die
Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten. (Mich macht das richtig
neiderfüllt! Wie wollte ich noch viel abhängiger werden von Gottes Leiten! Wie
viel mehr Empfindsamkeit für Gottes Wollen sollte in meinem Innersten Platz
haben!)
Das Entscheidende jedoch, wenn Gottes Geist an Menschen wirkt, ist noch einmal
etwas anderes! Das Entscheidende ist anderes als Führungen und Erkenntnisse
darüber, was nach Gottes Willen zu tun und zu lassen ist. Der Geist Gottes
führt in alle Wahrheit über Jesus . Der Geist Gottes macht in erster Linie
Jesus wichtig – mehr noch als Termine, Aufgaben, Projekte! Der Heilige Geist
verherrlicht Jesus. Er taucht Jesus in strahlende Lichtfülle.
Das haben damals die hochbetagte Hanna und der greise Simeon erfahren. Von der
altgewordenen Witwe Hanna wird berichtet: „Sie redete von Jesus zu allen, die
auf die Erlösung Jerusalem warteten“. – Die Greisin Hanna hatte ihr Stichwort
bekommen. Es war das Stichwort, das bis heute so viele Schriftsteller umtreibt:
„Wann endlich werden wir denn erlöst werden?“ Vom Geist Gottes getrieben sprach
Hanna nun alle an, die auf solches Erlöstwerden warteten (und auch gerade heute
sind das mehr Menschen, als wir ahnen). Aber sie beließ es nicht beim Stichwort
„Erlösung“. Sondern hell wach sprach sie „von IHM“, von Jesus! „Er ist der
Erlöser, Jesus, Gottes Sohn!“ Das ist die „gute Nachricht“, die in unserer Welt
laut werden muss. Hanna wurde zur ersten Missionarin.
Simeon konnte endlich ruhig sterben, im „Frieden“: „Herr, nun lässt du deinen
Diener im Frieden fahren!“ Seine Augen hatten viel mitbekommen von Leid und Not
der Welt, von vergeblichem menschlichem Mühen, von gut gemeinter frommer
Betriebsamkeit, von gelegentlichen Glaubensaufbrüchen und von üblicher Lauheit.
Nun aber hatten diese Augen gesehen, dass es einen „Heiland“ gibt. Einen, der
sogar im Sterben bei sich festhalten kann. Die müden Augen des Simeon hatten
IHN gesehen, den Heiland, den Retter, das Licht für die Heidenvölker, den Trost
Israels. Es war wie eine Kaskade von Würdetiteln, die aus Simeon heraus brach,
durch Gottes Geist gewirkt. Ja, „dass dieses schwache Knäbelein soll unser
Trost und Freude sein“, - so heißt es in einer Strophe im Weihnachtsoratorium
von Johann Sebastian Bach. Wer er selber war, der greise Simeon mit seiner
Lebensschuld und mit seiner körperlichen Schwäche, das musste er sich nicht
mehr dauernd vorhalten. „Sieh nicht an, was du selber bist in deiner Schuld und
Schwäche... Sieh auf den Helfer Jesus Christ!“
Normal ist es, dass selbst tief religiöse Tempelbesucher, fromm Gott Anbetende
nicht begreifen, was man an Jesus haben kann. Dass er Retter, Heiland, Licht,
Trost, Erlöser ist. Dass Jesus Erniedrigten und zutiefst Umgetriebenen
Seelenfrieden gewähren kann. Das muss uns erschrecken. Wach machen! Begriffen
haben es damals zwei Leutchen, die wohl nicht mehr richtig sehen und nicht mehr
richtig schmecken konnten. Vielleicht taten sie sich schwer damit, sich an
ihren eigenen Geburtstermin zu erinnern. Jedoch waren sie es, die erlebt haben,
worauf Gott aus ist: „Sie sollen mich erkennen, spricht Gott“! Sie haben
erlebt, was auch wir erfahren können: „Jesus, mein Erlöser und mein bester
Freund!“ Sie haben uns das Sehnen vorgelebt: „Gott, lass dein Heil uns
schauen“, deinen Heiland! Dies Sehnen würde doch auch uns zur Krönung unseres
Lebens führen.
Amen.