Rolf Scheffbuch

Ihr seid das Salz, Ihr seid das Licht

20.07.1997

 

„Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Matthäus 5, 13-16

 


Das ist anschaulich, liebe Gemeinde!

Ich sah vor mir "Städte auf dem Berge": Dilsberg über dem Neckar, Rothenburg ob der Tauber, Safed in Nordgaliläa. Und doch ging mir's so, wie es Jesus einmal traurig gesagt hat: "Mit sehenden Augen sehen sie nicht!" Zwar sah ich förmlich die Öllampe auf dem Mauervorsprung eines Wohnraumes zur Zeit Jesu, wie diese Leuchte allen leuchtet, die im Hause sind. Aber in meinem Verstehen war es zappenduster. Ich meinte immer: Es geht um den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche. Sie soll aufdeckendes, kritisches Licht sein, das enthüllt und entlarvt; sie soll Salz sein, das ätzend wirkt, reinigend. Aber das ist gar nicht gemeint!

Ich schmeckte direkt das wässrige, klumpige Salz der Nachkriegsmate auf der Zunge. Ich hörte noch einmal, wie wenn's damals gewesen wäre, das Knirschen der feinen Sandverunreinigungen zwischen den Zähnen. Ich erinnerte mich, ich sah, ich spürte, ich meinte zu verstehen und war doch weit weg von dem, was Jesus mit dem Bildwort vom Salz und vom Licht gemeint hat. Bis mir gerade in den letzten Tagen Jesus erschloss, was er gemeint hat.

Ihr Zerbrochenen - ihr seid Salz und Licht!

Jesus hat mir das Brett vor dem Kopf weggenommen. Benutzt hat er dazu ein Buch, das gerade in diesen Wochen herausgekommen ist. Es erzählt von Dichterinnen und Dichtern bekannter Choräle und geistlicher Lieder. In diesem Buch ist alles auf den einen Ton gestimmt: Die Zerschlagenen, die auf die Seite gestellten, die Verlachten, die Zerbrochenen, die Leidtragenden - sie sind von unserem Herrn zu ganz besonderen Segensträgern gemacht worden.

Etwa die Hedwig von Redern, im Berlin des letzten Jahrhunderts in vornehmem Offiziershaus aufgewachsen. Sie verliert den Vater, die Heimat, das Zuhause. Im ärmlichen Moabit beginnt sie eine Krankenhausmission in den Hospitalbaracken. Aber Kirchenleute drängen sie aus dieser Arbeit. Zuerst zweifelt sie an Gottes Liebe. Aber dann begreift sie: "Wie ein Gärtner einen Baum zurückschneidet bis aufs Gehtnichtmehr, so handelt Gott an mir!" Dieser Frau hat Jesus das Trostlied auf die Lippen gegeben: "Wir haben einen Felsen, der unbeweglich steht...!" Und auch das Lied, das dann Marion von Klot, die baltische Märtyrerin, den Mithäftlingen im bolschewistischen Gefängnis zum Trost sang: "Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl, das macht die Seele still und friedevoll." Diese Hedwig von Redern war zusammen mit Marion von Klot das Licht der Welt, das sogar noch denen leuchtete, die im bolschewistischen Verließ saßen.

Oder es wird berichtet von Johann Heermann aus Köben an der Oder. Zeit seines ganzen Lebens konnte er sich nicht einen einzigen Tag erinnern, an dem er gesund war. Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges kamen über ihn und seine Gemeinde. Dreimal wurde sie ausgeplündert; die Pest brach aus. Heermann verließ seine zusammengeschmolzene Gemeinde nicht. In unsäglichem Körperleiden - er konnte nicht mehr liegen, sondern schlummerte totenähnlich, an die Wand sich lehnend - tröstete er sich im Gedanken an den Allerverachtetsten und Unwertesten, an den Gottessohn Jesus: "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen, dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen? Was ist die Schuld, in was für Missetaten bist du geraten?" Aber auch das andere brach aus ihm heraus: "Lebt Christus, was bin ich betrübt? Ich weiß, dass er mich herzlich liebt. Stürb' gleich die ganze Welt mir ab, g'nug, dass ich Christum bei mir hab!" Das war kristallklares, belebendes Salz, in der ganzen Schreckenssuppe des Dreißigjährigen Krieges das einzig Beständige, brauchbar quer durch die Jahrhunderte bis zu uns heute!

Oder da war Karl Bernhard Garve, ein geistreicher und frommer Mann. Aber über Nacht wurde er als 34jähriger abgesetzt im Theologchen Seminar der Herrnhuter. Man machte ihm klar: "Du bist unbrauchbar als Lehrer; werde Bibliothekar; mit Menschen kannst du nicht umgehen!" Zwei geliebte Frauen starben ihm jung weg. Aber was hat er gebetet und uns bis heute vorgesungen? Antwort: "Stark ist meines Jesu Hand, und sie wird mich ewig fassen ... Seiner Hand entreißt mich nichts, wer will diesen Trost mir rauben. Mein Erbarmer selbst verspricht's, soll ich seinem Wort nicht glauben? Jesus lässt mich ewig nicht, dies ist meine Zuversicht!" Da hatte sich einer aus den Niederungen, in die ihn sogar fromme Leute gestoßen hatten, auf den Berg holen lassen, um eine "Stadt auf dem Berge" zu sein, die bis heute nicht verborgen bleiben kann. Sie konnte auch nicht verborgen bleiben dem allem Frommen gegenüber so skeptischen Theologen Schleiermacher. Allein 34 von den Garve-Liedern nahm er in das von ihm 1836 geschaffene Berliner Gesangbuch auf. - Genug! Sie müssen das Buch selbst lesen und verschenken.

Dies Buch half mir zu verstehen, wen Jesus gemeint hat mit dem "Ihr": "Ihr" seid das Licht der Welt; "Ihr" seid das Salz der Erde! Diese Anrede "Ihr" ist dieselbe Anrede wie in den vorausgehenden Versen der Bergpredigt: "Ihr, die ihr um meines Namens willen geschmäht werdet, ihr, die ihr verfolgt werdet und denen man Übles nachsagt; Ihr, die ihr um Gerechtigkeit willen gehasst werdet; ihr, die ihr geistlich arm seid, also im Glauben beinahe am Nullpunkt; ihr, die ihr Leid tragt; ihr, die ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, weil ihr über euch selbst erschrecken müsst. Selig seid ihr! Ihr, die ihr bangt, ob ihr von Gott und von allen guten Geistern verlassen seid, für euch gibt es erfahrbare Gegenwart des Himmelreiches. Für euch gibt es Trost, für euch gibt es Sattwerden. Es gibt Gottesdurchblicke ("Sie werden Gott schauen"). Darum verzagt nicht, ihr Geschundenen, ihr, die ihr so oft einsam euren Weg gehen müsst, ihr Zweifelnden, ihr, die ihr keine Sie und keine Heilungen und keine Hochstimmungen erlebt - selig seid ihr! Seid fröhlich und getrost!

Entweder ist das zynische Jenseitsvertröstung und billige Verdummung, oder aber redet Jesus von einer Realität, die wir noch viel, viel, viel mehr ernst nehmen müssen. Von der Wirklichkeit nämlich, dass Gottes Adressaten speziell die Zerschlagenen, die Zerbrochenen sind, weil Gott den Geist der Zerschlagenen erquicken und das Herz der Zerbrochenen heilen will. Ja, das ist die Realität Gottes, dass unser Gott die Niedrigen aus dem Staub erheben kann und will.

Was bedeutet das konkret für uns? Sollen wir Leid geradezu masochistisch suchen? Wir dürfen uns der Güte Gottes so dankbar freuen wie der eben erwähnte Johann Heermann eben auch gedichtet hat: "O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben!" Wir brauchen das Verlachtwerden nicht künstlich zu provozieren, wir brauchen geistliche Armut nicht in asketischer Selbstzerknirschung zu spielen. Denn wer mit Jesus verbunden ist, wird auch in die Gemeinschaft mit seinen Leiden hineingeführt.

Ihr, meine Leute, ihr seid Salz und Licht!

Dies "ihr" meint Jüngerinnen und Jünger Jesu. Es waren Menschen wie Sie und ich. Aber sie hatten den Ruf Jesu vernommen: "Her zu mir!" Sie hatten alles verlassen, was ihnen bis dahin wichtig gewesen war und waren bei ihm und mit ihm, mit Jesus. Er war es, der ihnen den Weg wies. Er war es, der ihnen Worte des Lebens zu hören gab, so dass sie nirgends anders mehr hingehen wollten, jedenfalls nicht weg von ihm. Er war es, bei dem sie nie Mangel hatten. Er war es, der sich vor sie stellte, als sie von frommen Leuten Israels kritisiert wurden. Sie waren mit ihm im Boot, als sich die Elemente gegen Jesus aufbäumten und ihn verschlingen wollten. "Ich bin bei euch", "mit euch", - dabei blieb es auch nach der Himmelfahrt Jesu. "Christusleute", so hat man zu Recht schon ganz am Anfang der Christenheit von ihnen gesagt. Es waren Leute, die zu Christus gehörten, die mit Christus lebten, mit ihm rechneten, von ihm gehalten wurden, die hineingezogen waren in die unsichtbare Gegenwart Jesu.

Aber auch hineingezogen in die Gemeinschaft mit dem Verachtetwerden und dem Leiden Christi. Um seinetwillen waren sie verhöhnt, verlacht, ausgestoßen. Ihnen hat Jesus bescheinigt, dass sie ausgeharrt hätten bei ihm in seinen Anfechtungen, in seinen Trübsalen.

Jesus weiß, dass die von ihm Geliebten und Erwählten vergeblich die ganze Nacht fischen können; dass sie mit Mühe "Open House" planen, durchführen und finanzieren können und am Schluss resigniert fragen müssen: "Was ist denn dabei herausgekommen?" Was kommt denn heraus bei unserem liebevoll geplanten Jahresprogramm? Erreichen wir wirklich die Menschen, die es nötig haben, an die uns doch Jesus gewiesen hat? Was sollen wir denn noch tun? Was nützen Gottesdienste, Bibelstunden, Konzerte, Gebetsgemeinschaften, neue Lieder, Kreise?

Es wäre ungewöhnlich, wenn Leute, die zu Jesus Christus gehören wollen, nicht so fragen müssten. Denn von Jesus, dem großen Diener und Sohn Gottes heißt es schon in der prophetischen Vorausschau: "Gott sprach zu mir: Durch dich will ich mich verherrlichen! Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft unnütz und umsonst...!" Es ist, wie wenn schon 700 Jahr vor Christus der Prophet vorausgeschaut hätte, dass die von Jesus wunderbar gespeisten fünftausend Leute, sich von Jesus weg verkrümelt hatten. Dass Jesus über Jerusalem weinen musste: "Ihr habt nicht gewollt!" Dass er heilte und tröstete und aufrichtete und speiste und dass das einzige Echo der Reaktion darin bestand: "So etwas haben wir noch nie gesehen!" Schlag ins Wasser?
Tabula rasa? Bankrott? Fehlschuss? Abgeschrieben?
Wissen Sie, wie es bei Jesaja weitergeht? So nämlich: "Gott spricht: Es ist mir zu wenig", dass du die Frommen sammelst ..., "sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde!"

Diese Vorankündigung hat Gott in Jesus in Kraft gesetzt, als er ihn zum Licht der Heiden gemacht hat, als er es wahr gemacht hat, dass der Plan Gottes durch die Hand des Allerverachtetsten, Unwertesten gelingen wird. Hören Sie es: Gott macht, er macht flackernde Dochte zum hellen Licht, dass da leuchtet allen, die im Hause wohnen. Gott macht aus Erniedrigten seine Segensträger. Er macht es. Darum müssen wir nicht wie die Sponsifahrer in die Pedale treten über dem Wollen: Wir Korntaler müssen doch endlich das erreichen, was einst Gottlieb Wilhelm Hoffmann vorschwebte, nämlich dass Korntal in Württemberg eine Stadt auf dem Berge ist, ein tröstliches Licht in der Dunkelheit, schmackhaftes Salz, das eine Würze darstellt für die ganze fade Brühe unserer sonstigen Kirchlichkeit: Nein: Gott selbst ruft: "Es werde
Licht! Und er hält, was er verspricht!"

Vielleicht ist es gut, wenn wir es gar nicht selbst erleben und deshalb auch nicht registrieren können, was Gott aus dem ganzen Fragment unseres Lebens macht. Die meisten der erwähnten Liederdichter und anderer Segensträger haben es ja auch nicht erlebt, was Gott aus dem ganzen Bruch, aus dem ganzen Torso ihres Lebens gemacht hat. Sonst würden wir's uns selbst als Erfolg unserer Treue und Durchhaltekraft an den Hut stecken. Aber Gott hat uns quer durch die Geschichte seiner Christenheit genug Anschauungsmaterial dafür gegeben, was er mit zerschlagenen Leuten machen kann: Tröstliches Licht für Hunderttausende, hellmachende Klarheit für andere, Orientierung für Verirrte und Verführte, Schmackhaftes für Leute, denen alles fade vorkommen muss.

Was bedeutet das konkret für uns? Dass wir ablegen alle Angst vor Schwerem, in das wir in der Gemeinschaft mit Jesus hineingeführt werden können, ja hineingeführt werden müssen, wenn die Gemeinschaft mit Jesus richtig ist. Natürlich wäre es uns lieber, wenn Jesus uns gesagt hätte. "Ihr seid Säulen meines Reiches", "ihr seid schattenspendende Bäume", "ihr seid Oasen in der Wüste", "ihr seid unerschöpfliche Quellen für durstiges Land". Das sind ja auch biblische Vergleiche. Aber hier hat sie Jesus nicht gebraucht. Salz und Licht verzehren sich und darüber "bringen sie etwas". Eine Stadt auf dem Berge ist angreifbar, dem Sturm ausgesetzt; sie kann sich nicht ducken und verstecken.

Noch einmal: Lasst uns nicht Angst haben vor Schwerem, sondern gespannt darauf sein, was Gott dort machen kann, wo wir am Ende sind. Dass wir als Menschen das Wunder erleben, von dem schon Psalm 139 spricht: "Auch Finsternis ist nicht finster bei dir, Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht!" Lasst es uns erbitten und erflehen, gerade dann, wenn uns Gott in die Tiefe führt, dass wir dann nicht erschrecken, sondern dass wir zu tief gehenden Salzstöcken werden, aus denen geschmacksbildendes Salz gefördert werden kann für eine Welt, die so am Faden Geschmack gefunden hat, dass sie gar nicht mehr weiß, was wahre Würze ist. Auch wenn Gott in die Tiefe führt, ist er darauf aus, dass wir "Wirkung zeigen".

Als Johann Albrecht Bengel, der große Gelehrte, irre werden wollte, weil er bei jeder Berufung auf einen Lehrstuhl der Universität Tübingen souverän übergangen wurde, und weil er sich durch drei Jahrzehnte hindurch abplagen musste mit zwölf- und dreizehnjährigen Ben, da hat ihm Gott den Blick geschenkt: Gott kann aus einer Handvoll junger Leute ein Salz und ein Gewürz für das ganze Herzogtum machen, ein neues Licht des Reiches Gottes. Erlebt hat er es nicht mehr. Aber Gott hat es gemacht, dass ein Magnus Friedrich Roos, ein Philipp Friedrich Hiller, Friedrich Christoph Oetinger, Johann Ludwig Fricker, Jeremias Reuss, Philipp David Burk samt vielen anderen Württemberg im Innersten verändert haben. Gott kann es auch in unseren Tagen bei uns wirken, bei uns, die wir so oft meinen, unser ganzes Christsein sei vergeblich.