Vortrag auf dem
11. Gemeindetag am 30. Mai 2002 in Stuttgart
von Rolf Scheffbuch, Prälat a.D., Korntal
Bengel hat nie für 1836 mit der Wiederkunft des Herrn Christus
gerechnet. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich das bei dem
vertrauenswürdigen Kirchenhistoriker Professor Martin Jung las. Wenn ich dann
die unbestreitbare Tatsache anderen Freunden Bengels weiter erzählte, schauten
sie mich als einen pietistischen Nestbeschmutzer an. Aber Martin Jung ist im
Recht. Wir hätten Bengel selbst mehr lesen sollen, anstatt Unzutreffendes für
bare Münze zu nehmen. Aber Bengel ist eben nicht leicht zu verstehen. Ihn
besser als bisher zu verstehen, das habe ich für heute versucht. Dabei bin ich
aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, wie aktuell Bengel ist.
Bengel war in erster Linie ein Lehrer der Kirche, nicht ein Kritiker der
Kirche. Zwar konnte er sehr kritische Urteile über die Kirche abgeben. Etwa:
"Die Kirche ist ein confus Ding, der nicht zu helfen ist!" Aber wer
wie Bengel den Abglanz der Ewigkeit Gottes auf seiner Stirn trägt, dem ist es
zu wenig, anderen etwas "ins Stammbuch zu schreiben". Theologisches und
kirchenpolitisches Florettfechten waren nicht Bengels Metier. "Immer in
der Gegenwart Gottes" zu leben, das
war sein Anliegen.
Das bewahrte ihn vor unnötiger Geschwätzigkeit. Manchen galt er sogar als
wortkarg. So lautete etwa eine seiner kurzen Anweisungen: "Wende dich ganz
dem Text zu; dann wende den ganzen Text auf dich an!" In Bengels
geschliffenem Latein ist diese Anweisung noch prägnanter. Doch hinter den paar
Worten verbarg sich ein Lebensprogramm. Die jungen Schüler Bengels bekamen es
mit. Wie konnte ihr Praezeptor ehrfurchtsvoll und verlangend-lauschend sich den
biblischen Texten ganz zuwenden! Wie beugte er sich vor der Majestät des
biblischen Wortes! Wie konnte er Tag und Nacht über einem einzigen Satz der
Bibel nachsinnen! Wie ließ er sich selbst durch diese Worte voll göttlichen
Lebens verändern! Was bei Bengel sich mitunter wortkarg und gefühlsarm anhören
mag, war in Wirklichkeit geprägt von der Sehnsucht: "Du Wort des Vaters,
rede du und stille meine Sinnen,....so schweigt Vernunft mit ihrem Tand und du
bekommst die Oberhand! Dir räum ich all mein Inn'res ein!"
Immer wieder wird gefragt:
"Wie konnte der so schwer verständliche Bengel eine solche Breitenwirkung
auslösen?" Die Antwort kann meiner Meinung nach nur lauten: "Bengel
wirkte durch seine Denkendorfer Schüler, vor allem durch Hiller!"
Eine ganze Reihe seiner Seminaristen hat Bengel entscheidend geformt. Die
Theologie des Klosterpraezeptors von Denkendorf spiegelt sich jedoch besonders
deutlich in den Andachten und Liedern des Philipp Friedrich Hiller. Er hat
Bengels Gedanken komprimiert, vereinfacht, verständlich gemacht, mit Herztönen
versehen, kurz: Er hat sie - in jeder Beziehung - ver-"dichtet".
Dafür drei Beispiele: Bengel hat eine tiefsinnige, aber überaus schwer
verständliche Abhandlung verfasst über das Blut von Jesus Christus, das er
selbst als Hoherpriester im Heiligtum Gott darbringt. Hiller hat die
Grundgedanken in der einen Strophe zusammengefasst: "Es ist sein Blut
lebendig Blut, das für die Welt Versöhnung tut. Der Priester ging zum Himmel
ein, dass er damit vor Gott erschein'!"
In dem Neuen Testament, das Bengel selbst übersetzt und mit Anmerkungen
versehen hat, heißt es einmal: "Sprich nur zu dem großen Heiland ‚Ich bin
dein!', so bist du sein!" Hiller machte daraus das seelsorgerliche Lied:
"Solang ich hier noch walle, soll dies mein Seufzer sein: Ich sprech in
jedem Falle: ‚Herr, hilf mir, ich bin dein'! Fühl ich mich schwach zum Beten
und ist mein Glaube klein, soll mich dein Geist vertreten. Herr, hilf mir, ich
bin dein!"
Den Liedern in Hillers "Liederkästlein", einem einst viel benützten
Andachtsbuch, sind zu jedem Tag Bibelworte voran gestellt. Hiller kommentierte
sie meist nur mit einen einzigen Satz. Auch diese Prägnanz hatte Hiller bei
Bengel gelernt, gerade über den Bengelschen Anmerkungen zum Neuen Testament.
Bei seinem verehrten Lehrer Bengel hat sich Hiller auch seine große Ehrfurcht
vor der Heiligen Schrift und seine Hochachtung gegenüber der Majestät des
Christus Jesus geholt.
Auf diese Weise wurde Hiller zum kongenialen Interpreten Bengels. Er brachte
die Theologie Bengels unter das Volk. Mit seinen Liedern rührte er die Seele
der Menschen an. Bengels etwas spröde anzuhörende Theologie ging so den
Württembergern "unter die Haut". Bei vielen ging sie sogar über in
"Fleisch und Blut" und prägte so den schwäbischen Volkscharakter
entscheidend mit. Wahre Theologie läßt sich nun einmal geradezu mühelos
übersetzen in Volksfrömmigkeit!
Hillers große Jesushymne "Jesus Christus herrscht als König" lässt
einen umfassend-weltweiten Horizont erkennen. Der verehrte Lehrer Bengel hatte
Hiller diesen Horizont aufgerissen. Dem Denkendorfer Schriftgelehrten war der
Fortgang des Reiches Gottes in Georgia ebenso vertraut wie die Halle'sche Pionier-Missionsarbeit
in Ostindien. Vor allem war Bengel ausgerichtet auf die Zukunft des Reiches
Gottes, von der Hiller gedichtet hat: "Alle Herrschaft dort im Himmel,
hier im irdischen Gewimmel ist zu seinem Dienst bereit". Das war die von
großer Erwartung geprägte Atmosphäre, in der Bengel lebte und in die er den
schwäbischen Pietismus mit hinein riss, - auch gerade mit Hilfe der
Hiller'schen Herztöne.
Das Besondere an Bengel war,
dass er durch und durch ein Mann der Bibel war. Die Bibel wollte er verstehen.
Die Bibel wollte er deuten, nicht aber diese oder jene Zeitereignisse. Er
fühlte sich nicht dazu berufen, Zeitansagen zu versuchen.
Bengel war fasziniert von den großen Linien göttlicher Heilsgeschichte, wie er
sie immer deutlicher in der Bibel erkannte. Von Gottes Wort ließ er sich sagen:
Die Gemeinde des Christus Jesus schadet sich meist selbst am schlimmsten durch
Lauheit, durch Harmlosigkeit gegenüber dem Teufel, durch Gleichgültigkeit gegen
das biblische Wort und durch Selbsttäuschung. Das alles war für Bengel weit
schlimmer, als wenn Pfarrer im Lebenswandel scheiterten. Das waren für ihn
bedauerliche Symptome für einen viel tiefer liegenden Schaden, nämlich für ein
allgemeines Dahinsiechen der Kirche.
Aus Gottes Wort ließ Bengel sich aber auch sagen, wie sogar einer chronisch
kranken Christenheit geholfen werden kann. Nämlich einzig durch Wachwerden für
Gottes Reden.
Jahrzehnte vor dem Aufkommen der Vernunfttheologie hat Bengel davor gewarnt,
auf verführerische Schalmeienklänge einer teuflischen Zweifelstheologie
hereinzufallen. Als dann in den Jahrzehnten nach Bengels Tod eine konzentrierte
und geballte antichristliche Verführung losbrach, waren darauf viele Christen
in Deutschland unvorbereitet. In Württemberg jedoch musste man nicht in eine
fromm sich gebende Verführung hinein taumeln. Bengel hatte rechtzeitig geweckt
und gewarnt. Das war kein Zeichen von Rückständigkeit, sondern von Rückgrat.
Nicht von Verschlafenheit, sondern von Wachheit.
Das Volk Gottes in Württemberg wurde jedoch durch Bengel auch davor bewahrt,
nur in Schlupfwinkel zu flüchten, um so den Glauben zu retten. Denn Bengel
hatte das gläubige Volk ausgerichtet auf kommende "bessere Zeiten".
Solche "bessere Zeiten" brachen ja dann auch an - gerade in
Württemberg - mit Hofackers Predigt und mit Knapps Gesangbuch und mit dem
ganzen ungestümen und opferbereiten Aufbruch von Weltmission, Diakonie und
Bibelverbreitung. Wer heute noch abwertend vom "reaktionär-konservativen"
schwäbischen Pietismus spricht, hat einfach kein Augenmaß. Mitten in
schlimmsten Zeiten der Armut und des Hungers schufen Christen vorwärts weisende
Zeichen der Hoffnung.
So hat Hiller sicher auch an Bengel gedacht, als er ausrief: "Großer Gott!
So regierst du! Wenn die Ärgernisse wie ein Strom einbrechen, so erweckst du
noch Männer, die du zu Pfeilern setzest, an denen sich andere halten und sich
retten können, dass sie nicht ins Verderben gerissen werden!"
Auch heute regiert Gott so. Darum brauchen wir Bengel kein Denkmal zu setzen.
Übrigens besteht das schönste, würdigste, angemessenste Denkmal für das, was
Bengel wichtig war, schon im Tübinger Albrecht-Bengel-Haus mit seiner
glaubensstärkenden und bibelzentrierten Begleitung künftiger Pfarrer.
Nein, wir wollen nicht rückwärts schauen, auch nicht mit dieser
Bengel-Gedenkveranstaltung. Vielmehr wollen wir uns unseren Weg nach vorne
weisen lassen durch die biblischen Bojen, die Bengel neu zum Leuchten gebracht
hat. Gerade an ihnen wird deutlich werden, wie wenig zeitgebunden Bengels
biblische Grunderkenntnisse sind.
Bengel war
"stock-nüchtern" - als Schwabe und erst recht als Christ. Er nahm die
Bibel gerade darin ernst, dass sie eine große Bewährungsstunde ankündigt. Diese
Versuchungsstunde werde über den ganzen Erdkreis gehen. Also auch über alle
Kirchentümer und über alle Gemeinden. Nicht einmal die Herrnhuter seien davon
ausgenommen. Gleich gar nicht die kirchenkritischen Separatisten, die sich
geistlich so hoch erhaben über alle anderen Christen vorkamen. Bengel konnte
sagen: "Gott kann oft die sehr auspompen (schwäbisch:
"ausbomba"), die meinen, sie hätten die Gnade Gottes gepachtet".
Verantwortliche Theologen warnen gerade Christen davor, in fromm sich gebende
Verführung hinein zu taumeln. Denn die eigentliche Gefährdung der Christenheit
besteht im Abfallen von Christus hin zum vermeintlich "Christlichen".
Bengel rechnete ziemlich fest damit, dass eine widerchristliche Versuchung sich
bis 1836 immer mehr verfestigen, dann aber aufhören werde. Denn dann würde die
"herrliche Kirche der tausend Jahre" anbrechen. (Das, und nicht die
sichtbare Wiederkunft von Jesus, hat Bengel für 1836 erwartet.) Bengel war
jedoch so nüchtern, dass er davon ausging: Sogar in jener "herrlichen
Kirche der tausend Jahre" wird "die Gemeinde Gottes nicht ganz
vollendet" sein: "Auch wenn der große Versucher eingesperrt sein
wird, werden die Heiligen auf Erden nicht ohne Versuchung sein"! Um so
mehr jedoch werde die Zeit davor voll von Gefahren für die Christenheit sein!
Konkret rechnete Bengel damit:
"Die Spötterei nimmt überhand. Gräuel und Laster werden ohne Scheu
getrieben. Bald wird man abkommen von der Unterscheidung, was ehrlich und was
schändlich ist. In klägliche Verachtung kommt die heilige Schrift. Die
evangelische Kirche ist nicht so geraten, wie Luther es gewünscht hat. Jeder
tut, was er will. Wir leben insgeheim so sicher hin. Wir rühmen uns, wir seien
evangelische Kirche. Wir benehmen uns so, als ob Gott an eine Kirche voll
eigenwilliger Leute gebunden wäre - und als ob es bei all unserem Undank immer
so fortwähren müsste. ...Die ganze Religion wird darauf gesetzt, dass man nur
noch einen Schöpfer anerkennt. Dabei kann man rasch eins werden mit Türken,
Juden und Heiden. Es fehlt nicht viel, dass der gleichgültige Christ und der
Türke eine Glaubensbrüderschaft machen! ... Es ist eine sehr böse Zeit. Noch
schlimmer jedoch ist es, dass es niemand erkennen will."
Was waren das für Einsichten! Die eigentliche Gefährdung der Christenheit
besteht im Abfallen von Christus und in gleichgültiger Vermischung von
Religionen! So wollte Bengel eine sich in Sicherheit wiegende Christenheit
wecken. Er wollte nicht "spalten" zwischen Verführern und Glaubenden.
Vielmehr wollte er Harmlose warnen. Darin bewährte sich seine gesamtkirchliche
Verantwortung.
Bengel hielt einer Welt, die zunehmend vom Fortschrittsglauben betört war, die
biblische Wahrheit vor: "Die Welt liegt im Argen"! Der
"Arge" bleibe der ständige Feind des Christen. Es heißt bei Bengel:
"Seine Waffen sind scharf, fein, durchdringend, geistig. Besser als wir
selbst kennt er unsere verborgene Neigung. In tausendjähriger Erfahrung ist er
geübt, auch mit unseren scheinbar starken Seiten fertig zu werden. Unablässig
wacht, beobachtet, lauert er. Ständig streut er ein, was das Gebet und was die
Liebe verhindert: Zweifel, Vorurteil, Irrtum, Sicherheit, Verzagen!"
Wie nüchtern hört sich Bengels Gebet an: "Herr Jesus, zwar ist bei uns das
grobe Heidentum längst ausgerottet. Aber der Satan hat unter denen, die sich
nach deinem Namen nennen, manche Stätte, ja manches Nest. Lass uns an dir
festhalten. Lass uns nicht der Menge folgen, die sich nach dir nennt und doch
keine Treue zu dir hat. Gib uns eine rechte Buße auch darüber, dass wir so oft
mitschuldig sind am Übel der anderen!"
Auf Grund seiner biblischen Einsichten erkannte Bengel dies als Hauptnot der
Christenheit: Auch wenn sie sich nach Christus nennt, kann sie eine
"Freistatt", also ein Schutzgebiet des Satans sein. Sie kann sich
ohne jede Selbstkritik so sicher geben, als habe sie die Gnade Gottes auf ewig
gepachtet.
Das war Bengels eigentliche
Erkenntnis: Gottes Handeln ist immer zielgerichtet. Es strebt immer einem
krönenden Ziel entgegen! Bengel konnte schreiben: "Immer gehen Gottes
Führungen auf das baldige Warten des Zukünftigen!" Davon ließ sich Bengel
prägen. An der Bibel ausgerichtetes Denken ist nun einmal vorwärts weisend, praxisbezogen,
lösungsorientiert, zielgerichtet, voll gespannter Erwartung auf das Kommende.
Bengel hat in die schwäbische Christenheit diesen auf Zukunft ausgerichteten
Zug hineingebracht. Das ist das Eigentliche am württembergischen Pietismus!
Noch im größten Durcheinander der nach-napoleonischen Jahre gab es in
Württemberg eine unerklärliche Hoffnung darauf, dass bessere Zeiten anbrechen
werden; denn so hieß es: "Gott lässt sich nicht lumpen!". Bengel
schreibt: "Das Ziel sollen wir immer vor Augen haben. Wir sollen eine neue
Munterkeit fassen. Dazu sollen wir einander ermahnen, stärken und reizen!"
Als "Ziel" stand Bengel das vor Augen, was die Offenbarung, das
letzte Buch der Bibel, andeutet. Die "herrliche Kirche der tausend
Jahre"! Sie würde noch weit makelloser sein als alles, was die
kirchenkritischen Separatisten anstrebten. Sie würde auch nicht einfach das
"kleine Häuflein" sein. Vielmehr würde diese erst noch kommende
Kirche noch weit umfassender sein als die Landeskirchen und als die anderen
großen Kirchentümer; denn sie würde die aus Juden, Heiden, sowie aus allen
Nationen von Gott bereitete große Gemeinde des Christus Jesus sein.
Diese kommende Kirche wollte Bengel vorbereiten helfen. Alles andere in den
mancherlei Reformvorschlägen kam ihm als Flickwerk vor, "dürftig, gering
und abgeschmackt". Reine Schadensbegrenzung war ihm zu wenig. Er rechnete
mit Größerem, mit total Neuem.
Bis Gott diese neue Kirche anbrechen lassen würde, seien kleine Schritte des
Gehorsams angemessen. "Treue im Kleinen!", das war Bengels biblische
Parole. Auch kleine Schritte sollten jedoch auf das große kommende Ziel hin
ausgerichtet sein.
Einer kranken Kirche kann nur
die Bibel helfen. "Die Schrift allein hilft der Kirche auf!" Das war
Bengels Überzeugung.
Allerdings ist die Bibel kein Wunderelixier, kein Zaubermittel. Das hatte
Bengel erschüttert vor Augen. Denn die bis auf die Knochen orthodoxe, aber
leblose Kirche seiner Zeit benützte die Bibel rege. Aber darüber lag
abstoßender Moderduft. Darauf wies Bengel hin mit dem meist falsch übersetzten
Wort (aus der Einleitung zu seinem "Gnomon"): "Quando ecclesia
aegrotat, Scriptura situm contrahit" (wenn die Kirche kränkelt, dann setzt
die Schrift Moder an).
Dies Wort Bengels ist im Sitzungssaal des württembergischen Oberkirchenrates zu
lesen. Eine dahinsiechende Kirche kann gar nicht anders, als dass sie den
kristallklaren Quell biblischer Wahrheit verdirbt. Welch eine
erschreckend-kühne Sicht Bengels!
"Mehr Bibel" bedeutet nicht automatisch "mehr Leben aus
Gott"! Was hilft alle noch so intensive Beschäftigung, wenn dies Buch
nicht mehr Leben schafft, wenn es nicht mehr erquickt, wenn durch dies Buch
mehr Fragen und Zweifel aufgeworfen werden als dass Gewissheiten geschaffen
werden? Welcher Christ kennt denn das nicht, dass er leer aus Gottesdiensten,
aus Hausbibelkreisen und Gemeinschaftsstunden geht, - ja dass er nach der
privaten Bibellesung leer geblieben enttäuscht das Bibelbuch wieder zuklappt?
Was helfen all die vielen Andachten, Besinnungen und Ansprachen über biblische
Texte, wenn sie nur gewohnheitsmäßig als Pflichtübungen absolviert werden?
Gerade eine bewusst "evangelische" Kirche braucht mehr als nur
"mehr Bibel"! Darum ging es Bengel. Sie bedarf vor allem demütiger
Ausleger, die biblisches Verstehen und glaubendes Erkennen wecken! So wie es
ansteckenden Glauben gibt, so gibt es eben auch ansteckendes Hören auf die
Bibel. Was es braucht, machte Bengel deutlich am Vergleich mit einem
"Brunnenmacher". Der habe das Brunnenrohr zu reinigen von allem
Moder, der sich angesetzt habe. Ähnlich hätten biblische
"Brunnenmacher" dafür zu sorgen, dass eine dahinsiechende
Christenheit und Kirche wieder Zugang bekomme zu den heilenden Kräften
biblischen Wortes.
Das sehe ich als die Besonderheit gerade des "württembergischen
Biblizismus" an. Die Heilige Schrift wird nicht einfach so als unbedingte
Autorität angesehen, dass man ihr in einer Art von Kadavergehorsam verpflichtet
ist. Vielmehr wird damit gerechnet, dass sich die Bibel in glaubensweckender
Auslegung als lebendig-weckende Gottesstimme erweist. Die verlässliche Stimme
der Bibel wird gehört durch den Mund vollmächtiger Auslegerinnen und Ausleger.
Biblische "Auslegung" meint also weit mehr als eben nur zum Verstehen
eines alten Textes helfende Interpretation mit dem theologischen Anspruch
exegetischer Richtigkeit. Vielmehr soll sie gewissensweckender, göttlich
bevollmächtigter Ruf sein. Sie soll sich als "dem Glauben gemäß"
erweisen. Sie soll den Beweis des Geistes und der Kraft mit sich führen und so
erweisen, dass sie den Geist der Bibel getroffen hat.
Bengel wusste sich zur "Brunnenmacher-Aufgabe" "unter dem
Beistand des Herrn" berufen. Damit wollte er vor allem anderen der erst
noch kommenden Kirche dienen.
Durch Gott selbst wusste er sich an die Arbeit gesetzt, die Wahrheit der Bibel
neu, verlässlich, hilfreich und als zusammenhängend herauszustellen. Darum
arbeitete er exakt wissenschaftlich an allen ihm zugänglichen
Bibel-Handschriften. Er wollte es schwarz auf weiß haben und weitergeben, dass
der Wortlaut der Bibel verlässlich ist. Noch nuancenreicher als Luther wollte
er das Neue Testament übersetzen. Im gewaltigen Werk des "Gnomon"
wollte er den Theologen helfen, die Konturen des einzelnen Textabschnittes
wahrzunehmen und die Bezüge zwischen Altem und Neuem Testament zu erkennen.
Gott kann auch heute "Brunnenmacher" berufen, die wie Bengel wieder
Geschmack machen auf biblisches Lebenswasser. Nur so kann offenkundig werden,
wie schaal und abgestanden alles andere ist, auch wenn es als biblisches
Quellwasser ausgegeben wird. Wie dankbar können wir in Württemberg sein, dass
Gott immer wieder solche biblischen Brunnenmacher berufen hat: Männer und
Frauen, Theologen wie Adolf Schlatter, Karl Gutbrod und Walter Tlach und Laien
wie Johanna Stöffler, Christa von Viebahn und Hans Schlipphack.
Die "Brunnenmacher" machen selbst Entdeckungen im Wort der Bibel. Sie
stecken andere dazu an, in den Bahnen der Bibel zu denken und sich von den
großen Gedanken Gottes prägen zu lassen. Bei dem allem bleiben sie so demütig,
wie das Bengel in seinem "dunklen Denkendorf" war.
Denn Bengel ist einfach zu einem "Vorbild und Leitbild" (Adolf
Köberle) geworden, auch wenn er selbst das nicht wollte. Er wollte sich selbst
niemand "zu einem Muster aufdrängen". Aber bis heute stellt man sich
in Württemberg etwa unter einem "rechten Bischof" ebenso wie unter
einem "rechten Christenmenschen" so etwas wie Johann Albrecht Bengel
vor: Kein Strahlemann, aber doch die Ewigkeit auf der Stirn! Lieber spröde, als
affektiert. Lieber etwas steif, als so arg quirlig. Im Glauben gegründet, aber
nicht dauernd Salbungsvolles auf den Lippen. Gepflegte Haare, aber nichts
Dandyhaftes. Fähig zum Denken, aber nicht mit Wissen protzend. Die Zeit ausnützend,
aber nie Sklave der Arbeit. Sparsam und anspruchslos für sich selbst, aber in
aller Stille freigebig. Nüchtern die Not von Kirche und Welt erkennend und
gerade darum die entscheidende Hilfe nur von Gott erwartend. Und eben - durch
und durch ein Mensch der Bibel!
In Denkendorf
hätte Bengel an Gott irre werden können. Er, der zu den fähigsten Theologen
Europas gehörte, wurde bei jeder Professorenberufung übergangen. Statt dessen
musste er sich drei Jahrzehnte lang mit kleinen Buben herumschlagen. Gott gab
ihm jedoch auch dafür eine neue Schau - er gab sie ihm aus der Bibel. Sogar auf
dem unfruchtbaren Ackerfeld, das Jesus im Gleichnis schildert - voll von
Steinigem sowie von Dornen und Disteln - trägt "etliches Frucht".
Bengel erkannte: "Ganz gewiss ist es in den Augen Gottes etwas Großes um
auch nur eine Handvoll guter Leute. Sie können das Salz und das Gewürz eines
ganzen Herzogtums ausmachen. Ja, sie können der Same des Reiches Gottes
werden!" Deshalb sah Bengel es als Lebensaufgabe an, an ein paar künftige
Pfarrer Glaubensimpulse weiterzugeben. Denn gerade in einer Volkskirche ist es
so überaus wichtig, dass Pfarrer bei der Glaubensförderung vorangehen.
Wie hat sich diese Schau bewahrheitet! Philipp Friedrich Hiller übersetzte
Bengels Theologie in eingängige Lieder. Friedrich Christoph Oetinger, auch ein
Schüler von Bengel, hat als Pfarrer von Walddorf Väter gelehrt, Hausandachten
zu halten. Damit hat er Bengels Anweisung konkretisiert: "Auch der Umgang
mit Gott ist eine Sache der Übung. ... Durch Beten, Bibellesen und Singen
erwehren wir uns der finsteren Geschäftigkeit und auch der Trägheit der Natur,
bis wir unser Leid vergessen, und merken, dass Gottes Herz weit und unseres eng
ist! ... Unglaube wird nur durch Glauben überwunden. Ein Kind lernt reden,
indem es redet. Es lernt gehen, indem es geht. Auch der Glaube wird gefördert,
wenn wir glauben. Innige Ehrerbietung und Aufmerksamkeit sollen das Lesen des
biblischen Wortes prägen."
Es waren Schüler von Bengel, welche pietistische Erbauungsstunden eingerichtet
und gefördert haben. Philipp Matthäus Hahn, ein anderer Bengel-Schüler, berief
in den Echterdinger Stunden Laien zur Wortauslegung . Bengel hatte die
"Stunden" als eine "besondere Gabe Gottes" gewertet. Man
solle sie ja "nicht dämpfen"! Denn das gemeinsame Hören auf Gottes
Wort habe einen "überschwenglichen Nutzen". Denn zuhause hätten doch
die wenigsten Zeit, Gelegenheit und Geschick, die Heilige Schrift für sich deutlich
zu lesen und anderen verständlich zu machen.
Es gehörte aber dann doch zu dem von Bengel vorausgesagten
"überschwenglichen Nutzen", dass die Stunden zu einem Ferment für die
ganze Gesellschaft Württembergs wurden. "Einiges trug Frucht!" Meine
Vor-Vorgänger unter den Dekanen im Remstal haben um 1850 in ihre Berichte an
das Konsistorium geschrieben: "Mit den Stunden ist eine neue Hoffnung in
unser armes Tal gekommen!" Württemberg verdankt in seinem ganzen
Volkscharakter dem Pietismus mehr, als es zynische Kritiker wahr haben wollen.
Das Gesundmachende gehört bewusst gefördert, nicht gedämpft! Denn
Gesundmachendes kommt nicht von selbst; vielmehr muss man es wollen!
Das hat Bengel nicht gefordert. Er hat es auch nicht der "Kirche ins
Stammbuch geschrieben". Vielmehr hat Bengel das als Klosterpraezeptor und
erst recht als Prälat in aller Stille praktiziert. Damit hat er eine ganz
wesentliche Weiche für die württembergische Kirche gestellt. Das
Pietistenreskript von 1743 mit seiner Tolerierung der "Privaterbauungsstunden"
wurde doch nur deshalb kein Schlag ins Wasser, weil ehemalige Schüler Bengels
die damit gegebenen Chancen erkannten und wahr nahmen. Damit wurden
wesentliche, weil erneuernde Kräfte in die Kirche eingebunden.
Wer in der Folge klug war unter denen, die "ein Kirchenruder zu führen
hatten", der hat es Bengel einfach nachgemacht; denn es gibt nichts
Törichteres für Kirchenleute, als dass sie geistliche Impulse "auf
Sparflamme" halten wollen. Wahre Kirchenleitung bewährt sich darin, dass sie
Glaubensimpulse geradezu begünstigt, vorzieht, fördert.
Vor 50 Jahren hat Landesbischof D. Dr. Martin Haug seinen Bengel-Festvortrag
abgeschlossen mit den Worten: "Lasst uns Gott dankbar preisen für den
Brunnenmacher, den er uns in Bengel geschenkt hat - und vor allem für den
Brunnen selbst, für unsere Bibel. Dieser Quell hat immer noch Wassers die
Fülle. Lasst uns aus seiner Fülle noch viel treuer und noch viel froher
schöpfen!"
Ich möchte ergänzen: Lasst uns Gott bitten um Brunnenmacher, um Menschen, die
Entdeckungen in der Bibel machen. Wir brauchen Frauen und Männer, die Freude
wecken an der Bibel. Sie sollen Entdeckerlust entbinden, damit wir selber zu
Aha-Erlebnissen in der Bibel kommen, zu faszinierenden Durchblicken auf das,
was Gott getan hat, worauf er aus ist, und was er erst noch recht tun wird.
Gottes Wort soll wieder zu reden beginnen, damit die Christenheit unserer Tage
wieder Entscheidendes zu sagen hat, gerade "in der Stunde seines
Gerichtes". Nämlich "für alle, die auf Erden wohnen, für alle
Nationen, Stämme, Sprachen und Völker" dies "ewige Evangelium":
"Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre" (vgl. Offenbarung 14, 6f)!