18. Juni 1987
31. Ludwig-Hofacker-Konferenz
Johann
Albrecht Bengels Ringen um die kranke Kirche
Der Kirche ist nicht zu helfen
Johann Albrecht Bengel
sagt gegen Ende seines Lebens den harten Satz: „Die Kirche ist eben ein konfus,
verwirrt, unordentliches Ding, dem nicht zu helfen ist.“
Damit hat Bengel das
Urteil von Philipp Jacob Spener überboten, der in der
Einleitung seiner „Pia desideria“ (1675) gesagt
hatte, dass „das geistliche Elend unserer armen Kirche“ unvergleichlich
schwerer und gefährlicher ist „als Pest, Hunger und Kriege“.
Bengel kritisiert an der
Kirche seiner Tage, dass die Studenten der Theologie „sich mit menschlichen terminis“ verderben und „von den ideis
Scripturae verirren“, dass „die Predigten nicht sind,
wie sie sein sollen“, dass kirchliche Verkündigung und Seelsorge weithin vollmachtslos sind, dass das Abendmahl missbraucht wird, dass
der Gebrauch der Schrift in der Kirche „am Boden liegt“ und „dass keine
Aussicht besteht, den „ganzen rohen Haufen“ zu „bessern“.
Im Unterschied zu Spener verspricht sich Bengel nicht automatisch eine
Heilung der Kirche davon, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen“. Denn
„wann die Kirche kränkelt, so bleibt die Schrift verliegen
… Nach der Beschaffenheit der Kirche richtet sich je und je die Behandlung der
Schrift“. Die Kirche kann den „fons lipidissimus“, den kristallklaren Quell der Wahrheit
verderben.
Es mag harmlos klingen,
wenn Bengel die Diagnose stellt, dass die Kirche „kränkelt“. Bei genauem
Hinsehen entdecken wir jedoch bei Bengel: In seinen Augen ist die Kirche schwer
krank, auch wenn sie nach außen hin nur einen „kränkelnden“ Eindruck machen
sollte. Nach Bengels Überzeugung ist die Kirche als Gesamtes so krank, dass es
keine probaten Mittel zur völligen Heilung gibt. Ein Beispiel dafür:
Bengel erwägt gegen Ende
seines Lebens gewisse strukturelle kirchliche Notmaßnahmen. Etwa in Bezirken
mit „eifrigen Pfarrern“ die Erlaubnis zu geben, dass sie gleichgesinnte
Pfarrer, „so viel sie deren wüssten, in ihren Bezirk ziehen“ dürfen und „ihnen
zum Dekan denjenigen lassen, den sie selbst für den tüchtigsten unter ihnen
hielten“ und dass sie dann gemeinsam „den Vortrag der Evangelischen Lehre, die
Kirchenzucht und anderes nach einhelligem Gutbefinden“ einrichten können.
Aber selbst diese Überlegung
schließt Bengel mit dem pessimistischen Urteil ab: „Das Beschwerlichste wäre hierbei,
dass man doch nicht den ganzen rohen Haufen bessern würde.“
Wenn es aber so um die
Kirche steht, muss man dann nicht einfach die konfuse Kirche verlassen? Durch
die ganze Geschichte der christlichen Kirche bis zum heutigen Tage begleitet
gerade die kranke Kirche der Aufruf: „Geht hinaus aus Babel, mein Volk, dass
ihr nicht teilhabt an ihren Sünden und nichts empfangt von ihren Plagen“
(Offenbarung 18, 4). Oft wurde und wird damit die Anweisung verbunden: „So lasst
uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen“ (Hebräer 13,
13).
Ist der Separatismus wirklich „notwendig“?
„Separatisten“ nennen wir
solche Christen, die in der kranken Kirche nur noch ein „Babel“ sehen und die
darum in der Trennung von der Kirche den einzigen Ausweg sehen.
So heißt es in der BerIeburger „Geistlichen Fama“ von 1723 (verfasst von dem
aus Öhringen stammenden Dr. Johann Carl):
„Der Separatismus ist
unumgänglich notwendig, um den zerfallenen und zertrennten Zustand der
Christlichen Kirche wiederum aufzurichten, die evangelische Freiheit wider
allen Gewissenszwang der Feinde Christi zu manutenieren
(fördern) und aller Trennung wiederum abzuhelfen.“
Der Separatismus versteht
sich also als eine Bewegung, die zur Reform der Kirche an Haupt und Gliedern
führt. Der Separatismus hat ein reformatorisches Pathos; letztlich will er die
alte und wahre Kirche wiederherstellen. Der Separatismus hat ein ökumenisches
Pathos; er will die in viele Denominationen zerfallene Kirche Jesu Christi
wieder zur ursprünglichen Einheit führen. Angesichts der Trennung der Kirche
durch die Reformation wiegt die Abscheidung von der kranken Kirche nicht schwer.
Die Separatisten fühlen sich als die Testamentsvollstrecker der Reformation.
Bengel waren die
separatistischen Aufrufe zur Trennung von der Kirche von seinen Jugendtagen an
vertraut. In seinem Werdegang verdankte Bengel Entscheidendes seinem Lehrer und
Vize-Vater David Wendelin Spindler, der schließlich
1710 in die Separation gezwungen worden war.
Auf seiner Studienreise
dann war Bengel in Leipzig (1713) dem ehemaligen Nürnberger Perückenmacher
Johann Tennhardt begegnet, der ein weitbekannter Separatist war. In Denkendorf war Bengel im
September 1735 von dem Separatisten Sattler Johann Friedrich Rock, einem
schwäbischen Pfarrerssohn aus Oberwälden, und von
dessen Gesinnungsgenossen Wikmark, Metz und Karr
besucht worden.
Aber Bengel kann diesen
Weg der Separation nicht mitgehen. Dafür gibt es einige ganz klare Gründe. Bis
heute können wir auch in dieser Sache Grundlegendes von Bengel lernen.
Die rechte Separation wird der Herr machen
Die Schrift ist es, die
Bengel lehrte, in heilsgeschichtlicher Nüchternheit
den Versuchungen der Separation zu widerstehen. Im Zusammenhang mit der für
Bengel zentralen Aussage Jesu in der Ankündigung des Weltgerichtes finden wir
jene prägnanten Aussagen, die für Bengel bezeichnend sind: Erst dann werden
Schafe und Böcke geschieden; „bis dahin laufen sie durcheinander“. „Ante non erat plena separatio“
(zuvor gab es keine völlige Scheidung). „Zwar laufen in diesem Leben die
Wahrheit und die Lüge eigenartig durcheinander. Der langmütige Gott erträgt in
dieser Hinsicht unaussprechlich viel von den Menschenkindern.“
Und zum Gleichnis Jesu vom
Unkraut unter dem Weizen merkt Bengel in seinem Anmerkungs-Testament an: ,,O
wie mächtig geschieht das in unserer Zeit, dass Unkraut und Weizen miteinander
wachsen! O Gott, du bist langmütig; aber das Unkraut wird darum dem Feuer nicht
entgehen. Lehre mich und alle deine Knechte, mit dem Unkraut und mit dem Weizen
recht umzugehen!“
Das Ernstnehmen der „Langmut
Gottes“, der erst am Tag des letzten Gerichtes die wahre „Separation“, die
Scheidung der Guten von den Bösen schafft, vermisst Bengel bei den
Separatisten; das Ernstnehmen der Langmut Gottes gestattet es Bengel nicht,
ihren ungestümen Weg mitzugehen.
In seinem aus der Bibel
gewonnenen Denken sieht Bengel die kirchengeschichtliche Stunde seiner Zeit
bestimmt vom Kampf um die Kirche und nicht vom Weggehen von der Kirche. „Vere fidelis non facile deficit“ (der wirklich
Glaubende gibt nicht so rasch auf).
Im Blick auf die
Separatisten kann darum Bengel sagen:
„Ich möchte das Wort
Ciceros auf sie anwenden: ,Nichts ist mir widerlicher
als die scharfen Urteile müßiger Zuschauer; achtungswerter sind mir die im
Kampfe Umgekommenen!'“
Sogar in der
Auseinandersetzung mit dem edlen Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und
seiner Idee der „philadelphischen Gemeinde“, einer „reinen
Gemeinde“, setzt Bengel den Gedanken entgegen, der aus seiner biblisch-heilsgeschichtlichen
Schau kommt: Hätte die Brüdergemeinde eine angemessene Vorstellung von der
göttlichen Ökonomie (vom göttlichen Heilsplan) und von deren Zeitplan, so wüsste
sie, dass die Zeit für solch eine Gemeinde noch nicht reif ist, dass jede
Bemühung darum voreilig ist und gegen Gottes Willen geschieht. Bengel wirft der
Brüdergemeinde vor:
„Sie wollen das
Panier tragen, zu welchem sich alles, was recht ist, finden und halten solle.“
Aber: „Die rechte
Separation wird der Herr machen!“
Es geht nicht um die „heile Kirche“
Man kann Bengels Ringen um
die Kirche nur dann recht verstehen, wenn man ein Doppeltes ernst nimmt: Auf
Grund seiner heilsgeschichtlichen biblischen Schau bewertet Bengel die Lage der
Christen und der Kirchen weit gefährdeter als Spener,
der all seine Reformvorschläge abgestellt hat auf die „Besserung“ der
kirchlichen Zustände. Bengel sieht die geistliche Lage sogar noch ernster als
die Separatisten, die meinen, man könne mit der Gründung von reinen Gemeinden
so etwas wie Inseln der Seligen schaffen. Bengel rechnet auf Grund der
Warnungen Jesu mit einer allgemeinen Verführung, die mit wucht über alles, was
sich Christ nennt, hereinbrechen wird.
„Es steht eine geistliche
… um sich greifende Verführung bevor, welche mit ungemeiner Gewalt wird
behauptet werden. Wider die Verführung wird die Weisheit, und wider die Gewalt
wird die Geduld und die Treue bis in den Tod die bewährte Rüstung sein.“
In Bengels Auslegung der
Sendschreiben der Offenbarung wird deutlich, dass Bengel mit der Bibel um die „besondere
Versuchung“ weiß, die über den „ganzen Erdkreis“ kommen wird: „Es geht zu einer
Zeit und Stunde schärfer her als zur anderen.“ Für diese besondere Versuchung
ist es wichtig, das“ Wort von der Geduld“ zu bewahren. Wie wir es – so sagt
Bengel – mit diesem Wort Jesu von der Geduld „machen, so nimmt er es auf, als
ob wir es ihm selbst machten, und danach geschieht dann die Vergeltung. Wer
sein Wort verschmäht, der wird verschmäht werden; wer es bewahrt, der wird
bewahrt werden. So ist es wettgemacht“.
So zielt Bengels ganzes
Wirken für die Kirche und in der Kirche darauf, dies Wort von der „Geduld“ Jesu
einzuschärfen, geistliche Weisheit als Heilmittel gegen alle Verführung zu
lehren und Christenmenschen zur Treue bis in den Tod aufzurufen.
Gegen alle kirchliche
Krankheit setzt Bengel also nicht optimistisch und unnüchtern die Idee einer „heilen
Kirche“. Wenn Bengel von der „Reform des (kirchlichen) Lebens“ spricht, dann
denkt er an kleine Schritte.
„Wie gering, dürftig
und abgeschmackt kommt mir alles Tun der Menschen vor, wie klein auch das Tun
der Auserwählten in diesem Leben! Ein wenig Gehorsam, ein williges Annehmen
dessen, was Gott uns geben will, ist alles und alles. Und doch achtet es Gott.“
Und in Bengels Auslegung
der Sendschreiben der Offenbarung heißt es:
„In dieser elenden
Zeit machen gewiss die meisten so genannten Christen auch in der evangelischen
Kirche einen falschen Haufen aus; doch soll dies die, die dem Herrn Jesus in
der Wahrheit angehören, nicht kleinmütig machen. Wenn sich nur einer solcher Gräuel nicht annimmt, dann ist solches Leiden
ebensoviel wert wie ein Haufen guter Werke. Man kann sich sowohl im Leiden als
im Tun bewährt finden lassen.“
Zur „Treue im Kleinen“,
auch inmitten der Gräuel einer verderbten Kirche, will Bengel aufrufen. Alle
anderen Träume von einer durchgreifenden Umgestaltung der Kirche oder von der
Sammlung der wahren Gemeinde sind Bengel viel zu unnüchtern; denn sie rechnen
nicht mit der „ungemeinen Gewalt“ der kommenden Verführung, die Jesus seiner
Gemeinde angesagt hat.
„Der Verfahrensweise Gottes gemäß“
Der „Karren der Kirche ist
verfahren“. Das ist Bengels Sicht der Dinge. Aber Bengel hofft auf eine „Reform
des Lebens“, nämlich auf eine gewisse Reform des „kirchlichen Lebens“. „Es wird
ein kleiner Same übrig bleiben und den Ansatz für ein Volk bieten, das dem
Herrn dient“.
Diesen „kleinen Samen“
sieht Bengel etwa in den Privaterbauungsstunden von Herbrechtingen und
Stuttgart, in denen er selbst die Schrift auslegt. Solchen „kleinen Samen“
sieht Bengel in einigen seiner Denkendorfer Schüler, die später zu Wegbereitern
der Privaterbauungsstunden in württembergischen Kirchengemeinden werden. Den
Wert der Erbauungsstunden sieht Bengel in dem geistlichen Wachstum vom Kleinen
zum Größeren:
„Seit Arnds Zeiten
hat eine wichtige Epoche angefangen. Arnd bereitet Spener
die Bahn, der es dahin brachte, dass man durch Privaterbauung die Wahrheit an
die Herzen heranzubringen suchte. Das ist eine besondere Gabe unserer Zeit, die
man nicht dämpfen sollte. Sie ist ganz der Verfahrensweise Gottes gemäß. Als
Gott alle Menschen zu sich ziehen wollte, nahm er zuerst nur ein Volk, die
Juden. Er gab ihnen Gesetze und mancherlei Wohltaten vor anderen Völkern, um
die andern zum Aufmerken zu bringen und an sich zu locken. Wer nun ein Dorf
bekehren will, der macht es Gott nach und sucht anfangs nur etliche auf und
schließt sie zu einer Gemeinschaft zusammen. Damit werden die andern nicht
ausgeschlossen, sondern zum Aufmerken und Forschen gebracht, was das sei, und
auch eingeladen“.
Zwar hat man schon in
Bengels Tagen den frühen Pietismus der Separation verdächtigt. Doch Bengel hat
die Privaterbauungsstunden in Schutz genommen:
„Ich begreife nicht,
was man gegen den Besuch der Privat-Versammlungen hat. Warum soll denn Jeder
für sich bleiben und fromm sein? Es ist eben, wie wenn Leute über Feld gehen,
und ich wollte ihnen befehlen: Gehet ja nicht miteinander, sondern je einer
einen Büchsenschuss hinter dem Andern“.
Aber „der Verfahrensweise
Gottes gemäß“ ist noch etwas Geheimnisvolleres: Damit selbst in diesen kleinen
Privaterbauungskreisen das Wasser aus dem kristallklaren Quell der Heiligen
Schrift ungehindert und ohne Verunreinigung aus den Brunnenrohren, aus den „ Teicheln“ fließen kann, braucht es einen „Brunnenmacher“.
Ein Ausleger der
Schrift ist einem Brunnenmacher gleich. Dieser darf selbst kein Wasser in die
Quelle gießen, sondern nur machen, dass es ohne Abgang, Verstopfung und
Unlauterkeit durch die Teichel und Röhren in die Gefäße läuft; so bekommen
andere, wie er selbst, Wassers genug.“
Es ist unübersehbar, dass
Bengel immer wieder verhalten davon spricht, dass er selbst sich an eine
Zentralstelle göttlichen Heilswirkens gestellt weiß. „Unter dem Beistand des
Herrn“ hatte er, berufen wie ein alttestamentlicher Prophet, 1724 „die teure
Gnade“ vertiefter Schrifterkenntnis, nämlich die Erkenntnis großer biblischer
heilsgeschichtlicher Zusammenhänge erschlossen bekommen.
Auf der einen Seite
versteht sich Bengel demütig als ein „Handlanger, der das Wort Gottes zieren
hilft“, – nichts mehr! Auf der anderen Seite fühlt sich Bengel an seinem „dunklen
Ort“ Denkendorf durch Gott höher herausgestellt als auf irgendeinem
akademischen Lehrstuhl, von dem man ihn geradezu systematisch fernhielt.
„Ideen aus der
Schrift“, so kann Bengel sagen, „sind etwas ganz anderes als Akademische Ideen.
Es ist schrecklich, wie man sich mit menschlichen terminis
auf Akademien verderbt und von den ideis Scripturae verirret; Übung im Worte Gottes bewahrt einen
davor. Deswegen bin ich gerne in loco meo obscuro, non in Cathedra academica“ (an meinem dunklen Ort,
nicht auf dem akademischen Lehrstuhl).
Solche und andere ähnliche
Aussagen Bengels ergeben nur dann einen Sinn, wenn man davon ausgeht: In der
Not der Kirche braucht es einen „Brunnenmacher“ (an anderen Stellen kann Bengel
davon sprechen, dass es einen „Wecker“ braucht), der die Schrift neu, verlässlich,
hilfreich, zusammenhängend als Wahrheit herausstellt. Von diesem einen „Brunnenmacher“
aus sollen dann Gesundheits- und Heilungskräfte ausgehen hin zu den
Privaterbauungszirkeln, die sich neu um die so erschlossene Schrift sammeln und
von dort aus erneuernd auf die Kirche einwirken. Ein solches Wachstum vom
Kleineren zum Größeren ist nach Bengel „ganz der Verfahrensweise Gottes gemäß“.
Zu diesem „Brunnenmacher“ weiß sich Bengel in seinem entlegenen Denkendorf und
in seinem Beruf an den kommenden Pfarrern der Kirche gerufen.
Denn auch Pfarrer haben in
diesem Sauerteigsprogramm eine Funktion. Auch sie dürfen nicht einfach den „verfahrenen
Karren“ der Kirche stehen lassen.
„Rechtschaffene
Seelen, besonders Pfarrer, müssen den Verfall der Kirche und oft auch den Missbrauch
des Abendmahls mit Wehmut ansehen. Sie dürfen darum den Karren nicht stehen
lassen, sondern müssen darunter leiden, aber mit Sehnsucht. Dieses Sehnen und
Seufzen der Gefangenen befördert den Bau Jerusalems. Wenn das geistliche Amt
verschwinden sollte und alle Gläubigen sich der Sache entziehen sollten, ach,
wie würde in der dritten Generation nur noch ein bloßes Heidentum vorhanden
sein! Man muss nicht nur auf die Verderbnis und auf die Schuld von Menschen
sehen, sondern dabei auch auf das Werk Gottes. Es wird nimmer lang währen. Der
Herr wird es ändern. Aber die Menschen können es nicht tun, ehe nicht die Zeit
da ist und ehe nicht das Maß der Sünde so voll ist, dass der Herr darein sehen muss“.
Allein auf diesem
Hintergrund, dass das Seufzen und Sehnen der Gefangenen den Bau Jerusalems
fördert und dass höchstens von kleinen Privatbibelkreisen noch heilende
Wirkungen in die Gesamtkirche mit ihrem „ganzen rohen Haufen“ hinein ergehen
können, ist Bengels Parole zu verstehen: „Die Schrift hilft der Kirche auf!“
Die Schrift hilft der Kirche auf
Wenn man Bengel mit Spener vergleicht, dann fällt auf, wie verhalten Bengel
davon spricht, dass die Schrift die Kirche heilen wird. Auf einen Nenner gebracht
könnte man sagen: Spener verspricht sich von
vermehrtem Gebrauch der Bibel eine Heilung der Kirche; Bengel jedoch verspricht
sich Spuren eines heilenden Wirkens in der Kirche allein vom Umgang mit der
Heiligen Schrift. Auch wenn mitten in der Kirche der Teufel los sein sollte,
dann gibt es ein einziges Mittel, diesem bösen Feind Widerstand zu tun:
Gottes Wort muss
alles heilen. … O wie ist die Einfachheit der Schrift so schön und angenehm!
Selbst Christus, als er und der Teufel gleich großen Kämpfern miteinander
fochten, gebrauchte einfältige Sprüchlein, um diesen so mächtigen Gegner abzuweisen“.
Der immer mehr überhand
nehmende Atheismus, der allerorten nicht nur in einer versteckten Ruchlosigkeit
herrschet, sondern auch in einer Hinwegnahme alles Nachdenkens über den
lebendigen Gott, kann mit nichts Anderem überwältigt werden als mit
unermüdlicher Vorhaltung der göttlichen Wahrheit“.
Es ist nicht die
Frage, ob das Verderben und die Unordnung bereits groß und gräulich geworden sei. Sondern es ist die Frage, wie dem Verderben und der
Unordnung am besten zu begegnen und etwas dagegen auszurichten sei. Das
geschieht nicht dadurch, dass man auf und davongeht, auch nicht durch gesetzliches
Stürmen und Poltern, sondern durch das Evangelium und den Geist der Liebe“.
So ist Bengels
Hauptanliegen, die kranke Kirche „zur Sache“ zu rufen, nämlich zur Sache der
Heiligen Schrift und zur Sache des von der biblischen Botschaft geprägten
Bekenntnisses. Darum muss ihm der Ruf „heraus aus der Kirche“ zutiefst
fremd bleiben.
Bengel als Anwalt des schwäbischen Pietismus
Bengel sieht nüchtern, dass
auch die Besucher der Privat-Versammlungen
nicht ohne Fehler bleiben und dass es auch bei ihnen Rückfällige gibt.
Denn auch für die Pietisten gilt ja die geistliche Erfahrung Bengels:
„Die Gnade Gottes
haben wir nicht gepachtet, sondern sie ist uns zum Gebrauch gegeben.
Diejenigen, welche das erstere meinen, kann Gott sehr oft auspompen
und das tut er nicht zu ihrem Schaden“.
Auf die Frage, ob es denn
einen Unterschied gebe zwischen einem Unwiedergeborenen und einem Rückfälligen,
kann Bengel darum sagen:
„Ein Stück Holz, das
einmal angezündet gewesen ist, ob es schon wieder verlöscht, ist doch anders
als eines, das noch gar nie ins Feuer gekommen ist“.
Und auf die Frage nach dem
Unterschied zwischen den Fehlern der Unbekehrten und den Fehlern der Bekehrten
kann Bengel antworten:
„Jene schießen neben die
Scheibe; diese nur neben das Schwarze.“ Weil es auch bei den Bekehrten das „Ausgepomptwerden“, den Rückfall und das „Erlöschen des
Feuers“ samt nicht wenigen geistlichen Fehlern gibt, weist Bengel dem jungen
schwäbischen Pietismus die Aufgabe der nachgehenden und einfühlsamen Seelsorge
zu. Bengel entnimmt die Seelsorge dem alleinigen Monopol des Pfarrers und teilt
sie dem dazu fähigen und begabten Laien zu:
„Die größten
Handlungen der Gerechtigkeit geschehen nicht durch Juristen, die tapfersten
Taten nicht durch Soldaten, die größten Kuren nicht von Medizinern, so auch die
wichtigsten Seelenkuren nicht von Pfarrern. Ein jeder tue, was er kann.“
Nach Bengels Überzeugung
geht es bei solcher Seelsorge nicht um harte Kirchenzucht, nicht um eine rigide
„Reform des Lebens“ in Form eines gesetzlichen Heiligungsstrebens, sondern um
das Tragen der Rückfälligen und Schwachen:
„Ein Seelsorger muss
wie eine Gluckhenne sein, welche ihre Kücklein unter
ihre Flügel nimmt und es sogar leiden kann, wenn sie ihr auf den Rücken hüpfen“.
Dies alles trug ganz entscheidend
dazu bei, dass in Württemberg die pietistischen Privat-Versammlungen mitten in
der Kirche ein Lebensrecht bekamen, was ja durch das Pietisten-Rescript
von 1743 offiziell garantiert wurde. Zu allen Zeiten war es für den schwäbischen
Pietismus wichtig zu wissen – gerade auch in Zeiten, da er trotz des
wohlwollenden Pietistenrescripts in die Ecke
gedrängt, verkannt, verlacht und geschmäht wurde, dass es einmal den Schrift-Gelehrten
und Prälaten Johann Albrecht Bengel gegeben hat, der den Pietismus verstand,
achtete und förderte. Wenn der schwäbische Pietismus bis heute treu zu seiner
Kirche steht, dann ist das vor anderen dem Kirchenmann Bengel zu danken, der
sich als Anwalt vor den jungen Pietismus gestellt und ihn nach Kräften
gefördert hat.
Bengels Platzanweisung für den württembergischen
Pietismus
Der württembergische
Pietismus ließ sich zu keinen Zeiten aus der Kirche hinausdrängen oder
hinausekeln. Nicht einmal der „Tumult der schlimmen Zeiten“ in der Kirche
konnte das erreichen. Im Gegenteil ließ sich der schwäbische Pietismus gerade
in Zeiten des Tumultes erst recht in die Verantwortung für die Kirche
hineinführen. Dabei hat es der württembergische Pietismus erlebt, was Bengel
einmal so gefasst hat:
„Wer mitten in den
Tumult der schlimmsten Zeiten hineinkommt, hat doch mehr Munterkeit als Leute,
die so für sich in der Stille Christen sind. Deswegen haben die Separatisten
gewöhnlich mehr Licht als Leben“.
Das bleibt bis heute die
Platzanweisung des württembergischen Pietismus: In der Kirche leben und für die
Kirche schriftgemäße Impulse geben zur Glaubensweckung und zur
Glaubensförderung! Das lässt den württembergischen Pietismus gelassen seinen
Weg gehen – mitten hindurch durch die Aufrufe zur Trennung von der Kirche „Geht
aus aus Babel!“ und auch mitten durch die
Beschuldigungen aus anderen Ecken: „Der Pietismus baut insgeheim seine eigene
Kirche auf“.
Dieser geistliche Horizont
des württembergischen Pietismus ist deutlich geprägt durch Johann Albrecht
Bengel. Bengel ist „Handlanger“ Gottes dazu geworden, dass es in Württemberg
bis heute zu einem: „kirchlichen Pietismus“ ganz eigener Art kam. Der
württembergische Pietismus ließ sich von Bengel seinen Platz anweisen im geistlichen
Ringen um eine kranke Kirche.
Der schwäbische Pietismus musste
zu keiner Zeit so tun, als sei mit der
Kirche alles in Ordnung. offen durfte und konnte man jetzt – so wie
Bengel das als leitender Kirchenmann auch getan hatte – davon reden, dass „die
Predigten nicht sind, wie sie sein sollen“, nämlich dass kirchliche
Verkündigung und Seelsorge weithin vollmachtslos
sind, dass die Ausbildung zum Pfarrberuf zu theoretisch ist, dass die Kirche „kränkelt“
und dass der Gebrauch der Schrift am Boden liegt. Aber der schwäbische
Pietismus musste und durfte nicht bei dieser Kritik stehen bleiben, wenn er
Bengel als Lehrmeister ernst nahm.
Bengel hatte dem
württembergischen Pietismus und seinen Privat-Versammlungen die Rolle eines „Samens“
und eines „Ansatzes“ im Blick auf die ersehnte gewisse „Reform des kirchlichen
Lebens“ zugedacht. Die biblisch geprägten Privaterbauungsstunden hatten – über
alle bloße Privaterbauung hinausweisend – eine wichtige Funktion zugeteilt
bekommen für das geistliche Ringen „um den ganzen rohen Haufen“ in der Kirche: „Gottes
Wort muss alles heilen!“
Vor allem zielt Bengels
Platzanweisung für den württembergischen Pietismus bis heute deshalb auf
schriftgegründete geistliche Vertiefung und auf geistliche Zurüstung, um in der
allgemeinen Verführung bestehen zu können. Die heile Welt Gottes kommt, – nach
bestandenem Ringen!
„Nur Gottesbekannte und Schirmesverwandte
sind tüchtig, in allerlei Fällen zu stehen und allem, was feindlich,
entgegenzugehen. Wer glaubet, der flieht nicht.“ „Bis ich nach ausgestandner
Prob in vollem Licht zu Gottes Lob die Gottesschau erlange“.