Es gibt zwei Reiche, aber
nur einer regiert
Ein Kompaß für das Handeln der Christen: das
reformierte Modell
von Rolf Wischnath
Kann man mit der Bergpredigt Politik machen? Wie
sollen Christen überhaupt die Welt gestalten? Dafür ist in den lutherischen Kirchen
das Modell einer Zwei-Reiche-Lehre entwickelt worden. Sie wurde aus Anlass des
Reformationsfestes (31. Oktober) In der letzten Ausgabe (25. Oktober) vom
früheren thüringischen Landesbischof Werner Leich (Eisenach) vorgestellt. Im
folgenden wird das Modell reformierter Kirchen von der „Königsherrschaft
Christi" beschrieben. Autor ist der Lehrbeauftragte für Systematische
Theologie an der Universität Bielefeld, Rolf Wischnath (Gütersloh), bis 2004
Generalsuperintendent in Cottbus (Bundesland Brandenburg).
Die
Lehre von der Königsherrschaft Christi, die in der reformierten Theologie -
schon beim Schweizer Reformator Johannes Calvin (1509-1564) - einen Schwerpunkt
hat, sagt in ihrem Kern etwas Einfaches, dass nämlich die Selbstaussage des
Auferstandenen gilt und glaubwürdig ist - ohne Grenzen: „Mir ist gegeben alle
Macht im Himmel und auf Erden" (Matthäus 28, 18), und dass darum die
Voraussetzung aller politischen Verantwortung des Christen in der Zuversicht
des Glaubens begründet liegt. Schon im Neuen Testament wird die
Königsherrschaft Christi proklamiert, wenn es heißt, Gott habe in der
Auferweckung den Gekreuzigten gesetzt „zu seiner Rechten im Himmel über alle
Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was genannt werden mag,
nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen; und hat alle
Dinge unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt zum Haupt der Gemeinde"
(Epheser 1, 21 f.). Eben weil diese Herrschaft des auferstandenen Christus ohne
Grenzen ist, muss dem Einwand einer Zwei-Reiche-Lehre, wo sie das Reich der
Welt und das Reich Gottes voneinander trennt, entgegnet werden, wie es Karl
Barm 1938 lapidar ausgedrückt hat:
„Nach
reformierter Lehre sind diese zwei Reiche zwar zu unterscheiden, aber insofern
doch eines, als Jesus Christus nicht nur der Herr der Kirche, sondern in jener
ganz anderen Weise, nämlich in Form des Anspruchs auf die politische Ordnung
der Herr auch der Welt ist."
Eine seelsorgerliche
Funktion
Es
sei nachdrücklich darauf verwiesen, dass die Lehre von der Königsherrschaft
Christi am Anfang ihrer reformierten Darlegung bei Calvin vor allem eine
seelsorgerliche Funktion gehabt hat: als ein Stück der Dogmatik, das der
angefochtenen, unter Verfolgung leidenden Gemeinde Zuversicht und Glaubenskraft
in ihren Auseinandersetzungen und Trost in der Gefährdung zu geben vermag. Im
Licht der Königsherrschaft Christi gilt: Auch die Verfolger und Widersacher,
die Feinde und Rachsüchtigen agieren nicht außerhalb der Herrschaft Christi,
sondern werden von ihm in Grenzen gehalten, die sie nicht überschreiten können.
Aber warum lässt Christus es dann zu, dass die Seinen so oft ins Leiden, gar
ins Martyrium gezwungen werden? Calvin antwortet auf diesen Einwand so, dass er
die besondere Weise der Königsherrschaft Christi herausstellt: sie sei ewig und
geistlich. Und er präzisiert diese Eigenschaften der Königsherrschaft Christi:
Insofern der König Jesus Christus sein Reich durch Wort und Geist regiert und
seine königliche Herrschaft oft unter ihrem Gegenteil - „unter dem Kreuz"
- verborgen, in scheinbarer Schwachheit „nur" im Glauben durch den
Heiligen Geist erkannt wird, kommt ihr das Prädikat „geistlich" zu - im
Unterschied zu jeder menschlichen Regentschaft. Und insofern dieser König in
seiner besonderen Macht seine Gemeinde in Ewigkeit zu erhalten verspricht und
seine uneingeschränkte Königsherrschaft erst in der Ewigkeit unwidersprechlich
offenbar zu machen gedenkt, ist von ihm im Unterschied zu allen menschlichen
Herrschaften zu sagen: Er regiert „ewig". In der Kraft seiner Königsherrschaft
schützt Christus seine Gemeinde „gegen Teufel und Welt und alles, was uns
schaden will". Er tut das als der gekreuzigte Christus, der seine Gemeinde
in dieser Zeit auch in den Schatten des Kreuzes führen kann, wo ihr
äußerstenfalls das Martyrium nicht erspart bleibt.
Eine doppelte
Buchführung?
Zweifellos
ist die royalistische Terminologie dieses Lehrstücks schwer nachvollziehbar in
einer Zeit, in der es Könige meist nur noch als freundlich-leutselige
Repräsentanten ohne Macht gibt. Aber worauf die Lehre von der Königsherrschaft
Christi in der Sache abzielt, das ist ungebrochen aktuell: Wir sind vor die
Machtfrage gestellt - auch im Raum des Politischen. Mit welcher Macht in
unserem Leben zählen und rechnen wir? Betreiben wir doppelte Buchführung? Auf
der einen Seite - im Alltag - die Gewalten und Kräfte der anmaßenden
Herrenmenschen, mit jenen brutalen Kräftepotentialen, vor der alle Welt die
Knie beugt; auf der anderen Seite - am Sonntag - „der Friede, der höher ist als
all unsere Vernunft". Das Bekenntnis zu Jesus Christus als unserem ewigen
König lebt von einem Wirklichkeits- und Machtverständnis, das - wie das erste
Gebot es fordert - im Sonn- und Alltag keine anderen Götter und Könige neben
sich duldet. Es ist bestimmt vom neutestamentlichen Zeugnis, dass Christus am
Kreuz die Mächte und Gewalten der Welt entwaffnet, sie öffentlich zur Schau
gestellt und über sie triumphiert hat (Kolosser 2, 15). Gott hat in der
Auferweckung des Gekreuzigten die Macht und Wirklichkeit der Versöhnung der
Welt offenbar gemacht, und er wird in der Auferweckung aller Toten enthüllen
und vollends unwidersprechlich machen, was schon heute als wahre Realität aller
Menschen gilt und verborgen wirksam ist.
Kann man damit
Politik machen?
Kann
man damit Politik machen? Man kann nicht nur - man tut es bereits. Denn wo die
Königsherrschaft Christi gepredigt und geglaubt wird, sind Menschen nicht
länger anfällig für totalitäre Ansprüche in der Politik. Jeder Versuch eines
politischen Gemeinwesens, den Menschen bis ins letzte zu binden und zu
verwalten, wird hier zurückgewiesen. Andererseits findet sich in der Gestalt
der Königsherrschaft Christi der Maßstab für Recht oder Unrecht menschlicher
Politik. Damit ist nicht gemeint, dass sich aus dieser Lehre eine unzweideutige
christliche Politik oder gar eine christliche Partei ableiten lässt. Hier liegt
das berechtigte Bedenken, das eine lutherische Zwei-Reiche-Lehre gegen die
Gefährdung der reformierten Lehre von der Königsherrschaft laut werden lässt:
keine Klerikalisierung des Politischen! Keine Identifikationen menschlicher
Taten im Vorletzten mit dem Letzten! Um so eindringlicher fragt die reformierte
Stimme den lutherischen Kritiker zurück: Geht der Streit um die Gestalt des
Politischen nicht letztlich darum, ob nach lutherischem Glauben in den
unterschiedenen Reichen und Regierweisen nicht hier und dort ein anderer Gott
regiert? „Politik und Glaube dürfen nicht miteinander vermischt werden",
schreibt der lutherische Altbischof Werner Leich. Wohl wahr, aber sie müssen
aufeinander bezogen werden.
Was wir gemeinsam
sagen
Auch
im Bereich des Politischen muss die Gewissensfrage gestellt werden dürfen. Es
gibt keinen Bereich des menschlichen, des kirchlichen und des politischen
Lebens, in dem die Königsherrschaft Jesu Christi suspendiert werden dürfte.
Legt die Rede von den unterschiedlichen „Regierweisen Gottes", von denen
die eine im Reich Gottes, die andere im Reich der Welt zur Geltung käme, nicht
nahe, Gott könne janusköpfig sein? In keinem Bereich aber darf vergessen werden,
was lutherische und reformierte Theologie gemeinsam sagen: dass Gott sein
Antlitz endgültig im Gesicht des Gekreuzigten offenbart hat: „Wir können nicht
die Befreiung von gottlosen Bindungen durch Christus rühmen oder darum bitten,
ohne zugleich auch im politischen Raum mit politischen Mitteln für eine -
gewiss immer nur relativ bessere, freiere, gerechtere - gesellschaftliche und
politische Ordnung einzutreten, wenn das Menschsein des Menschen es erfordert.
Was aber menschenwürdig ist, das kann ich letztlich nur von dem her erkennen,
in dem das wahre Menschsein Wirklichkeit geworden ist" (der reformierte
Theologieprofessor Walter Kreck, Bonn 1976)
aus
idea spektrum 44/2006