5. Juni 1980
24.
Ludwig-Hofacker-Konferenz
(
Wachen und Schlafen – zwei Bilder
„Aufwachen! Aufwachen!“
Zwei kräftige Jüngerhände rütteln verzweifelt an der Schulter des Meisters. „Aufwachen!“
Unbegreiflich, wie er jetzt schlafen kann, jetzt, wo ringsum die Hölle los ist,
wo der Sturm den See aufwühlt, dass er brodelt wie kochendes Wasser, sich
aufbäumt wie ein Ungeheuer, das mit tausend gierigen Mäulern nach dem Boot
schnappt. „Aufwachen! Herr, hilf uns, wir verderben!“ Endlich bewegt sich der
Meister. Erleichtert atmet der Jünger auf. Da blicken zwei verwunderte Augen
ihn und die elf übrigen an. Verwundert klingt auch die Stimme: „Ihr
Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Gibt es denn auch nur den
geringsten Grund dazu?“' – Das erste Bild: Die Jünger schreien, doch Jesus
schläft.
„Aufwachen!“ Die Hand des
Meisters packt den Petrus bei der Schulter: „Könnt ihr denn nicht eine Stunde
mit mir wachen?“ Wie aus weiter Ferne klingt die Frage an des Jüngers Ohr. Noch
einmal: „Aufwachen!“ Brummend wälzt sich Petrus auf die andere Seite. Still ist
der Garten, lau die Nacht. Schlafen will er, träumen. „Aufwachen!“ ertönt des
Meisters Stimme ein drittes Mal. Vergeblich! Die Jünger liegen wie betäubt, wie
berauscht oder narkotisiert. Da macht sich der Meister allein auf den Weg.
Einsam tritt er in den Gebetskampf ein, der so heiß ist, dass der Schweiß
seinen Körper hinabrinnt wie Blut. Laut – schreiend
fast – hallt Jesu Stimme durch die Nacht: „ Vater, ist es möglich, so gehe
dieser Kelch vorüber!“ – Das zweite Bild: Jesus schreit – doch die
Jünger schlafen.
Zwei Bilder. Ein seltsamer
Widerspruch. Wenn wir Menschen auch wir Jünger, wir Christen – vor Entsetzen
schreien, dann hält Jesus die
Lage für gänzlich harmlos, schließt die Augen, gibt das Signal zur Entwarnung.
Und umgekehrt: Wenn wir
uns seelenruhig die Schlafmütze über die Ohren ziehen möchten, ist für Jesus
höchste Alarmstufe geboten. Seltsamer Widerspruch!
„Ruhet ein wenig …“
„Wachet!“ heißt mein
Thema. Fanfarenstoß, Weckerrasseln, Sirenengeheul soll es sein. Doch zunächst
möchte ich wie Jesus das Signal zur Entwarnung geben, möchte nachsprechen, was
Jesus seinen schreienden Jüngern deutlich macht: „Schlafen dürft ihr,
Christenleute, schlafen!“ Das meine ich wörtlich, buchstäblich. Wie viele
Christen mögen unter uns sein, die des
Doch Jesus schaut uns
verwundert an: „Schlaft!“ antwortet er, „ruhet ein wenig (Markus 6, 31). Ihr
Kleingläubigen, habt ihr es vergessen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel
und auf Erden. Vertraut mir! Hört: der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht
(Psalm 121, 4). Gerade deswegen dürft ihr euch entspannen. Schlaft!“ – In der
Tat: Man kann Gott auch durch einen guten Schlaf loben. Ein ruhiger
Christenschlaf mitten im Toben der Welt ist ein Glaubenssignal für eine
neurotisch werdende Menschheit – und wenn darüber die Welt unterginge? Nun,
dann geht das Reich Gottes auf! Dann kommt Jesus, unser Herr, und der ist – wie
Blumhardt sagte – nicht der Kaputtmacher, sondern der Neumacher. Noch einmal Blumhardts fröhliche Gelassenheit: „Es muss doch alles gut
werden, weil Jesus auferstanden ist.“ „Wer an Ostern glaubt, der kann – in ganz
unsicherer Zeit – Kinder kriegen!“, rief Heinrich Giesen einmal aus. Wir fügen
hinzu: Wer an Ostern glaubt, kann im Toben der Hölle behütet schlafen. In unser
Angstgeschrei tönt Jesu Entwarnungssignal: „Schlaft!“ Schlaft in Gottes Namen;
Er wacht!
„Schlaft!“, das ist die Botschaft von der Sturmstillung. Dazu
aber gehört die Botschaft von Gethsemane: „Wachet und betet!“ Beides
gehört zusammen: Wer geistlich wach sein will, sollte körperlich gut
ausgeschlafen haben!
„Wachet!“
(1) Aufwachen! Das ist ein Fanfarenstoß für
Tote!
Im Epheserbrief stimmt
Paulus ein urchristliches Lied an: „ Wache auf, der du schläfst, und stehe auf
von den Toten, so wird dich Christus erleuchten!“ (Epheser 5, 15). Das ist
Erweckungsmusik! Steh auf von den Toten! – Ob es hier unter uns Tote gibt?
Unsinn! Die Toten liegen doch irgendwo draußen, draußen auf den Friedhöfen! Wir
hier drinnen, wir atmen, singen, denken; Herz und Lunge arbeiten, also leben
wir doch! – Die Bibel ist da kritischer: „Wer den Sohn Gottes nicht hat, der
hat das Leben nicht!“ (1. Johannes 5, 12). Wer keinen Kontakt zu Jesus hat – keinen
Glaubenskontakt, keinen Gebetskontakt, der ist bei blühender Gesundheit, bei
voller Vitalität, bei bester Kondition in Gottes Augen eine Leiche, ist tot
trotz allem „Trimm-Dich-fit“! Wer den Sohn Gottes
hat, der hat das Leben, wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht!“
Seltsam, nun gerät die Grenze zwischen Lebenden und Toten in gefährliche
Bewegung. Im Zickzackkurs läuft sie durch diese Halle. „Leben Sie schon?“,
heißt die indiskrete Frage an jeden. „Leben Sie schon oder sind Sie noch tot?“
Mitten in unsere Versammlung schallt der Weckruf Jesu: „Wache, stehe auf von
den Toten!'„ Kann man so etwas einem Toten befehlen? Kann man einem Tauben sagen:
Hör zu!, einem Blinden: Sieh her!, einem Lahmen: Los,
beweg dich!, – einem Toten: Steh auf!? – Nein, das kann man nicht. Als Kind
habe ich meinen verstorbenen Großvater angerührt und angesprochen. Aber da
regte sich nichts. Tot ist tot! Tote auferwecken, geistliche Leichen ins Leben
rufen, das kann man nicht. Sie nicht und ich nicht. Aber Er – Er
kann's! Wenn Jesus ruft, dann vibriert in seiner Stimme die Schöpfermacht
Gottes. Seine Befehle suchen die Energie nicht bei uns (wo wäre sie bei einem
Toten zu finden?); Sie bringen Gottes Energie mit: „Lazarus, komm heraus!“,
hieß es in Bethanien; „Jüngling ich sage dir, steh auf!“, klang es in Nain; „Talitha kumi – Mädchen aufstehen!“,
schallte es bei der Tochter des Jairus. Und alle wachten auf! Er spricht, und
es geschieht: Tote stehen auf! In diesem Augenblick will Jesus vor jemand
hintreten, der vielleicht nur aus Neugier oder den Eltern zuliebe hierher kam,
will ihm persönlich in die Ohren und ins Herz rufen: „Aufwachen! Steh auf von
den Toten! Leben sollst Du!“' Heute können in dieser Halle Tote zu Lebenden
werden. – Aufwachen, das ist ein Fanfarenstoß für Tote.
(2) Aufwachen! Das ist ein Weckerrasseln für
Träge!
Im Sendschreiben an die
Gemeinde in Sardes heißt es: „Wache auf und stärke das übrige, das sterben
will!“ (Offenbarung 3, 2). Da sind also wir Christen gemeint. Einmal wurden wir
von Jesus wachgerüttelt, erlebten „Erweckung“, aber heute (5 oder 25 Jahre
später) ziehen wir uns die Decke über die Ohren. Ein kleines Nickerchen
natürlich nur, aber daraus wird ein sanfter Schlummer, aus dem Schlummer ein
Tiefschlaf wie unter Narkose; der Tiefschlaf aber gleitet über in den Tod. „Aufwachen!“
– Da steht ein Soldat in sibirischer Kälte Wache. Hundemüde ist er, die Glieder
werden wie Blei, die Augen wollen ihm zufallen. Aber er weiß: Einschlafen heißt
Erfrieren. Da pflanzt er auf sein Gewehr das Bajonett und montiert das ganze
zwei Zentimeter unter sein Kinn. Sinkt jetzt der Kopf herab, versetzt ihm die
Stahlspitze einen unsanften Stich. – „Aufwachen!“ Der Teufel geht eben nicht
nur umher wie ein brüllender Löwe, sondern ebenso gern wie ein sanftes
Schmeichelkätzchen mit frommem Augenaufschlag. „Nur selig!“ haben die
Väter gesagt. Das war als Weckruf gemeint, das forderte ganze Konzentration. „Und
wenn sie mich verlachen, mir die Karriere verbauen … Eins ist not! Nur selig! Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind
und Weib; lass fahren dahin …“ Nur selig! Das war ein gutes Weckmittel, wirkte
besser als Bohnenkaffee und Hallo-wach. Und doch kann dies „Nur selig“ als
Schlafpulver missbraucht werden: „Nur selig! Selig werde ich doch allein aus
Gnaden. Werke sind eher schädlich dazu. Er allein tut's … Ihn, ihn lass tun und
walten … Ich will die Augen schließen und glauben blind …“ So wird die Gnade
zur Beruhigungspille, so beginnt der „Kirchenschlaf“. Dabei schlafen wir nicht
nur (wie man sagt) ein Loch in den Tag; wir stehlen dem „lieben Gott“ den Tag. –
„Aufwachen!“ Gewiss, die Gnade allein! Aber diese Gnade macht lebendig, stellt
ans Werk. Wir sind Gottes Mitarbeiter, nicht Gottes „Pennbrüder“! Wissen Sie,
was für Paulus der schrecklichste Gedanke war? Er könnte am Ende „nur“ selig
werden! Alles, was er gearbeitet, zusammengetragen, aufgebaut, an Kraft
investiert hatte – sein ganzes Lebenswerk könnte im Feuer des Jüngsten Gerichts
verbrennen wie Stroh und Stoppeln. Gewiss, er würde selig werden,
herausgerissen aus dem Feuer, den Brandgeruch in Kleidern und Haaren (1. Korinther
3, 11-15). Selig gewiss, aber eben „nur“ selig: Das ganze Leben vertan, keine
Frucht für Gottes Reich, nichts Bleibendes, keine Menschen, die Gott dafür
danken, dass sie Glaubenshilfe durch uns bekamen. Schreckliches Wort: „Nur
selig!“ – So wird aus dem Weckruf ein Alibi für Faulpelze und Langschläfer, ein
Pulver für falsche Bescheidenheit, tödliches Opium. „Aufwachen!“ Wirket,
solange es Tag ist! Wie viel Lebensjahre uns noch zur Verfügung stehen, Ihnen
und mir? „Auf, denn die Nacht wird kommen, da man nicht mehr kann.“ Das ist
Erweckungsmusik, ist Weckerrasseln für Träge!
(3) Aufwachen! Das ist Sirenengeheul für
Träumer!
„Jetzt fliege ich“,
schwärmt der Träumer – und fällt unsanft aus dem Bett. „Wie herrlich ich
schwebe“, lallt der Betrunkene – und stolpert über die eigenen Beine. Träumer
und Trunkene leben in einer Scheinwelt. – „Aufwachen!“ Nüchtern werden! Lasst
die bunten Seifenblasen Eurer Fantasie platzen! Werde Realisten! Wer ist ein
Realist? Jeder, der wie die ersten Christen ruft: Maranatha,
unser Herr, komm! Unsere Welt ist voll von Traum und Rausch. Die einen ergötzen
sich an Weltfrühlingsträumen: „Die
Welt wird besser mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag …“
Zauberpillen mit seltsamen Namen sollen ins Zauberland Zukunft führen:
Weltrevolution, transzendentale Meditation, makrobiotische Naturdüngung … Neue
Welt ohne Jesus? Das ist Traum. „Aufwachen!“ – Andere – auch manche frommen
Leute – zittern in Angstträumen vor Weltkatastrophen. Nach dem Muster
der „Zeugen Jehovas“ kombinieren sie wild Bibelstellen aus Daniel und Markus,
aus Hesekiel und der Johannesoffenbarung zu einem fantastischen Einheitspuzzle;
sie puzzeln und puzzeln und vergessen dabei den lebendigen Herrn. „Aufwachen!“
Heraus aus den bunten Wunschträumen, heraus aus den grauen Alpträumen. Seid wachsam
und nüchtern!
Ein paar probate „Wachmacher“
möchte ich Ihnen empfehlen. Keine neuen Wunderdrogen, sondern solide Hausmittel
aus Gottes Apotheke:
Aufwachen heißt: die Bibel lesen!
Da lernt eine Pfarrfrau
sämtliche Verse des Humoristen W. Busch auswendig – für die Fernsehsendung „Alles
oder nichts“. Mir imponiert das. Aber ich frage: Wie viele Bibelstellen haben
wir im Gedächtnis? Nur was als Schatz tief im Unbewussten gehortet liegt, kann
der Heilige Geist im richtigen Augenblick aktiv und lebendig machen, vielleicht
bei der Berufswahl, vielleicht in der Sterbestunde.
Aufwachen heißt: Fürbitte praktizieren!
Soweit meine Fürbitte
reicht, soweit geht meine Liebe; soweit meine Liebe reicht, soweit geht meine
Fürbitte. Ertappen Sie sich auch dabei, dass Sie die Geiseln in Teheran längst
vergessen haben oder den Angefochtenen, der uns bat: Denk an mich!? Wo sind die
Familien, die nach der „Tagesschau“ die Hände falten zu konkreter, zu
weltweiter Fürbitte?
Aufwachen heißt: den Mund regen zum Zeugnis, die
Hand zu helfenden Tat!
Haben Sie das rechte Wort
parat für das Gespräch mit dem todkranken Nachbarn oder den rebellischen
Teenager? Können Sie depressiven Menschen Mut machen? Erst wenn wir den Mund
öffnen und die Hand reichen, entdecken wir unsere Armut. Und gerade die hält
wach, die treibt uns zu Jesus, die lässt uns rufen: Herr, erbarme dich!
Aufwachen – Fanfarenstoß
für Tote: Heute dürfen Sie leben!
Aufwachen – Weckerrasseln
für Träge: Gott sucht Mitarbeiter!
Aufwachen – Sirenengeheul
für Träumer: Werdet Realisten!
„Siehe, ich komme bald“,
sagt unser Herr (Offenbarung 3, 11; Offenbarung 22, 7) und „Was ich euch sage,
das sage ich allen: Wachet!“ (Markus 13, 37)