„Es war eine unglaubliche Zeit!“
Vor dreißig Jahren feierten die Deutschen nach Jahrzehnten der Teilung
erstmals wieder gemeinsam Weihnachten. Theo Lehmann, damals als erfolgreichster
deutscher Jugendpfarrer im Fadenkreuz der Stasi, war dabei.
Moritz Schwarz
Herr Dr. Lehmann, wie war das vor dreißig Jahren: das erste Weihnachtsfest nach dem Fall der Mauer?
Theo Lehmann: Es war eine unglaubliche Zeit! Obwohl ich sicher war, dass die DDR eines Tages zusammenbrechen und die Teilung unseres Landes überwunden sein würde, habe ich vor dem Herbst 1989 nicht geglaubt, dass das noch zu meinen Lebzeiten passieren würde.
Es war nach 28 Jahren Mauer das erste gemeinsame Weihnachtsfest der Deutschen.
Lehmann: Geteilt waren wir schon seit der Potsdamer Konferenz 1945. Aber richtig, bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 konnte man noch über die Zonengrenze hin und her, um etwa Verwandte zu besuchen oder gemeinsam Weihnachten zu feiern. Und nun war das, nach fast dreißig Jahren – kaum zu fassen! –, erstmals wieder zu Weihnachten 1989 möglich. Doch waren es unglaublich turbulente Tage damals, nicht das, was man unter adventlicher Ruhe und weihnachtlicher Besinnlichkeit versteht. An das eigentliche Weihnachtsfest kann ich mich deshalb auch nicht mehr erinnern. Wohl aber an meine Weihnachtspredigt, die ich in der Chemnitzer Lutherkirche gehalten habe. Es ging um Kapitel 3 der Offenbarung und das Thema „Wach auf!“, und ich sagte unter anderem: „Freiwillig hat die SED uns keinen Millimeter Freiheit eingeräumt. Deshalb müssen wir wachsam sein! Wachsam, damit die nie wieder die Macht kriegen, egal unter welchem Namen sie auftreten. Denn Menschen, die uns vierzig Jahre lang“, die DDR war 1949 gegründet worden, „belogen haben, glauben wir kein Wort. Können wir nicht vertrauen, dürfen wir nicht vertrauen! Misstrauen und Wachsamkeit gegenüber allen, die bisher über uns geherrscht haben, ist die erste Bürgerpflicht! Das ist der Preis der Freiheit.“
Gesagt haben Sie das vor 5.000 Jugendlichen, im Rahmen Ihres Jugendgottesdiensts, des größten, den es in der DDR gab.
Lehmann: Nicht nur in der DDR – meines Wissens gab es auch in Westdeutschland nichts Vergleichbares. Wobei die Schätzung der Teilnehmerzahl zwischen fünf- und dreitausend lag und ich daher dreitausend bevorzuge. Dreißig Jahre lang haben wir ab 1971 einmal im Monat diesen Jugendgottesdienst veranstaltet, wobei wir ihn stets zweimal nacheinander feiern mussten, weil die Räume höchstens die Hälfte der Menschen fassen konnten. Und die Teilnehmer kamen nicht nur aus Chemnitz und Umgebung, sondern reisten aus allen möglichen Bezirken der DDR an.
Warum hatte ausgerechnet Ihr Jugendgottesdienst solchen Erfolg? War er politisch?
Lehmann: Nein, im Gegenteil. Obwohl ich, aus christlichem Elternhaus stammend, immer schon ein Gegner der SED-Diktatur und des Kommunismus war, habe ich Politik in meinen Predigten gemieden, ging es mir doch darum, das Evangelium zu verkündigen und Menschen zu Jesus zu bringen. Ich kann Ihre Frage allerdings nicht beantworten, da ich selbst nicht weiß, warum wir solchen Erfolg hatten. Ich kann nur vermuten: Da ich vor allem Menschen ansprechen wollte, die noch keine Christen waren, verzichtete ich auf Liturgie und Talar, hatte für die Musik eine Band, neue Lieder und neue Elemente, wie die Möglichkeit, Fragen zu stellen, oder jedes Mal der Auftritt eines Liedermachers. All das ergab eine damals neue Form von Gottesdienst, was mit eine Rolle gespielt haben mag. Vor allem aber, denke ich, haben die Inhalte den Nerv der Zeit getroffen.
Wie das, wenn diese nicht politisch, sondern streng biblisch waren?
Lehmann: Das eben zeigt, wie unheimlich aktuell die Bibel in Wahrheit ist!
Inwiefern?
Lehmann: Tja, den meisten Leuten ist das nicht klar. Weil sie die Bibel nicht kennen. Lesen Sie die mal!
Sie meinen das Neue Testament mit den Themen Erlösung, Frieden, Gerechtigkeit?
Lehmann: Sicher, aber ebenso das Alte Testament, denken Sie etwa an das Buch Daniel oder an die Geschichte Abrahams! Auch wenn ich nie politisch predigte, ergaben sich politische Schlussfolgerungen daraus. Ebenso bei dem, was unsere Liedermacher vortrugen, obwohl auch sie nicht politisch waren, wie damals etwa Wolf Biermann oder Stephan Krawczyk, riskierten sie dennoch mitunter Kopf und Kragen. Also nicht wie Liedermacher heute, die die wirklich heiklen Themen gar nicht mehr anpacken, sondern meist nur das, wofür sie von fast allen Seiten Applaus bekommen.
Geben Sie ein Beispiel für Ihre Methode.
Lehmann: Gleich für den ersten Gottesdienst hatte ich ein Lied geschrieben: „Diese Welt mit ihren Herren muss vergehen / Aber unser Herr, der kommt!“, das übrigens noch heute gesungen wird.
Das hat die SED als Provokation gesehen?
Lehmann: Die hat unseren ganzen Gottesdienst als Provokation empfunden! Schon weil er mitten in Karl-Marx-Stadt stattfand – wie Chemnitz von 1953 bis 1990 zwangsweise hieß –, das der SED nach dem Wiederaufbau als sozialistische Musterstadt galt. Der Kommunismus besagt, dass Religion angesichts seines Siegeszuges abstürbe. Wir aber demonstrierten öffentlich genau das Gegenteil – ausgerechnet an einem Ort, den sie als den ihren betrachteten. Und es kamen nicht ein paar alte Omas, sondern 3.000 junge Leute, Monat für Monat und Jahrzehnt für Jahrzehnt!
Warum wurde er nicht einfach verboten?
Lehmann: Das wagte die SED offenbar nicht. Aber wie ich nach 1989 aus den Akten erfuhr, hatte die Stasi alle möglichen Pläne geschmiedet, um uns zu sabotieren. Angefangen damit, die Stromversorgung zu kappen, über Störungen durch FDJ-Trupps bis zum Sprengen der Veranstaltung mittels Buttersäure und einer Bombendrohung. Doch nichts davon wurde umgesetzt.
Warum nicht?
Lehmann: Weil Gott seine Hand über uns gehalten hat.
Hatte die Stasi nicht einfach Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit?
Lehmann: Ach, die Stasi hat ja noch ganz andere Sachen gemacht. Darum glaube ich, wir hatten den Beistand Gottes. Ich weiß, was Sie denken – wahrscheinlich das, was die Leute denken, wenn ich die Geschichte von Daniel in der Löwengrube erzähle. In der Gott auf wunderbare Weise den Propheten vor den Raubtieren rettete, indem er es besänftigte. Aber genau das ist es, was ich damals mit der Stasi erlebt habe, die die Macht hatte, uns wie eine Laus zu zerquetschen. Aber Gott hat dieser Bestie die Schnauze zugedrückt. Und sie hatte nicht nur Maßnahmen gegen unseren Gottesdienst geplant, sondern auch gegen mich persönlich, inklusive mich in Richtung Westen loszuwerden. Und auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich erneut belächeln: Ich betrachte auch den Fall der Mauer und den Untergang der DDR als ein biblisches Wunder!
Inwiefern das?
Lehmann: Weil, und das wissen die meisten Leute heute nicht mehr, sie eine in jeder Hinsicht bis an die Zähne bewaffnete Diktatur war. Und weil etwa während der Montagsdemonstrationen Leipzig wie eine Stadt unter militärischer Belagerung war: Überall Volkspolizei, Volksarmee, bewaffnete Betriebskampfgruppen sowie die hochgefährliche Staatssicherheit. Dazu Vorbereitung von Krankenhäusern, Bereitstellung von Blutkonserven und Planungen zur Internierung von Gefangenen. Und dann – fiel kein einziger Schuss! Das kann nur der nicht für ein Wunder halten, der sich nicht klarmacht, wie die Lage war.
„Wir müssen wachsam sein! Damit die nie wieder die Macht kriegen, egal unter welchem Namen sie auftreten ... Misstrauen gegenüber allen, die über uns geherrscht haben ... Das ist der Preis der Freiheit“, haben Sie, wie Sie sagten, zu Weihnachten 1989 gepredigt. Heute regiert die SED als Die Linke in drei Bundesländern, in zwei weiteren war sie an der Macht. War Ihre Warnung umsonst?
Lehmann: Nein, aber es ist unerträglich, dass die Partei und die DDR und die Mitverantwortlichen von damals heute nicht so schlecht angesehen sind, wie sie es sein müssten. Anders ist etwa nicht zu erklären, dass ohne einen Sturm tiefster Empörung öffentlich gesagt werden kann, die DDR sei kein Unrechtstaat gewesen. Oder denken Sie an die Renten der SED-Eliten, die über denen derer liegen, die unter ihnen im Zuchthaus saßen. Viele Kader sind in Wirtschaft und Politik untergekommen. Ich hatte damals geglaubt, die würden alle rausfliegen – ein Irrtum. Und dass sie in Thüringen sogar die Regierung anführt, unvorstellbar! Allerdings ist, was ich mir 1989 vorgestellt habe, nach der Nazizeit auch nicht gelungen. Vielleicht ist es ja auch gar nicht anders möglich...
Es geht also nur um die „Linke“?
Lehmann: Nein, keineswegs. Heute erfüllen sich allgemein die prophetischen Worte der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: „Stasi-Strukturen (und die) Methoden, mit denen sie gearbeitet haben ... All das wird in die falschen Hände geraten. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien, westlichen Gesellschaft passen. Man wird Störer nicht unbedingt verhaften – es gibt feinere Möglichkeiten, unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen wird wiederkommen ... Man wird Einrichtungen schaffen, viel effektiver, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation und der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ Als ich damals zur Wendezeit jeden eiskalten Montagabend vor dem „Nischel“, der großen Plastik des Kopfs von Karl Marx im Chemnitzer Zentrum, stand und mitdemonstriert habe, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass man, entsprechend Bohleys Worten, 25 Jahre später ebenda wieder zur Verteidigung der Meinungsfreiheit demonstrieren würde, als sich dort 2014 Pegida versammelte.
Dieser Vergleich gilt heute als „Beleidigung“ der Friedlichen Revolution.
Lehmann: Als ich sah, wie man damals über die Menschen bei Pegida sprach, nämlich als „Pack“ und Demokratiefeinde, erinnerte mich das daran, wie zur SED-Zeit wir beschrieben wurden – nämlich genauso, nur dass man Rowdys und staatsfeindliche Elemente sagte. Also bin ich los, um mir selbst ein Bild zu machen. Was ich vorfand, war kein „Pack“, sondern vor allem Bürger. Ich erinnere mich auch, wie sich vor 1989 die Stasi intern beklagte, ich bliebe in meinen Predigten stets „unterhalb der strafrechtlichen Relevanz“, Zitat aus meiner Stasi-Akte. Genau so ist es heute wieder: dass man überlegen muss, wie man formuliert, um nicht sanktioniert zu werden! Damit will ich nicht sagen, dass die Zustände heute wie in der DDR sind – das sind sie nicht. Aber wir marschieren in ihre Richtung! Denn das Charakteristische der DDR war diese schwarze Decke der Angst, die über den Menschen lag und von der wir nach der Friedlichen Revolution erstmals wirklich befreit waren – es gab wirkliche Freiheit! Doch heute ist diese schwarze Decke zurück – und das hätte ich 1989 niemals für möglich gehalten.
Heute kritisieren Sie aber auch die Kirche.
Lehmann: Gerade zu Weihnachten muss man erinnern, wie feige diese heute große Teile der biblischen Botschaft verschweigt! Etwa die Sünde – weil sie Angst hat, dass die Leute das nicht hören wollen. Die Leute wollten nicht, dass man ihnen droht. Das ist ein Witz, denn kein Pfarrer droht auch nur entfernt, wie es etwa die überaus populäre Greta Thunberg tut, die sagt, sie wolle, dass die Menschen vor Angst in Panik geraten. Und die Vorstellung, dass es kein göttliches Gericht gäbe, ist ebenso falsch. Denn Gericht bedeutet nichts anderes, als dass es Gerechtigkeit und Rettung gibt – bedeutet nämlich, dass die großen Lumpen am Ende nicht davonkommen und ihre Opfer nicht auf der Strecke bleiben werden. Was feiern wir denn zu Weihnachten? Die Geburt von Jesus Christus, unserem Retter! Doch gerettet werden kann nur, wenn auch Gefahr besteht.
Dr. Theo Lehmann, wegen seiner für die SED provozierenden bibeltreuen Predigten geriet der Chemnitzer Jugendpfarrer in den siebziger Jahren in Konflikt mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Dieses infiltrierte sein privates Umfeld, initiierte Verleumdungskampagnen und versuchte, ihn außer Landes zu drängen. Als einer derjenigen, die „die Friedliche Revolution von 1989 erst möglich gemacht haben“, wurde dem evangelischen Theologen, geboren 1934 in Dresden, 2003 die Verfassungsmedaille des Freistaats Sachsen verliehen. 2006 erhielt er den Walther-Künneth-Preis der Kirchlichen Sammlung für Bibel und Bekenntnis. Im Jahr 2005 erschien seine Autobiographie „Freiheit wird dann sein. Aus meinem Leben“
Junge Freiheit 20.12.1029