Theo Lehmann – Jugendgottesdienst Nr. 124
Abschrift der Predigt vom 8. Oktober 1989 über Nehemia 9, 1-37, überschrieben mit dem Titel: Wir sind in großer Not. Eine bewegende Predigt aus den Zeiten des Umbruchs in der DDR, wenige Wochen vor dem Fall der Mauer.
Liebe Freunde,
es war einmal ein Volk, das baute eine Mauer in der Hauptstadt des Landes. Zunächst war das die Idee eines einzigen Mannes. Der hat erst seine Idee absolut geheim gehalten, nicht einmal den Rat der Hauptstadt hat er eingeweiht, und als der Mauerbau dann losging, war das ein ganz merkwürdiger Anblick: die Hälfte der Leute arbeitete an der Mauer, und die andere Hälfte stand dahinter mit Waffen und mit Panzern. So steht es in der Bibel. Die Hälfte meiner Leute am Bau arbeitete, die andere Hälfte aber hielt Schilde, Spieße und Bogen und Panzer bereit. Das Volk, von dem ich spreche, ist das jüdische Volk. Die Stadt von der ich rede, ist die Stadt Jerusalem. Die Zeit des Mauerbaus ist das Jahr 445 vor der Geburt von Christus. Nachzulesen beim Propheten Nehemia. Wer von euch die fortlaufende Bibellese liest, der hat das ja alles in der letzten Woche schon gelesen.
Eine Volksversammlung der anderen Art: Bibeltage für Alle.
Wir wollen uns heute gar nicht so sehr mit dem Mauerbau befassen, sondern mit der Zeit, die danach kam. Es kam nämlich danach zu einer riesenhaften Volksversammlung. Und wie das so ist bei großen Volksversammlungen, da weiß man ja nie so genau, was eigentlich kommt, da sind Unwägbarkeiten dabei, was eigentlich passieren wird.
Bei dieser Volksversammlung ist etwas passiert, was ich noch von keiner anderen Volksversammlung gehört habe, da wurde nämlich aus der Bibel vorgelesen. Das ist ja schon ungewöhnlich genug und die Zeitdauer ist noch ungewöhnlicher. Sie fingen früh bei Sonnenaufgang an und hörten erst mittags wieder auf. Und damit die Massen den Bibelvorleser gut verstehen konnten, da hatten sie ihm eine hölzerne Kanzel gebaut. Das ist das erste Mal, dass das in der Bibel erwähnt wird, sozusagen die Urform unserer Kanzeln, aber nicht so klein wie der Eierbecher hier oben, sondern das war ein großes hölzernes Ding, so etwa wie das Podium, auf dem ich hier stehe. Da stand nämlich Esra, der die Bibel vorlas, und links und rechts von ihm, wie sonst hier die Band, da standen seine Mitarbeiter neben ihm. Und diese Bibelstunden, beziehungsweise Bibeltage, wurden an den folgenden Tagen fortgesetzt. Das ging immer weiter. Es gab so eine richtige Bibelbegeisterung, die Leute konnten überhaupt nicht genug davon bekommen.
Ich weiß nicht, ob du schon einmal länger als fünf Minuten in deine Bibel hineingeguckt hast oder ob du schon mal ein paar Stunden oder ein paar Tage hintereinander in der Bibel gelesen hast. Aber ich weiß, dass jeder, der das macht, ganz neue Erfahrungen macht. Wenn Menschen sich intensiv mit der Bibel befassen, hat das immer ganz konkrete Folgen. Das liegt nämlich daran, dass die Bibel nicht ein Buch wie jedes andere ist.
Gottes Wort hat immer eine Wirkung.
Sondern die Bibel ist das Wort Gottes - und Gott hat gesagt, dass sein Wort nie leer, also wirkungslos, zurückkommen wird[1]. Gottes Wort hat immer eine Wirkung, und damals war das Bibellesen die Ursache für eine Bußbewegung. Die Bibel ist nämlich wie so ein Spiegel. Wenn du in der Früh einmal einen flüchtigen Blick in den Spiegel wirfst, dann siehst du meistens ja nichts genaues, aber wenn du intensiv in den Spiegel guckst, da siehst du dann Krähenfüße und Pickel und unordentliche Haare und sowas. Wenn du bloß einmal kurz in die Bibel hineinliest in der Früh, da hat das meistens für dein Leben keine Konsequenzen und keine Bedeutung. Aber je länger du in die Bibel hineinliest, umso deutlicher erkennst du dich selbst. Du entdeckst auf einmal in deinem Leben Dinge, die du vorher glatt übersehen hast, die dir jetzt nicht mehr gefallen, die du unmöglich findest, für die du dich vielleicht sogar schämst. Also ohne Bild gesprochen: wenn du in der Bibel liest, erkennst du deine Sünden. Du siehst auf einmal klar, was in deinem Leben falsch gelaufen ist. Du erfährst außerdem aus der Bibel, dass es für deine Schuld eine Vergebung gibt, ganz egal wie groß deine Schuld ist. Das ist überhaupt das Beste an der Bibel.
Die Bibel zeigt dir deine Schuld nicht, um dich fertigzumachen, sondern um dich bussfertig zu machen. Sie zeigt dir nicht nur erbarmungslos deine Schuld, sondern sie zeigt dir voller Erbarmen den Ausweg aus der Schuld. Und dieser Ausweg, das ist der Weg zu Gott. Und der Weg zu Gott heißt Jesus. Jesus hat einmal gesagt: ich bin der Weg und niemand kommt um mich herum zu Gott[2]. Der Ausweg aus der Sackgasse der Sünde, das ist der Rückweg, das ist die Umkehr, das ist die Bekehrung zu Jesus. Nimm Jesus an, und die Schuld, die du in deinem Leben auf dich geladen hast bist du los. Die geht dich dann nichts mehr an, das ist dann sein Problem. Nicht mehr deine Sache, sondern dann kann Er sich damit abschleppen. Die Schuld, die auf dem Volk Israel lag, war riesenhaft.
Gott hatte dieses Volk aus der ägyptischen Sklaverei befreit. Er hatte es durch das Rote Meer durchgeführt. Er hatte zu dem Volk geredet, ihm seine guten Gebote gegeben, im Brot zu essen gegeben und Wasser aus dem Felsen gegeben. Vierzig Jahre lang, so heißt es hier bei Nehemia in Kapitel 9: Vierzig Jahre versorgtest du sie in der Wüste[3].
Es war wirklich ein Weg durch die Wüste, es war kein leichter Weg. Aber Gott hatte dafür gesorgt, dass das Leben immerhin möglich war. Aber das Volk war undankbar, es war ungehorsam und unverschämt. Das Volk hat sich damals von Gott abgewandt und sich einem platten Materialismus zugewandt. Sie haben sich ein goldenes Kalb hingestellt und gesagt: „Das ist der Gott, der uns aus Ägypten geführt hat“. Sie haben Gott gelästert, Sie haben seine Gebote übertreten, Sie haben seine Propheten getötet. Die Propheten, das waren Männer, die immer wieder im Auftrag Gottes zu dem Volk kamen, ihm sozusagen den Spiegel vorgehalten haben und gesagt haben: „So seht Ihr aus, und deswegen müsst ihr euch ändern, kehrt um, bekehrt euch!“ Aber das Wort Bekehrung war für die Menschen in Israel wie ein rotes Tuch.
Das wollten die nicht hören, denn Bekehrung im Sinne der Bibel, das heißt Umkehr, Veränderung, Sinnesänderung, neues Denken. Und davon wollten sie nichts wissen. Als die Propheten dem Volk ins Gewissen geredet haben, haben sie sich Ruhe verschafft, indem sie die Propheten abgeschafft haben. Aber wer kritische Stimmen abschafft, der schafft dadurch das Problem nicht aus der Welt, sondern er schafft nur neue Probleme.
Seltsamerweise hat das Volk damals, jedes Mal wenn es mit dem Nachbarn Zoff gehabt hat, bei Gott wieder Sturm geklingelt und um Hilfe gebeten und selbst da, seltsamerweise, hat Gott immer wieder geholfen. Immer wieder und immer wieder hat Gott sie erhört, wenn sie in Not waren und wenn dann Ruhe eintrat, dann haben sie den lieben Gott gleich wieder vergessen. Und so ging das immer wieder hin und her und Gott hat in seiner unvorstellbaren Barmherzigkeit ihnen immer wieder vergeben. Nehemia 9,29: Und Du vermahntest sie, um sie zu deinem Gesetze zurückzuführen, aber sie waren stolz und gehorchten Deinen Geboten nicht und sündigten an Deinen Geboten, durch die der Mensch lebt, wenn er sie tut. Und sie kehrten Dir den Rücken zu und wurden halsstarrig und gehorchten nicht.
Diese Beschreibung des jüdischen Volks aus der Zeit von vor zweieinhalbtausend Jahren ist gleichzeitig die Beschreibung aller Menschen. Hier hält die Bibel uns einen Spiegelbild vor die Augen: stolz, stur und ungehorsam. Es ist heute das gleiche Lied, und es ist heute das gleiche Elend wie damals. Die Menschen sind zu stolz, sich der Autorität Gottes unterzuordnen. Sie sind zu stur, einen Fehler zuzugeben, zu ungehorsam, um sich nach Gottes Geboten zu richten - mit anderen Worten: sie kehren Gott den Rücken zu. „Gott“, heißt es heute, „das ist doch ein Märchen aus der Kinder-stube der Menschheit. Das haben wir doch längst hinter uns. Gebote, das ist doch eine unver-schämte Forderung, das ist doch eine Eingrenzung unserer persönlichen Freiheit, damit wollen wir nichts zu tun haben! Prediger, die uns vor dem Gericht Gottes warnen, sind arme Irre. Die haben wir nicht nötig!“
Gott lässt jedem die Freiheit, sich von Ihm abzuwenden.
Wisst ihr, Gott lässt sich eine ganze Menge, eine ganze Weile lang gefallen. Aber wem es nicht gefällt, mit Gott zu leben, dem erfüllt Gott schließlich seinen Wunsch. Wenn jemand Gott den Rücken zukehrt, dann ist Gott nicht so, dass Er vor Wut mit der Faust reinschlägt. Sondern dann zieht Gott vor Traurigkeit, weil sein Liebesangebot nicht beachtet worden ist, da zieht Er wegen seiner verschmähten Liebe seine Hände einfach zurück. Gott zwingt keinen mit der eisernen Faust, bei Ihm zu bleiben, wer gehen will, kann gehen. Und wer sich nicht von Gottes Hand führen lassen will, der kann es ja auf eigene Faust versuchen. Solche Menschen lässt Gott gehen, und im Römerbrief heißt es einmal, dass Gott die gegen Ihn rebellierenden Menschen dahin gegeben hat.
Hier bei Nehemia, da steht genau das gleiche Wort: Darum hast Du sie dahingegeben in die Hand der Völker in den Ländern. Hinter diesem kurzen Satz steckt eine lange Geschichte der Niederungen des Volkes Israel: Deportationen nach Babel, Leben in der Gefangenschaft, immer unter der Kontrolle anderer Siegermächte, keine nationale Souveränität, keine Freiheit, aber jetzt kommt nicht die übliche Kritik an Gott: „Warum hast du zugelassen, warum hast du uns dieses Schicksal gegeben?“ Sondern jetzt, nach intensivem Bibelstudium und nach Studium der Güte Gottes in der Geschichte kommt es zu einer großen Erkenntnis. Nachdem Esra dem Volk tagelang das Wort Gottes wie einen Spiegel vorgehalten und -gelesen hat, erkennen sie, Du bist gerecht in allem, was Du über uns gebracht hast, denn Du hast recht getan, wir sind aber gottlos gewesen[4].
Es ist eine Katastrophe, wenn jemand von sich sagt: „Ich irre mich nie. Ich habe immer Recht, und Unrecht haben nur die anderen!“ Es ist ein Fortschritt, wenn jemand zu seinen Kritikern sagt: „Ich gebe zu, auch ich habe etwas falsch gemacht.“ Es ist das größte, wenn ein Mensch zu Gott sagt: „Ja Herr, Du hast recht und ich habe unrecht!“ Wenn einer endlich seinen Widerstand aufgibt, wenn das Gemecker, das Genöle, dass Gekämpfe gegen Gott aufhört. Wenn einer seine Kritik einstellt und sagt: „Ich hab in meinem Leben das bekommen, was mir wirklich zusteht. Du hast recht und ich habe unrecht.“ Wenn du soweit bist, dann bist du reif für die Vergebung. Und das ist das Ziel, auf das Gott hinarbeitet, auch in deinem Leben.
Gott will mehr von dir als Schulderkenntnis und Reue.
Gott will nicht, dass du stehenbleibst bei der Schulderkenntnis, und Er will auch nicht, das du stehen bleibst bei der Reue, sondern Er will, dass du dich fallen lässt in seine Arme und seine Vergebung annimmst. Es gibt Menschen, die denken, sie wären o.k., und sie hätten keine Sünde und hätten auch keine Vergebung nötig. Es gibt Menschen, die leiden so unter ihrer Sünde, dass sie denken, es gibt für mich keine Vergebung, was ich gemacht habe, ist zu schlimm. Es irren sich alle beide. Es gibt keinen Menschen ohne Sünde und es gibt keine Sünde, die nicht vergeben werden könnte. Die einzige Sünde, die dir nicht vergeben wird, ist die Sünde, die du nicht bekennst.
Deswegen rate ich dir, lies die Bibel, vergleich dein Leben mit der Bibel, bekenne die Schuld, die du erkennst. Das kannst du tun, indem du mit Gott ganz alleine darüber redest, ohne einen Zeugen. Du kannst es auch tun, dass du deine Schuld vor Gott in Gegenwart eines Menschen bekennst. Das ist schwer, aber das hat den großen Vorteil, dass der dir im Namen Gottes die Vergebung zu sprechen kann. Welchen Weg zu wählst, das ist deine Sache, Hauptsache du wählst die Vergebung. Das ist nämlich die Hauptsache am Christenglauben. Gott will dir vergeben, damit du Frieden hast, damit dein Leben in Ordnung kommt. Ich warne dich: gib deine Arroganz auf, in dem du denkst, du hättest Vergebung nicht nötig. Und ich bitte dich: gib deine Skrupel auf, wenn du glaubst, für dich wäre Vergebung nicht mehr möglich. Es ist nötig und es ist möglich.
Gott wartet auf dich mit ausgebreiteten Armen. Mit ausgebreiteten Armen wartet der gekreuzigte Christus am Kreuz auf dich. Dort hat Er nämlich für deine Schulden bezahlt. Dort hat Er die Strafe für deine Sünden auf sich genommen. Dort am Kreuz, sagt die Bibel, ist Gott für uns Gottlose gestorben. Wir, so heißt es hier in diesem Sündenbekenntnis, wir sind gottlos gewesen. Das ist das Sünden-bekenntnis des jüdischen Volkes. Das ist das Sündenbekenntnis der Christen, das ist der große Hammer. Denn die, die das sagen, das sind dann ja gerade die Frommen, die gläubigen Menschen. Die sagen: „Wir sind gottlos gewesen!“ Also nicht einfach bloß die anderen. Sondern es geht damit los, dass man sagt: „Wir!“
Die anderen, die werden dann allerdings auch noch mit Namen genannt. Unsere Könige, Fürsten, Priester und Väter haben nicht nach Deinem Gesetz getan und nicht Acht gehabt auf Deine Gebote an Ordnungen, die Du ihnen hast bezeugen lassen. Und sie haben Dir nicht gedient zur Zeit ihrer Macht bei all Deiner großen Güte, die Du ihnen erwiesen hast, in dem weiten und fetten Lande, das Du Ihnen gegeben hast und haben sich nicht von ihrem bösen Tun bekehrt[5].
Es ist hier von einem fetten Land die Rede, das heißt also von einem Land, das reich ist und schön. Das war unser Land auch einmal. Inzwischen sind die Wälder, durch die ich als Kind gewandert bin, entweder krank oder tot. Die Flüsse, in denen ich als Jugendlicher geschwommen bin, sind vergiftet und stinken und ich will gar nicht erst aufzählen, was in unserem Lande noch alles kaputt ist, vom Straßennetz bis hin zu den einfallenden Städten, bis zu den vielen Menschen, die so kaputt sind, dass sie einfach nicht mehr können. Und am kaputtesten sind die Medien, die das alles nicht wahrhaben wollen und leugnen (Tosender Applaus und Getrampele bricht aus).
Ein Aufruf zur Umkehr in der letzten Zeit der DDR. Ohne Umkehr kein Neuanfang.
Vor ein paar Tagen haben ein paar Menschen aus unserem Land eine Resolution verfasst. Sie haben sie geschickt an ADN[6], Neues Deutschland, das Fernsehen der DDR, Rundfunk – landauf, landab haben unsere Medien das nicht veröffentlicht. Das sind Leute aus dem Bereich der Tanzmusik und der Unterhaltungsmusik. In dieser Resolution haben sie geschrieben:
„Es geht nicht um Reformen, die den Sozialismus abschaffen, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Dieses unser Land muss endlich lernen, mit anders-denkenden Minderheiten umzugehen. Vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind (erneuter Applaus). Wir wollen in diesem Land leben und es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert beziehungsweise ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den Dialog mit allen Kräften. Wir fordern Änderung der unhaltbaren Zustände. Wir wollen uns den vorhandenen Widersprüchen stellen, weil nur durch ihre Lösung und nicht durch ihre Bagatellisierung ein Ausweg aus dieser Krise möglich ist.“
Leute, es geht jetzt nicht darum, dass wir einzelnen Leuten oder einzelnen Institutionen die Schuld für irgendwelche Einzelheiten zuweisen. Es geht darum, dass wir alle einsehen: wir alle sind schuld! Mindestens dadurch, dass wir zu wenig für die gebetet haben, die in unserem Land die Verant-wortung haben und dadurch, dass wir zu lange und zu feige geschwiegen haben. Wir aber, so hat damals das Volk Israel bekannt, wir aber sind gottlos gewesen! Ohne dieses Sündenbekenntnis gibt es keinen Neuanfang. Aber gerade einen Neuanfang, den brauchen wir, damit nicht noch mehr kaputt geht. Wir sind ja noch nicht so kaputt, dass es keine Heilung mehr gäbe. Leute, es gibt einen Heiland, und der heißt Jesus.
Ich weigere mich zu glauben, dass das ein Westgott ist, der kein Visum hat und der in diesem Land nichts zu melden hätte. Ich glaube, dass Jesus auch für die DDR zuständig ist – und das ist übrigens der einzige Grund, warum ich bleibe. Ich finde es beispielhaft, wie das Volk Israel einen Neuanfang gemacht hat. Ein Volk fängt neu an, durch Bekehrung! Sich bekehren heißt aber nicht, über die gesellschaftlichen Verhältnisse blauäugig hinwegzusehen. In die Beichte des Volkes mischt sich die Klage über die sozialen Missstände. Die Armen beugen sich vor Gott, aber sie rufen Ihn gleichzeitig an um Hilfe gegen ihre Ausbeuter. Denn sie wissen, dass die Gerechtigkeit Gottes umfassend ist und Gott gegen die Unterdrücker für die Armen eintritt. Vers 36: Wir sind heutzutage Knechte. Ihr müsst euch vorstellen, Israel war einmal ein freies Volk. und obwohl es im Jahre 435 v. Chr. wieder in Jerusalem leben durfte, war es doch nur ein Satellitenstaat unter der persischen Knechtschaft. Siehe, wir sind Knechte und in dem Lande, dass du unseren Vätern gegeben hast, seine Früchte und Güter zu genießen, siehe, in ihm sind wir Knechte. Und all seinen Ertrag bringt den Königen großen Gewinn, die über uns gesetzt sind um unserer Sünden willen, und sie herrschen über unsere Leiber und über unser Vieh nach ihrem Willen und wir sind in großer Not.
Wir sind in großer Not.
Von den 55 Jahren meines Lebens habe ich 40 in der DDR gelebt, aber ich habe noch nie eine Zeit solcher Not erlebt wie in diesen Tagen. Wir sind in großer Not! Wenn die Menschen nicht mehr nur zu Dutzenden oder zu Hunderten oder zu Tausenden oder zu Zehntausenden das Land verlassen – über Hunderttausend Menschen haben in diesem Jahr schon unser Land verlassen. Man kann ja schon keinen Menschen mehr treffen, ohne die Frage zu stellen: was ist hier los, was wird hier geschehen, was ist hier? Wir sind in großer Not – und so viele DDR-Bürger sitzen nachts voller Tränen vor ihren Fernsehgeräten, wenn wir die Flüchtlingsströme sehen müssen und die Wasser-werfer und wir fragen uns: wo sind wir denn eigentlich hin gekommen, dass ein Dialog nicht mehr möglich ist und dass man Wasserwerfer einsetzen muss?
Wir sind in großer Not, weil die Angst in unserem Land immer größer wird. Mich hat heute einer gefragt, warum ich hier mit einer Zahnbürste im Hemd herumlaufe. Das habe ich vom Dr. Martin Luther King gelernt, der in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gesagt hat: seit immer bereit, wenn es nötig wird, auch einmal das Quartier zu wechseln (tosender Applaus).
Ich erinnere mich, wir haben vor fast zwanzig Jahren in unseren Jugendgottesdiensten, als der Fritz Müller das Lied gesungen hat: „Hast du deine Zahnbürste dabei?“ Wir haben damals die Bilder gesehen, als mit Wasserwerfern gegen die Neger vorgegangen wurde, und wir haben es nicht geglaubt. Wir haben es uns nicht vorstellen können. Ich habe gestern in die verzweifelten Gesichter von jungen Menschen gesehen, die es erlebt haben und nicht fassen konnten, dass mit uns jetzt so gesprochen wird.
Wir sind in großer Not – auch wenn in diesen Tagen die Befürchtung ausgesprochen wird, dass alles noch viel schlimmer wird und es vielleicht zu Blutvergießen kommt. Wo sind wir denn hinge-kommen, dass wir Blutvergießen befürchten müssen, mitten in unserem Land und auf den Straßen unserer Städte. Wir sind an einem Punkt unserer Geschichte angekommen, wo jeder (oder sagen wir besser: fast jeder) erkennt, dass es so nicht weitergehen kann. Wir brauchen einen Neuanfang - und die Bibel sagt uns, wie das funktioniert. Missstände nennen und Schuld bekennen, nur so kommt es zu einer Veränderung (tosender Applaus). Veränderung ist ein Zeichen von Leben. Wo keine Veränderung stattfindet, da kann man nur noch den Tod registrieren. Unser Bekenntnis heißt: „Nach Tod und Dunkelheit siegt das Licht, wer an den Auferstandenen glaubt, fürchtet sich nicht!“ Wer das auch glaubt, kann jetzt aufstehen und mitsingen.
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