Fest und treu, Nr. 3 / 2000

(Artikel von Gerrit Albers)

 

 

IST SELBSTLIEBE BIBLISCH?

 

 

 

Einleitung:

In den letzten Jahren erscheinen auf dem evangelikalen Büchermarkt immer mehr Bücher, in denen „Selbstliebe“ und „Selbstannahme“ als grundlegende christliche Tugenden angepriesen werden.

Manche Autoren behaupten sogar, Selbstliebe sei die Voraussetzung, um Gott und den Nächsten lieben zu können.

Inzwischen haben diese Gedanken das Bewußtsein vieler Christen schon völlig durchdrungen. Wie anders ist es zu erklären, daß die Selbstliebe-Ideologie auf großen Kongressen, Konferenzen und Jugendtreffen vor Tausenden verkündigt werden kann, ohne daß auch nur ein einziger aufsteht und widerspricht?

Und wenn man widerspricht, bekommt man zur Antwort:

„Ja, aber es steht doch in der Bibel, daß man erst sich selbst lieben muß, um den Nächsten lieben zu können.“ Und dann wird der Satz zitiert: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!

 

Wir wollen fragen:

Ist das wirklich so? Ist Selbstliebe biblisch? Ist Selbstliebe vielleicht sogar ein Gebot des Herrn? Oder wird hier vielleicht etwas in die Bibel hineininterpretiert, was sie gar nicht sagen will? Handelt es sich am Ende um eine Unterwanderung der humanistischen Psychologie?

Wir wollen zu diesem Thema die Schrift befragen.

 

Bevor wir das tun, will ich in einem ersten Gedankengang kurz skizzieren, wo die Theorie der Selbstliebe herkommt und wie sie sich entwickelt hat.

 

1. Die Theorie der Selbstliebe

Die Theorie der Selbstliebe ist erst in unserem Jahrhundert voll zum Durchbruch gelangt. Nährboden dafür war die jahrtausende alte Lehre des Humanismus, und dann vor allem die am Ende des letzten Jahrhunderts entstandene neue, sogenannte Wissenschaft der Psychologie.

 

1956 veröffentlichte der amerikanische Psychologe deutscher Herkunft Erich Fromm sein Hauptwerk „Die Kunst des Liebens“ (The Art of Loving). Fromm war ein Schüler Siegmund Freuds und wurde später der Wortführer der „Neo-Psychoanalyse“.

Fromm formulierte in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ als einer der ersten die Theorie, daß ein Mensch zuerst sich selbst lieben muß, um andere lieben zu können. Eine Kostprobe aus Fromms Gedanken:

„Die heutige Kultur ist von einem Tabu verseucht: das Tabu, egoistisch zu sein. Uns wird beigebracht, daß es Sünde ist, sich selbst zu lieben, und eine Tugend, wenn wir andere lieben.“

Vielleicht ist es noch erwähnenswert, welches Gottesbild bei Erich Fromm vorlag. Er sah den Gott der Bibel als einen grausamen Diktator , der u.a. Kain dazu trieb, Abel zu ermorden. Kommentar überflüssig.

 

Nun haben natürlich andere Psychologen an dem Thema weitergearbeitet, vor allem die beiden amerikanischen humanistischen Psychologen Carl Rogers und Abraham Maslow.

Und es dauerte nicht lange, bis die Gedanken von der Selbstannahme und Selbstliebe auch im christlichen Gewand erschienen. In den Staaten hat der berühmte Fernsehprediger Robert Schuller eine gewisse Vorreiterrolle gespielt. Sein Buch „Self-Esteem, the New Reformation“ hat wirklich eine gewisse Reformation ausgelöst, nur leider keine positive. Ich zitiere Bob Schuller:

„Gott möchte, daß wir alle gut über uns denken. Wiedergeboren zu werden bedeutet, daß wir von einem negativen Bild über uns selber zu einem positiven verändert werden..... Luther und Calvin haben sich in ihrer Theologie geirrt, indem sie Gott und nicht den Menschen zum Zentrum ihrer Theologie gemacht haben....“

Soweit Schuller (übrigens einer der geistlichen Väter von Bill Hybels).

Weitere amerikanische Autoren nahmen das Thema der Selbstliebe auf und machten es in christlichen Kreisen populär, u.a. so bekannte Leute wie James Dobson, Bruce Narramore, Charles Swindoll, Norman Wright, Josh McDowell und viele andere.

 

In Deutschland erschien bereits 1975 ein kleines Büchlein von Walter Trobisch mit dem vielsagenden Titel „Liebe dich selbst“. Elf Jahre später, 1986, hatte es bereits die 16. Auflage errreicht (ca. 150.000)!

Das Buch beginnt mit einem üblen Zitat aus Hermann Hesse´s destruktivem Buch „Steppenwolf“ und entfaltet dann völlig unverblümt die Selbstliebe-Ideologie des Erich Fromm. Im zweiten Kapitel schreibt Trobisch über die Quelle seiner Ansichten:

„Die Bibel nimmt die Erkenntnis der Tiefenpsychologie vorweg, daß es keine Nächstenliebe ohne Selbstliebe gibt.“ Punkt!

Wir merken hier, wie Trobisch offenbar die Bibel durch die tiefenpsychologischen Brille von Freud und Fromm gelesen hat.

Dann fährt Trobisch auf Seite 14 fort:

„Jedenfalls.... enthält für mich das Liebesgebot Jesu nicht nur einen Imperativ und einen Indikativ, also einen Befehl (liebe deinen Nächsten) und eine feststellende Aussage (du liebst ja auch dich selbst), sondern das Liebesgebot Jesu enthält für mich auch einen zweiten Befehl: „Liebe... dich selbst!“ Oder moderner ausgedrückt: Nimm dich selber an! Nur wer sich selbst annimmt, kann den anderen annehmen. Nur wer sich selbst liebt, kann den anderen lieben.“ Zitatende.

Übrigens, wir betreuten in unserer Karlsruher Zeit ein junges Mädchen, die psychisch nicht stabil war. Eines Tages kam sie in das „EC-Seelsorge-Zentrum“ in Kassel. Das erste Buch, das sie dort ausgehändigt bekam und als Pflichtlektüre lesen mußte, war.... Meine Proteste halfen nichts....

Ich erspare mir jetzt, die deutschen christlichen Autoren aufzuzählen, die das Gedankengut der Selbstliebe verbreiten. Es wäre wohl einfacher, die wenigen zu nennen, die sich bisher noch weigern, es zu tun.

Das Ergebnis dieser Entwicklung können wir folgendermaßen zusammenfassen:

Nach den heutigen Ansichten ist es nicht mehr das Hauptproblem des Menschen, daß er Gott nicht verherrlicht, sondern, daß er sich selbst nicht achtet und sich selbst nicht liebt. Darum haben wir heute weitgehend ein Evangelium der Selbstsucht, das uns solange mit Selbstbestätigung überschüttet und psycho-therapeutisch aufbläht, bis wir in der Selbstanbetung enden.

 

 

2. Selbstliebe im biblischen Licht

Zunächst die Frage: Ist Selbstliebe wirklich ein Befehl oder ein göttliches Gebot?

 

Matthäus 22, 34 - 40:

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (V.39)

Ein Zitat aus 3. Mose 19, 18: „...und sollt deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Diese Aussage wird oft und an zentralen Stellen im NT zitiert (Markus 12, 31; Lukas 10, 27; Römer 13, 9; Galater 5, 14; Jakobus 2, 18).

 

Warum ist Jesu Aussage kein Befehl zur Selbstliebe?

a) es ist grammatisch unmöglich: hier steht kein Befehl, sondern ein Vergleich.

b) es ist sprachlich unmöglich: hier steht im griech. Text  „agape“, die sich

    aufopfernde Liebe, die nie auf sich selbst bezogen ist

c) es ist theologisch unmöglich: die Bibel nennt Selbstliebe Sünde (2. Timotheus 3, 2):

    die Endzeitmenschen werden... sich selbst liebend sein - philautoi)

d) es ist numerisch unmöglich: „An diesen zwei Geboten... (V.40)!

 

Nun behaupten Fromm und Trobisch, daß bei keinem Menschen die Selbstliebe angeboren sei, sondern daß sie erst im Laufe des Lebens erlernt werden müsse. Um diese Sicht zu belegen, zitiert Trobisch z.B. den Psychotherapeut Dr. Guido Groeger:

„Es scheint die Anschauung vorzuherrschen, als sei es selbstverständlich, daß jeder Mensch sich selbst liebt und es lediglich darauf ankomme, ihn ständig dazu anzuhalten, andere zu lieben... Der Tiefenpsychologe jedenfalls hat festzustellen, daß es keine angeborene Selbstliebe des Menschen gibt. Sie wird erworben oder nicht. Wer sie nicht oder nur ungenügend erwirbt, ist auch nicht oder nur ungenügend zur Liebe anderen wie auch Gott gegenüber fähig.“ Trobisch, S.9

 

Letztlich nur zwei Grundmöglichkeiten:

- das humanistische Menschenbild

- das biblische Menschenbild

 

Die humanistische Sicht des Menschen

- der Mensch ist ein Produkt der Evolution

- er hat einen guten Kern in sich

- die Umwelt macht ihn schlecht (Erziehung, Religion, Gesellschaft)

- dennoch kann er das Gute in sich entfalten und entwickeln

 

Die biblische Sicht des Menschen nach dem Fall

- tot in Sünden und Übertretungen (Epheser 2, 1)

- unfähig, Gott zu suchen und Gutes zu tun (Römer 3, 11-12)

- ein Rebell und Feind Gottes (Römer 5, 10)

- böse, verhaßt und andere hassend (Titus 3, 3)

- durch und durch egoistisch (2. Timotheus 3, 2)

 

Das ist das biblische Bild des gefallenen Menschen. Und weil diese Lehre in den letzten Jahrzehnten immer weniger gepredigt wird, statt dessen aber viel von Selbstachtung und Selbstliebe und Selbstannahme zu hören und zu lesen ist, darum gibt es heute zum Teil solch eigenartige „Bekehrungen“, wo man hinterher den Eindruck hat,

·      hier hat das Kreuz Jesu nicht wirklich seine Arbeit tun können...

·      hier ist nicht wirklich das alte Leben in den Tod gegeben worden...

·      hier ist nicht wirklich Christus im Zentrum eines Menschen und...

·      hier ist nicht wirklich neues, göttliches Leben in eine Seele eingeflossen...

 

Schaut, die Lehre der Schrift ist eindeutig und widerspricht jeder Idee von Selbstliebe.

 

 

3. Wie sieht die biblische Haltung zu mir selbst aus?

---> Lukas 9, 23-24:

„Er sprach aber zu allen: Wenn jemand mir nachkommen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten.“

 

...sich selbst verleugnen

- ist nach Jesus die erste Bedingung oder das erste Kennzeichen der Nachfolge...

- bedeutet nicht, sein Menschsein oder seine Persönlichkeit zu verleugnen...

- sondern, daß wir unsere eigenen Interessen und Lebensvorstellungen zugunsten

des Willens Gottes abgeben... (nicht wie ich will, sondern wie DU willst!)

 

...täglich

- nicht ein einmaliges Erlebnis, wodurch man ein für allemal verändert wird...

- sondern in der Haltung des Kreuzes und in der Lebensgemeinschaft mit Jesus

täglich neu einzuüben...

- auf diese Weise werden wir unser Leben retten und das wahre, überfließende

Leben finden...

- wenn wir IHN mehr lieben als uns selbst und IHM erlauben SEIN Leben durch uns

zu leben, dann werden wir reich beschenkt werden...

 

--> Lukas 14, 25-27:

„Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein; und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein Jünger sein.“

Wie kann man angesichts dieser eindeutigen Worte Jesu von einem Befehl zur Selbstliebe sprechen? Das geht nur, wenn man die biblischen Aussagen auf den Kopf stellt. Und genau das tun die Selbstliebe-Ideologen. Fromm, Trobisch, und Co. behaupten:

- Zuerst mußt du dich selber lieben, damit du

- zweitens andere lieben kannst und

- im anderen liebst du Gott.

 

Im NT steht etwas anderes.

--> 1. Johannes 4, 10 + 19

Liebe zu Gott und dem Nächsten entsteht nicht durch Selbstliebe, sondern beides kommt von Gott!

 

Die biblische Reihenfolge lautet:

1. Gott liebt den Menschen.

2. Wenn der Mensch Gottes Liebe erkennt und annimmt, kann er Gott wiederlieben.

3. Durch Gottes Liebe wird der Mensch fähig, auch andere Menschen zu lieben.

 

Deswegen gab uns der Herr Jesus das neue Gebot, daß wir uns untereinander so lieben sollen, wie er uns geliebt hat (Johannes 13, 34).

Das ist dann aber keine erlernte, eingeübte, selbstproduzierte Liebe des Menschen, sondern von Gott geschenkte Liebe, die durch den Heiligen Geist in unser Herz ausgegossen ist (Römer 5, 5). Das ist etwas völlig anderes.

 

 

Noch ein Gedankengang zum

Thema „Selbstannahme“

1. Das Wort „Selbstannahme“ kommt ebenso wie das Wort „Selbstliebe“ in der Bibel nicht vor. Wir sollten diese Begriffe daher auch nicht verwenden, da sie einseitig humanistisch gefüllt sind und allgemein ganz anders verstanden werden, wie wir sie vielleicht meinen.

 

2. Selbstannahme bedeutet in der Psychologie das uneingeschränkte Ja zu sich selbst, inklusive aller Sünden, Schwächen, Neigungen und Verhaltensweisen. Dieses Brutto-Ja zum gefallenen, sündigen Menschen kennt die Bibel nicht.

 

3. Wir müssen differenzieren.

 

Wozu darf und soll ich Ja sagen?

·      zu meinem von Gott gewollten Leben

·      zu den von Gott bestimmten Grundgegebenheiten meines Körpers, inklusive des Aussehens, des Geschlechts und der Sexualität

·      zu meinen von Gott gegebenen Eltern, Geschwistern und Kindern

·      zu meinen von Gott gegebenen Gaben, Fähigkeiten und Grenzen

·      zu meinem (unverschuldeten) Gesundheitszustand und Lebensalter

 

4. Wozu darf ich nicht Ja, sondern radikal Nein sagen?

·      zu meiner alten, von der Sünde vergifteten Natur (Fleisch)

·      zu allen bösen Gedanken, Worten, Taten und Unterlassungen, die aus dem alten Menschen kommen

 

 

 

Schluß

Als Eva von Thiele-Winkler ihr Leben dem Herrn und dem Dienst am Nächsten weihte, und ihr Liebeswerk an Armen, Kranken und Waisenkindern begann, da betete sie, „daß der Dämon der Selbstliebe keine Gewalt über sie gewinnen möge.

Gebe Gott, daß einige seiner Kinder heute auch noch so beten möchten!

Gebe Gott, daß wir mit dem Apostel Paulus von Herzen bekennen könnten:

„...nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben, und zwar im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Galater 2, 20).

 

 

07/96  Wilfried Plock, Mannheim

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:

Bertelsmann: „Lexikon der Psychologie“, Bertelsm. Lexikon Verlag, Gütersloh 1995

Bobgan, Dr. Martin u. Deidre: „Psychotherapie oder biblische Seelsorge

Brownback, Paul: „Selbstliebe - Eine biblische Stellungnahme“, Schulte + Gerth 1988

Bühne, Wolfgang: „Kann denn Liebe Sünde Sünde sein?“, CLV 1995

Gibson, Jean: „Seelsorge mit Verantwortung“, Fairhaven B. CH. San Leandro 1994

Nannen, Els: „Walter Trobisch und die Selbstliebe“, in BuG 4/85

Trobisch, Walter: „Liebe dich selbst“, Brockhaus 1986, 16. Aufl.