Tochtergemeinden – eine vergessene
Möglichkeit?
Wilfried Plock, Hünfeld
Sören Kierkegaard gebrauchte einmal folgendes Bild:
"Die Christen leben wie die Gänse
auf einem Hof. An jedem siebenten Tag wird eine Parade abgehalten, und der
redegewandteste Gänserich steht auf dem Zaun und schnattert über das Wunder der
Gänse. Er erzählt von den Taten der Vorfahren, die einst zu fliegen wagten, und
lobt die Gnade und Barmherzigkeit des Schöpfers, der den Gänsen Flügel und den
Instinkt zum Fliegen gab. Die Gänse sind tief gerührt, senken in Ergriffenheit
die Köpfe und loben die Predigt des redegewandten Gänserichs. Aber eines tun
sie nicht: Sie fliegen nicht, denn das Korn ist gut, und der Hof ist
sicher."
Ist das nicht auch unsere Gemeindesituation trotz
aller lobenswerten evangelistischen Einsätze? Die Zeit der Abenteuer, wie sie
unsere Pionierväter in den Anfängen erlebten, ist leider lange vorbei. Die
meisten Gemeinden leben für sich selbst, pflegen nur sich selbst und betreuen
zu 95 Prozent nur sich selbst. Wann beginnen wir wieder zu "fliegen"?
Warum gibt es in Mitteleuropa so viele etablierte Gemeinden, die bereits ihr
20., 30. oder 50. Gründungsjubiläum gefeiert, aber noch nie eine
Tochtergemeinde ins Leben gerufen haben? Tochtergemeinden - die vergessene Möglichkeit?
Dabei spricht so Vieles dafür ...
Donald McGavran gebrauchte immer wieder ein
Lieblingsbeispiel: "Was ist die
wahre Frucht eines Apfelbaums?" Ein Apfel? Falsch! Die wahre Frucht eines
Apfelbaums ist nicht ein Apfel, sondern ein weiterer Apfelbaum." Das
stimmt. Wenn die wahre Frucht ein Apfel wäre, dann hätte Gott sicherlich
kernlose Äpfel geschaffen. Aber Gott richtete es so ein, dass Bäume Samen
werfen, und weitere Bäume entstehen können. Wir erkennen in der Natur ein
Prinzip: Eine Pflanze wird nicht unendlich groß, sondern sie bringt weitere
Pflanzen hervor, die wiederum weitere Pflanzen hervorbringen.
Noch einmal zurück zum Apfelbaum. An einem Baum
können einzelne Äpfel wachsen. Das ist gut. Es können vielleicht auch ganz neue
Äste an ihm wachsen vielleicht mit vielen neuen, schönen Äpfeln. Aber das
Maximalziel wäre erst erreicht, wenn neue Apfelbäume entstehen würden ... das
heißt, neue Gemeinden.
a.) "Eine Gemeinde kann in der Regel nur ihr näheres Umfeld evangelistisch
erreichen. Gäste scheuen in der Regel zu große Anfahrtswege" (Ernst
Maier, Handbuch für Gemeindegründung,
S.134).
Die Glieder vieler Gemeinden wohnen geographisch
weit verstreut. Es wäre wünschenswert, wenn eines Tages wenigstens in den
benachbarten Stadtteilen, Städten oder großen Dörfern Gemeinden entstehen
könnten.
b.) Die Stadtteile einer Stadt
verstehen sich oft als "soziologische Einheit", besonders dann, wenn
sie früher einmal selbständig waren. In Mannheim sprechen die Einheimischen
heute noch von den "Käfertälern", "Wallstädtern" oder
"Feudenheimern", obwohl diese Stadtteile z.T. schon hundert Jahre zu
Mannheim gehören. Erfahrungen aus Großstädten zeigen, dass es sehr gut ist, in
solchen in sich geschlossenen Stadtteilen Gemeinden zu gründen.
Gemeinderäumlichkeiten haben meistens nur ein
begrenztes Fassungsvermögen. In Mannheim, Edisonstraße, überschritten wir z.B.
an vielen Sonntagen die für unser damaliges Gebäude zugelassene Personenzahl
von 70 Personen (inkl. Kinder). Gerade in Städten und Großstädten kann es bei
den gegenwärtigen Immobilien- und Mietpreisen sehr unweise sein, größere Räume
anzumieten oder gar zu erwerben. Die vernünftigere Lösung ist die Gründung von
Tochtergemeinden.
In länger bestehenden Gemeinden kommt es (leider)
oft vor, dass nicht mehr alle Gläubigen ihre Gaben einsetzen können. Irgendwann
sind die vorhandenen Aufgaben verteilt. Wenn dann die Gemeindeleitung versäumt,
ein Rotationsprinzip einzuführen (z.B. unter den Sonntagsschulmitarbeitern),
sind die neu Hinzukommenden zum Konsumentenchristentum verurteilt.
Strebt die Gemeinde hingegen zum geeigneten
Zeitpunkt eine Zellteilung an, wird „müßig stehen“ (Mt 20,6) vermieden. Die
Tochtergemeinde braucht jede Menge Mitarbeiter, um die vielfältigen Dienste
aufzubauen. Und auch die Mutter muss neue Arbeiter rekrutieren, um die
entstandenen Lücken zu füllen. Fazit: Es gäbe deutlich weniger Konsumentenchristentum,
wenn die Megagemeinden-Illusion aus unseren Köpfen verschwinden würde.
Das gesamte Neue Testament zeigt, dass die örtliche
Gemeinde keinen Selbstzweck besitzt. Das übergeordnete Ziel ist das Reich
Gottes. Die Ortsgemeinde ist lediglich Werkzeug dieses Reiches. Es ist wie in
einer Familie. Die Familie hat keinen Selbstzweck. Die übergeordnete Kategorie
ist die Gesellschaft. Darum dürfen Eltern ihre Kinder nicht lebenslang an sich
binden, sondern sie führen sie zur Selbständigkeit und lassen sie eines Tages
ziehen, um neue Familien zu gründen. Eine Gemeinde, die dieses Prinzip
verstanden hat, wird danach streben, Ableger zu bilden. Auf diese Weise kann an
einem anderen Ort ein neues Zeugnis entstehen. Neue Gemeinden erreichen neue
Leute. Das Reich Gottes wird ausgebreitet.
Ja, das kann passieren. Und es passierte in der
Praxis leider immer dann, wenn offensichtlich zu früh geteilt wurde. Darum kann
ich hier gar nicht oft genug betonen, dass der Zeitpunkt für die Geburt der
Tochtergemeinde reif sein muß. Bestimmte Grundvoraus-setzungen müssen unbedingt
erfüllt sein.
Aber auch dann bleibt eine Gemeindezellteilung ein
Glaubensschritt, der im bewußten Vertrauen auf Gottes Verheißungen hin getan
werden sollte. In Apg 13,1-3 berichtet Lukas, dass die Gemeinde in Antiochia
(heutiges Syrien) verschiedene Propheten und Lehrer hatte: Barnabas, Simon,
Lucius, Manaen und Saulus. In einer besonderen Einkehrzeit zeigte jedoch der
Heilige Geist der jungen Gemeinde, dass sie Barnabas und Saulus entlassen
sollte. So geschah es. Die besten „Pferde“ verließen den „Stall“. Doch Gott war
treu. Als Paulus und Barnabas von der ersten Missionsreise nach Antiochia
zurückgekehrt waren, „lehrten und
verkündigten (sie) mit NOCH VIELEN ANDEREN das Wort des Herrn“ (Apg 15,35).
Ein amerikanischer Bruder schrieb folgendes: „Der Maßstab sollte nicht an die
Sitzplatzkapazität einer Gemeinde angelegt werden, sondern an ihre
Sendungskapazität. Das Ziel unserer Gemeinde ist nicht die Aufrechterhaltung
des Status quo. Wir wollen Mitarbeiter und Leiter vervielfältigen.“ Und
weiter: „Als die Gemeinde eine bestimmte
Größe erreicht hatte, erkannten wir die Zeit, Tochtergemeinden zu gründen. Wir
begannen 1995 mit einer Gründungsarbeit in einer Nachbargemeinde. Indem wir
gehorsam waren und einige unserer besten Leiter sowie finanzielle Mittel an sie
abgaben, war Gott treu im Versorgen der Muttergemeinde. Heute sind unsere
Veranstaltungen mehr als doppelt so gut besucht wie vor fünf Jahren, und unsere
Finanzen solider als je zuvor.“ Gott segnet echte Glaubensschritte.
Antwort: Das wäre dann der Preis, der für eine neue
Gemeinde dieser Art bezahlt werden müsste. „Mutterfreuden“ und „Geburtsschmerzen“
gehören eben untrennbar zusammen. Überhaupt geht im Reich Gottes gar nichts
ohne Opfer. Wenn Gott nicht sein großes Opfer gebracht hätte, gäbe es die
Gemeinde Jesu Christi nicht.
Doch man sollte auch hier nicht übertreiben. Sicherlich können sich miteinander verbundene Christen nach einer Gemeindeteilung nicht mehr so häufig begegnen wie vorher. Aber die Gemeinschaft muss deswegen nicht zerbrechen. Besonders dann nicht, wenn Mutter- und Tochtergemeinde auch nach der Teilung weiterhin harmonisch zusammenarbeiten.
Noch etwas fiel mir in diesem Zusammenhang auf. Wenn
Gemeindeglieder aus beruflichen Gründen an einen anderen Ort ziehen, wird das
viel leichter akzeptiert. Warum eigentlich? Der treue Herr möge uns vor einem
scheinfrommen "Gemeinde-Egoismus" bewahren! Letztlich gilt in allen
Belangen der Grundsatz: „Geben ist
seliger als Nehmen“ (Apg 20,35).
Es gibt verschiedene Modelle der Gemeindegründung.
Da ist z.B. das „Pioniermodell“, das „Missionsteammodell“ oder das
„Zellteilungsmodell“. Jedes hat Vor- und Nachteile.
a.) Die Muttergemeinde gibt
einen Teil ihrer Glieder an die neue Arbeit ab. Somit ist von Anfang ein
gewisser Grundstock vorhanden. Unter Umständen gibt sie sogar erfahrene Leiter
und Mitarbeiter an die Tochterarbeit ab. Das ist wohl der Grund, warum solche
Gründungsarbeiten im Vergleich zum Pioniermodell in der Regel viel schneller
wachsen.
b.) Die Muttergemeinde trägt bis
zum Selbständigwerden die (letzte) Leitungsverantwortung für das neue Projekt.
Auf diese Weise ist eine Lehrkontinuität in hohem Maße gewährleistet.
c.) Die Muttergemeinde gewährt
jede erdenkliche Unterstützung, sei es in personeller, materieller oder
finanzieller Form. Das ist zu Beginn einer Gemeindeaufbauarbeit ein
unschätzbarer Vorteil.
d.) Schwächen und Krisen in der
Gründungsphase können von der Muttergemeinde aufgefangen, zumindest aber
abgemildert werden.
e.) Der Ablösungsprozess kann durch gute Kommunikation zwischen
Mutter und Tochter sehr individuell gestaltet werden.
f.) Das Gründungsteam kann den
Rahmen der Muttergemeinde samt Veranstaltungen und Infrastruktur noch solange
nutzen, bis die Tochterarbeit schrittweise eigene Strukturen aufgebaut hat.
g.) Die Muttergemeinde gewinnt
durch den „Aderlass“ Platz und neuen Freiraum zu wachsen. Sie wird neu
herausgefordert, Mitarbeiter und Leiter zuzurüsten.
h.) Es kommt sogar vor, dass
zwei oder drei Gemeinden Glieder für ein gemeinsames Gründungsprojekt abgeben.
Craig Ott bezeichnet das als „Multi-Mutter-Gemeindegründung“. Dieser
uneigennützige Reich-Gottes-Blick ist allerdings fast so selten wie die Blaue
Mauritius.
a.) Die Muttergemeinde kann
versucht sein, dem Gründungsteam der Tochterarbeit zu viel und zu stark
dreinzureden.
b.) Die Muttergemeinde kann
versucht sein, bei Abweichen von ihrer Linie den Geldhahn zuzudrehen oder
andere Formen der Unterstützung zu verweigern. Abhängigkeit kann ausgenutzt
werden.
c.) Die Muttergemeinde kann das „Kind“ verwöhnen, so dass die neue
Gemeinde nicht auf die eigenen Beine kommt.
d.) Wenn nicht möglichst die
gesamte Muttergemeinde entlassend und helfend hinter dem Gründungsprojekt
steht, kann aus der homogenen Zellteilung eine Abspaltung werden.
e.) Unzufriedene Gläubige, die
mit ihren Vorstellungen nicht durchkommen, flüchten sich manchmal in ein
solches Gründungsteam, um dort ihre eigenen Ideen besser verwirklichen zu
können.
f.) Ein Kind kann Krankheiten
von der Mutter erben. So können sich lehrmäßige Schwächen oder Streitlust von
der einen auf die andere Gemeinde „vererben“.
g.) Wenn sich die Glieder der
neuen Gemeinde vom Herrn anders geführt sehen als die Muttergemeinde, kann es
große Spannungen geben. Zu starker Konformitätsdruck wird früher oder später
Probleme hervorrufen.
Vor diesen Nachteilen oder Problemen dürfen wir
nicht die Augen verschließen. Aber sie sind allesamt nicht unüberwindlich. Es
gilt hier wie so oft: Erkannte Gefahr ist (ein ganzes Stück weit) gebannte
Gefahr.
1. Die Muttergemeinde muss
samt ihrer Leitung hinter dem Projekt stehen. Sonst gibt es statt einer
Zellteilung eine Gemeindespaltung.
2. Die Muttergemeinde sollte
in ausreichendem Maß durch Lehre, Predigt und Bibelarbeiten auf das Entlassen
der Gemeindeglieder vorbereitet werden. Im Idealfall sollte es die
Muttergemeinde als großes Vorrecht ansehen, zur Gründung einer neuen Zelle
beitragen zu dürfen.
3. Der ganze Prozess sollte
langsam und unter viel Gebet geschehen. Was aus dem Ärmel geschüttelt wird, ist
ärmlich. Was übers Knie gebrochen wird, zerbricht vielleicht später wieder.
Keine Gemeinde ist so geistlich, dass ihr die räumliche Trennung von einem Teil
der Geschwister nichts ausmachen würde. Gesunde Ablösung braucht Zeit,
Ermutigung und vor allem Gebet. Sie gelingt nur, wenn sie geistlich geschieht.
4. Beide Gruppen sollten die
Kosten gut und nüchtern überschlagen. Die entlassende Gemeinde verliert
zunächst einmal Gemeindeglieder, Mitarbeiter, evtl. Leiter und auch Spenden.
Weil das so ist, sollte die Muttergemeinde gefestigt sein und m.E. auch an Zahl
über die Hundertermarke gewachsen sein. Ausnahmen bestätigen auch hier nur die
Regel. In größeren Städten kann eine zahlenmäßig stärkere Gemeinde mehr
Dienstbereiche aufbauen; z.B. eine gemeindebezogene Studentenarbeit,
verschiedene Formen der Randgruppenarbeit, etc.
Das Gründungsteam hingegen muss gut überlegen: Haben
wir genügend Mitarbeiter, in der gottesdienstlichen Versammlung, in der
Sonntagsschule, in der evangelistischen Arbeit und in anderen wichtigen
Bereichen? Haben wir einen geeigneten Versammlungsraum samt Nebenräumen? Was
sind unsere letzten Motive? Geht es uns um das Zeugnis Jesu am neuen Ort?
Judäa und
Samaria
Der Herr Jesus gab seinen Jüngern den Auftrag, seine
Zeugen zu sein, in Jerusalem, in Judäa
und Samaria und bis an das Ende der Erde (Apg 1,8).
Viele Gemeinden wirken in ihrem „Jerusalem“ und unterstützen auch die weltweite
Missionsarbeit. Aber kann es sein, dass wir unser „Judäa und Samaria“
vergessen? Kann es sein, dass unser Nachbarstadtteil oder der zehn Kilometer
entfernt gelegene Ort noch keine biblisch ausgerichtete Gemeinde besitzt?
Ich möchte zukünftig mehr dafür beten und mich mehr
dafür einsetzen, dass Tochtergemeinden entstehen, und dass vielleicht sogar
einige „ältere Damen“ noch Mutterfreuden erleben dürfen. Gemeindegründung ist
Ausführen des Auftrages Jesu. Beginnen wir doch wieder zu "fliegen",
obwohl das Korn gut und der Hof sicher ist.
KfG im Internet: http://www.kfg.org