Wilhelm Busch

Abel

 

„Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot."

1. Mose 4, 8b

 

Man hat mich gewarnt: „Die alttestamentlichen Vorbilder des Kreu­zes Christi interessieren den modernen Menschen nicht." Nun, dann muss ich das tragen! Um so mehr hoffe ich, dass geistlich gerichtete Menschen einen Gewinn davon haben.

Im Alten Testament lebt Christus. So ist das Erleben vieler Personen dieses Buches ein heimlicher Hinweis auf Seinen Tod am Kreuz. Das will ich heute an Abel zeigen.

 

 

Der getötete Gottesknecht

 

1. Sein Tod ist das Wichtigste, was von ihm zu sagen ist

Das erste Menschenpaar hat gesündigt und ist aus dem Paradies ver­trieben worden. Adam baut seinen Acker im Schweiße seines An­gesichts. Eine große Kinderschar (1. Mose 5, 4) umgibt ihn. Aber nur von Zweien wird uns etwas berichtet: von Kain und Abel. Welch ein Gegensatz zwischen diesen Brüdern: Abel — ein stiller Knecht Gottes. Wir hören kein Wort aus seinem Munde. Nur von einer stillen Opferhandlung wird uns erzählt.

Kain — ein roher Mensch, der sich verschließt gegen alles Anklopfen Gottes an seinem Herzen. In ihm lebt ein abgrundtiefer Hass gegen Abel. Und eines Tages schlägt er ihn tot.

Himmel und Erde halten den Atem an: Der erste Mensch, der den Tod erleidet, ist ein Erschlagener, ein Ermordeter! Jahrtausende  vergehen. Und  wieder  wird  einer ermordet: „Jesus neigte sein Haupt und verschied." Wieder halten Himmel und Erde den Atem an. Denn der da am Kreuze stirbt, ist auch ein Erster: der Erste dem Range nach. Er ist der, durch den Gott Himmel und Erde geschaffen hat, der eingeborene Sohn Gottes. Er wird gewaltsam getötet. —

Nun ist es mir bei den Berichten über Abel aufgefallen, dass nicht viel anderes von ihm erzählt wird als sein Tod. Wie gerne möchte ich manches wissen aus seinem frommen Leben! Aber nur sein Tod ist der Bibel wichtig. Das ist mir ein klarer Hinweis auf Jesus. Sein Sterben ist das Wichtigste. Vor einiger Zeit hat ein bedeutender Mann gesagt: „Man soll uns doch nicht immer vom Kreuzestod Jesu reden. Viel wichtiger ist das Leben Jesu, Seine Reden und Taten."

Die Bibel ist anderer Ansicht. Achtet einmal darauf, welch unverhält­nismäßig großen Raum in den Evangelien der Tod Jesu einnimmt! Während alles andere nur wie im Fluge erzählt wird, wird das Ster­ben des Heilandes ganz ausführlich berichtet. Ja, als in der Offen­barung der Apostel Johannes den erhöhten Herrn schauen durfte, sah er Ihn „wie ein Lamm, das erwürget ist". Und bei der Schilde­rung Seiner Wiederkunft wird gesagt, dass „Sein Kleid mit Blut be­sprengt ist".

Jesu Kreuz und Tod ist vor allem wichtig. Denn dieser Tod ist die Versöhnung der Sünder mit Gott. Dieser Tod ist unser Leben. Die­ser Tod ist unser Loskauf. Vom Kreuze Jesu gehen Ströme des Frie­dens aus. Ich wüsste nicht, was tröstlicher wäre für Herz und Gewis­sen als ein Blick auf Jesu Kreuz.

 

2. Das Blut gibt keine Ruhe

Wie viel Leichen Erschlagener haben auf dem Erdboden gelegen! Das Blut von Millionen hat die Erde getrunken. Ist es da nicht merkwür­dig, dass darüber dieser erste Erschlagene nicht in Vergessenheit ge­riet? Jahrtausende waren nach seinem Tode vergangen. Da fing Jesus an, von ihm zu sprechen. Und wieder nach Jahrzehnten wird dieser Abel erwähnt von dem unbekannten Schreiber des Hebräer­briefes. Bis in die Gegenwart hinein wird von ihm geredet. Kann denn dies Blut nicht zur Ruhe kommen?

Nein! Gleich nach der Tat hat Gott den Kain gestellt und hat ihm etwas Seltsames gesagt: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde." Und ebenso heißt es im Hebräerbrief, dass das Blut Abels „rede".

Blut, das redet! Blut, das schreit! Blut, das zeugt!

Der Schreiber des Hebräerbriefes schaut an dieser Stelle (12, 24) hin­über zum Kreuze Jesu und sagt: Auch das Blut des Sohnes Gottes, das am Kreuz vergossen wurde, redet. Ja, hier steht etwas, was über­aus tröstlich ist. Da heißt es: „Das Blut Jesu redet besser als das Blut Abels." Seine Sprache ist lauter, eindrücklicher, stärker. Und das ist gut.

Was schreit denn Abels Blut? Es schreit:  „Strafe! Rache! Vergel­tung!" Und so schreit alles vergossene Blut auf der Erde. Und was redet Jesu Blut? Es schreit: „Gnade!"

Welch eine herrliche Tatsache! Sooft mein Gewissen mir bezeugt, dass ich vor dem heiligen Gott nicht bestehen kann, flüchte ich mich im Glauben unter Jesu Kreuz. Da ruft Sein Blut „Gnade!" für mich. Und es schreit so, dass Gott die Ohren davor nicht verstopfen kann. Wie ist es gut, dass auch Jesu Blut nicht zur Ruhe kommt! dass es heute noch ebenso „Gnade!" schreit wie zu der Zeit, als Johannes schrieb: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde." Da brauche ich nur das Bekenntnis zu bringen: „Ich bin nichts als ein Sünder." Das Blut Jesu Christi vertritt mich völlig.

Dies redende Blut ist ein großes Geheimnis. Die Welt meint, es sei in den Sand von Golgatha geronnen. Sie hört es nicht, so wie Kain auch die Stimme von Abels Blut nicht hörte. Die Welt ist betäubt von ihrem eigenen Lärm. Vor Gott aber ist der Weltlärm gering. Doch laut schreit vor Seinem Throne Jesu Blut „Gnade!" für alle, die es annehmen. Ja, für alle Welt!

 

3. Der Hass kommt nicht zur Ruhe

Als Kain seinen Bruder erschlagen hatte, trat ihm Gott in den Weg: „Wo ist dein Bruder Abel?" Da gibt Kain eine Antwort, die zeigt: Er will auch mit dem toten Abel nichts zu schaffen haben. Er will nicht an ihn erinnert werden. Sein Hass geht weiter.

Ist es nicht so mit Jesus? Nichts ist dem natürlichen Wesen des Men­schen verhasster als das Kreuz Christi. Religion will der Mensch wohl noch gelten lassen. Aber nicht das Kreuz des Sohnes Gottes. Am liebsten möchte er darüber zur Tagesordnung übergehen. Kain hasst auch den toten Abel. Und der Geist der Welt hasst den gekreuzigten Christus. — Als ich in den zwanziger Jahren im Norden Essens Pfarrer war, hielt ich in einem kleinen Kreis meine Bezirks­bibelstunde, die immer wieder gestört wurde. Es war, als ob die kleine Schar, die sich um Jesu Kreuz sammelte, das ganze Viertel in Unruhe brächte. Eines Tages war es besonders toll. Ganze Horden von Männern tobten vor unserm Sälchen, bis man plötzlich einen schweren Fall hörte. Dann lief alles fort. Ich stürmte hinaus. Da lag vor der Tür im Schmutz ein großes, eisernes Kruzifix. Das hatten sie irgendwo ausgerissen und uns hingeworfen. O wie dies Kreuzesbild im Schmutz redete von Kains Hass gegen Jesus!

Der Kampf zwischen Kain und Abel geht mitten durch unser Herz. Der Abel-Geist in uns sagt: „In meines Herzens Grunde / dein Nam und Kreuz allein / funkelt all Zeit und Stunde..." Der Kains-Geist in uns aber will andre Bilder im Herzen funkeln sehen. Er will von dem toten Abel, dem gekreuzigten Heiland, nichts wissen. Der Herr schenke uns, dass der Kains-Geist in uns ganz vertrieben werde!