„Und es begab
sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und
schlug ihn tot."
1. Mose 4, 8b
Man hat mich gewarnt: „Die alttestamentlichen Vorbilder des
Kreuzes Christi interessieren den modernen Menschen nicht." Nun, dann
muss ich das tragen! Um so mehr hoffe ich, dass geistlich gerichtete Menschen
einen Gewinn davon haben.
Im Alten Testament lebt Christus. So ist das Erleben vieler
Personen dieses Buches ein heimlicher Hinweis auf Seinen Tod am Kreuz. Das will
ich heute an Abel zeigen.
1. Sein Tod ist das Wichtigste, was von ihm zu sagen ist
Das erste Menschenpaar hat gesündigt und ist aus dem
Paradies vertrieben worden. Adam baut seinen Acker im Schweiße seines Angesichts.
Eine große Kinderschar (1. Mose 5, 4) umgibt ihn. Aber nur von Zweien wird uns
etwas berichtet: von Kain und Abel. Welch ein Gegensatz zwischen diesen
Brüdern: Abel — ein stiller Knecht Gottes. Wir hören kein Wort aus seinem
Munde. Nur von einer stillen Opferhandlung wird uns erzählt.
Kain — ein roher Mensch, der sich verschließt gegen alles
Anklopfen Gottes an seinem Herzen. In ihm lebt ein abgrundtiefer Hass gegen
Abel. Und eines Tages schlägt er ihn tot.
Himmel und Erde halten den Atem an: Der erste Mensch, der
den Tod erleidet, ist ein Erschlagener, ein Ermordeter! Jahrtausende vergehen. Und wieder wird einer
ermordet: „Jesus neigte sein Haupt und verschied." Wieder halten
Himmel und Erde den Atem an. Denn der da am Kreuze stirbt, ist auch ein Erster:
der Erste dem Range nach. Er ist der, durch den Gott Himmel und Erde geschaffen
hat, der eingeborene Sohn Gottes. Er wird gewaltsam getötet. —
Nun ist es mir bei den Berichten über Abel aufgefallen, dass
nicht viel anderes von ihm erzählt wird als sein Tod. Wie gerne möchte ich
manches wissen aus seinem frommen Leben! Aber nur sein Tod ist der Bibel
wichtig. Das ist mir ein klarer Hinweis auf Jesus. Sein Sterben ist das
Wichtigste. Vor einiger Zeit hat ein bedeutender Mann gesagt: „Man soll uns
doch nicht immer vom Kreuzestod Jesu reden. Viel wichtiger ist das Leben Jesu,
Seine Reden und Taten."
Die Bibel ist anderer Ansicht. Achtet einmal darauf, welch
unverhältnismäßig großen Raum in den Evangelien der Tod Jesu einnimmt! Während
alles andere nur wie im Fluge erzählt wird, wird das Sterben des Heilandes
ganz ausführlich berichtet. Ja, als in der Offenbarung der Apostel Johannes
den erhöhten Herrn schauen durfte, sah er Ihn „wie ein Lamm, das erwürget
ist". Und bei der Schilderung Seiner Wiederkunft wird gesagt, dass „Sein
Kleid mit Blut besprengt ist".
Jesu Kreuz und Tod ist vor allem wichtig. Denn dieser Tod
ist die Versöhnung der Sünder mit Gott. Dieser Tod ist unser Leben. Dieser Tod
ist unser Loskauf. Vom Kreuze Jesu gehen Ströme des Friedens aus. Ich wüsste
nicht, was tröstlicher wäre für Herz und Gewissen als ein Blick auf Jesu
Kreuz.
2. Das Blut gibt keine Ruhe
Wie viel Leichen Erschlagener haben auf dem Erdboden
gelegen! Das Blut von Millionen hat die Erde getrunken. Ist es da nicht merkwürdig,
dass darüber dieser erste Erschlagene nicht in Vergessenheit geriet?
Jahrtausende waren nach seinem Tode vergangen. Da fing Jesus an, von ihm zu
sprechen. Und wieder nach Jahrzehnten wird dieser Abel erwähnt von dem
unbekannten Schreiber des Hebräerbriefes. Bis in die Gegenwart hinein wird von
ihm geredet. Kann denn dies Blut nicht zur Ruhe kommen?
Nein! Gleich nach der Tat hat Gott den Kain gestellt und hat
ihm etwas Seltsames gesagt: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu
mir von der Erde." Und ebenso heißt es im Hebräerbrief, dass das Blut
Abels „rede".
Blut, das redet! Blut, das schreit! Blut, das zeugt!
Der Schreiber des Hebräerbriefes schaut an dieser Stelle
(12, 24) hinüber zum Kreuze Jesu und sagt: Auch das Blut des Sohnes Gottes,
das am Kreuz vergossen wurde, redet. Ja, hier steht etwas, was überaus
tröstlich ist. Da heißt es: „Das Blut Jesu redet besser als das Blut
Abels." Seine Sprache ist lauter, eindrücklicher, stärker. Und das ist
gut.
Was schreit denn Abels Blut? Es schreit: „Strafe! Rache! Vergeltung!" Und so
schreit alles vergossene Blut auf der Erde. Und was redet Jesu Blut? Es
schreit: „Gnade!"
Welch eine herrliche Tatsache! Sooft mein Gewissen mir
bezeugt, dass ich vor dem heiligen Gott nicht bestehen kann, flüchte ich mich
im Glauben unter Jesu Kreuz. Da ruft Sein Blut „Gnade!" für mich. Und es
schreit so, dass Gott die Ohren davor nicht verstopfen kann. Wie ist es gut,
dass auch Jesu Blut nicht zur Ruhe kommt! dass es heute noch ebenso
„Gnade!" schreit wie zu der Zeit, als Johannes schrieb: „Das Blut Jesu
Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde." Da brauche
ich nur das Bekenntnis zu bringen: „Ich bin nichts als ein Sünder." Das
Blut Jesu Christi vertritt mich völlig.
Dies redende Blut ist ein großes Geheimnis. Die Welt meint,
es sei in den Sand von Golgatha geronnen. Sie hört es nicht, so wie Kain auch
die Stimme von Abels Blut nicht hörte. Die Welt ist betäubt von ihrem eigenen
Lärm. Vor Gott aber ist der Weltlärm gering. Doch laut schreit vor Seinem
Throne Jesu Blut „Gnade!" für alle, die es annehmen. Ja, für alle Welt!
3. Der Hass kommt nicht zur Ruhe
Als Kain seinen Bruder erschlagen hatte, trat ihm Gott in
den Weg: „Wo ist dein Bruder Abel?" Da gibt Kain eine Antwort, die zeigt:
Er will auch mit dem toten Abel nichts zu schaffen haben. Er will nicht an ihn
erinnert werden. Sein Hass geht weiter.
Ist es nicht so mit Jesus? Nichts ist dem natürlichen Wesen
des Menschen verhasster als das Kreuz Christi. Religion will der Mensch wohl
noch gelten lassen. Aber nicht das Kreuz des Sohnes Gottes. Am liebsten möchte
er darüber zur Tagesordnung übergehen. Kain hasst auch den toten Abel. Und der
Geist der Welt hasst den gekreuzigten Christus. — Als ich in den zwanziger
Jahren im Norden Essens Pfarrer war, hielt ich in einem kleinen Kreis meine
Bezirksbibelstunde, die immer wieder gestört wurde. Es war, als ob die kleine
Schar, die sich um Jesu Kreuz sammelte, das ganze Viertel in Unruhe brächte.
Eines Tages war es besonders toll. Ganze Horden von Männern tobten vor unserm
Sälchen, bis man plötzlich einen schweren Fall hörte. Dann lief alles fort. Ich
stürmte hinaus. Da lag vor der Tür im Schmutz ein großes, eisernes Kruzifix.
Das hatten sie irgendwo ausgerissen und uns hingeworfen. O wie dies Kreuzesbild
im Schmutz redete von Kains Hass gegen Jesus!
Der Kampf zwischen Kain und Abel geht mitten durch unser
Herz. Der Abel-Geist in uns sagt: „In meines Herzens Grunde / dein Nam und
Kreuz allein / funkelt all Zeit und Stunde..." Der Kains-Geist in uns aber
will andre Bilder im Herzen funkeln sehen. Er will von dem toten Abel, dem
gekreuzigten Heiland, nichts wissen. Der Herr schenke uns, dass der Kains-Geist
in uns ganz vertrieben werde!