Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

Debora im Luftschutzkeller

 

Offen gestanden – ich habe immer ein wenig Angst vor der alten „Mutter Berger“ gehabt. Denn sie hatte die Pfarrer im Verdacht, dass es ihnen an dem rechten Eifer für das Reich Gottes fehle. Sie wird wohl in einem langen Leben ihre Erfahrungen gesammelt haben.

Und weil sie nicht zu den Leuten gehörte, die hinter dem Rücken kritisieren, so besuchte sie mich ab und zu und sagte mir ihre Meinung oder gab mir Aufträge. Das war nicht immer ganz leicht zu ertragen. Aber oft musste ich ihr auch Recht geben. Und wenn sie dann mit einem betete zum Schluss des Gesprächs, dann war alles gut. Ihre Gebete waren gewaltig: Da spürte man das Erschrecken vor Gottes Majestät. Da brach eine brennende Liebe zum Herrn Jesus und zu den Menschenkindern heraus. Da wurde man erschüttert durch das Eifern um das Reich und die Ehre Gottes.

So ähnlich stelle ich mir Debora, das Weib Lapidoths, vor, die als Richterin in Israel die Kanaaniter schlug. Die Kenner der Bibel wissen, dass man im 4. Kapitel des Richterbuches von ihr lesen kann. Und ich kam mir neben der Mutter Berger immer wie der Barak vor, von dem dasselbe Kapitel berichtet, dass er nicht ganz mitkam neben dem gewaltigen Glauben der Debora.

Der furchtbare Bombenkrieg brach über unsre Stadt Essen herein. Immer häufiger wiederholten sich die Schreckensnächte, in denen verzweifelte Menschen durch die Strassen irrten und nicht wussten, wo sie sich vor dem Feuer bergen sollten.

Hunderttausende flohen aufs Land. Als man der Mutter Berger nahe legte, sie solle sich doch auch evakuieren lassen, tat sie das kurz ab: „Ich habe hier meine Aufgabe.“

In der Tat, die hatte sie! Wie viele mögen sich an dieser glaubensstarken Frau aufgerichtet haben in jenen schrecklichen Jahren!

Eines Nachts saß sie wieder im Keller mit den anderen Hausbewohnern. Das waren gottlose Leute, die über die alte Frau nur lächelten.

Dann kam der Angriff. Wer je solch eine Stunde miterlebt hat, weiß, welch eine Qual das für die Nerven ist: das Heulen der Sprengbomben, das teuflische Zischen der Brandbomben, das zerreißende Krachen der Explosionen. Da wird eine Minute zur Ewigkeit. Und solch ein Angriff dauerte oft 50 Minuten!

Die Leute im Keller schrieen. Sie klammerten sich aneinander. Jeden Augenblick konnte man verschüttet oder zerrissen werden.

Da rief auf einmal eine Frau: „Mutter Berger! Beten Sie doch!“

Mutter Berger, die bisher gelassen und ruhig dagesessen hatte, fuhr auf: „Wie könnte ich jetzt mit Euch den Gott anrufen, den Ihr bisher verachtet habt?“

„Mutter Berger, beten Sie!“ schrie die Frau.

„Ich will es tun“, sagte Mutter Berger, „wenn Ihr von jetzt an den Herrn suchen wollt!“

„Ja, das wollen wir!“ rief es aus allen Ecken des Kellers, in dem das Entsetzen nun völlig Platz gegriffen hatte. Das Licht war längst ausgegangen. Der Keller bebte wie ein Schiff im Sturm. Die Bomben krachten, heulten, zischten. Kalkstaub erfüllte die Luft. Man saß wirklich im Rachen des Todes.

„Ja, wir wollen Gott suchen!“ riefen die Leute. „Wir werden am nächsten Sonntag mit Ihnen zur Kirche gehen!“

Und dann betete diese arme, alte, schwache Frau, die im Glauben stark war, und der ihr Gott Ruhe und Gelassenheit gab, laut und tröstlich. Sie stellte diesen Keller mit all seinen verlorenen Insassen in die Hand ihres Herrn. Sie dankte Ihm für Seine Gegenwart und rief Ihn mit starker Stimme um Hilfe, Kraft und Trost an.

Über solchem Gebet des Glaubens wurde es still. Die Leute erlebten etwas von dem Frieden, „der höher ist als alle Vernunft“.

Dann war endlich der schauerliche Angriff vorüber. Still gingen alle in ihre Wohnungen – – –

Und nun kam der Sonntagmorgen. Mutter Berger ging von Tür zu Tür und lud ein zum Gottesdienst: „Ihr habt mir versprochen, den Herrn zu suchen. Jetzt kommt mit mir, Sein Wort zu hören!“

Dann musste sie schließlich doch ganz allein gehen. In der einen Wohnung schlug man ihr vor der Nase die Türe zu. In einer anderen stammelte man verlegene Entschuldigungen. In einer dritten jagte man sie mit einem Fluch weg, und in der vierten lachte man sie einfach aus – – –

Es war 14 Tage später: Wieder eine Schreckensnacht! Wieder saßen die Leute im Keller. Wieder war das Licht verlöscht. Wieder heulten, krachten und zischten die Bomben über einer sterbenden Stadt.

Die Leute im Keller von Mutter Berger wollten diesmal stark sein. Sie hatten sich ein wenig geschämt, dass sie so „die Nerven verloren hatten“. Aber als eine halbe Stunde vergangen war und der Schrecken sich nur immer mehr steigerte, da war es mit ihrer Stärke vorbei. Und dann fiel ihnen wohl ein, wie ihre Herzen über dem starken Gebet der alten Frau ruhig geworden waren.

Die Mutter Berger war ja wieder unter ihnen. Ja, gelassen und still versunken saß sie in einer Ecke.

Und dann schlug eine schwere Bombe ganz in der Nähe ein. Man hörte sie heranheulen … eine Schrecksekunde … dann ein ohrenbetäubendes Krachen, Bersten … Kalkstaub … man meinte, man müsse ersticken …

Da schrie ein Mann entsetzt: „Frau Berger! Beten Sie doch!“ Und alle fielen ein: „Mutter Berger! Beten Sie!“

Einen kurzen Augenblick war es still. Man hörte nur das Getöse des Angriffs. Dann kam die Stimme der Mutter Berger durch die Dunkelheit – und man wusste nicht, ob sie hart oder traurig klang: „Mit Euch kann ich nicht mehr beten. Ihr verachtet ja meinen Gott!“

Und sie überließ die Leute ihrem Entsetzen – –

Debora im Luftschutzkeller! – –

Mutter Berger wurde später schwer krebskrank. Lange lag sie im Krankenhaus. Dann schickte man die alte Witwe als einen hoffnungslosen Fall nach Hause.

Bald nachher trafen wir sie auf der Straße. Sie war – wie so oft – auf Wegen der Liebe. Sie konnte es nicht lassen, den Menschenkindern, an denen sie eine Aufgabe hatte, nachzugehen.

Wir waren entsetzt: „Mutter Berger! Sie sind doch krank! Wie können Sie so herumlaufen! Was macht denn der Krebs?“

Da winkte sie etwas ärgerlich mit der Hand und sagte dann gelassen: „Was geht mich mein Krebs an?“

So blieb sie stark und getrost, bis ihr Herr sie heim rief zur Ruhe der Kinder Gottes. Wir aber trauerten um eine „Mutter in Israel“.