Der Regen strömte. Die Berge
des Sauerlandes waren von Wolken und Nebel verhängt.
Doch meine 150 rauben
Burschen, die unverdrossen hinter mir herzogen, sangen: „Regen, Wind, wir
lachen drüber …“
Es war eine wild zusammengewürfelte Schar. Auf den einsamen Höfen
verschlossen die Bauern erschrocken die Türen. Sie dachten wohl, jetzt sei
wieder einmal eine Revolution ausgebrochen.
Wir lachten. Denn wir waren
in einer ganz friedlichen Stimmung …
Wie soll ich nun mit ein
paar Worten erklären, wie es zu dieser wunderlichen „Fahrt“ kam? Da müssen wir
schon weiter ausholen, und der Leser muss ein wenig Geduld haben:
Es war im Jahre 1932. Unser
Volk war aufgespalten in unendlich viele politische
und weltanschauliche Parteien, die sich mit fanatischem Hass bekämpften. Und
dabei nahm die Not täglich zu. Die Zahl der Erwerbslosen war ins Ungemessene
gestiegen.
Da saß eines Tages ein
junger Erwerbsloser vor mir. Sein Gesicht drückte hoffnungslose Verzweiflung aus:
„Sehen Sie! Wenn ich jetzt in die Ruhr springe, entsteht gar keine Lücke. Jeder
ist nur froh, dass ich weg bin. Dann ist mein Vater mich los, der mich jeden
Tag einen unnützen Esser nennt. Und der Staat spart die Unterstützung. Wissen
Sie, wie das ist, wenn man völlig überflüssig ist?“
Da begann ich zu überlegen:
Es gibt doch noch einen Stand, der in langen Ausbildungsjahren keine produktiven
Werte schafft und der doch dieses entsetzliche Gefühl der Wertlosigkeit nicht
hat: Das sind die Studenten. Wie wäre es, wenn ich diese Erwerbslosen in
Studenten verwandelte? Das wäre immerhin eine seelische Hilfe! Gewiss, sie ist
gering! Aber die Größe der Dunkelheit darf uns nicht hindern, unsre kleine
Kerze anzuzünden.
So gründeten wir die „Universität
für Erwerbslose“. Das wurde eine schöne und fröhliche Sache! Bald versammelten
sich jeden Morgen 500 strebsame junge Männer in den Räumen des großen
Jugendhauses zu ernster Arbeit. Da gab es Gruppen für Englisch, Französisch,
Mathematik, Landwirtschaft, Musik, Stenographie, Esperanto, Jiu-Jitsu,
Architektur, und was man sich nur denken kann. Die Dozenten waren Erwerbslose.
Es war einfach köstlich, zu
beobachten, wie die bedrückten Seelen auflebten.
Den Höhepunkt aber bildete
in jeder Woche eine „ Weltanschauungs-Stunde“. An der nahmen alle Studenten
teil.
Welch eine unerhörte Spannung
lag über dieser Versammlung! Wir begannen jedes Mal damit, dass ich etwa 20
Minuten lang das Evangelium verkündete. Dann folgte die Aussprache.
O, diese Diskussion! Die
jungen Männer waren mit zitternder Erregung an dem Gespräch beteiligt. Da waren
junge Kommunisten, SA-Leute in der braunen Uniform, Stahlhelmer
und sozialistische Falken, Nihilisten und Christen, Narren und Weise, Fanatiker
und Zyniker, Atheisten und Jesus-Jünger, Sektierer und Idealisten.
Oft verwandelte sich der
Saal in ein tobendes Schlachtfeld. Und ich musste wie ein Löwenbändiger dazwischen
springen und den erregten Männern klarmachen, dass sie ja jetzt Studenten
seien, dass sie also nicht mit Stuhlbeinen, sondern nur mit den Waffen des
Geistes zu kämpfen hätten. Da löste sich oft alles in ein fröhliches Gelächter
auf.
In einem aber waren sich
fast alle einig: Das Evangelium wurde in den ersten drei Minuten schon vom Tisch
gewischt. Nun ja, der Pfarrer musste wohl so reden! Aber diese überalterte
Sache hatte ernsthaft nichts zu bedeuten! Und dann kamen die politischen Ideologien!
Die Lehre von Lenin! Die Lehre von Hitler! Die Wirtschaftslehre von Silvio
Gesell! Karl Marx! Das wimmelte nur so von Fachausdrücken, großen Ideen,
wirtschaftlichen Lösungen! Und ich stand ganz klein und dumm da mit meinem
schlichten Evangelium von dem Heiland der Sünder. Was sollte das noch hier bei
dieser Schar! Jeder hatte das Rezept zur Welterlösung fertig in der Tasche!
Und so wäre es wohl
geblieben, wenn sich nicht die Sache mit den Brötchen ereignet hätte. Und das
kam so:
Eines Tages beschlossen wir,
einen zweitägigen Ausflug in das Sauerland zu machen. An dem Morgen, als wir
losziehen wollten, war das Wetter sehr zweifelhaft. So erschienen nur 150
Unentwegte.
Das wurde eine
unvergessliche Fahrt!
Seit ich denken kann, habe
ich solch einen Dauerregen nicht erlebt. Aber wir waren nun einmal
entschlossen, unseren Plan durchzuführen. So ging's von Hagen nach Lethmate. Die herrliche Dechenhöhle
war trocken. Und so waren die seltsamen Tropfstein-Gebilde dort eigentlich das
Einzige, was wir an jenem Tage zu sehen bekamen. Alles andere verschwand im Nebel
und Wasser.
Schließlich landeten wir
singend und pudelnass in einer Jugendherberge. Jeder Fahrtenbruder weiß ja, wie
es nun zuging. Fröhliches Gewimmel! Kleider wurden am dampfenden Ofen
getrocknet. Und nach dem Abendbrot saßen wir gemütlich und leicht müde um den
Kamin. Ich wollte eben von einer Reise nach Amerika erzählen, da erschien ein
Bäckerlehrling:
„Einen schönen Gruß vom
Meister! Und ob einer der Herren morgen früh Brötchen wolle. Er gäbe 4 Stück
für zehn Pfennige ab.“
Nachdenklich saßen meine
Gefährten. Ich konnte auf ihren Stirnen lesen: Ein Groschen! Viel Geld für einen
Arbeitslosen! Dafür konnte man 3 Zigaretten bekommen! Aber so frische,
knusprige Brötchen! Gewiss! Aber – es gab ja doch Brot zum Frühstück. –
Schließlich entschlossen
sich etwa 50 Mann, die Brötchen zu bestellen.
So – nun konnte ich
erzählen! Es wurde sehr gemütlich. Schließlich konnte ich sogar eine
Abendandacht halten. So freundlich war die Stimmung!
Als ich alle im Bett wusste,
atmete ich auf. Friedlich schlief nun der Kommunist
neben dem Nazi, und der zünftige Pfadfinder neben dem Mann, der mit – leider
nun völlig zerstörten – Bügelfalten war.
Ich ging in mein Zimmer und
fiel in einen tiefen Schlaf. Da träumte ich, ich sei in einen Volksaufruhr geraten.
Brüllend wälzten sich die Massen über meine Verzweiflung. Ich fuhr auf. Ich war
ganz wach.
Es war schon Tag. Ich hatte
mich verschlafen. Aber – was war das? Der Volksaufruhr war offenbar schreckliche
Wirklichkeit: Ich hörte tobendes Geschrei, wildes Geraufe
…
Wie ich war – im Schlafanzug
– stürzte ich hinaus und sah die Bescherung: Der süße Friede vom Abend war
völlig dahin. Eine Schlacht aller gegen alle war entbrannt.
Mit Mühe brachte ich in
Erfahrung, was sich ereignet hatte: Da war am Morgen der Bäckermeister mit den
200 Brötchen erschienen. Diese frischen Brötchen hatten herrlich geduftet. Und
überhaupt – am Morgen sah die ganze Sache anders aus. Da hatten sich kurz
entschlossen die Zigaretten-Freunde vom Abend auf die köstliche Ware gestürzt,
hatten dem Bäcker die Brötchen aus der Hand gerissen. Und viele, die am Abend
bestellt hatten, waren leer ausgegangen. Das ließen die sich natürlich nicht
gefallen. Und dann war der Krach da. Und weil man doch schon einmal am Raufen
war, kamen alle andern Spannungen gleich mit zum Austrag. Es ging nun „in einem
Aufwaschen“.
Meine verschlafene Gestalt,
mein wildes Dazwischentreten, meine mir selbst erstaunliche Entschlossenheit
erregten allmählich Aufsehen, und ich konnte mir endlich Gehör verschaffen.
Kategorisch stellte ich die
Forderung: „Jetzt werden zuerst einmal alle Brötchen an mich abgeliefert.“ Es
gab einen kleinen Kampf, stilles Ringen in Jungmänner-Herzen, freundliche Reden
von mir – und dann lag ein Berg von Brötchen vor mir. Es fehlte keines.
Dann die Frage: „ Wer will
nun eigentlich Brötchen?“ Es meldeten sich alle. Ich traf wie ein Feldherr
meine Anordnungen: „Jetzt bekommt erst einmal jeder eins. Und dann holt mir den
Bäcker!“
Der tief erschrockene
Meister wurde irgendwo aufgestöbert. Vor versammelter Mannschaft stellte ich ihm
die entscheidende Brötchen-Frage: „Sind Sie im Stande, uns in einer halben
Stunde noch 400 Brötchen zu verschaffen?“ Er war im Stande! Gepriesen sei der
wackere Mann!
Ach! Dies friedliche
Frühstück! Und dann stellten wir mit Begeisterung fest, dass ein herrlicher Tag
inzwischen angebrochen war: Die Vögel sangen, die Sonne schien, die Blumen
blühten, die Bäume rauschten. Die Welt war doch schön!
Unter einer alten Linde
versammelten wir uns zur Morgenandacht. Das hielten meine rauen Gefährten sicherlich
für einen Spleen ihres Pastors. Aber immerhin gab sich der Mann ja viel Mühe!
Und warum also sollte man ihn nicht anhören! Schließlich war man ja kein
Unmensch!
Die Braven! Sie ahnten
nicht, was ihnen bevorstand.
Ich sprach über das Wort Jesu:
„Siehe ich mache alles neu.“
„Freunde!“ sagte ich. „In
einer Forderung sind wir alle einig: Die Welt muss anders werden. Ja, sie muss anders
werden! Seit einem halben Jahre nun höre ich in jeder „Weltanschauungsstunde“,
wie jeder von Euch ein fertiges politisches und wirtschaftliches Rezept in der
Tasche hat zur Erlösung der Welt. O, ich war oft erstaunt, welch große Ideen
Ihr da habt. Aber – nun bin ich enttäuscht. Ihr, die Ihr meint, die Welt
erlösen zu können mit Euren Ideologien, könnt nicht einmal 200 Brötchen im
Frieden verteilen! Was soll ich dazu sagen? Es war bei uns heute Morgen wie in
der Welt im Großen: Güter waren genug vorhanden. Bei gutem Willen konnte jeder
satt werden. Und was wurde? Krieg und Geschrei! Nehmt es mir nicht übel: Ich glaube
an alle Eure Ideologien nicht mehr. Was helfen sie, wenn sie so kläglich
versagen im Kleinen! …“
Schweigend saß das junge
Volk. Wirklich, sie waren beschämt. Keiner wagte etwas zu sagen. So fuhr ich
fort:
„Und warum ist es so
gegangen? Weil jeder nur an sich selbst dachte. Euer böses und selbstsüchtiges Herz
hat Euch einen Streich gespielt und alles verdorben …“
Ich sah ihnen an, dass sie
mir Recht gaben. Immer schwiegen sie. „Ihr habt immer getan, als sei die Bibel ein
dummes, völlig überholtes Buch. Nun sage ich Euch: Die Bibel hat recht! Denn
sie sagt: Es wird nur anders, wenn unsre Herzen anders werden, wenn Du und ich
neu werden, wenn wir befreit werden von unsrer furchtbaren Selbstsucht!“
Es war eigentlich ein
herrlicher Gottesdienst. Der Sommerwind rauschte in der alten Linde, und der
Gesang der Vögel störte uns nicht. Er unterstrich nur die Stille. Das schönste
aber war diese Gemeinde: Junge Männer, denen etwas dämmerte von der Brüchigkeit
ihrer Ideologien, die ihnen bisher als die Lösung aller Welträtsel erschienen
waren.
„Freunde!“ rief ich bewegt, „Ihr
irrt, wenn Ihr die Bibel für ein überholtes Buch haltet! Hier wird uns gezeigt,
wie Herzen neu werden. Da finden wir den Mann, von Gott gesandt, der durch Sein
Blut und Seinen Geist uns ganz umgestaltet und neu macht – Jesus Christus! …“
Die Sonne schien so hell und
strahlend. Aber – was war ihr Glanz gegen die Herrlichkeit des Sohnes Gottes,
die über diesen armen jungen Männern aufging.
Wie ein starkes Gebet
erklang zum Schluss unser Lied:
Morgenglanz
der Ewigkeit,
Licht
vom unerschaffnen Lichte!
Schick
uns diese Morgenzeit
Deine
Strahlen zu Gesichte,
Und
vertreib durch deine Macht
Unsre
Nacht!
Von da an begann es, dass
die „Universität für Erwerbslose“ auf die Botschaft der Bibel hörte.