Wilhelm Busch

Christus lebt!

Erlebnisse und Kurzgeschichten

 

„Es ist schade um dich!“

 

Während des Krieges kamen allerlei Soldaten für längere oder kürzere Zeit nach Essen. Darunter waren Christenleute, die meinen N amen irgendwie gehört hatten und mich nun aufsuchten.

Aus solchen Besuchen hatte sich im Laufe der Zeit ein Soldatenkreis entwickelt, der an einem bestimmten Wochentage in meiner Wohnung sich zusammenfand. Da betrachteten wir Gottes Wort, tauschten unsere geistlichen Erfahrungen aus und hielten schließlich eine gemeinsame Abendmahlzeit mit dem Kärglichen, was uns zugeteilt war.

Trotzdem der Kreis beständig wechselte, entstand hier doch eine enge Gemeinschaft. Und uns allen, die wir an jenen Abenden teilgenommen haben, erscheinen sie in der Erinnerung noch wie eine liebliche Oase in den wüsten Kriegszeiten.

Eines Tages fand sich ein neuer Mann in mittleren Jahren zu uns. Er hatte eine stille, feine, zurückhaltende Art. Erst im Laufe der Zeit kamen wir dahinter, dass er ein außerordentlich gebildeter Mann war, der unsagbar Schweres durchgemacht hatte. Um seines freimütigen Bekenntnisses willen hatte er lange Zeit im Konzentrationslager gesessen. Schließlich hatte man ihn entlassen und dann gleich zum Militär eingezogen. Unter den rohen Vorgesetzten galt er natürlich als verdächtiger KZ-Sträfling. Und so hatte er sich wohl angewöhnt, ein stilles und zurückgezogenes Leben zu führen.

Eines Abends aber taute er auf. Und da berichtete er uns ein kleines Erlebnis, das uns allen tiefen Eindruck machte:

Er lag auf einer Stube, die mit etwa 10 Soldaten belegt war. Da ging es laut her. Besonders aber ein junger Mann, der aus Hamburg kam, führte das große Wort. Der war offenbar durch alle Pfützen der Großstadt gegangen. Und nun erfüllte er die Stube mit seinen schmutzigen Reden. Da hagelten die Flüche und Zoten. Und das übrige Volk zollte ihm begeistert Beifall. Auf den stillen Mann aber, der sein Bett in einer Ecke hatte, nahm man weiter keine Rücksicht.

Eines Tages war die Post verteilt worden. Die Soldaten auf ihren Stuben öffneten ihre Päckchen und lasen ihre Briefe. Auch der Hamburger hatte ein Paketchen bekommen. Irgendein Mädchen hatte wohl an ihn gedacht. Und während er stolz den Inhalt vorzeigte: Zigaretten und Bonbons – erzählte er wichtigtuerisch von seinen vielen und gemeinen Liebschaften.

Ja, und da kam der Punkt, wo der stille Mann es nicht mehr ertrug. Zu aller Erstaunen trat er auf einmal vor und sagte in seiner schweren und nachdrücklichen Art: „Was bist du für ein armer Kerl! Wenn's so dreckig aus dir herausfließt, wie muss es erst in dir drin aussehen! Es ist schade um dich!“

Damit ging er aus der Stube. Und seltsamerweise war es auf einmal totenstill, während er die Türe hinter sich zuzog.

Er war auf dem Korridor noch nicht weit gekommen, da lief der andre hinter ihm her: „Kamerad! Halt einmal!“

„Was gibt's?“

„Du sagst, es sei schade um mich! So etwas hat mir noch niemand gesagt. Das – ja, – – wie soll ich es sagen? – das sieht aus, als ob ich einen Wert gehabt hätte. Ich verstehe das nicht. – – – Sag mir, was meinst du damit?“

Der stille Mann blieb stehen. Und dann fing er wieder an in seiner merkwürdig nachdrücklichen Art, zu reden: „Gott hat aus dir etwas machen wollen. Auch du bist von Ihm geschaffen. Und jetzt – so ein Schmutz! Ja, es ist schade, Kamerad, wenn man weiß, dass Gott etwas mit dir wollte, dann kann man nur sagen: Es ist schade um dich!“

Gleich darauf musste man zum Appell antreten. Der stille Mann ging an seinen Platz. Auf einmal, während die Reihen sich formierten, fühlte er, dass einer von hinten seine Hand ergriff. Und dann wurde ihm ein Bonbon hineingedrückt. Als er sich kurz umschaute, stand der rohe Hamburger hinter ihm.

Nun war allerdings jetzt keine Zeit zu einem Gespräch. Aber als der Appell zu Ende war, fragte unser Freund: „Warum tust du ausgerechnet mir etwas Gutes? Ich habe dir doch hart die Meinung gesagt.“

Da brach es aus dem andern heraus: „Du bist der Einzige, der mich in meinem Leben ernst genommen hat! Du meinst ja wirklich, dass ich einen Wert haben könnte!“

So berichtete in unsrem Soldatenkreis der stille Kamerad. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Es dachte jeder darüber nach, dass die meisten Menschen wohl – wie jener Hamburger – eine Maske trügen, hinter welcher der eigentliche Mensch mit seiner Not und Sehnsucht verborgen sei.

Schließlich fragte einer von uns: „Wie ging es denn weiter?“

Der Gefragte lächelte: „Wir sind jetzt Freunde. Ja, mehr, Brüder! Wir lesen zusammen die Bibel. Und mein Freund hat den Herrn Jesus gefunden und weiß, dass der sein Heiland ist. Manchmal will ja das alte, wichtigtuerische Wesen wieder hervorbrechen. Aber dann erschrickt er auf einmal und schaut mich an. Und ich lese in seinem Blick die Frage: Meinst du, dass Jesus immer noch Geduld mit mir hat?

Wir wissen aber beide, dass wir von Seiner Geduld leben.“ –

Der stille Mann ist wieder aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Und ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Die Weltgeschichte hat von seinem Leben keine Kenntnis genommen. Aber ich meine, solch eine Geschichte wie die von dem Hamburger sei im Lichte der Ewigkeit wichtiger und bedeutsamer als alle großen Schlachten dieses furchtbaren Krieges.