Während des Krieges kamen
allerlei Soldaten für längere oder kürzere Zeit nach Essen. Darunter waren
Christenleute, die meinen N amen irgendwie gehört hatten und mich nun
aufsuchten.
Aus solchen Besuchen hatte
sich im Laufe der Zeit ein Soldatenkreis entwickelt, der an einem bestimmten
Wochentage in meiner Wohnung sich zusammenfand. Da betrachteten wir Gottes
Wort, tauschten unsere geistlichen Erfahrungen aus und hielten schließlich eine
gemeinsame Abendmahlzeit mit dem Kärglichen, was uns zugeteilt war.
Trotzdem der Kreis beständig
wechselte, entstand hier doch eine enge Gemeinschaft. Und uns allen, die wir an
jenen Abenden teilgenommen haben, erscheinen sie in der Erinnerung noch wie
eine liebliche Oase in den wüsten Kriegszeiten.
Eines Tages fand sich ein
neuer Mann in mittleren Jahren zu uns. Er hatte eine stille, feine,
zurückhaltende Art. Erst im Laufe der Zeit kamen wir dahinter, dass er ein außerordentlich
gebildeter Mann war, der unsagbar Schweres durchgemacht hatte. Um seines
freimütigen Bekenntnisses willen hatte er lange Zeit im Konzentrationslager
gesessen. Schließlich hatte man ihn entlassen und dann gleich zum Militär eingezogen.
Unter den rohen Vorgesetzten galt er natürlich als verdächtiger KZ-Sträfling.
Und so hatte er sich wohl angewöhnt, ein stilles und zurückgezogenes Leben zu
führen.
Eines Abends aber taute er
auf. Und da berichtete er uns ein kleines Erlebnis, das uns allen tiefen
Eindruck machte:
Er lag auf einer Stube, die
mit etwa 10 Soldaten belegt war. Da ging es laut her. Besonders aber ein junger
Mann, der aus Hamburg kam, führte das große Wort. Der war offenbar durch alle
Pfützen der Großstadt gegangen. Und nun erfüllte er die Stube mit seinen schmutzigen
Reden. Da hagelten die Flüche und Zoten. Und das übrige Volk zollte ihm
begeistert Beifall. Auf den stillen Mann aber, der sein Bett in einer Ecke
hatte, nahm man weiter keine Rücksicht.
Eines Tages war die Post
verteilt worden. Die Soldaten auf ihren Stuben öffneten ihre Päckchen und lasen
ihre Briefe. Auch der Hamburger hatte ein Paketchen bekommen. Irgendein Mädchen
hatte wohl an ihn gedacht. Und während er stolz den Inhalt vorzeigte:
Zigaretten und Bonbons – erzählte er wichtigtuerisch von seinen vielen und
gemeinen Liebschaften.
Ja, und da kam der Punkt, wo
der stille Mann es nicht mehr ertrug. Zu aller Erstaunen trat er auf einmal vor
und sagte in seiner schweren und nachdrücklichen Art: „Was bist du für ein
armer Kerl! Wenn's so dreckig aus dir herausfließt,
wie muss es erst in dir drin aussehen! Es ist schade um dich!“
Damit ging er aus der Stube.
Und seltsamerweise war es auf einmal totenstill, während er die Türe hinter
sich zuzog.
Er war auf dem Korridor noch
nicht weit gekommen, da lief der andre hinter ihm her: „Kamerad! Halt einmal!“
„Was gibt's?“
„Du sagst, es sei schade um
mich! So etwas hat mir noch niemand gesagt. Das – ja, – – wie soll ich es sagen?
– das sieht aus, als ob ich einen Wert gehabt hätte. Ich verstehe das nicht. – –
– Sag mir, was meinst du damit?“
Der stille Mann blieb
stehen. Und dann fing er wieder an in seiner merkwürdig nachdrücklichen Art, zu
reden: „Gott hat aus dir etwas machen wollen. Auch du bist von Ihm geschaffen.
Und jetzt – so ein Schmutz! Ja, es ist schade, Kamerad, wenn man weiß, dass
Gott etwas mit dir wollte, dann kann man nur sagen: Es ist schade um dich!“
Gleich darauf musste man zum
Appell antreten. Der stille Mann ging an seinen Platz. Auf einmal, während die
Reihen sich formierten, fühlte er, dass einer von hinten seine Hand ergriff.
Und dann wurde ihm ein Bonbon hineingedrückt. Als er sich kurz umschaute, stand
der rohe Hamburger hinter ihm.
Nun war allerdings jetzt
keine Zeit zu einem Gespräch. Aber als der Appell zu Ende war, fragte unser
Freund: „Warum tust du ausgerechnet mir etwas Gutes? Ich habe dir doch hart die
Meinung gesagt.“
Da brach es aus dem andern
heraus: „Du bist der Einzige, der mich in meinem Leben ernst genommen hat! Du
meinst ja wirklich, dass ich einen Wert haben könnte!“
So berichtete in unsrem
Soldatenkreis der stille Kamerad. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Es dachte jeder
darüber nach, dass die meisten Menschen wohl – wie jener Hamburger – eine Maske
trügen, hinter welcher der eigentliche Mensch mit seiner Not und Sehnsucht
verborgen sei.
Schließlich fragte einer von
uns: „Wie ging es denn weiter?“
Der Gefragte lächelte: „Wir
sind jetzt Freunde. Ja, mehr, Brüder! Wir lesen zusammen die Bibel. Und mein
Freund hat den Herrn Jesus gefunden und weiß, dass der sein Heiland ist. Manchmal
will ja das alte, wichtigtuerische Wesen wieder hervorbrechen. Aber dann
erschrickt er auf einmal und schaut mich an. Und ich lese in seinem Blick die
Frage: Meinst du, dass Jesus immer noch Geduld mit mir hat?
Wir wissen aber beide, dass
wir von Seiner Geduld leben.“ –
Der stille Mann ist wieder
aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Und ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.
Die Weltgeschichte hat von seinem Leben keine Kenntnis genommen. Aber ich
meine, solch eine Geschichte wie die von dem Hamburger sei im Lichte der
Ewigkeit wichtiger und bedeutsamer als alle großen Schlachten dieses
furchtbaren Krieges.