Karl Freund wandelte an
einem Sonntagmorgen den stillen Waldweg entlang. Er atmete tief auf und blieb
beglückt stehen. So liebte er es. Ringsum das stille Rauschen des Waldes, das
Singen der Vögel, der blaue Himmel und das glänzende Licht, das die Morgensonne
in Pfeilbündeln durch das dichte Laub warf. Wie schön doch das alles war!
Unwillkürlich faltete er die
Hände. Er fühlte sich eins mit der herrlichen Natur. Er war in ihr und sie in
ihm. So feierte er seinen Gottesdienst.
„Nein!“ dachte er, „da
sitzen sie nun in dämmrigen, muffigen Kirchen und lassen sich irgendwelche mittelalterliche
Dogmen vortragen. Ach, wie man bloß daran Freude haben kann? Hier ist Gott!
Hier inmitten all der herrlichen Natur … Ja, hier … Hier kann man ihn fühlen im
Atmen der Natur. Und wer hier nicht Gott erlebt, der muss einen Stein in der Brust
haben …“
Bei jedem Schritt entdeckte
er neue Offenbarungen der Natur. Ganz feierlich war ihm zumute.
Einige Jahre später.
Wieder geht Karl Freund
durch den stillen sommerlichen Wald. Aber diesmal ist sein Herz nicht voll Harmonie.
Es ist notvoll und zerrissen. Gestern ging das Glück seines Lebens in Trümmer.
Seine junge Frau hat einem Kindlein
das Leben geschenkt, aber sie selbst hat unter unsagbaren Qualen ihr junges
Leben lassen müssen. Und kurz nachher ist auch das Kindlein gestorben.
Nun ist er früh am Morgen
hinausgeeilt in seine geliebte Natur. Sie soll ihm Trost und seelische Kraft geben.
Schon stundenlang schreitet er durch den Wald. Er sieht es alles wie sonst … die
Vöglein zwitschern, die Wolken ziehen … Die Sonne liegt über dem allem … Aber
in seinem Herzen will es nicht stille werden. Es hat keinen Wert, sich etwas
vorzumachen. Es ist schon so: Die Natur hat heute keinen Trost für sein
zerrissenes Herz.
Fast wild macht ihn der
Anblick der herrlichen Waldespracht. Am liebsten möchte er, während die alten
Bäume so gleichmütig rauschen, als sei nichts geschehen, wild aufschreien: „Was
soll mir all eure Schönheit? Was soll mir das Rauschen? In einem Vierteljahr
ist ja doch Herbst. Dann muss auch eure Schönheit sterben, sterben, ja sterben
…“
Er kommt auch von dem
Gedanken nicht los. Es hämmert in seinen Schläfen: „Sterben … ja sterben …“
Langsam geht er weiter. Das Bild der Toten steht vor ihm. O, in all seinem
Schmerz ist noch ein besonderer Stachel: Am Abend, ehe seine Frau ins
Krankenhaus ging, an dem Abend – er kann es heute gar nicht verstehen –, an dem
Abend hatte er noch einen kleinen Wortwechsel mit ihr. Wie er das nur hatte tun
können! Gewiss, er war abgearbeitet, gereizt. Aber es hat ja keinen Zweck,
allerlei Entschuldigungen zu suchen. Tatsache war, dass er harte, unfreundliche
Worte zu ihr sagte. Und das war nun das Letzte gewesen! Wie ihn das jetzt
schmerzte! Nie mehr gutzumachen! Nie mehr! …
Karl Freund stürmte den Weg
entlang. J a, wenn er jetzt jemand gehabt, der zu ihm hätte sprechen können … Aber
das Rauschen der Bäume ließ ihn so kalt und unberührt. Groll und Erbitterung
kamen über ihn. Alles Menschenleid schien sie nicht zu kümmern. Sie standen,
wie sie standen, die alten Bäume …
Da drang auf einmal
Glockengeläute durch die Morgenstille. Karl horchte auf. Ohne zu wissen was er tat,
folgte er dem Klang. Bald lichtete sich der Wald, und ein Dörflein lag im
Wiesengrunde.
Wie im Traum ging Karl
hinter einem jungen Bauern her, der über den alten Friedhof dem Kirchlein zuwanderte.
Jetzt durchschritt er die niedrige Pforte. Und nun saß er – seit langem zum
ersten Male – in einer Kirche. Leise setzte die Orgel ein. Und dann fielen die
Stimmen der Bauern ein, die sangen:
„Jesu,
meine Freude,
meines
Herzens Weide,
Jesu,
meine Zier.
Ach,
wie lang, ach lange
ist
dem Herzen bange
und
verlangt nach dir …“
Ihm war es, als sängen seine
Mitmenschen für ihn. Jetzt trat der Pfarrer an den Altar und las in die Stille
hinein: „Jesus Christus spricht: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und
beladen seid. Ich will euch erquicken …“
Da schlug Karl Freund die
Hände vors Gesicht und ward stille vor dem lebendigen Gott.