Wilhelm Busch

Der große Versöhnungstag

 

„Denn an diesem Tage geschieht eure Versöhnung, dass ihr ge­reinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn... Es soll aber solche Versöhnung tun ein Priester, den man geweiht hat."    

3. Mose 16, 30 und 32a

 

Im Jahre 1924 fing ich meine Arbeit an in einem Bezirk, in dem die Feindschaft gegen die Kirche groß war. Wenn ich meine Hausbesuche machte, bekam ich jedes mal als erstes Wort zu hören: „Wir brauchen keinen Pfaffen!" Ebenso stereotyp gab ich zur Antwort: „Ganz recht. Sie brauchen keinen Pfaffen. Aber Sie brauchen einen Heiland." Nun möchte ich fragen: „Ist das wahr?" O ja! Es ist so! Gewiss, es

ist wahr!

Wenn wir uns das einmal eingestehen, dann wird unser Herz fröh­lich an der Botschaft des Neuen Testamentes: Dieser Heiland ist vor­handen! Seht, dort auf Golgatha hängt Er am Kreuz! „O Welt, sieh hier dein Leben / am Stamm des Kreuzes schweben...!" Über die­sem Kreuz steht in Flammenschift geschrieben: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen."

Nun macht aber unsre Vernunft Einwendungen: „Am Kreuz ist der Heiland zu finden? Warum am Kreuz? Warum in dieser eigenarti­gen, so wenig glorreichen Situation?"

Das Geheimnis des Kreuzes werden wir nie ganz ergründen können. Aber die Bibel, auch das Alte Testament, gibt uns doch darüber man­cherlei Aufschlüsse. So wollen wir heute fragen:

 

 

Was geschieht am Kreuz?

 

1. Der große Versöhnungstag

Unser Text berichtet von einer wunderbaren Institution im Volke Israel. Einmal im Jahre versammelte sich das ganze Volk um das Heiligtum. Da drängten sich die Menschen im Vorhof des Tempels. Und ringsum standen die Tausende, die keinen Platz mehr fanden. Ganz stille wurde es, wenn der Hohepriester das entscheidende Opfer schlachtete. Er fing das Blut in einer Schüssel auf. Und dann ging er mit diesem Blut durch die Menge. Er schritt hinein in das Heilige, das nur die Priester betreten durften. Es war durch einen riesigen Vorhang getrennt von dem Allerheiligsten, wo Gott wohnte. Dort­hin durften auch nicht die Priester.

 

Nur einmal im Jahre, am großen Versöhnungstag, ging der Hohe­priester hinter den Vorhang und sprengte das Blut vor Gott hin. Nun, das sind alte, längst in Verfall geratene Zeremonien. Bei ihrer Schilderung kommen in unserm Text Worte vor, die dem modernen Menschen so unsagbar fremd klingen: „Versöhnung", „Reinigung von Sünden", „gereinigt vor dem Herrn". Solche Worte hört man im Radio, in der Zeitung, im Kino und in Schlagern nicht. Und doch! — es ist etwas Seltsames um diese so unmodernen Worte. Wenn wir nicht ganz und gar erstorben sind, dann sprechen sie uns an in einer ganz tiefen Region unsres Inwendigen. „Versöhnung mit Gott!", „Reinigung von Sünden!", „Stehen vor dem Herrn im vollen Frie­den!" — solche Worte wecken etwas Verschüttetes in uns auf. Sie sind wie ganz ferne Heimatglocken. Sie rufen eine Sehnsucht in uns wach nach einem ganz anderen Leben.

Was für eine Bewandtnis hat es nun mit diesen Worten? Das ist es: Sie rühren an unser Gewissen. „Versöhnung mit Gott" — „Reinigung von Sünden" — „Stehen vor dem Herrn" — je länger wir diesen Worten lauschen, desto größer wird in uns das Verlangen: „Solch einen Versöhnungstag sollten auch wir haben, wo das alles in un­serm armen, ach, so flachen und schuldigen Leben Wirklichkeit wird!"

Wo ist der Tempel, da uns das geschenkt wird? Gibt es ihn? Ant­wort: Ja! Auf Golgatha! Jesu Todesstunde am Kreuz ist der große Versöhnungstag für alle Welt, für alle Völker, für alle Rassen, für alle Stände, für alle Bildungsschichten — für dich und für mich!

 

2. Der Hohepriester

Wenn in unserm Land jemand eine flammende Rede hält gegen „Priesterherrschaft", dann kann er gewiss sein, dass er leidenschaft­lichen Beifall findet. Diese Abneigung gegen jede Form von Priester­herrschaft ist der letzte, kümmerliche Rest eines herrlichen Erbes, das weithin verloren ging.

Unsere Väter haben in der Reformationszeit ganz neu entdeckt, dass Jesus Christus unser Hoherpriester ist. Und darum haben sie sich so leidenschaftlich gegen die Priester gewehrt, weil sie alle ihre Hoff­nung setzten auf den einen Hohenpriester — Jesus! Es lohnt sich darum für uns, dass wir diesen unsern Hohenpriester näher ansehen. Lassen wir uns dabei leiten von dem alttestamentlichen Wort: „Es soll aber solche Versöhnung tun ein Priester, den man geweiht hat."

Nicht jeder x-beliebige konnte eine vollgültige Versöhnung mit Gott herbeiführen, sondern nur der Priester, den Gott dazu bestimmt und geweiht hatte. Nun hat Gott Seinen eingeborenen Sohn zum Hohen­priester geweiht für uns alle. Schon im 110. Psalm sagt Er zu Ihm: „Du bist ein Priester in Ewigkeit!"

Oder denkt an jene herrliche Geschichte am Jordan: Da stand der große Bußprediger Johannes der Täufer. Und viel Volk kam zu ihm und bekannte seine Sünde. Einer nach dem anderen trat heran und trug seine Schuld zum Fluss. Dann kam Jesus. Ja, was wollte denn der? Der hatte doch keine Sünde. Er war der einzige Reine. Doch — Er trug unsere Sünde zum Jordan. Und als Er das tat und damit so recht hohepriesterlich handelte, kam eine Stimme aus der ewigen Welt: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe." Seht, da hat Gott den Herrn Jesus zum Hohenpriester geweiht. Und als der große Versöhnungstag anbrach — an jenem ersten Karfrei­tag —, da schritt dieser Hohepriester zum Versöhnungsopfer. Was sollte Er opfern, um die unermessliche Schuld der Menschen zu ver­söhnen? Er brachte das beste und wertvollste Opfer dar: sich selbst. Sollte solch gewaltiger Opferdienst nicht vollgültig sein? Als die Kriegsknechte den Herrn Jesus an das Kreuz nagelten, ver­standen sie davon nichts. Darum bat Jesus ja auch für sie: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun." Aber wir wissen es nun. Groß steht über Jesu Kreuz das Wort unseres Textes: „An diesem Tag geschieht eure Versöhnung." „O Herr, mein Heil, an dessen Blut ich glaube, / ich liege hier vor dir gebückt im Staube, / verliere mich mit dankendem Gemüte / in deine Güte."

 

3. Die Frage an uns

Wir fragten im Anfang: Was geschieht am Kreuz? Aus dieser sach­lichen Frage muss die persönliche werden: „Geschieht da etwas mit mir?"

Seht, der Apostel Paulus hat in 2. Korinther 5 unsern Text aufge­nommen und so gesagt: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung." Und dann fährt er so eindringlich fort: „So bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!" Verstehen wir das? Die fremden und doch so herzbeweglichen Worte „Versöhnung mit Gott" — „gereinigt stehen vor dem Herrn" werden am Kreuz Jesu Wirklichkeit. Und nun muss diese Wirklichkeit in unser Leben hineinkommen. Ja, wir dürfen seit Golgatha Leute sein, die Frieden mit Gott haben, die versöhnt und gereinigt von Sünden sind. Nehmt es doch an!

Vor Jahren war ich zu lieben Freunden eingeladen. Aber im Trubel der Geschäfte vergaß ich diese Einladung. Später erzählten mir die Leute: „Wir haben Ihnen den ganzen Abend einen Platz freigelas­sen." Unter Jesu Kreuz ist uns ein Platz freigelassen. Soll er leer bleiben?